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Vertrauen wagen

Welchen Weg wollen wir gehen? Den der Absicherung gegen jeden Angriff und jede Erpressung, der zu immer mehr Waffen führen wird und endlich wahrscheinlich zu ihrem Einsatz? Oder den Weg des Abwägens zwischen berechtigtem Misstrauen und Vertrauensschritten, den Weg der Klugheit und der Feindesliebe? Wir sind mitverantwortlich dafür, dass die Schöpfung Gottes, zu der auch unser Europa gehört, erhalten bleibt.

Ein Panzer, dessen riesenhaft dargestelltes Rohr schräg auf den Betrachter ausgerichtet ist
Kann immer mehr Rüstung für immer mehr Sicherheit sorgen? (Bild: Rudy and Peter SkitteriansPixabay)

direkt-predigtGottesdienst am Sonntag, 16. Oktober 1983, um 13.30 Uhr in der Reichelsheimer Kirche
Glockenläuten und Orgelvorspiel

Ich begrüße Sie und euch alle herzlich im Gottesdienst zum Thema „Vertrauen wagen“, den wir in der Friedensgruppe als einen Beitrag zum Nachdenken über den Frieden in diesem Herbst geplant haben.

„Vertrauen wagen“ – dieses Thema haben wir von den DDR-Kirchen übernommen, die in diesem Jahr ihre Kirchentage unter dieses Motto stellten. „Vertrauen wagen“ – wir werden diesem Thema heute nur gerecht werden, wenn hier unter uns dieses Wagnis geschieht: wenn wir es wagen, einander ein Stück Vertrauen zu schenken. Das Wort „Wagnis“ ist bewusst gewählt: Vertrauen ist keine Selbstverständlichkeit, sondern hat mit Mut zu tun, mit Offenheit, mit Verletzlichkeit, mit Überwindung von Vorbehalten und Angst.

Soweit wir uns als Christen verstehen, hat unser Vertrauen eine feste Grundlage, nämlich dass Gott bei uns ist. An Gott glauben und Vertrauen wagen gehören untrennbar zusammen. Davon singen wir im ersten Lied aus dem neuen Liederheft:

Lied aus dem Liederheft: Vertrauen wagen dürfen wir getrost
Taufe
Lied EKG 105, 7-9 (EG 133):

7. Du bist ein Geist der Liebe, ein Freund der Freundlichkeit, willst nicht, dass uns betrübe Zorn, Zank, Hass, Neid und Streit. Der Feindschaft bist du Feind, willst, dass durch Liebesflammen sich wieder tun zusammen, die voller Zwietracht seind.

8. Du, Herr, hast selbst in Händen die ganze weite Welt, kannst Menschenherzen wenden, wie dir es wohlgefällt; so gib doch deine Gnad zu Fried und Liebesbanden, verknüpf in allen Landen, was sich getrennet hat.

9. Erhebe dich und steu’re dem Herzleid auf der Erd, bring wieder und erneu’re die Wohlfahrt deiner Herd. Lass blühen wie zuvor die Länder, so verheeret, die Kirchen, so zerstöret durch Krieg und Feuerszorn.

Wir haben davon gehört, was ein Kind braucht, um Vertrauen lernen zu können. Ein kleines Kind, das uns anvertraut ist, aber auch das Kind, das wir selbst einmal waren und das wir zeitlebens in uns bewahren und mit uns tragen. Nach außen hin bemühen wir uns vielleicht, stark und hart zu sein und keine Gefühle zu zeigen; aber tief innen drin verbirgt sich in uns möglicherweise ein verängstigtes oder trauriges kleines Kind, das schon so oft verletzt und enttäuscht worden ist, dass es sich mit übermäßigem Misstrauen gepanzert hat, nur um nicht noch einmal die gleichen bitteren Erfahrungen zu machen. Vertrauensbeziehungen sind schön, aber nicht ohne Risiko. Wer Vertrauen wagt, macht sich angreifbar, er bekennt sich zu dem, was er ist: verwundbar, verletzlich.

Wenn das schon in den Bereichen der Familie und der kleinen überschaubaren Gruppen so ist, wie schwer ist es dann erst, Vertrauen zu wagen zwischen Völkern oder über die Grenzen von gegensätzlichen Gesellschaftssystemen hinweg! Trauen wir Gott zu, dass er „Menschenherzen wenden“ kann, über alle Grenzen hinweg, wie wir gesungen haben? Oder halten wir die Sehnsucht nach Vertrauen zwischen Völkern für einen leeren oder sogar gefährlichen Traum? Hören wir die Fabel vom Traum des Hasen:

Fabel: Der Traum des Hasen (nach Spangenberg)

Wir singen ein Lied vom Streiten und von der Beendigung des Streits:

Lied aus dem Liederheft: Streit, Streit, Streit

Wir wissen, wie schwer es schon Kindern fällt, einen Streit zu beenden, von dem keiner mehr weiß, wer ihn angefangen hat. Es war immer der andere, natürlich! Aber ist es möglich, im Interessengegensatz zu einem Ausgleich zu kommen, bei dem keiner nur verliert? Ist es möglich, das Nach-Rüsten und Nach-Nach-Rüsten und Nach-Nach-Nach-Rüsten zu stoppen, um endlich abzurüsten?

