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Unser Erlöser – Löwe oder Lamm?

Der Löwe aus dem Stamm Juda löst die Weltprobleme nicht mit Gewalt. Er ist das Lamm Gottes, das am Kreuz gehangen hat. Der natürliche Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden soll in der Menschenwelt überwunden werden. Menschen sind nicht einfach Material oder Futter für andere, dürfen nicht Mittel zum Zweck sein, sondern jeder Mensch ist kostbar, einmalig, ein liebenswertes Geschöpf Gottes.

Ein Lamm und ein Löwe aneinandergeschmiegt vor einem blauen Himmel mit Sonnenstrahlen
Ist Jesus eher mit einem Löwen oder einem Lamm zu vergleichen? (Bild: Jeff JacobsPixabay)

Gottesdienst um „halb 6 in Paulus“ am 1. Adventssonntag, 27. November 2005, um 17.30 Uhr in der evangelischen Pauluskirche Gießen
Orgelvorspiel: Ave verum

Guten Abend, liebe Gemeinde!

Heute beginnt für die Kirche mit dem 1. Advent ein neues Kirchenjahr, und ich begrüße Sie und Euch im Namen des „Teams halb 6“ herzlich in der Pauluskirche!

Advent heißt: Ankommen. Vorfreude auf Weihnachten. Wir stellen uns ein auf den, der zu uns kommt im Kind in der Krippe. Gott will bei uns ankommen in seinem Sohn Jesus Christus.

Aber was ist das für einer, dieser Gottmensch, der da zu uns auf die Welt kommt als ein Kind wie du und ich? Die Bibel vergleicht ihn einmal mit zwei Tieren, mit einem Löwen und mit einem Lamm. In der Offenbarung 5, 5-6.8.12, lesen wir:

Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.

Und ich sah … ein Lamm stehen, wie geschlachtet; … und sie fielen nieder vor dem Lamm … und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel.

Mit dem Löwen aus dem Stamm Juda ist Jesus gemeint. Aber Jesus ist auch das Gotteslamm. Der Löwe ist stark genug, das Buch mit den sieben Siegeln zu öffnen, er hat Macht über die Geheimnisse der Welt und kann uns erlösen, dieser Löwe, der zugleich ein Lamm ist. Wie ist Jesus denn nun: Ist er löwenstark oder lammfromm, oder ist er beides zugleich?

Wir singen das Lied 12:

1. Gott sei Dank durch alle Welt, der sein Wort beständig hält und der Sünder Trost und Rat zu uns hergesendet hat.

2. Was der alten Väter Schar höchster Wunsch und Sehnen war und was sie geprophezeit, ist erfüllt in Herrlichkeit.

3. Zions Hilf und Abrams Lohn, Jakobs Heil, der Jungfrau Sohn, der wohl zweigestammte Held hat sich treulich eingestellt.

4. Sei willkommen, o mein Heil! Dir Hosianna, o mein Teil! Richte du auch eine Bahn dir in meinem Herzen an.

Wir feiern unseren Gottesdienst im Advent, in der Erwartung dessen, der da kommt, im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Lamm und Löwe, man kann sich kaum gegensätzlichere Tiere vorstellen. Wie können beide zum Symbol des Gottessohnes werden, auf dessen Geburt wir in der Adventszeit zugehen? Um uns einzustimmen auf die Symbolik von Löwe und Lamm, haben wir Ihnen Bilder von beiden in die Bänke gelegt. Wir fragen uns: Wie wollen wir eigentlich sein: lammfromm oder löwenstark? Wer von Ihnen meint, er ist immer lammfromm? Der halte das Lamm hoch. Und wer meint, er ist immer löwenstark? Der soll den Löwen hochhalten.

Das waren offenbar Fragen, auf die man nur schwer mit Ja antworten kann. Machen wir es einfacher. Wenn Sie ein Tier wären, was von beidem wären Sie lieber, Löwe oder Lamm?

Oder stellen Sie sich einen Boxkampf vor: Wer wären Sie lieber – der KO am Boden liegt (Lamm) oder der den andern KO geschlagen hat (Löwe)?

