Bild: Pixabay

Krafttraining für die Seele

Wie kann ein Krafttraining für die Seele aussehen? Unser Herz braucht sozusagen den aufweichenden Frühregen, Begegnungen von einer Sanftheit, die uns Mut machen, überhaupt etwas von außen zu erwarten, was uns nicht ängstigt oder einsperrt. Wie schwer ist es, Vertrauen zu fassen, erst ein kleines bisschen, dann noch ein Stück mehr, bis es schließlich immer größer und tragfähiger wird.

Weißes Herz in rosa Kreis, im Herz ist eine Hantel
Krafttraining für unser Herz – wie kann es aussehen? (Bild: Pixabay)
Besinnung zum Abschluss des 23. Ehemaligen- und Freundestreffens im Haus Vorholz am Sonntag, den 30. November 1997

Liebe Gäste und Bewohner im Haus Vorholz! Nach einer längeren Pause hat diesmal wieder ein Ehemaligentreffen stattgefunden, und ich darf zum Abschluss wieder mit besinnlichen Worten und Liedern dabei sein. Wer mich noch nicht kennt: Ich bin Pfarrer Schütz, ich bin Klinikseelsorger hier in der Rheinhessen-Fachklinik Alzey.

Mit dem ersten Lied auf unserem Blatt, einem der bekanntesten Adventslieder, beginnen wir nun den feierlichen Abschluss dieses Tages:

Alle Jahre wieder kommt das Christuskind auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind,

kehrt mit seinem Segen ein in jedes Haus, geht auf allen Wegen mit uns ein und aus,

ist auch mir zur Seite, still und unerkannt, dass es treu mich leite an der lieben Hand.

Heute am letzten Tag im November 1997 fängt ein Neues Jahr an – nämlich ein Neues Kirchenjahr. Jedes Jahr neu feiern wir Advent und durchleben die Vorweihnachtszeit, bis dann Weihnachten ist – alle Jahre wieder. Jedes Jahr neu freuen sich viele über diese Zeit, über die Zeit der Plätzchen und Kerzen, über die Zeit mit der Familie und in der Kirche; und andere fühlen sich nicht so gut, weil diese Zeit so geschäftstüchtig ausgenutzt wird und hektisch geworden ist, oder weil sie keinen Kontakt mehr zur Kirche haben oder ihre Familie zerbrochen ist oder der alte Kinderglaube nicht mehr trägt.

Nun, man muss nicht alles genau so machen wie andere oder wie schon immer, man muss nicht hektisch werden, weil es viele sind, man muss nicht deprimiert sein, weil man es schon oft in dieser Zeit war. Der 1. Advent kann nicht nur äußerlich im Kirchenjahr, sondern auch innerlich für uns ein Neuanfang sein. So wie Sie heute nach einer Pause mit dem Ehemaligentreffen wieder neu angefangen haben, so können wir uns überlegen, wie wir die Adventszeit ganz persönlich für uns nutzen möchten.

„Alle Jahre wieder“ haben wir gesungen, das Lied vom Christuskind, das zu uns kommt und uns begleitet. Das klingt so sentimental, so kindlich, wie der Glaube ans Christkind, das die Geschenke bringt. Aber wenn wir’s weniger kleinkindlich verstehen und an das Christuskind denken, das dann heranwuchs zu dem Mann Jesus von Nazareth? Wenn wir an den Menschen denken, in dem Gott zur Welt kommen wollte? Dann wird es für viele unter uns wieder zu fromm, das haben wir doch auch schon zu oft gehört – das soll etwas Neues sein? Doch die ältesten, vertrautesten Dinge können uns manchmal ganz neu ansprechen, wenn wir plötzlich merken: das spricht mich heute persönlich an..

Wenn etwas Neues kommen soll, dann ist das oft mit Warten verbunden, mit Geduld. Manchmal muss man sogar Geduld haben, wenn einfach nur etwas schon Bewährtes weitergehen soll – wie dieses Ehemaligentreffen. Von solchem Warten, von solcher Geduld möchte ich jetzt sprechen, und ich lese Ihnen dazu einen Vers von dem Apostel Jakobus aus der Bibel vor (Jakobus 5, 7):

7 Siehe der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen.

Wenn der Landwirt Samen auf das Feld ausgebracht hat, dann muss er warten, bis der Same von selber wächst und zur Frucht heranreift. Er braucht Geduld, Geduld, und nochmals Geduld, langen Atem, die Zuversicht, dass viel geschieht ohne sein Zutun. Wenn er an den jungen Halmen ziehen würde, damit sie schneller wachsen – er würde das Gegenteil erreichen, er würde sie herausziehen und kaputtmachen. Er gibt nicht gleich die Hoffnung auf, wenn nach ein paar Tagen noch nichts Grünes aus der Erde hervorsprießt. Er weiß: Wachstum braucht Zeit.

