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Fürglaube

Trauerfeier für eine der Kirche eher fernstehende Frau ohne Beistand durch Angehörige, für die sich aber ein ehrenamtlicher Betreuer sehr intensiv eingesetzt hat. Er erinnert mich an die vier Männer, die den Gelähmten mit viel Phantasie Jesus vor die Füße legen.

Fürglaube: Eine menschliche Gestalt aus Birkenrinde liegt in sich verschlossen vor einem schwarzen Hintergrund.
Kann fremdes Vertrauen einem in sich verschlossenen Menschen helfen? (Bild: NouploadPixabay)

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.

Wir sind hier versammelt, um Frau S. zu Grabe zu tragen, die im Alter von [über 80] Jahren gestorben ist. Sie hat kaum noch nahe Verwandte gehabt. Die meisten, die ihr Leben geteilt haben, sind bereits tot. Wir sind nur wenige, die ihr heute die letzte Ehre erweisen, von ihr Abschied nehmen. Wir bekunden, dass Frau S. uns so wichtig ist, dass wir uns diese Zeit nehmen für ihre Beerdigung. Wir feiern aus Anlass ihres Todes hier einen Gottesdienst, weil wir im Glauben wissen: Gott lässt Frau S. auch im Tode nicht verloren gehen.

Worte der Bibel können uns helfen, unsere Gedanken und Gefühle zu klären, auszudrücken, zu ordnen. So beten wir mit Worten des 139. Psalms:

1 HERR, du erforschest mich und kennest mich.

2 Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne.

3 Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege.

4 Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht schon wüsstest.

5 Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.

6 Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.

7 Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?

8 Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.

9 Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer,

10 so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.

11 Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein -,

12 so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.

13 Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe.

14 Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.

15 Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde.

16 Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.

17 Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß!

18 Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand: Am Ende bin ich noch immer bei dir.

23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine.

24 Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.

Liebe Trauergäste!

Frau S. ist gestorben, sie wird begraben. Nur wenige begleiten sie auf ihrem letzten Weg, den sie nicht mehr selber geht; und auch in den letzten Jahren ihres Lebens hatte sie nur wenige Begleiter, die sich um sie kümmerten, die ein Stück des eigenen Lebens mit ihr teilten. Was hat ihr Leben erfüllt – über viele lange Jahre hin, in Kindheit und Jugend, in Arbeit und Ehe, in den Jahren des Alleinseins im Alter?

Erinnerungen an das Leben der Verstorbenen

In den vergangenen Jahren hat Frau S. dann auch Hilfe von einem ehrenamtlichen Betreuer der Kirchengemeinde bekommen; Sie, lieber Herr X., haben – auch mit Unterstützung Ihrer Familie – dafür gesorgt, dass Frau S. nicht ganz allein da stand, als sie ihre Angelegenheiten nicht mehr allein regeln konnte. Sie haben sich auch bemüht, Frau S. zu besonderen Aktivitäten zu motivieren, zum Beispiel zur Andacht im Altenheim zu gehen oder zu besonderen Kreisen in der Kirchengemeinde.

Allerdings fiel es ihr nicht leicht, Zugang zur Kirche zu finden, und auf die Gründe – die möglichen Gründe, wie ich sie vermute – möchte ich etwas näher eingehen. Sie war zwar, wie ich hörte, in ihrer Kindheit und Jugend religiös erzogen worden, aber ihr Mann lehnte die Kirche ab, bezeichnete sich als Atheisten, warum, das können wir nur vermuten, vielleicht, weil er als Gewerkschafter in der Vorkriegstradition der Arbeiterbewegung davon geprägt war, dass die Kirche ja lange Zeit die Arbeiterschaft mit ihren sozialen Hoffnungen und sozialistischen Utopien alleingelassen hatte. Vielleicht war Religion für ihn – wie Karl Marx es gelehrt hatte – nichts als „Opium des Volkes“. Erst später haben sozial engagierte Christen bei Marx auch Stellen gefunden, in denen er andeutet, dass sich in der Religion auch Protest gegen Ungerechtigkeit und Elend ausdrücken kann. Wie dem auch sei, zumindest im letzten Jahrhundert und weit ins 20. Jahrhundert hinein haben wir als Kirche oft genug den Eindruck erweckt, als sei die Religion wirklich zur Vertröstung der elenden Massen erfunden worden. Und aus meiner Gemeindeerfahrung weiß ich: hinter manchem ausdrücklich vertretenen Atheismus steckt manchmal im Grunde ein ganz echtes religiöses Empfinden: nämlich eine Sehnsucht nach wirklicher Gerechtigkeit, der Wunsch, nicht als Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden, und der ehrliche Abscheu gegenüber jeder zur Schau getragenen Heuchelei von Leuten, die ihrer Machtpolitik ein christliches Mäntelchen umhängen.