Jetzt etwas Schwierigeres: Stellen Sie sich vor, Sie treten eine neue Arbeitsstelle in einer Firma an. Sie merken schnell, dass Bodo ein sehr unbeliebter Mitarbeiter ist. Niemand will mit ihm zusammenarbeiten, in der Pause sitzt er immer alleine da. Wortführer derer, die auf ihm herumhacken, ist Markus, der sehr ehrgeizig ist. Seiner Meinung nach drückt Bodo das Tempo der ganzen Abteilung; am besten wäre es, wenn er entlassen würde. Überlegen Sie jetzt: Wenn Sie lieber an der Stelle von Bodo wären, heben Sie das Lamm hoch! Wären Sie lieber an der Stelle von Markus, zeigen Sie den Löwen! Und noch eine Frage zu dieser Geschichte: Sie selbst sind ja jetzt neu in dieser Firma. Würden Sie gern die Anerkennung von Markus gewinnen, dann zeigen Sie den Löwen! Oder würden Sie sich gern mit Bodo näher bekanntmachen und ihn unterstützen, dann wählen sie das Lamm!

Noch eine letzte Situation: Sie reden am Stammtisch miteinander, und es geht hoch her in der Diskussion. Jemand schimpft auf die Arbeitslosen, die dem Staat nur das Geld aus der Tasche ziehen. Jetzt stellen Sie sich vor, Ihr bester Freund ist schon lange arbeitslos und findet einfach keine Arbeit. Er würde alles annehmen, wenn er nur ein Angebot bekäme. Was tun Sie in der Diskussion? Bleiben Sie still, weil man sich gegen die Wortführer ja doch nicht durchsetzen kann? Der hebe das Lamm hoch! Oder melden Sie sich zu Wort und sagen deutlich, dass nicht jeder Arbeitslose ein Sozialschmarotzer ist? Der darf den mutigen Löwen hochheben.

Lamm oder Löwe – es ist gar nicht so einfach mit diesen Bildern. Vielleicht möchten wir nicht so schwach wie ein Lamm sein, aber auch nicht rücksichtslos wie ein Löwe in Menschengestalt. Vielleicht möchten wir mutig wie ein Löwe sein, aber wir fühlen uns doch eher ängstlich und ausgeliefert wie ein kleines Lämmchen.

Wie hat Jesus das bloß geschafft, beides unter einen Hut zu bringen, lammfromm und löwenstark zugleich zu sein?

Wir singen das Adventslied 19, in dem Jesus als Osterlamm besungen wird und zugleich zwar nicht als Löwe aus Judas Stamm, aber doch als Sohn aus Davids Stamm:
O komm, o komm, du Morgenstern

Liebe Gemeinde, wenn wir an Jesus denken, dann fällt uns eher das Bild vom Lamm Gottes ein, nicht vom Löwen aus dem Stamm Juda. Die Stelle in der Offenbarung, die wir gehört haben, ist die einzige, an der Jesus überhaupt mit einem Löwen verglichen wird. Doch heute, am ersten Advent, ist uns genau diese Stelle als Predigttext vorgeschlagen. Und deshalb habe ich mir die Mühe gemacht, einmal die Spur dieses Bildes vom Löwen Juda durch die Bibel hindurch zu verfolgen. Denn ich glaube, dass wir dann auch besser begreifen, was mit dem Bild vom Lamm Gottes überhaupt gemeint ist.

Im Alten Testament kommt das Lamm fast nur als Schlachtvieh oder Opfertier im Tempel vor. Zum Beispiel wird im 3. Buch Mose, Kapitel 14, der Priester aufgefordert (Levitikus 14):

12 Und er soll das … Lamm nehmen und zum Schuldopfer darbringen.

Für Hunderte von Jahren kam es dem Volk Israel nicht in den Sinn, sich selbst als Volk oder einen Menschen aus ihren Reihen mit einem Lamm zu vergleichen.

Sehr oft ist dagegen im Alten Testament von Löwen die Rede. Es lohnt sich, einmal genauer hinzuhören, was dabei alles anklingt.

Beginnen wir mit Psalm 104. In diesem Lied, das Gottes Schöpfung preist, heißt es von den jungen Löwen:

20 Du machst Finsternis, dass es Nacht wird; da regen sich alle wilden Tiere,

21 die jungen Löwen, die da brüllen nach Raub und ihre Speise suchen von Gott.

