Bild: Helmut Schütz

Aufstehen – unmöglich?

Die Menschenmenge ist für den Gelähmten eine zusätzliche Behinderung. Sie könnten ihn durchlassen. Tun sie aber nicht. Jeder will den vordersten Platz. Je größer eine Menschenmenge, je anonymer eine Gesellschaft, um so verlorener kann sich ein Einzelner in ihr vorkommen. Aber gegen diese Verlorenheit ist ein Kraut gewachsen: Phantasie und Zivilcourage. Die vier Helfer des Gelähmten betätigen sich als Dachabdecker.

Blick vom Dachboden der Pauluskirche Gießen nach oben durch ein von einem Dachdecker gerade abgedecktes Stück des Daches
So sah es aus, als im Zuge der Dachsanierung der Pauluskirche das Dach abgedeckt wurde

#predigtTaufgottesdienst am 19. Sonntag nach Trinitatis, den 18. Oktober 2009, um 10.00 Uhr in der evangelischen Pauluskirche Gießen

Auf Grund eines plötzlichen Krankenhausaufenthalts von Pfarrer Helmut Schütz war dieser Gottesdienst zwar von ihm komplett vorbereitet worden, wurde aber gehalten von Pfarrer Robert Cachandt – ihm dafür auch an dieser Stelle herzlichen Dank!

Musik und Einzug der Tauffamilien

(Kirchenvorsteherin Kallus:) Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Ich begrüße Sie alle herzlich in der Pauluskirche zum Taufgottesdienst. Besonders herzlich heißen wir die beiden Kinder willkommen, die wir taufen wollen: … und … mit ihren Familien und Paten.

Unser Gaudete-Chor unter der Leitung von Herrn Werner Boeck bereichert diesen Gottesdienst mit einer Reihe von Gesangsstücken. Wir freuen uns darüber und danken den Sängerinnen und Sängern sowie dem Chorleiter herzlich.

Es ist Herbst geworden, fast schon winterlich war die Temperatur in der letzten Woche. Manche mögen es gar nicht, wenn die kalte Jahreszeit beginnt und würden am liebsten morgens gar nicht aus dem warmen Bett kriechen und Aufstehen. Dazu passt das Thema unseres Gottesdienstes: „Aufstehen – unmöglich?“ Zur herbstlichen Stimmung passt auch das erste Lied vom Chor (EG 648, 1-2+6-7): „Des Jahres schöner Schmuck entweicht.“

1. Des Jahres schöner Schmuck entweicht, die Flur wird kahl, der Wald verbleicht, der Vöglein Lieder schweigen; ihr Gotteskinder, schweiget nicht und lasst hinauf zum ewgen Licht des Herzens Opfer steigen.

2. Gott ließ der Erde Frucht gedeihn; wir greifen zu und holen ein; wir sammeln seinen Segen. Herr Jesu, lass uns gleichen Fleiß an deiner Liebe Ruhm und Preis mit Herzensfreude legen.

7. Es fällt der höchsten Bäume Laub und mischt sich wieder mit dem Staub, von dannen es gekommen. Ach Mensch, sei noch so hoch und wert, du musst hinunter in die Erd, davon du bist genommen.

8. Doch wie der Landmann seine Saat ausstreuet, eh der Winter naht, um künftig Frucht zu sehen, so, treuer Vater, deckest du auch unsern Leib mit Erde zu, dass er soll auferstehen.

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. „Amen.“

„Aufstehen – unmöglich?“ Um dieses Thema kreist dieser Gottesdienst, denn wir werden in der Predigt hören, wie Jesus einen gelähmten Mann heilt. Manches, was wir für unmöglich halten, macht Jesus möglich.

Wer auf Gott und Jesus vertraut, kann sogar Wunder erfahren.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Es gibt viele Chancen, aufzustehen, obwohl wir uns sagen: „Das ist doch unmöglich!“ Aufstehen, zur Arbeit gehen, obwohl ich im Büro oder in der Schule gemobbt werde. Aufstehen, neue Bewerbungen schreiben, obwohl ich schon oft abgelehnt wurde. Aufstehen, zur Wahl gehen, obwohl ich denke, in der Politik ändert sich auch durch meine Stimme nichts. Aufstehen, mir etwas zutrauen, obwohl man mir immer gesagt hat: „Du bringst nichts auf die Reihe!“ Aufstehen, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist, wieder unter die Leute gehen, obwohl ich Angst habe loszulassen und die Trauer zu fühlen.