Ich weiß nicht, ob es möglich ist. Aber es ist heutzutage notwendig geworden. Die Menschen, die seit gestern in der Friedenswoche sich einsetzen, sind davon überzeugt, dass einmal Ernst gemacht werden muss mit den Bekenntnissen zum Frieden. Wir, ein kleines Häuflein Menschen in der Friedensgruppe unserer Gemeinde, haben ebenfalls die Überzeugung gewonnen, dass wir nicht schweigen können, wenn bestimmte Schritte zum Frieden überlebensnotwendig geworden sind und wenn weitere Schritte auf dem Weg des Rüstungswahnsinns nur noch tödliche Folgen haben können.

Dabei sind wir selber hin- und hergerissen zwischen Friedenssehnsucht und Misstrauen. Kann man den Absichten der politischen Führer in Ost und West vertrauen? Können wir auf unsere eigene Kraft vertrauen, einen Beitrag zum Frieden zu leisten?

Um diese beiden Fragen geht es: das Misstrauen gegenüber dem, den wir als Feind oder Gegenspieler sehen; und das Misstrauen gegenüber unseren eigenen Möglichkeiten, etwas zu tun.

Zunächst zur ersten Frage: Wie können wir Misstrauen überwinden, Vertrauen wagen – gegenüber Menschen oder ganzen Systemen, die uns bedrohen?

Jesus sagt (Matthäus 10, 16):

Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.

Jesus weiß von Bedrohungen, und ein gesundes Misstrauen, das zur Klugheit gehört, lehnt er nicht ab. Aber aufgepasst! Manche Klugheit, manches Misstrauen ist mit Hinterlist gepaart. Dann fragt man nicht mehr: wie sehr sind wir tatsächlich bedroht, und vor welchen konkreten Gefahren müssen wir uns schützen, und welche Beweggründe hat die andere Seite für ihr Verhalten? Sondern alles wird von vornherein durch eine bestimmte Brille gesehen.

Als sowjetische Piloten einen Jumbo mit Zivilpersonen an Bord abschossen, da konnte das für die Führung der Sowjetunion lange Zeit nicht zugegeben werden. Und dann schob sie die Alleinschuld auf die Amerikaner ab. Umgekehrt war dieser Fall für viele im Westen ebenso eindeutig ein ausschließlich von den Russen zu verantwortendes Verbrechen. Und denen sollte man noch Vertrauen entgegenbringen können in Verhandlungen?

Inzwischen ist deutlich, dass der Fall viel komplizierter liegt, als beide Seiten in den ersten Tagen zugeben wollten. Klar ist nur, dass da über zweihundert Menschen gestorben sind, weil sie ohne persönliches Wollen und Verschulden schon in Friedenszeiten in ein undurchschaubares System der Spionage und der Kriegsmaschinerie verstrickt worden sind. Und beide Seiten versuchten, den Fall so zu drehen, dass die andere Seite als Alleinschuldige dastand. Hier ist nicht der Ort, zu klären, wer recht hat. Aber hier ist der Ort, an das Wort von Jesus zu erinnern (Matthäus 7, 3):

Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?

Vertrauen ist nur möglich, wenn wir nicht Schwarz-Weiß malen, sondern auch die Fehler der eigenen Seite sehen. Den Feind zu lieben, heißt nicht, ihm alles ungefragt glauben und ihn gern mögen. Sondern es heißt: den Feind als Menschen sehen, der möglicherweise auch Angst vor uns hat. Die andere Seite nicht unter der Verzerrung zu betrachten, zu der Angst oder Zorn uns manchmal führen. Splitter und Balken – dieses Wort Jesu will uns vor einseitigen Schuldvorwürfen bewahren. Denn sie führen immer nur zu neuem Misstrauen, zu Rechtfertigungen für immer mehr Waffen – denn den anderen kann man ja nicht trauen.

Welchen Weg wollen wir also gehen? Den Weg des absoluten Misstrauens, der totalen Absicherung gegen jeden Angriff und jede Erpressung, der nie zu weniger, sondern zu immer mehr Waffen führen wird und endlich wahrscheinlich zu ihrem Einsatz? Oder den Weg des Abwägens zwischen berechtigtem Misstrauen und Vertrauensschritten, den Weg der Klugheit und der Feindesliebe? Wir sind mitverantwortlich dafür, dass die Schöpfung Gottes, zu der auch unser Europa gehört, erhalten bleibt.