22 Wenn aber die Sonne aufgeht, heben sie sich davon und legen sich in ihre Höhlen.

Halten wir fest, dass die Bibel den Löwen ganz realistisch als ein Raubtier betrachtet, das Beute machen muss, um zu überleben. Wer als Vegetarier zu leben versucht, mag es bedauerlich finden, dass sich in Gottes Schöpfung Leben von anderem Leben ernährt, sei es von Pflanzen oder von Tieren; doch ausgerechnet von den Löwen singt Psalm 104, dass sie ihre Nahrung von Gott verlangen.

Damit wir nicht nur Bibeltexte am laufenden Band hören, singen wir zwischendurch ein Lied, das ursprünglich kein Kirchenlied ist: „The Lion Sleeps Tonight“. Aber wir lassen heute abend den Löwen nicht auf Englisch schlafen, sondern wir singen einen deutschen Text dazu. Genau genommen singe ich den Text der Strophen, und ich bitte Sie, die Hintergrundmusik zu singen.

Einige singen durchgehend (während jeder Strophe 4 Mal):

„Der Löwe brüllt, der Löwe brüllt.“

Wer will mitbrüllen?

Andere singen dazu den Text:

„Wie ein Löwe, ein junger Löwe, fühl ich mich mutig und stark.“

Wer will jung, mutig, stark diesen Löwenvers singen?

Und ich singe dazu die erste Strophe des Liedes:

1. Wer steht auf und wer brüllt nach Beute mitten in der Nacht? Löwenkinder, die brauchen Nahrung und kriegen sie von Gott.

Die Bibel kennt aber nicht nur den realen Löwen in freier Wildbahn, sondern benutzt das Bild des Löwen auch zur Beschreibung der Eigenart bestimmter Menschen. Das Buch der Sprüche vergleicht sowohl gottlose als auch gerechte Menschen mit einem Löwen (Sprüche 28, 15):

15 Ein Gottloser, der über ein armes Volk regiert, ist wie ein brüllender Löwe und ein gieriger Bär.

Ein Gottloser ist in der Bibel ein Mensch ohne Gottvertrauen, der sich rücksichtslos nimmt, was ihm nicht zusteht, weil er nicht bereit ist, sich mit dem zu bescheiden, was ihm aus Gottes Hand geschenkt ist. Was beim Löwen zu seiner Raubtiernatur gehört, wird beim Menschen zur aggressiven Gewalttat gegen den schwächeren Artgenossen, die nicht von Gott gewollt ist. Doch auch der Mensch, der auf Gott sein Vertrauen setzt, kann mit einem Löwen verglichen werden (Sprüche 28, 1):

1 Der Gottlose flieht, auch wenn niemand ihn jagt; der Gerechte aber ist furchtlos wie ein junger Löwe.

Es ist der Mut des Löwen, seine Furchtlosigkeit, die Überwindung der Angst, die den Gerechten auszeichnet.

Wir singen die zweite Strophe aus dem Löwenlied:

2. Der Gerechte ist wie ein Löwe, stark und ohne Furcht. Er flieht nicht, wenn die Ängste kommen mitten in der Nacht.

Jesus ist offenbar ein solcher Gerechter, dessen mutige Überwindung der Angst mit der Furchtlosigkeit des Löwen verglichen wird.

Aber die Offenbarung nennt ihn ja nicht nur allgemein einen Löwen, sondern den Löwen aus dem Stamm Juda. Und um zu verstehen, was mit dem Löwen Juda gemeint ist, suchen wir nach weiteren Stellen, an denen konkret von diesem Löwen die Rede ist.

Juda ist einer der Söhne des israelitischen Stammvaters Jakob. Versetzen wir uns mit dem 1. Buch Mose, Kapitel 49, ans Sterbebett Jakobs und hören wir aus der Segensansprache an seine zwölf Söhne die Worte an Juda (Genesis 49):

1 Jakob berief seine Söhne und sprach: Versammelt euch, dass ich euch verkünde, was euch begegnen wird in künftigen Zeiten.

9 Juda ist ein junger Löwe. Du bist hochgekommen, mein Sohn, vom Raube. Wie ein Löwe hat er sich hingestreckt und wie eine Löwin sich gelagert. Wer will ihn aufstören?