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Der Prophet Jesaja spricht (Kapitel 35):

3 Stärket die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!

4 Saget den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt… und wird euch helfen.«

6 Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch.

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende.

Der Herr sei mit euch! „Und mit deinem Geist!“

Gott, Vater Jesu Christi, wir dürfen sogar an die Auferstehung der Toten glauben. Wenn das möglich ist, lass uns auch Vertrauen fassen, dass wir aufstehen können, schon hier im irdischen Leben. Das erbitten wir von dir im Namen Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

Wir hören in der Schriftlesung einen Abschnitt aus dem Evangelium nach Markus 2, 1-12, über den Pfarrer Cachandt nachher die (von Pfarrer Schütz vorbereitete) Predigt halten wird:

1 Nach einigen Tagen ging [Jesus] wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war.

2 Und es versammelten sich viele, so dass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.

3 Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen.

4 Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.

5 Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Kind, deine Sünden sind dir vergeben.

6 Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen:

7 Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?

8 Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen?

9 Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?

10 Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten:

11 Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!

12 Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so dass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.

Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Halleluja! „Halleluja, Halleluja, Halleluja.“

Als die Leute das Wunder von Jesus sehen, loben und preisen sie Gott. Auch wir tun das jetzt mit dem Lied 515 und singen die drei letzten Strophen 7 bis 9:

R.: Laudato si, o mi signore, laudato si, o mi signore, laudato si, o mi signore, laudato si, o mi signor.

7. Sei gepriesen, du selbst bist Mensch geworden! Sei gepriesen für Jesus, unsern Bruder! Sei gepriesen, wir tragen seinen Namen! Sei gepriesen, denn du bist wunderbar, Herr!

8. Sei gepriesen, er hat zu uns gesprochen! Sei gepriesen, er ist für uns gestorben! Sei gepriesen, er ist vom Tod erstanden! Sei gepriesen, denn du bist wunderbar, Herr!

9. Sei gepriesen, o Herr, für Tod und Leben! Sei gepriesen, du öffnest uns die Zukunft! Sei gepriesen, in Ewigkeit gepriesen! Sei gepriesen, denn du bist wunderbar, Herr! Laudato si, o mi signore, laudato si, o mi signore, laudato si, o mi signore, laudato si, o mi signore. Amen.

Liebe Tauffamilien, liebe Gemeinde! Als unser Taufvater … damals vor acht Jahren hier zum Konfirmandenunterricht ging, haben wir von dem letzten Lied oft alle neun Strophen gesungen. Heute habe ich das Lied auf seinen Wunsch ausgewählt, aber nur die letzten drei Strophen, denn sie passen gut zu diesem Gottesdienst.

„Wir tragen seinen Namen“, heißt es da. Wer getauft wird, trägt den Namen von Jesus Christus. Denn durch die Taufe werden wir zu Christinnen und Christen. Die Eltern von … und … möchten das auch für ihre Kinder. Sie sollen zu Jesus gehören.

Warum möchten Sie das? Sie, liebe Frau … und lieber Herr …, haben für Ihren zweiten Sohn … einen Taufspruch aus der Bibel ausgesucht, aus dem Psalm 16, 11, in dem es kurz und knapp heißt:

Du[, Gott,] tust mir kund den Weg zum Leben.

Damit sagen wir: Wir brauchen einen, der uns zeigt, wo es lang geht im Leben. Manchmal finden wir unseren richtigen Weg nur, wenn wir auf die Menschen hören und achten, die es gut mit uns meinen: Eltern, Paten, Verwandte, Freunde, vielleicht sogar auch einmal eine Lehrerin oder ein Pfarrer. Aber alle Menschen, die für uns da sind, können auch selbst einmal nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll. Dann ist es gut zu wissen: Gott selber zeigt uns den Weg zum Leben. Er hilft uns sogar, aufzustehen, wenn wir von unserem Weg abkommen und meinen, wir müssten hilflos am Rand liegen beiben.