EKG 233, 3-5 (EG 326):

3. Was unser Gott geschaffen hat, das will er auch erhalten, darüber will er früh und spat mit seiner Güte walten. In seinem ganzen Königreich ist alles recht, ist alles gleich. Gebt unserm Gott die Ehre!

4. Ich rief zum Herrn in meiner Not: »Ach Gott, vernimm mein Schreien!« Da half mein Helfer mir vom Tod und ließ mir Trost gedeihen. Drum dank, ach Gott, drum dank ich dir; ach danket, danket Gott mit mir! Gebt unserm Gott die Ehre!

5. Der Herr ist noch und nimmer nicht von seinem Volk geschieden; er bleibet ihre Zuversicht, ihr Segen, Heil und Frieden. Mit Mutterhänden leitet er die Seinen stetig hin und her. Gebt unserm Gott die Ehre!

Wir sind nicht nur misstrauisch gegenüber der anderen Seite. Wir misstrauen auch unseren eigenen, persönlichen Fähigkeiten. Was können wir schon tun? dieser Zweifel befällt uns immer wieder. Und viele wollen diese Frage auch aus der Kirche heraushalten. Die einen sind für die Nachrüstung, die anderen halten die Zeit für ein Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungsmitteln für gekommen. Führt dann nicht gerade diese Friedensfrage zum Unfrieden in der Gemeinde?

Das muss nicht sein. Es geht ja hier nicht um Vorschriften, die der Pfarrer den Gemeindegliedern macht, wie sie zu denken haben. Sondern es geht um ein wichtiges Thema, zu dem auch Christen verantwortlich Stellung nehmen müssen. Jeder muss seine eigene Antwort geben, ist mit seinem eigenen Gewissen vor Gott verantwortlich, aber um diese Antwort kann sich keiner drücken: was ist mein Beitrag zum Frieden. Auch Schweigen ist eine Antwort…

Aber können wir denn etwas tun? Ja. Wir können im Gespräch vertreten, was wir als richtig erkannt haben. Wir können unsere Einstellung ändern, wie es z. B. der berühmt gewordene Franz Alt getan hat. Wir können bei unserem Friedenseinsatz die Würde dessen achten, der anderer Ansicht ist. Wir können miteinander sprechen, um gemeinsam Schritte zum Frieden zu finden und Misstrauen abzubauen.

Warum fällt uns das so schwer? Haben wir Angst, uns mit unserer Meinung nicht durchsetzen zu können? Haben wir Angst, abgegriffen zu werden? Meinen wir, uns nicht richtig ausdrücken zu können? Fürchten wir uns vor der Beunruhigung durch neue Gedanken? Folgen wir deshalb lieber dem Motto: Gelobt sei, was uns hart macht? Dann brauchen wir nichts an uns heranzulassen. Dann behalten wir Recht und die anderen Unrecht.

Im Lied haben wir es anders gesungen. Wir haben von den Mutterhänden Gottes gesungen: „Mit Mutterhänden leitet er die Seinen stetig hin und her.“ Wenn wir das ernstnehmen, wenn Gott unser „Segen, Heil und Frieden“ ist, dann bräuchten wir nicht mehr zu sagen: Gelobt sei, was uns hart macht. Sondern wir könnten wagen zu sagen: Gelobt sei, was uns zart macht.

Ja, wir sind verletzlich. In jedem Gespräch, in jedem Zuhören dringen Worte in uns ein, machen uns manchmal betroffen, beunruhigen uns. Es gehört viel Vertrauen dazu, sich in einem Gespräch, einer Auseinandersetzung, einer Predigt den Worten eines anderen auszusetzen.

Wir sind verwundbar. Auch wenn wir uns selber zu Wort melden, uns öffnen, von unseren Gefühlen etwas preisgeben oder von unserer inneren Einstellung – dann liefern wir uns den anderen aus, sind auf ihr Zuhören, Entgegenkommen, ihr Verständnis und ihre Liebe angewiesen. Es gehört viel Vertrauen dazu, sich in einem Gespräch zu Wort zu melden und von sich selbst zu sprechen.

Aber das Gespräch ist meine größte Friedenshoffnung. Wir versuchen gleich im Gemeinderaum ein Gespräch unter uns. Wir hoffen auf Gesprächserfolge in Genf. Gespräche sind es, die uns bei unserem Besuch in der DDR geholfen haben, Menschen kennenzulernen, die für uns schon fast in einer anderen Welt leben.

Wir können sicher noch mehr tun. Feindesliebe, Sanftmut – das sind mehr als nur Worte. Aber heute geht es einmal um den ersten Schritt: den Mut zum Gespräch. Der erste Schritt weg vom Misstrauen hin zum Vertrauen.

Lied EG 599, 1-4: Selig seid ihr
Friedensgebet und Vater unser
Lied EG 436: Herr, gib uns deinen Frieden
Segen

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