10 Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der Held komme, und ihm werden die Völker anhangen.

Ein eigenartiger Segen an einen Mann der Bibel: als ob die Macht des Stärkeren gesegnet würde, als ob es etwas Gutes wäre, durch Raubzüge reich zu werden. Klar machen muss man sich, dass dieser Segen einem Volk zugesprochen wird, dass fast nie zu den Überlegenen gehörte, sondern fast immer zu den Schwachen. Ihnen, die den Starken ausgeliefert waren wie ein Lamm, ist Löwenstärke verheißen. Jakob verheißt seinem Sohn Juda: „Wie ein Löwe seine Beute findet, so wirst auch du satt werden; wie eine Löwin sich ungestört lagern kann, so wirst auch du in deinen Zelten sicher wohnen.“

Wir singen die dritte Strophe des Löwenliedes:

3. Juda ist wie ein junger Löwe, der seine Beute macht. Wie die Löwin streckt er sich hin, und es stört sie niemand auf.

Als die 12 Söhne Jakobs in Ägypten zu einem starken Volk werden, der Sklaverei entfliehen, 40 Jahre durch die Wüste wandern, da kommen sie durch das Land der Moabiter. Und der König dieses Volkes, Balak heißt er, beauftragt einen Propheten mit Namen Bileam, er solle das Volk Israel verfluchen. Wir lesen im 4. Buch Mose (Numeri 23):

17 Balak sprach zu ihm [Bileam]: Was hat der HERR gesagt?

18 Und er hob an mit seinem Spruch und sprach: Steh auf, Balak, und höre! …

20 Siehe, zu segnen ist mir befohlen; er hat gesegnet, und ich kann’s nicht wenden.

21 Man sieht kein Unheil in Jakob und kein Verderben in Israel. Der HERR, sein Gott, ist bei ihm…

24 Siehe, das Volk wird aufstehen wie ein junger Löwe und wird sich erheben wie ein Löwe; es wird sich nicht legen, bis es den Raub verzehrt und das Blut der Erschlagenen trinkt.

Ungewohnte Töne hören wir da aus der Bibel! Auch hier geht es um den Löwen, der nicht überleben könnte, wenn er nicht Beute machen und von anderem Leben leben würde. Bileam segnet das Volk Israel: „Obwohl du eins der kleinsten Völker bist, wirst du stark sein wie ein Löwe und dich durchsetzen unter den Völkern. Du wirst nicht am Hunger zugrundegehen.“

Wir singen die vierte Strophe des Löwenliedes:

4. Wer steht auf wie ein junger Löwe, der den Hunger stillt? Israel ist der junge Löwe, den Gott nicht verlässt.

Als Israel im Land Kanaan Fuß fasst und sich dort ausbreitet, bleibt es immer noch bedroht durch umliegende Völker. Schließlich wählt es einen König, um sich gegen die Feinde besser schützen zu können. Doch der erste König Saul und sein Sohn Jonathan sterben im Krieg. Sein Nachfolger David hört davon und singt ein Lied (2. Samuel 1):

17 Und David sang dies Klagelied über Saul und Jonatan, seinen Sohn…

19 Die Edelsten in Israel sind auf deinen Höhen erschlagen…

23 Saul und Jonatan, geliebt und einander zugetan, im Leben und im Tod nicht geschieden; schneller waren sie als die Adler und stärker als die Löwen.

Löwenstärke wird hier den Anführern des Volkes Israel zugeschrieben, eines kleinen Volkes, das sich nur mit Mühe als eigenständiges Volk erhalten kann. Bis in die heutige Zeit hinein bleibt dieses kleine Volk Israel mit seiner Löwenstärke ein Vorbild für moderne Völker, die sich gegen Unterdrückung zur Wehr setzen, zum Beispiel für die Rastafaris in Jamaika zur Zeit der Besetzung durch die Engländer.

Der jamaikanische Reggae-Musiker Bob Marley hat einmal ein Lied über den Löwen von Juda gesungen, in dem es heißt:

I’m gonna be iron like a lion in zion. Ich muss eisenhart sein wie der Löwe von Juda. Ich bin auf der Flucht, aber ich habe keine Waffe. Die anderen halten sich für die Größten, deshalb führen sie einen Krieg gegen unseren Stamm. Ich muss eisenhart sein wie der Löwe von Juda. I’m gonna be iron like a lion in zion.

