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Markusbrief: „Vom Glauben als Vertrauen“

Auf einen fiktiven Demasbrief, den ein am christlichen Glauben zweifelnder Freund an den Apostel Paulus schrieb, antworte ich mit einem Markusbrief. Ich gehe auf die Zweifel des Demas ein, indem ich meine Gedanken aus der Situation des Evangelisten Markus heraus (so, wie ich sie mir vorstelle) formuliere.

Mit den Links innerhalb des Textes kann man zwischen den aufeinander bezogenen Abschnitten des Demasbriefs und des Markusbriefs hin- und herklicken.

Blick aus einem dunklen Kirchenraum durch eine Tür in die weite helle Schöpfung hinaus
Gott führt hinaus aus der Enge falscher Gottesbilder (Bild: fancycrave1Pixabay)

Inhaltsverzeichnis

Lieber Demas!

Zwei peinliche Begegnungen mit Jesus

Glaube als Abkehr von der Welt?

Glaube zwischen Anfechtung und Wunder

Zweifel an der Vorherbestimmung des Glaubens und an der ewigen Verdammnis

Gottes Heil für alle Menschen

Die Bibel – ihre Inspiration als menschliches Buch

Ungereimtheiten in der Schrift

Die Botschaft Gottes: Recht und Freiheit auch für die „kleinen Leute“

Gott will den aufrechten Gang seiner Kinder!

Wer glaubt, folgt der Wegweisung Gottes zum erfüllten Leben

Statt Wunschdenken und Weltflucht: Konfrontation mit der Weltordnung

Missbrauch der Vorstellung vom Teufel

Jesu neu ausgelegte und gelebte Tora für Juden und Heiden

Der biblische Gott ist lebendig – menschenfreundlich, barmherzig, befreiend!

„Im verantwortlichen Hören auf das biblische Zeugnis verstehen wir Gemeinde Jesu Christi als jene freie Versammlung von Menschen jeder Herkunft, – deren Gemeinschaft darin Bestand haben kann, dass sie sie unter allen Umständen auf denjenigen gegründet sein lassen…, der zuvor Knecht und Diener aller Menschen war…; – die sich aber zu diesem Herrn darum bekennen können, weil die von ihm errichtete Herrschaft gegen alle Macht und Rechthaberei von Menschen gegen Menschen die Herrschaft für die Machtlosen und Unterdrückten und das Recht der Gedemütigten und Entrechteten und die Rechtfertigung der Ausgestoßenen und Gottlosen ist…; – und die nun in gemeinsamer Praxis dieser Erkenntnis und so im Glauben an diesen Herrn deswegen die Befreiung der Menschen tätig erwarten, weil sie sich selbst immer noch als ungläubige oder träge, als entrechtete oder auch als selbstgerechte, als geknechtete oder auch als privilegierte Menschen erfahren.“

(Ton Veerkamp und Peter Winzeler: Was verstehen wir unter „Gemeinde Jesu Christi“? Entwurf zu einem verbindlichen Kommentar zur Präambel zur Satzung der Evangelischen Studentengemeinden in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West). In: ESG/KSG Göttingen, Alternatives Christsein, Dokumente, Materialien, Diskussionsbeiträge, Heft 6, Göttingen 1975, 14-19.)

Alexandria, im Juli 71

Lieber Demas!

Acht Jahre sind es her, seit du deinen Brief an Paulus geschrieben hast. Acht lange Jahre, in denen sehr viel geschehen ist. Ja, auch für mich hätte die Welt meines Glaubens untergehen können. Auch ich habe oft an mir gezweifelt und persönliches Leid erfahren. Die größte Katastrophe meines Lebens war für mich das Elend der Juden und Christen in den sechs Jahren des Jüdischen Krieges seit 65, besonders das Massaker an 6700 Galiläern auf dem See Genezareth im Jahr 67 und die Zerstörung Jerusalems und des Zweiten Tempels im Jahr 70.

Als ich mich vor einigen Jahren mit Paulus in Rom über unsere von Belastungen ebenfalls nicht freie Beziehung aussprach (im Unterschied zu dir habe ich ihn ja nicht von mir aus verlassen, sondern er nahm mich auf seine 2. Missionsreise als „schwächelnden Kandidaten“ nicht mit), hat er mir deinen Brief gezeigt und mir eine Abschrift gegeben; er hatte mit einer Antwort allzu lange gewartet und wusste schon, dass er dir nicht mehr würde antworten können, traute mir vielleicht auch zu, dir aus meinen Erfahrungen heraus, die den deinigen wenigstens ähnlicher waren als den seinigen, besser antworten zu können als er selbst.