Und außer Zeit braucht das Ackerfeld noch etwas, nämlich den Regen. Ohne den Regen könnte beim besten Willen nichts wachsen. In Israel war das der Frühregen, der nach dem Ende der Trockenzeit erst einmal den Boden weich und aufnahmefähig macht für den Samen. Und dann der Spätregen, der dem Samen die nötige Nahrung gibt, damit er auch die Kraft hat zum Wachsen.

Nun, ich möchte hier keine Vorlesung über den Ackerbau halten. Davon habe ich sowieso nicht viel Ahnung. Was Jakobus da gesagt hat, ist ja bildlich gemeint. Er spricht eigentlich von der Seele des Menschen. Auch hier soll etwas wachsen. Vertrauen und Liebe, beides Dinge, die man nicht machen kann, nicht erzwingen kann durch das eigene Tun.

Jakobus drückt das in seiner Sprache so aus:

8 Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe.

„Das Kommen des Herrn ist nahe!“ Das ist alte kirchliche Sprache – was heißt das in heutigem Deutsch? Der Herr, das ist Gott, und zwar Gott, so wie er gewesen ist, als er auf unsere Welt gekommen ist. In Jesus kam Gott nicht nur vor 2000 Jahren in die Welt. Sondern Gott kommt auch in unser Leben. Er kommt auch in unser Herz. Er tut das dann, wenn wir uns anrühren, bewegen, innerlich verwandeln lassen.

Davon handeln alte Adventslieder, zum Beispiel eines, in dem Bilder aus der Natur für das Kommen Jesu Christi in die Welt verwendet werden:

O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf. Reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für.

O Gott, ein Tau vom Himmel gieß, im Tau herab, o Heiland, fließ. Ihr Wolken, brecht und regnet aus den König über Jakobs Haus.

O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd, dass Berg und Tal grün alles werd. O Erd, herfür dies Blümlein bring, o Heiland, aus der Erden spring.

Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt? O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal.

O klare Sonn, du schöner Stern, dich wollten wir anschauen gern; o Sonn, geh auf! Ohn deinen Schein in Finsternis wir alle sein.

Wenn wir nun so konkret an uns selber denken und ernst damit machen: Gott kommt irgendwie zu uns, wir bekommen irgendetwas mit dem Glauben zu tun, etwas von Jesus könnte uns selber innerlich anrühren – dann macht das vielleicht auch Angst – Angst vor einem Gott, einem Jesus, der uns allzu nahe kommt, der zwar sagt: Er liebt uns!, der aber vielleicht auch viel – zu viel – von uns erwartet. Vielleicht werden wir auch regelrecht wütend auf diesen Jesus, weil wir denken: der hält uns kindlich klein, der lässt uns nicht erwachsen werden. Ich verstehe, wenn viele von uns Angst haben vor dem Glauben, vor dem Vertrauen auf einen Gott.

Was denn, wenn wir anfangen würden zu vertrauen – und dann käme wieder die große Enttäuschung, wieder ein Rückschlag, wieder die Verzweiflung? Nein, dann lieber gar nicht erst ein Risiko eingehen. Was, wenn wir bildlich gesprochen die Hand Jesu ergreifen würden, und dann würde er uns nicht mehr loslassen, nicht mehr allein gehen lassen? Menschen tun das manchmal: Sie halten fest, sie wollen die Person besitzen, die sie lieben, sie fesseln Menschen an sich. Ob auch Jesus das tun würde? Und was, wenn Gott die große Illusion wäre, wenn man es sich nur vormachen würde, da gäbe es den, der uns vollkommen liebt? Viele moderne Menschen denken ja, der Mensch sei allein auf der Welt und müsse sich als Erwachsener frei machen von solchen Wunschvorstellungen. Wir sind schließlich keine Kinder mehr, denken sie, und müssen Abschied nehmen von kindlichen Wünschen.

Um all diesen Ängsten zu begegnen, um Mut zum Glauben zu gewinnen, brauchen auch wir immer wieder neue Kraft. Nicht nur unser Körper braucht Gymnastik oder Bodybuilding, sondern auch unser Herz braucht ein Kraft-Training. „Stärkt eure Herzen“, sagt Jakobus.

Und wie ein solches Krafttraining für die Seele aussehen kann, das können wir uns am Bild des Regens klarmachen, des Frühregens und des Spätregens:

Auch unser Herz braucht sozusagen den aufweichenden Frühregen, Begegnungen von einer Sanftheit, die uns Mut machen, überhaupt etwas von außen zu erwarten, was uns nicht ängstigt oder einsperrt. Wie schwer ist es, Vertrauen zu fassen, erst ein kleines bisschen, dann noch ein Stück mehr, bis es schließlich immer größer und tragfähiger wird.