Wir singen die fünfte Strophe unseres Löwenliedes:

5. Löwenstark und schnell wie ein Adler ist das kleine Volk. Eisenhart ist der Löwe Juda, der sich wehren muss.

Nur wenige Jahrhunderte lang bleibt Israel ein eigenständiges Volk. Schon nach dem Tod des Königs Salomo wird es in zwei Reiche geteilt, Israel und Juda. 721 vor Christus wird das Nordreich Israel von den Assyrern vernichtet, 586 werden die Bewohner des Südreichs Juda nach Babylon verschleppt. Erst zweieinhalb Tausend Jahre später, nach dem Zweiten Weltkrieg, können die Juden wieder einen eigenen Staat gründen. Warum erzähle ich das alles? Weil der Prophet Hesekiel im 19. Kapitel seines Buches die Gründe für den Untergang seines Volkes nennt, indem er ebenfalls auf das Bild des Löwen zurückgreift (Hesekiel 19):

1 Stimm ein Klagelied an über die Fürsten Israels

2 und sprich: Welch eine Löwin war deine Mutter! Unter Löwen lagerte sie, unter jungen Löwen zog sie ihre Jungen auf.

3 Und eins ihrer Jungen zog sie groß, und es wurde ein junger Löwe daraus; der lernte, Tiere zu reißen, ja, Menschen fraß er.

4 Da boten sie Völker gegen ihn auf, fingen ihn in ihrer Grube und führten ihn in Ketten nach Ägyptenland.

Dass der Löwe in einer Grube gefangen wird, erinnert an Josef, der von seinen eigenen Brüdern in eine Grube geworfen und nach Ägypten verkauft wurde. Aber mit der „Löwin unter Löwen“ ist Hamutal gemeint, die Frau des judäischen Königs Josia. Sie bringt nach dem Tod ihres Mannes zuerst ihren Sohn Joahas auf den Thron des Staates Juda. Er regiert nur drei Monate und gerät dann in ägyptische Gefangenschaft. 12 Jahre später wird ihr anderer Sohn Zedekia der letzte König von Juda:

5 Als nun die Mutter sah, dass ihre Hoffnung verloren war, nachdem sie lange gehofft hatte, nahm sie ein andres von ihren Jungen und machte einen jungen Löwen daraus.

6 Der lebte unter den Löwen, wurde ein junger Löwe und lernte Tiere zu reißen, ja, Menschen fraß er.

7 Er zerstörte ihre Burgen und verwüstete ihre Städte, dass das Land und was darin war vor seinem lauten Brüllen sich entsetzte.

8 Da stellten sie Völker aus allen Ländern ringsumher gegen ihn auf und warfen ihr Netz über ihn und fingen ihn in ihrer Grube

9 und stießen ihn gefesselt in einen Käfig und führten ihn zum König von Babel; und man brachte ihn in Gewahrsam, damit seine Stimme nicht mehr gehört würde auf den Bergen Israels.

Hier wird der Löwe, so stark er auch sein mag, von einem Stärkeren gefesselt und in einem Käfig nach Babel geführt. Damit erinnert Hesekiel an die Verbannung der Juden nach Babylon, die elf Jahre nach Regierungsantritt Zedekias stattfindet, im schon erwähnten Jahr 586 vor Christus. Und der Prophet begründet den Niedergang seines Volkes damit, dass sich seine führenden Persönlichkeiten wie Löwinnen und Löwen verhalten, die rücksichtslos nicht nur Tiere reißen, sondern auch Menschen fressen. Wie in den Sprüchen ein Gottloser mit einem gewalttätigen, gierigen Löwen verglichen wird, so gerät hier die Führung des Volks der Juden in ein schlechtes Licht; das Bild des Löwen Juda bezeichnet nicht mehr Furchtlosigkeit, sondern aggressive Überheblichkeit, die mit Demütigung und Gefangenschaft bestraft wird.