Der Taufspruch, den ihr beide, lieber … und liebe …, aus dem Psalm 91, 11 für eure Tochter ausgesucht habt, deutet an, wie Gott uns hilft:

[Gott] hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.

Auch in diesem Spruch geht es um die Wege, die ein Mensch in seinem Leben gehen wird. Auf diesen Wegen haben wir Begleitung – durch sichtbare und unsichtbare Engel. Wir können füreinander „ein wenig Engel sein“, so steht es in dem kleinen Heft, das die Paten nachher als Geschenk von der Paulusgemeinde bekommen. Solche Engel, das sind alle, die für ein Kind da sind, zuerst am besten Papa und Mama mit ihrer Liebe und Fürsorge, außerdem die Paten und viele andere, die uns helfen, gut für unsere Kinder da zu sein. Auch wir in unserer Paulusgemeinde schreiben diesen Einsatz für Kinder ganz groß in unserer Kita, und in unserem Familienzentrum wollen wir versuchen, noch mehr auch für ganze Familien im Stadtteil da zu sein. Aber ohne das Vertrauen auch auf die unsichtbaren Engel Gottes würden wir unsere Kräfte wahrscheinlich oft überschätzen. Nicht alle Gefahren können wir von unseren Kindern abwenden, und es ist gut zu wissen, dass Gottes Engel bei jedem Kind sind und bleiben, egal was ihm auf seinen Wegen geschehen wird.

Als Zuspruch für unsere Taufkinder hören wir nun vom Chor das Lied „Gott, Vater, höre unsre Bitt“ (EG 205, die blau hervorgehobene Zeile wurde von Chorleiter Werner Boeck verändert):

1. Gott Vater, höre unsre Bitt: teil diesem Kind den Segen mit, erzeig ihm deine Gnade, lass’s sein dein Kind, bewahr es gut, begleite seine Pfade.

2. Herr Christe, nimm es gnädig auf durch dieses Bad der Heilgen Tauf zu deinem Glied und Erben, damit es dein mög allzeit sein im Leben und im Sterben.

3. Und du, o werter Heilger Geist, samt Vater und dem Sohn gepreist, wollst gleichfalls zu uns kommen, damit jetzund in deinen Bund es werde aufgenommen.

Glaubensbekenntnis und Taufen

Wir singen noch ein Lied, das die Eltern von … sich heute gewünscht haben: „Danke!“ (EG 334):

Danke für diesen guten Morgen
Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde, wir haben zwei Kinder auf den Namen von Jesus Christus getauft. Warum tun wir so etwas? Was ist das Besondere an diesem Jesus? Was soll das heißen: Jesus ist der Sohn Gottes? Vielleicht verstehen wir etwas davon, wenn wir uns in der Predigt noch einmal aufmerksam mit der Geschichte beschäftigen, die Frau Kallus uns vorhin schon einmal vorgelesen hat. In der Predigt hören wir sie noch einmal Vers für Vers, und ich lege ihn aus.

1 Nach einigen Tagen ging [Jesus] wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war.

„Nach einigen Tagen“, so setzt die Erzählung ein. Vorher hatte Jesus Aufsehen erregt, weil er auf besondere Weise von Gott redete und Menschen heilte. Er wurde dermaßen von Hilfesuchenden bedrängt, dass er vor ihnen geradezu an einsame Orte floh. Aber auch dort suchten ihn die auf, die ihn finden wollten. Da geht Jesus wieder in die Stadt zurück. Kapernaum ist eine größere jüdische Stadt am See Genezareth. Hier hat Jesus oft gewohnt, anscheinend im Haus seiner Jünger Simon Petrus und Andreas. Will er hier, wo er eine Art Zuhause hat, die Ruhe finden, die man ihm draußen in der Einsamkeit nicht gönnen wollte? Es mutet allzumenschlich an, dass der, den wir als den Sohn Gottes verehren, sich vor dem Ansturm der Menschen am liebsten zurückziehen möchte. Aber das gelingt ihm nicht; Jesus wirkt in der Öffentlichkeit, ob er will oder nicht; sofort wird bekannt, dass er in der Stadt und „im Hause“ ist.

