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Kirchenaustritte

In einer Andacht zur Dekanatssynode mit dem Thema „Kirchenaustritte“ denke ich darüber nach, was Petrus sagte, als sich von Jesus viele Jünger abwandten und er seine verbliebenen Anhänger fragte: „Wollt ihr auch weggehen?“

Zum Thema Kirchenaustritte: Jesus als Playmobil-Figur steht zwei Jüngern gegenüber
Jesus als Playmobil-Figur mit wenigen Jüngern (Bild: hanmailiPixabay)

Andacht anlässlich der Dekanatssynode Alzey am Freitag, den 26. November 1993 in Albig

Liebe Synodalinnen und Synodale, liebe Gäste!

Ich habe mir gedacht, eine Andacht zum Beginn einer Synode sollte vielleicht das zentrale Thema dieses Abends in Beziehung zur Bibel setzen. Aber gibt es in der Bibel etwas zum Thema „Kirchenaustritte“?

Ich habe wirklich etwas gefunden.

Der Evangelist Johannes erzählt im sechsten Kapitel seines Evangeliums, wie eine Menschenmenge Jesus nachfolgt. Die Leute sind beeindruckt davon, wie Jesus Kranke gesund macht, sie wollen ihn sogar zum König machen, als er es fertigbringt, den Hunger von 5000 Männern samt Frauen und Kindern zu stillen. Aber Jesus will das nicht; allein zieht er sich auf einen Berg zurück.

Am nächsten Tag läuft man Jesus nach und spürt ihn auf, doch irgendwie schafft es Jesus, fast alle vor den Kopf zu stoßen. Sie fragen: Was sollen wir denn machen, damit wir Gott recht sind? Und Jesus hält ihnen eine lange Predigt. Genau genommen ist es sogar eine Dialogpredigt, denn immer wieder wird dazwischengefragt, immer wieder geht Jesus auf Einwände ein. Der Kerngedanke der Predigt läßt sich mit einem Satz zusammenfassen, den Jesus sagt (Johannes 6, 35):

Ich bin das Brot des Lebens.

Und da geht es Jesus wie so manchem Prediger heute: Man hört nicht richtig zu, man kann nicht oder will nicht verstehen, man ärgert sich über seine Predigt. Im Originalton des Johannes hört sich das so an (Johannes 6, 60):

Viele nun seiner Jünger, die das hörten, sprachen: Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören?

Und auch im weiteren vermag Jesus bei weitem nicht viele zu überzeugen. Johannes vermerkt (Johannes 6, 66):

Von da an wandten sich viele seiner Jünger ab und gingen hinfort nicht mehr mit ihm.

Wenn wir das Wort „Kirche“ nicht ganz so eng fassen, können wir sagen: Schon damals musste Jesus mit den ersten Kirchenaustritten fertigwerden.

Wie geht nun Jesus mit diesem Problem um? Scheinbar äußerst passiv. Er startet nicht eine Kampagne zur Rückgewinnung verlorengegangener Jünger. Er stellt nur den übriggebliebenen zwölf Jüngern die einfache Frage (Johannes 6, 67):

Wollt ihr auch weggehen?

Vielleicht ist das die wichtigste Frage, die auch wir uns heute abend zu stellen haben. Was ist mit uns? Wenn viele aus der Kirche austreten, wollen wir auch weggehen? Denken wir irgendwann: Es hat ja doch keinen Zweck mehr?

Sind Kirchenaustritte nicht vor allem deswegen bedrängend, weil sie auch uns selber in Frage stellen, in unserer Glaubwürdigkeit, in der Festigkeit unseres eigenen Glaubens? Und kennen wir nicht alle das Gefühl, daß der Gottesdienst in einer leeren Kirche einfach nicht so viel Spaß macht wie in einer vollen?

Wenn viele nicht mehr in den Gottesdienst kommen, geraten wir dann unter Druck und in die Versuchung, anderen Druck zu machen: Man müsste mehr in die Kirche gehen?

„Wollt ihr auch weggehen?“ – das höre ich aber nicht als eine solche Frage, die Druck macht, sondern als eine ernsthafte Anfrage: Ist euch eigentlich bewusst, wozu ihr selber in der Kirche seid? Könnt ihr werben für die Angebote dieser Gemeinschaft: He, Leute, da müsst ihr hingehen, sonst verpasst ihr etwas, sonst geht ihr am Leben vorbei?

Petrus hat damals Jesus eine Antwort gegeben, die mich beeindruckt. Er sagte einfach (Johannes 6, 68):

Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.