Paulus hat jedenfalls in der Zeit seiner Gefangenschaft in Rom durchaus an dich gedacht und ließ dich durch mich ebenfalls herzlich grüßen. Für deine guten Wünsche war er dir von Herzen dankbar. „War“ muss ich leider sagen, denn, wie du sicher schon weißt, ist inzwischen auch Paulus dem Märtyrertod zum Opfer gefallen. Schuld daran waren allem Anschein nach nicht nur die „heidnischen“ Kinder dieser römischen Weltordnung, sondern es sind Gerüchte im Umlauf, dass Konflikte innerhalb der inzwischen ziemlich groß und fast unüberschaubar gewordenen christlichen Gemeinschaft dazu beigetragen haben.

Inhaltlich hat Paulus mir zu deinen Fragen und Zweifeln nichts zu antworten aufgetragen. Mag sein, dass er deinen Standpunkt einfach nicht verstehen konnte. Du hattest mit Recht bezweifelt, ihn von deinem Standpunkt überzeugen zu können, aber ich glaube, dass er dir nach der Lektüre deines Briefes jedenfalls nicht mehr eine oberflächliche „Liebe zur Welt“ unterstellte.

Deine Zweifel und Anfechtungen konnte Paulus wohl deswegen nicht in ihrer Tiefe verstehen, weil er selbst ein Mann der unerbittlichen Konsequenz war, so oder so. Als er seinen strenggläubig-jüdisch-pharisäischen Weg als Irrweg erkannte, gab es für ihn keinen Zweifel mehr an der Wahrheit, die sich ihm in Jesus Christus verkörpert und höchstpersönlich offenbart hatte. Er war krank, von Stimmungsschwankungen gebeutelt, aber Unsicherheit in Glaubensdingen kannte er nicht.

Ich selber kenne Zweifel und Anfechtungen wie du, allerdings nicht in gleicher Ausprägung. Und mein Nachdenken über den Glauben führt mich am Ende zu anderen Schlussfolgerungen und Konsequenzen, als du sie ziehst.

Zwei peinliche Begegnungen mit Jesus

Du hast mir erzählt, wie du durch Paulus zum Glauben gekommen bist. Ich habe keine Bekehrung erlebt, die ich so eindeutig mit einem bestimmten Termin verbinden könnte. Zwei Mal begegnete ich Jesus, und beide Male endete es für mich peinlich.

Beim ersten Mal suchte ich ihn extra in Galiläa auf, in der Nähe des Sees Genezareth, ich wollte von ihm ernsthaft wissen, wie man das macht: selig werden, den Willen Gottes erfüllen. Und Jesus tat nichts weiter, als mich nach den Zehn Geboten zu fragen. Es klang so, als ob es ausreichen würde, sie zu befolgen. Aber hielt ich sie wirklich?

Ich war damals sehr schüchtern, gerade 15 Jahre alt, und ich war voller Selbstzweifel, zumal mein Vater ein Hellene und meine Mutter Jüdin war, und ich lange nicht recht wusste, wohin ich nun gehörte, worauf ich stolz sein und welche Maßstäbe für mich gelten sollten. Mein Vater stammte aus Zypern wie Barnabas, hatte Haus und Hof verloren, meine Mutter war eine Judäerin und hatte in Jerusalem etwas Grundbesitz und sogar ein Haus mit einem großen Obergemach.

Die Gestalt Jesu faszinierte mich. Fast hätte ich alles verlassen, um ihm zu folgen, als er mich dazu einlud. Ich hätte sein Jünger sein können wie Petrus und Johannes. Aber dann siegte doch die Angst vor der Ungewissheit, vor einem ungesicherten Leben ohne Dach über dem Kopf und in ständiger Angst vor Räubern und Aufständischen und römischen Soldaten auf den Straßen Judäas und Galiläas. Ich kehrte verwirrt und traurig zurück zu meinen Eltern nach Jerusalem. Dass Matthäus mich später einen reichen Jüngling nannte, war übertrieben. Aber es entsprach dem, wie ich mich fühlte. Ich war damals nicht frei genug, um alles loszulassen und mit Jesus mitzugehen.

Ein Jahr brauchte ich, um meine Bedenken zu überwinden. Endlich entschied ich mich: Ja, ich wollte Jesus folgen, von ihm lernen. Von ihm versprach ich mir die Überwindung meiner Gewissensskrupel, meiner Angst, meiner Orientierungslosigkeit.