2 Und es versammelten sich viele, so dass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.

Ein Gegensatz tut sich hier auf: Viele versammeln sich, aber sie haben „nicht Raum“. Wir in unseren Kirchen machen oft genau die umgekehrte Erfahrung: Wir haben viel Raum in unseren Kirchen, und meist versammeln sich nur wenige. Beide Erfahrungen sind einander gar nicht so unähnlich. Unter menschlichen Bedingungen scheint es immer Unzulänglichkeiten und Begrenztheiten zu geben, die wir als Mangel empfinden. Wir müssen schauen, wie wir unser großes Gemeindezentrum sinnvoll nutzen und bewirtschaften können. Die Menschen damals standen vor dem Problem, in einem kleinen Raum trotzdem ihren Platz zu finden. Der Raum schien einfach nicht auszureichen, nicht einmal draußen vor der Tür, so viele Menschen wollten etwas von Jesus.

Und wie reagiert Jesus auf diesen Mangel: „Er sagte ihnen das Wort.“ Das Wort, so formuliert es Markus. Als ob es bloß ein Wort gäbe. Er meint das Wort, das von Gott selbst gesprochen wird, indem er Welten erschafft, die Erde belebt, den Menschen mit seinem Geist erfüllt. Gottes Wort. Das einzige Wort, das gar nicht anders kann, als zur guten Tat zu werden, das sich heilsam auswirkt, sobald es ausgesprochen und gehört wird. Wo dieses Wort in menschliche Ohren und Seelen fällt wie auf fruchtbaren Boden, da geht es auf und bringt Frucht. Dieses Wort verändert Menschen, setzt Hände und Füße in Bewegung, richtet uns auf, wenn wir traurig sind, macht uns Mut in depressiven Zeiten, stiftet uns zum Frieden an, wo wir meinen, wir könnten uns nur mit Gewalt vor dem anderen Menschen schützen, der uns Angst macht.

3 Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen.

Die eigentliche Geschichte beginnt, indem einige zu Jesus einen anderen bringen, der nicht alleine laufen kann. Nachgeschoben wird die Zahl seiner Helfer: von vieren wird er getragen. Man kann es sich vorstellen: Sie fassen eine Trage an allen vier Enden, nachher wird klar, es ist tatsächlich einfach seine Schlafmatte. Sein kleines Stück Lebensraum, auf dem er liegen muss, Tag für Tag und Nacht für Nacht, tragen sie mit ihm herum.

„Aufstehen – unmöglich!“, so geht es diesem Menschen, und so nehmen ihn auch die meisten anderen wahr. Lasst den Krüppel doch liegen. Gott hat ihn sicher gestraft mit seinem Schicksal. Wenn die vier Männer nicht als sichtbare Engel für den Mann da wären, bliebe er liegen, wo er ist, ohne Aussicht auf eine Veränderung seiner Lage.

Kennen nicht auch wir dieses Gefühl, manchmal einfach nicht zu wissen, wie es im Leben weitergehen soll, nicht vor und nicht zurück zu können?

Da steckt eine Frau in einer Beziehung fest. Sie leidet unter ihrem Mann, er betrügt sie, er behandelt sie wie Dreck, und trotzdem kommt sie nicht von ihm los, denn er vermittelt ihr das Gefühl: dich will ja sonst niemand, ohne mich stehst du ganz alleine da.

Manchen Menschen geht es mit der Politik ähnlich. Sie gehen nicht mehr zur Wahl, weil sie denken: Vor der Wahl wird versprochen und nach der Wahl das Versprechen gebrochen. Auch eine Art von Gelähmtsein.

4 Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.

Die Menschenmenge ist für den Gelähmten eine zusätzliche Behinderung. Warum eigentlich? Sie könnten Platz machen, ihn durchlassen. Tun sie aber nicht. Jeder will den vordersten Platz, keiner will zu kurz kommen. Je größer eine Menschenmenge, je anonymer eine Gesellschaft, um so verlorener kann sich ein Einzelner in ihr vorkommen.