Aus all dem erklärt sich vielleicht die Distanz, die auch Frau S. gegenüber der Kirche entwickelt hat. Leider konnte ich mit ihr darüber nicht mehr sprechen, denn seit sie in die Klinik kam, bin ich ihr nicht bewusst begegnet. Vielleicht hätte sie auch darüber nicht sprechen wollen; und bald war sie auch zu sehr verwirrt, um noch ein Gespräch führen zu können. Allerdings haben Sie mir gesagt, dass Frau S. auf jeden Fall nicht alle Bindungen zur Kirche abbrechen wollte – und so feiern wir diesen Gottesdienst bei ihrer Beerdigung auch auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin.

Wir ziehen so gern Bilanz über ein Leben, schließen von den letzten Jahren auf das ganze frühere zurück, messen vielleicht sogar den Wert eines Lebens an der Zahl der Trauergäste, die an einem Grab stehen. Aber eins dürfen wir, wenn wir so denken, nicht vergessen: Wir sind in diesem Bereich gar nicht zuständig! Nicht wir haben ein Urteil abzugeben, welchen Sinn dieses Leben gehabt hat. Wir müssen diese Tote loslassen, geben sie in die Hände Gottes, müssen das Urteil über ihr Leben Gott in seiner Gnade überlassen.

Mir ist dazu eine Geschichte von Jesus eingefallen – aus dem Evangelium nach Markus 2, 1-5:

1 [Jesus] ging … nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war.

2 Und es versammelten sich viele, so dass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.

3 Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen.

4 Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.

5 Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.

Wissen Sie, mir fällt diese Geschichte ein – und mir ge-fällt diese Geschichte so gut – weil Jesus hier so unkonventionell mit dem Glauben umgeht. Bei ihm gibt es kein starres Schema: Wer glaubt, der wird gerettet. Wer Frömmigkeit zeigt, dem ist zu helfen. Nein, er ist fasziniert und überwältigt von der Phantasie der Leute, die den Kranken zu ihm hinbringen – sie decken sogar das Flachdach ab, um direkten Zugang zu Jesus zu bekommen und zeigen so ihr übergroßes Vertrauen zu ihm.

Mag sein, dass auch der Kranke Vertrauen und Glauben in sich hat. Aber davon ist gar nicht die Rede. Das scheint für Jesus im ersten Moment gar keine Rolle zu spielen. Dass die anderen glauben, das ist für ihn Grund genug, um dem Kranken die Vergebung seiner Sünden zuzusprechen.

Was die Frau, die wir heute beerdigen, angeht, so weiß ich nicht viel von ihr, nur das, was Sie mir gesagt haben. Und selbst Sie können nicht in ihr Herz sehen. Insofern geht es uns mit ihr so wie mit dem Mann, der zu Jesus gebracht wurde. Nur Jesus verstand es wirklich, in die Herzen zu sehen.

Mehr als über Frau S. weiß ich von Ihnen, lieber Herr X., wenn auch nur aus einem kurzen, aber intensiven Gespräch. Ich bin beeindruckt von Ihren Bemühungen um Frau S., so dass sie jemanden hatte, der sie nicht aufgegeben hat, zu dem sie Vertrauen haben konnte. Es geht sicher nicht darum, an Gräbern Lobeshymnen auf Menschen anzustimmen, aber es ist sinnvoll, Dinge beim Namen zu nennen, für die man danken, auch Gott danken kann. Ein bisschen sehe ich Sie in der Rolle der vier Männer, wenn Sie es auch versucht haben, die Ihnen anvertraute Frau wieder in Kontakt mit dem Gottesdienst zu bringen. Und ich bin mir sicher, dass Jesus auch Ihren Glauben sieht, egal wie groß er ist, und zu dieser Frau sagen würde: „Meine Tochter, deine Sünden sind dir vergeben.“ Womit ich nicht sagen möchte, dass ich irgend eine Sünde von Frau S. zu benennen wüsste – nein, Sünde meint ja in der Bibel das grundlegende Problem, dass wir uns oft schwertun, Zugang zu Gott zu finden. Sünde meint Trennung, Absonderung von Gott. Und Jesus war ja der, der uns gezeigt hat: Wir können uns noch so sehr anstrengen, aus eigenen Kräften können wir den Abstand zu Gott nicht aufheben. Aber wir haben das auch nicht nötig. In Jesus geht Gott von sich aus auf uns zu. Und er ist ganz anders, als viele ihn sich vorstellen: er liebt uns ohne Vorbedingungen, er nimmt uns an, so wie wir sind. Er zeigt uns, dass der wesentliche Sinn unseres Lebens nichts Verdientes, nichts Erarbeitetes sein kann, sondern immer ein Geschenk ist.