Genau in dieser Zeit überstürzten sich die Ereignisse; jemand erzählte mir, Jesus sei in Jerusalem während des Passahfestes mitten in der Nacht verhaftet worden, und ich sprang aus dem Bett und machte mich auf, nur mit einem Umhang auf der nackten Haut bekleidet, um zu erfahren, ob die furchtbare Nachricht der Wahrheit entsprach. Dann sah ich ihn, wie er abgeführt wurde von römischen Soldaten, ich sah, wie seine Jünger alle wegliefen. Ich ahnte, was da gespielt wurde: es sollte im Schutz der Dunkelheit kurzer Prozess gemacht werden mit einem Menschen, der den Mächtigen in Jerusalem und Cäsaräa unbequem geworden war. Ich konnte es nicht fassen: Diesen besten aller Menschen würde man einfach lynchen, und es sollte zu spät sein, ihm zu Füßen zu sitzen, von ihm zu lernen? Jetzt wollte ich ihm folgen, mutiger als die erwachsenen Jünger lief ich zu ihm hin. Aber da zerrten die Soldaten an meinem Leinen-Umhang und hielten ihn fest, und mich packte die Angst. Ich lief weg, peinlicherweise völlig nackt.

Als Jesus tot war, wollte ich wenigstens seinem toten Körper nahe sein. Ich zog mein sauberstes Festtagsgewand an und ging sehr früh am Morgen zu seinem Grab. Merkwürdigerweise war es offen und leer. Es hatte wohl ein Erdbeben gegeben oder so, wer weiß, was da passiert war. Ich setzte mich hin und weinte nur noch.

Irgendwann kam mir die Erkenntnis wie ein Blitz: Was auch immer mit Jesus geschehen war, mit seiner Sache war es nicht vorbei. Es konnte nicht vorbei sein. Denn Jesus war der Messias. Ja, niemand sonst hatte das Recht, noch irgendetwas im Namen Gottes zu sagen. Nicht die theologischen Wortklauber, die alles beim Alten ließen, nicht die gewaltbereiten Revolutionäre, die alles nur noch schlimmer machten, nicht die elitären Klosterbrüder, die die ganze Welt verrecken ließen, wenn nur sie selber ihre arme Seele retten könnten. Nein, Jesus war die Rettung, nicht nur für mich, nicht nur für die Frommen, für alle Welt. Gerade so, wie er es gemacht hatte. Gerade so, wie er gelebt hatte.

Als auf einmal Frauen zum Grab kamen, die ihn suchten – sie hatten extra Salböl gekauft, um seinen Körper zu konservieren – sagte ich ihnen, dass sie ihn hier gewiss nicht finden würden. Nicht bei den Toten, bei den Lebenden ist er zu finden, da hört er nicht auf, denen, die Gott suchen, Wegweisung (lebendige Tora) zu sein!

Ich hatte Jesus nur zwei Mal getroffen. Aber man erzählte mir viel von ihm. Viele Geschichten. Sicher viel Übertriebenes. Die Leute wollen immer alles noch wunderbarer, als es sowieso schon ist, und machen dadurch oft das eigentliche Wunder unsichtbar. Damals fing ich an, alle Leute, die mit Jesus zu tun gehabt hatten, zu befragen, was sie von Jesus wussten.

Und es war Petrus, von dem ich mich taufen ließ, am Wochenfest, 50 Tage später, gemeinsam mit einer ganzen Reihe anderer Menschen. Lukas hat später etwas übertrieben, als er 3000 Getaufte notierte. Aber es war eine große Aufbruchstimmung, und ich war dabei. Schon deshalb übrigens, weil es meine Mutter war, die die Jüngerinnen und Jünger in ihrem Haus aufnahm. Da bekam ich die Anfänge der Gemeinde des Messias Jesus in Jerusalem hautnah mit. Später habe ich dann Paulus auf einer Missionsreise begleitet und Barnabas auf einer anderen, aber das weißt du ja. Inzwischen habe ich mich in Alexandria niedergelassen und bin hier zum Bischof gewählt worden.

Glaube als Abkehr von der Welt?

Was du über deine Berufung geschrieben hast, macht mich nachdenklich. Ich habe keinen Grund, ihre Echtheit zu bezweifeln, frage mich aber, aufgrund welcher Maßstäbe du überhaupt meintest, dich vor Paulus deswegen rechtfertigen zu müssen.