Aber gegen diese Verlorenheit ist ein Kraut gewachsen: Phantasie und Zivilcourage. Die vier Helfer des Gelähmten betätigen sich als Dachabdecker und machen ein Loch ins Flachdach vom Haus des Petrus und Andreas, genau über der Stelle, wo Jesus steht. Dürfen die das? Eigentlich darf man kein Haus kaputt machen! Ob sie nachher geholfen haben, das Dach zu reparieren, wird nicht erzählt. Jesus tadelt sie nicht, er bewundert das Gottvertrauen der vier Männer, als es von oben in seinen Nacken rieselt und sie den gelähmten Mann vor seinen Füßen wie mit einem Aufzug herabsinken lassen.

5 Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Kind, deine Sünden sind dir vergeben.

Es ist nicht nur so, dass Jesus die vier Männer nicht tadelt. Ihre kühne Tat macht für ihn ihren Glauben sichtbar, ihr festes Vertrauen darauf, dass dem Gelähmten zu helfen ist. Darauf antwortet Jesus, indem er einen liebevollen Satz an den in seiner Bewegungsfreiheit behinderten Mann richtet. Als Kind redet er ihn an. Er nimmt im erwachsenen Mann die Gefühle eines Kindes wahr, das hungrig ist nach Liebe und Vergebung. Jesus spürt, was diesen Mann am Laufen hindert: massive Schuldgefühle, das Eingesperrtsein zwischen fremden Vorwürfen und dem eigenen selbstquälerischen Grübeln, ob er wohl immer alles richtig macht. Jesus spricht ihm Vergebung zu, weil er nur so aus seiner Lähmung herauskommen und neu anfangen kann, zu leben, etwas zu tun, in der Verantwortung vor Gott.

6 Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen:

7 Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?

Schriftgelehrte sind Theologen, die genau wissen, was in der Bibel steht. Sie sind entsetzt über die Worte Jesus. Nicht das abgedeckte Dach geht ihnen gegen den Strich, aber die Art, wie Jesus ein Sündenkonto einfach durchstreicht. Er fordert keine Beichte, keine Reue, schickt den Mann nicht zu den Priestern, lässt ihn keine Opfer im Tempel darbringen, um von Gott die Vergebung zu erbitten. „Er lästert Gott!“ Sie sagen das allerdings nicht, vielleicht aus Furcht vor den vielen begeisterten Menschen, die Jesus umgeben. Aber Jesus sieht ihren Gesichtern an, was sie in ihren Herzen still für sich denken.

8 Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen?

9 Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?

Jesus nimmt also den Vorwurf ernst, er würde leichtfertig Sünden vergeben. Auch er weiß: Sünde ist nicht harmlos. Es kann wirklich nur Gott die Last der Sünde von unseren Schultern und Herzen wegnehmen. In Jesu Augen ist es sogar schwerer, einen Menschen von Sünde zu heilen als von einer Krankheit. Wir sehen das anders herum: Sündenvergebung zusprechen, das ist leicht. Es kann ja keiner kontrollieren, ob Gott tatsächlich vergibt. Aber sagen Sie mal einem Gelähmten: „Steh auf und lauf!“ Da kommt schnell heraus, ob wir Wunder tun können oder Betrüger sind.

10 Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten:

11 Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!

Will Jesus nur unter Beweis stellen, dass er das Recht hat, im Namen Gottes Sünden zu vergeben? Nein, für ihn gehört beides zusammen. Sündenvergebung wirkt sich praktisch im Leben aus. Indem der Mann nicht mehr gefangen ist in seinem Sündengefängnis aus Vorwürfen und Schuldgefühlen, kann er sich auch wieder frei bewegen.

12 Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so dass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.

Wir können immer noch Zweifel haben. Auch die meisten von uns haben so etwas doch noch nie gesehen, dass ein gelähmter Mensch plötzlich wieder laufen kann. Konnte so etwas wirklich nur Jesus, weil er als Gottes Sohn magische Kräfte hatte?

Aber Jesus sagt (im Johannes 14, 12):

Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und er wird noch größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater.