Wir singen die sechste Strophe des Löwenliedes, von der Verbannung nach Babylon, aber jetzt singt die eine Gruppe nicht mehr „Der Löwe brüllt“, sondern „Der Löwe schweigt“:

6. Wenn der Löwe Juda sich nur auf seine Kraft verlässt, fängt man ihn und schleppt ihn weg, dass er nicht mehr brüllen kann.

Der Prophet Hosea weiß noch einen anderen, tieferen Grund, warum die Stärke des Löwen Juda nicht ausgereicht hat, um seinen Fortbestand als Staat zu sichern. Er überliefert im 13. Kapitel folgendes Wort von Gott (Hosea 13):

4 Ich aber bin der HERR, dein Gott, von Ägyptenland her, und du solltest keinen andern Gott kennen als mich und keinen Heiland als allein mich.

5 Ich nahm mich ja deiner an in der Wüste, im dürren Lande.

6 Aber als sie geweidet wurden, dass sie satt wurden und genug hatten, erhob sich ihr Herz; darum vergessen sie mich.

7 So will ich für sie wie ein Löwe werden und wie ein Panther am Wege auf sie lauern.

8 Ich will sie anfallen wie eine Bärin, der ihre Jungen genommen sind, und will ihr verstocktes Herz zerreißen und will sie dort wie ein Löwe fressen; die wilden Tiere sollen sie zerreißen.

9 Israel, du bringst dich ins Unglück; denn dein Heil steht allein bei mir.

Wenn der Löwe Juda Gott vergisst, bringt er sich ins Unglück; Gott wird dann für sein eigenes Volk wie eine Löwin, der man ihre Jungen genommen hat. Schrecklich klingen die Worte des Hosea, wenn er die Katastrophe, in der sein Volk untergeht, so deutet, als ob Gott sein eigenes Volk frisst. Gott tut das nicht buchstäblich, er ist kein Moloch, dem tatsächlich Kinder geopfert werden. Geschildert werden die Folgen, wenn ein Volk sich nur auf Machtpolitik verlässt und nicht nach Gerechtigkeit fragt.

Als siebte Strophe des Löwenliedes singen wir die Gottesstrophe:

7. Gottes Volk bringt sich selbst ins Unglück, wenn es nicht an Gott denkt. Gott will ihnen ein Löwe werden, ja, schrecklich ist der Herr.

So viel hören wir im Alten Testament vom Löwen Juda. Zum Schluss ist von der Größe dieses Löwen nicht viel übrig geblieben. Ich habe sehr weit ausgeholt, um die Größe und die Tragik des Löwen Juda zu beschreiben. Das Volk Israel klagt vor Gott, dass es sich selbst ins Unglück gestürzt hat, weil es nicht genug auf Gott vertraut hat.

Gibt es in dieser Situation noch Rettung? Rettung für Israel nach dem Untergang des Staates Juda? Rettung für die Verbannten in Babylon? Rettung für Menschen wie wir, die immer wieder machtlos vor politischen Realitäten stehen, vor wirtschaftlicher Not, vor ausweglosen Teufelskreisen, vor unerträglichem seelischen Druck?

In dieser harten Zeit der Verbannung in Babylon, in der das Bild vom starken Löwen Juda zerbrochen ist, kommt das Lamm ins Spiel. Die Juden fangen an, einen Retter zu erwarten, der nicht mit einem Löwen, sondern mit einem Lamm verglichen wird. Von ihm lesen wir im Buch Jesaja, Kapitel 53:

3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.

6 Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn.

7 Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.

8 Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen.

Hier sieht der Gerechte nicht mehr wie ein mächtiger Löwe aus, sondern wie ein zur Schlachtbank geführtes Lamm. Das Volk der Juden, dem alle politische Macht genommen ist, kann nicht mehr auf äußere Kraft und Stärke bauen. Aber worauf kann es sich dann verlassen? Nur auf Gott, der das Volk auch jetzt nicht allein lässt. Wer hätte nach dem Untergang des Staates Juda gedacht, dass das Volk der Juden noch eine Zukunft haben würde? Gott lässt sein Volk nicht im Stich, trotz vieler Verfolgungen und starker Feinde hat es überlebt und lebt noch heute.