Das zeigt sich schon daran, dass wir alle auf fremde Hilfe angewiesen sind. Nur haben die meisten von uns es gelernt, auch großenteils ohne solche Hilfe auszukommen. In dem, was unser Leben entscheidend ausmacht, brauchen wir aber doch den anderen – das kann ein menschliches Gegenüber sein, jemand, der uns liebt, dem wir vertrauen können, wo wir unseren Halt finden; – das kann aber auch Gott sein, der uns wie ein guter Vater oder wie eine gute Mutter begegnet. Und das Gute und Schöne ist – auch wenn es für manche Leute nicht leicht zu begreifen ist: Vor Gott brauchen wir nichts vorzuweisen, auch Frau S. braucht das nicht, es gibt keine Eintrittskarten für den Himmel, die man sich erst kaufen oder verdienen müsste, nein, der Eintritt für den Himmel ist frei, der wird uns geschenkt. Das Problem ist nur, dass die meisten Menschen von Gott gar nichts geschenkt haben wollen, oder dass sie nicht zufrieden sind mit dem, was Gott ihnen anbietet – sie hadern mit ihrem Schicksal, weil Gott ihnen nicht noch mehr geschenkt hat. Und manchmal halten wir es gar nicht für möglich, dass jemand, der schwer krank ist, verwirrt ist, noch ein sinnvolles Leben führt. Aber in jedem Leben können Gottes unscheinbare, aber mächtige Gaben wirksam sein: zum Beispiel Hoffnung, Liebe, Trost und Zuversicht.

Für die Verstorbene, aber auch für uns, können wir Gott um diese Gaben bitten. Ich möchte das tun mit einem Vers aus dem Psalm 25, 20:

Bewahre meine Seele und errette mich; lass mich nicht zuschanden werden, denn ich traue auf dich!

Gott lässt uns nicht zuschanden werden, auch Frau S. nicht. Wir können sie getrost in Gottes starke Hände legen, können heute von ihr Abschied nehmen. Wer sie geliebt hat, wird spüren, dass diese Liebe über den Tod hinaus Bestand hat. Was sie an Zuwendung erfahren hat in ihrem Leben, dafür können wir heute dankbar sein. Was wir ihr schuldig geblieben sind, was jetzt nicht mehr zu ändern ist, dafür können wir Gott um Vergebung bitten. Und wir bitten Gott, dass er uns weiterhin hilft, die Augen offen zu halten für die Menschen, die uns brauchen, hier und jetzt, und manchmal auch für Menschen, von denen wir selber Hilfe erbitten können. Amen.

Lasst uns zum Schluss noch einmal mit Psalmworten zu Gott beten, dieses Mal aus dem Psalm 116:

1 Ich liebe den HERRN, denn er hört die Stimme meines Flehens.

2 Er neigte sein Ohr zu mir; darum will ich mein Leben lang ihn anrufen.

3 Stricke des Todes hatten mich umfangen, des Totenreichs Schrecken hatten mich getroffen; ich kam in Jammer und Not.

4 Aber ich rief an den Namen des HERRN: Ach, HERR, errette mich!

5 Der HERR ist gnädig und gerecht, und unser Gott ist barmherzig.

6 Der HERR behütet die Unmündigen; wenn ich schwach bin, so hilft er mir.

7 Sei nun wieder zufrieden, meine Seele; denn der HERR tut dir Gutes.

8 Denn du hast meine Seele vom Tode errettet, mein Auge von den Tränen, meinen Fuß vom Gleiten.

9 Ich werde wandeln vor dem HERRN im Lande der Lebendigen.

10 Ich glaube, auch wenn ich sage: Ich werde sehr geplagt.

Amen.

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