Petrus war offenbar einer der wenigen, die mit Jesu vorheriger Predigt etwas anfangen konnten. Er verstand die Predigt vom Brot des Lebens. Er hörte sie als einer, der dieses Brot selber schon geschmeckt hatte, er wusste: Was dieser Jesus mir anzubieten hat, das bekomme ich nirgends sonst!

Wie schwer fiel es dem Petrus, seine Schwäche zuzugeben, seine Angst einzugestehen. Er war immer vorneweg, wollte immer der Starke sein, und doch wusste er ganz tief innen drin: Nichts brauche ich nötiger als einen, der mich auch dann nicht fallen lässt, wenn ich einmal ganz am Ende bin, wenn ich der Tatsache nicht mehr ausweichen kann, dass ich auch Angst habe und bedürftig bin, dass ich an Punkte geraten kann, wo ich machtlos und schwach bin.

Petrus, der Fels, war ja nicht deshalb der Fels, weil er nie gezweifelt hätte. Gerade er wurde ja der Verleugner Jesu. Und gerade er schrammte hart an der Verzweiflung vorbei und erfuhr – über den Kreuzestod Jesu hinaus – unerwartete Versöhnung mit dem, den er verleugnet hatte – Worte des ewigen Lebens:

Hast du mich lieb?

– so hört er dreimal die Frage seines auferstandenen Herrn, und er kann am Ende weinend seine Verzweiflung zulassen und versöhnt und getröstet sagen (Johannes 21, 15-17):

Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe!

Kirche ist nur dann Kirche, wenn wir in ihr auch heute noch „Worte des ewigen Lebens“ am eigenen Leibe, an der eigenen Seele erfahren. Z. B. wenn ich in die Kirche gehe, egal ob als einfacher Teilnehmer oder als Prediger, und ich gehe getröstet oder ermutigt oder heilsam beunruhigt wieder nach Hause. Kirche ist dann Kirche, wenn ich an meine Ortsgemeinde denke, und ich weiß: da gibt es hier und da Menschen, bei denen ich mich gut aufgehoben fühle, auch wenn ich meine Zweifel äußern will, auch wenn ich unbeantwortete Fragen habe.

Natürlich können gerade solche Worte wie „Brot des Lebens“, „ewiges Leben“ heute wie damals leere Worthülsen sein. Genau wie damals zu Jesu Zeiten kann man sich dann theologisch fruchtlos darüber streiten, was denn Johannes im Unterschied zu den anderen Evangelisten oder zu Paulus damit gemeint haben mag. Lebendig werden solche Worte erst dann, wenn wir tatsächlich spüren: Ich habe z. B. Hunger nach einer Liebe, die mir nur Gott schenken kann und die er mir von sich aus schenkt, ohne dass ich dafür etwas tun muss. Ich möchte erlöst sein von einer Unrast und einem unmenschlichen Druck, als ob ich nur etwas wert wäre, wenn ich pausenlos Höchstleistungen vollbrächte.

Damit solche Erlösung unter uns geschieht, damit Vertrauen zu Gott unter uns wächst, reicht es aber nicht aus, einfach immer wieder die altvertrauten Worte zu wiederholen und Erfahrungen heraufzubeschwören, die andere einmal gemacht haben. Echt ist hier nur, was wir selbst erfahren haben und was wir anderen als unmittelbar erlebbare Erfahrung weiterreichen können.

Dazu zwei Anfragen, zwei Infragestellungsversuche: Wenn ich in der Predigt z. B. davon rede, dass Gott die Menschen frei macht, aber zugleich die Konfirmanden unter Druck setze, jeden oder jeden zweiten Sonntag in die Kirche zu gehen, einen bestimmten Frömmigkeitsstil einfach zu übernehmen, dann werden die Konfirmanden es schwer haben, etwas mit dem befreienden Gott anzufangen.

Oder, noch krasser: Wie kann ich z. B. Gott als einen liebevollen Vater einer Frau nahebringen, für die die Liebe ihres eigenen Vaters darin bestand, dass er sie jahrelang misshandelte und sexuell missbrauchte? Wie muss sie Gebete hören, die wir manchmal etwas gedankenlos formulieren: Gott, Vater, mach mit mir, was du willst! Kann sie im Kontakt mit Menschen aus unserer christlichen Gemeinde die Erfahrung machen, dass nicht jeder Mann einer Frau zu nahe tritt, dass nicht jeder Vater missbraucht, dass es für sie auch uneigennützige, väterliche Liebe gibt?

Ich breche hier ab und überlasse es uns allen, heute abend diese Frage im Ohr zu behalten: Wollt ihr auch weggehen? – und der Antwort des Petrus nachzuspüren: „Herr, wohin sollen wir gehen – du hast Worte des ewigen Lebens!“

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