Offenbar traut er uns große Wunder zu, und diese Wunder benötigen keine magischen Zauberkräfte. Jesus heilt uns, wo wir gelähmt sind durch Angst und Schuld. Und er traut uns zu, dass auch wir einander Mut und Vergebung zusprechen. Er will, dass Menschen in einer christlichen Gemeinde einen Raum finden, wo sie aus sich herausgehen und manche Fähigkeit entfalten können, zum Beispiel beim Singen im Chor, oder als Mitglied im Kirchenvorstand, zu dem wegen eines weiteren Rücktritts der gewählten Kirchenvorsteherinnen auch unser Taufvater … gehören wird. Viele kleine Wunder erfahren wir, wo wir spüren, dass Gott selber uns viel zutraut, ganz einfach in unserem Alltag.

Manchmal geschehen sogar in unserer Zeit noch ganz besondere Wunder, ganz ähnlich wie damals bei Jesus. Eine Frau kannte ich, die zog ihr Bein nach. Kein Arzt fand die Ursache. Muskeln, Sehnen, Nerven, alles war in Ordnung. Aber ich wusste: die Frau litt schon ihr Leben lang unter dem Missbrauch durch ihren Vater. Wer gestern im Hessischen Fernsehen die Sendung Horizonte über das Gebot „Du sollst Gottes Namen nicht missbrauchen!“ gesehen hat, weiß, wovon ich rede. Irgendwann in ihrer Psychotherapie kam heraus, dass der Vater diese Frau als Kind häufig an diesem Bein aufgehängt hatte, um es zu quälen. Ihre Seele und ihr Körper reagierten darauf mit einer klugen Entscheidung, die ihr viele Jahre lang überhaupt nicht bewusst war: sie fühlte nichts mehr in diesem Bein und musste sich darum auch nicht erinnern an diesen Schmerz und an eine Erniedrigung, die sie gar nicht hätte aushalten können. Erst als im Schutz des Gespräches mit ihrem Therapeuten allmählich die Erinnerung zurückkam, spürte sie wieder, was ihr angetan worden war. Aber jetzt konnte sie den Schmerz aushalten, weil der Therapeut sie festhielt und tröstete. Sie durfte ihre Tränen weinen und war dabei nicht allein. Und es kam der Tag, an dem sie nicht mehr hinken musste. An der Hand eines Begleiters machte sie ihren ersten Dauerlauf und war überglücklich. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.
Lied 236: Ohren gabst du mir, hören kann ich nicht

Guter Gott, wir bitten dich: Lass die Kinder, die wir getauft haben, immer deine Liebe erfahren, in der Fürsorge und Erziehung durch ihre Eltern, in der Begleitung durch ihre Paten, in dem Rückhalt, den sie auch durch andere Christen bekommen, indem du sie behütest durch deine Engel.

Gott, schenke uns Freiheit, wo wir uns lähmen mit ständigem Grübeln, ob wir auch alles richtig machen.

Schenke uns Freiheit, wo wir uns dafür schämen, auf deiner Erde zu leben und vieles zu brauchen und zu wünschen.

Schenke uns Freiheit, damit wir das kleine Stück Verantwortung tragen können, das du uns auferlegst an dem Platz, an dem wir leben. Wir brauchen deine Kraft und Mut von dir und manchmal Hilfe von anderen Menschen, um unser Leben zu bewältigen. Amen.

In der Stille bringen wir vor Gott, was wir außerdem auf dem Herzen haben:

Gebetsstille und Vater unser

Zum Schluss singt der Chor eine Motette nach dem kurzen Bibelvers aus Markus 7, 37a, der unseren Gottesdienst heute schön abrundet:

Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht.

Abkündigungen

Herzlichen Dank noch einmal dem Chor, der zu unserem Gottesdienst mehrere Gesänge beigesteuert hat. Vielleicht lassen ja auch Sie sich anspornen, mitzusingen; gerade in den Frauenstimmen braucht der Chor noch dringend Verstärkung.

Und nun geht mit Gottes Segen. Vielleicht bleiben Sie auch noch ein wenig zusammen im Gemeindesaal bei Kaffee oder Tee.

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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