Wenn wir fragen, wo die Löwenstärke des Löwen Juda geblieben ist, dann können wir mit dem Propheten Jesaja sagen: Das Lamm selbst ist sozusagen löwenstark geworden, denn es ist „aus Angst und Gericht hinweggenommen“. Furchtlos wie ein Löwe nimmt es sogar den Tod auf sich, da es weiß, dass Gott auf seiner Seite ist.

Hören wir noch zwei Verse aus dem Lied vom Gottesknecht, dem Lamm Gottes:

11 Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden.

12 Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben, und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.

Es sind diese Verse, die in der christlichen Überlieferung als Vorausschau auf Jesus Christus gedeutet worden sind.

Und hier können wir nun auch eine Antwort auf die Frage finden, wie das Bild vom Löwen Juda auf Jesus passt. Erinnern wir uns: Jesus wird in der Offenbarung nicht gleichgesetzt mit dem Löwen Juda selbst, sondern er wird als „Löwe aus dem Stamm Juda“ bezeichnet. Also nicht ein starker Löwe im Sinne eines Kriegshelden wie Saul oder David will Jesus werden. Kein neues Reich Israel will er aufrichten und mit Kriegszügen gegen seine Feinde schützen. Trotzdem geht Jesus hervor aus dem Volk der Juden, das machtpolitisch in den Untergang geraten ist. Er übernimmt die Rolle des Lammes, das den Hunger der Löwen kennt und dem Gewaltdurst der Mächtigen ausgeliefert ist und auf das Gott die Sünde von uns allen geworfen hat. Jesus trägt alle diese Lasten und wird auf diese Weise „Vielen Gerechtigkeit schaffen“.

Vom Sieg des Löwen aus Judas Stamm über die Sünde, der zugleich das Gotteslamm ist, gibt es im ganzen Evangelischen Gesangbuch nur eine einzige Liedstrophe, und die ist in einem Osterlied, nicht in einem Adventslied zu finden. Ich möchte sie trotzdem mit Ihnen singen, im Lied 114 die Strophe 6:

6. Es hat der Löw aus Judas Stamm heut siegreich überwunden, und das erwürgte Gotteslamm hat uns zum Heil erfunden das Leben und Gerechtigkeit, weil er nach überwundnem Streit den Feind zur Schau getragen.

Lesen wir jetzt noch einmal im Zusammenhang die Verse aus der Offenbarung des Johannes über Jesus als den Löwen aus dem Stamm Juda und als das Lamm Gottes im Kapitel 5:

1 Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln.

2 Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?

3 Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen.

4 Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.

Wir müssen heute nicht diesen ganzen Text verstehen; fühlen wir nur diese Traurigkeit ein bisschen mit: denn dieses Buch mit sieben Siegeln ist nicht einfach irgendein Buch, das man nicht versteht, sondern es geht um die ganze Weltgeschichte, die uns mit all dem Bösen und dem Leid, mit all den Geschichten von starken Löwen und dahingeschlachteten Lämmern ein ewiges Rätsel bleibt.

5 Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.

6 Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Gestalten und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande.

Wieder geht es heute nicht darum, alle diese Bilder aufzulösen. Lassen wir nur dieses Bild auf uns wirken: Der Löwe aus dem Stamm Juda ist kein Machtmensch, der einen Gordischen Knoten mit dem Schwert durchhaut oder die Weltprobleme mit Gewalt zu lösen versucht. Er ist das Lamm Gottes, das am Kreuz gehangen hat, wie geschlachtet. Und doch ist es nicht schwach; es hat Hörner, es hat gute Augen. Es nimmt wahr, wo Menschen leiden, und steht ihnen zur Seite in allen Landen, unsichtbar in seinen sieben Geistern. Vielleicht sind damit die Engel Gottes gemeint, vielleicht auch sieben Gaben des Heiligen Geistes.

7 Und [das Lamm] kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß.

8 Und als es das Buch nahm, da fielen [alle] nieder vor dem Lamm…

9 und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen

10 und hast sie unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden.

Warum ist das Lamm Gottes stärker als der ursprüngliche Löwe Juda? Von dem war gesagt worden, dass er die Beute reißt und ihr Blut trinkt. Das Lamm Gottes dagegen, Jesus Christus, lässt sich selber töten, vergießt kein fremdes Blut, sondern lässt sein eigenes Blut vergießen.