Wenn allerdings das Vertrauen zu bestimmten Menschen wächst, und vielleicht auch das Vertrauen zu dem Gott, der in Jesus war, dann wächst auch der Hunger danach, nun auch wirklich etwas zu bekommen von diesem Gegenüber: Halt, Stärkung, Stütze, Zuspruch, Ermutigung, Liebe – wie einen nährenden Spätregen.

Das sind alles Dinge, die man sich selbst nicht geben kann, wenn man sie nie oder nur unzureichend erfahren hat. Und es ist wichtig, dass man das alles erfährt, um es mit der Zeit in sich selber hereinzunehmen, um mit der Zeit auch einen inneren Halt zu empfinden, auch sich selbst liebhaben zu können. Mit der Zeit, sage ich, auch hierfür ist wieder Geduld vonnöten. Auch das Zutrauen zu sich selbst wächst langsam, Schritt für Schritt.

Tun kann man anscheinend nicht viel in diesem ganzen Vorgang des Wachsens von Vertrauen und Selbstvertrauen. Allerdings – etwas muss man doch tun: Wenn der Bauer nicht gesät hat, kann kein Same aufgehen. Wenn er meint, es hat von vornherein keinen Zweck, überhaupt von einem solchen Acker etwas zu erwarten, dann kann natürlich nichts aufgehen.

Das ist der Punkt, an dem Menschen mit Recht von sich sagen: Da gibt es etwas, was mir keiner abnehmen kann. Ich muss selbst entscheiden, ob ich in meinem Leben etwas ändern will. Ich muss zum Beispiel selbst entscheiden, ob ich überhaupt aufhören will, zu trinken, in Abhängigkeiten drinzubleiben, meinem alten Lebensmuster zu folgen. Diese Entscheidung kann einem wirklich niemand abnehmen. Die muss jeder allein für sich selbst treffen.

Man muss die Entscheidung allein treffen, selbst treffen, aber das andere ist auch wahr: Man kann die Entscheidung nicht allein in die Tat umsetzen. Die Veränderung einer ganzen Lebenshaltung braucht nicht nur viel Zeit, sondern auch viel Kraft und Energie, braucht damit auch Hilfe von außen. Hilfe zur Klärung. Stärkung und Ermutigung für neue Schritte. Begleitung in der Krise, in all dem, was weh tut auf dem Weg der Veränderung. Es ist also auch notwendig, dass man Hilfe an sich heranlässt, Menschen, die einen begleiten können, die stark genug sind, um einen in guter Weise stützen und vorangehen lassen zu können. Menschen, die all die Angst, all die Tränen, bis hin zur Verzweiflung, aushalten können, die all das mittragen, was zum Vorschein kommt, wenn jemand für sich selbst einen ganz neuen Weg beschreitet.

Jetzt vor Weihnachten sprechen wir wieder bewusst davon: „Das Kommen des Herrn ist nahe“. Wir haben einen Gott, der uns nahe kommt. So nahe wie ein neugeborenes Kind, das uns anvertraut ist. So nahe wie der erwachsene Jesus, dem viele Menschen unmittelbar abspürten, dass ihr Leben durch ihn anders werden konnte und zu dem sie Vertrauen fassten.

Dieser Gott in Jesus Christus bietet sich auch uns an. Er enttäuscht unser Vertrauen nicht. Er tritt uns nicht zu nahe. Er engt uns nicht ein, sondern führt uns in die Freiheit. Er stillt unsere Sehnsucht nach Liebe und macht uns nicht von sich abhängig. Er erzeugt in uns keine Sucht nach Gott, sondern er freut sich, wenn wir durch das Vertrauen zu ihm frei werden – frei, um gut zu uns selbst zu sein, und frei, um liebevolle Beziehungen aufnehmen zu können zu anderen Menschen. Der Gott, der uns nahe kommt, er schenkt uns ein Leben in Freiheit.

Wir singen ein Loblied auf den Herrn, der zu uns kommt:

Lobt den Herrn, lobt den Herrn, unter uns erblüht sein Stern

Schließen möchte ich meine Besinnung mit dem Gebet um Gelassenheit, das Sie alle kennen:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann.

Gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann.

Und gib mir die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden!

Gemeinsam beten wir:

Vater unser

Zum Schluss singen wir noch das bekannte Adventslied:

Macht hoch die Tür, die Tor macht weit; es kommt der Herr der Herrlichkeit, ein König aller Königreich, ein Heiland aller Welt zugleich, der Heil und Leben mit sich bringt, derhalben jauchzt, mit Freuden singt: Gelobet sei mein Gott, mein Schöpfer reich von Rat.

Komm, o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist. Ach zieh mit deiner Gnaden ein; dein Freundlichkeit auch uns erschein. Dein heilger Geist uns führ und leit den Weg zur ewgen Seligkeit. Dem Namen dein, o Herr, sei ewig Preis und Ehr.

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken des Kommentars stimmen Sie seiner Veröffentlichung zu (siehe Datenschutzerklärung). Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.