Damit setzt Jesus ein deutliches Zeichen: der natürliche Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden, der in der Natur normal ist und an dem wir Menschen auch Anteil haben, weil wir essen müssen, um zu überleben, dieser Kreislauf soll in der Menschenwelt überwunden werden. Menschen sind nicht einfach Material oder Futter für andere, dürfen niemals einfach Mittel zum Zweck sein, sondern jeder Mensch ist kostbar, einmalig, ein liebenswertes Geschöpf Gottes. Das ist der Unterschied zwischen der Stärke des Löwen und der Stärke des Lammes: Das Lamm ist stärker als der Löwe, weil es die Kraft der unendlichen Liebe Gottes verkörpert. Sie überwindet den Tod und das Böse, weil sie dem Bösen nur Gutes entgegensetzt und aus Liebe sogar den Tod zu erleiden bereit ist.

Dass der Tod damit endgültig überwunden ist, ist für uns hier auf Erden allerdings noch nicht sichtbar. Es ist ein Geheimnis, das auch mit in dem Buch mit den sieben Siegeln steht. Aber im Vertrauen auf den Christus, den wir in der Adventszeit erwarten, dürfen wir gewiss sein: Das Lamm ist auferstanden und sitzt mit Gott auf dem Thron im Himmel. Und es ist jeden Tag bei uns mit der Kraft seiner Liebe. Amen.

Frau Burk und ich singen jetzt das Lied „We will glorify the Lamb“ – „Wir loben den König der Könige, wir loben das Lamm – wir loben den Herrn aller Herren, er ist der, der von sich sagt: ICH BIN, DER ICH BIN“.

1. We will glorify the King of kings, we will glorify the Lamb; we will glorify the Lord of Lords, who is the great I AM.

2. Lord Jehovah reigns in majesty, we will bow before his throne; we will worship him in righteousness, we will worship him alone.

3. He is Lord of heaven, Lord of earth, he is Lord of all who live; he ist Lord above the universe, all praise to him we give.

4. Hallelujah to the King of kings, hallelujah to the Lamb; hallelujah to the Lord of lords, who is the great I AM.

Gott sei bei uns, mit der Sanftmut des Lammes und mit der Furchtlosigkeit des Löwen. Mach uns mutig, dem Bösen entgegenzutreten, wo es seinen Löwenrachen aufsperrt. Mach uns stark, dem Bösen nicht mit Verhärtung, nicht mit Hass oder Selbsthass zu begegnen, sondern mit der Kraft des Selbstvertrauens und der Liebe. Lass uns gewiss sein, dass du stärker bist als Tod und Teufel, stärker auch als alle menschliche Bosheit. Sei bei uns mit der Löwenstärke des Lammes und schenke sie auch uns. Amen.

In der Stille bringen wir vor dich, was wir außerdem auf dem Herzen haben:

Gebetsstille und Vaterunser

Wir singen zum Schluss das Lied „Tochter Zion“, aber mit einem Text, der heute zum Thema passt:

1. Wer ist der Löwe aus Judas Stamm? Seht ihn, er liegt in der Krippe: Gottes Lamm! Seine Macht ist die des Lammes, er vergießt kein Blut. Nein, er lässt sich selber töten. Liebe besiegt den Tod. Wer ist der Löwe aus Judas Stamm? Seht ihn, er liegt in der Krippe: Gottes Lamm!

2. Wie eine Löwin über ihre Jungen wacht, so geht mit uns Jesus Christus Tag und Nacht, leitet uns mit seiner Liebe, gibt uns Kraft und Mut, tröstet uns wie eine Mutter: „Es wird alles gut.“ Wie eine Löwin über ihre Jungen wacht, so geht mit uns Jesus Christus Tag und Nacht.

3. Lamm oder Löwe, wer regiert auf Gottes Thron? Gottes Lamm hat Löwenstärke, der Mariensohn. Allmacht heißt nicht: alles können. Nur die Liebe zählt. Gottes Allmacht ist die Liebe, die das All beseelt. Lamm oder Löwe, wer regiert auf Gottes Thron? Gottes Lamm hat Löwenstärke, der Mariensohn.

Abkündigungen, Segen und Klaviernachspiel

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