„Der Demas hat vielleicht nie eine echte Bekehrung und Erneuerung erlebt, es war sicherlich alles nur angelerntes Kopfwissen, aber nie ein totaler Zerbruch vor Gott, der ihn zum Bekenntnis all seiner Sünden und damit zur Befreiung von seinen Gebundenheiten geführt hätte.“

Wer bestimmt denn, ob eine Bekehrung echt ist? Ist ein totaler „Zerbruch“ vor Gott notwendig, aufgrund dessen man „all“ seine Sünden bekennen, durch den man von allen Gebundenheiten frei werden und an dem abzulesen wäre, dass der Glaube eines Menschen nicht nur angelerntes Kopfwissen ist? Was soll ein solcher Zerbruch sein? Mir kommt das vor wie eine Leistung, die man erbringen muss. Meine befreiende Glaubenserfahrung ist, dass Jesus solche Leistungen für Gott gerade nicht erwartet.

Du scheinst ein sehr entschiedener Christ geworden zu sein, als du dich radikal von deinem bisherigen Lebenswandel abwandtest: von der Philosophie ebenso wie vom Götzendienst. Warum du nicht weiter zur Schule gegangen bist, verstehe ich nicht. Gerne wüsste ich genauer, was du mit „jugendlichen Lüsten“ meinst.

Meine Entscheidung für Christus bestand nicht in der Abkehr von heidnischen Götzen und Philosophien, bin ich doch in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem die Mutter im Glauben ihrer Eltern an den Einen Gott fest verwurzelt war, und der Vater als Proselyt bereits auf Zypern den jüdischen Glauben angenommen hatte. Mein Vater, der in Jerusalem als Arbeiter sein Brot verdienen musste, vertrat einen nüchternen Glauben, meine Mutter wurde schon früh eine Jüngerin Jesu und bestand darauf, der jungen Gemeinde des neuen christlichen Weges das Obergemach ihres Hauses als Versammlungsort zur Verfügung zu stellen.

Heidnischer Götzendienst hätte mich nie gereizt; schon bevor meine Eltern Christen wurden, war es mir selbstverständlich, die Tora Gottes, vor allem die Zehn Gebote, peinlich genau zu achten, so gut ich es konnte. Mein Problem war, wie gesagt, dass ich mich allzusehr mit Selbstvorwürfen quälte, ob ich auch wirklich genug meine Sünden bereut hätte, so dass mir Gott auch wirklich verzeihen könnte.

Bald fand ich Menschen in meiner Familie und in der jungen christlichen Gemeinde, die mich zur Vernunft brachten. Wie befreiend war es für mich, als man mir die übertriebenen Schuldgefühle nahm, die im Grunde eine elegante Art waren, um sich vor dem wirklichen Tun der Tora zu drücken. Jetzt durfte ich aufatmen und die von Jesus so lebendig ausgelegte Tora Gottes als eine Wegweisung in die Freiheit erkennen.

Du schreibst:

„im Laufe der letzten Jahre ließ das Feuer der ‚ersten Liebe‘ immer mehr nach“.

Das erinnert mich an das erste Stadium in der Beziehung zu einer Frau: Verliebte fühlen die Schmetterlinge im Bauch, sind Feuer und Flamme für die geliebte Person, sehen nur ihre Sonnenseiten. Und ich frage mich, ob du als Grieche nicht Agape mit Eros verwechselt hast, als du angefangen hast, Gott und Jesus zu lieben. Für mich ist Eros etwas, was ich mit meiner Frau teile, aber was in der Beziehung zu Gott nichts zu suchen hat.

Sicher, auch ich war fasziniert von Jesus, ich fühlte mich von ihm ernstgenommen und angenommen, obwohl oder gerade weil er mich auch herausforderte, und zwar zuerst über meine Grenzen hinaus, indem er mich mit einer geheimen Schwäche konfrontierte. Gewiss, eine Form von Liebe ist das auch, vergleichbar mit der Liebe guter Eltern zu ihren Kindern. Aber diese Liebe ist kein gefühlvolles Strohfeuer, sondern eine verantwortungsvolle Fürsorge, die Kinder groß werden lässt, ihnen Freiheit zur eigenen Entfaltung gibt, die aufrichtet und aufrichtig werden lässt und zum aufrechten Gang befähigt.

Wenn du schreibst:

„ich begann, wieder heimlich und z. T. mir selbst unbewusst mich an den Dingen der Welt zu erfreuen“,

dann kommt es mir so vor, als ob für dich der Glaube zu einer Pflichtübung wurde. Oder war er es von Anfang an, und deine Begeisterung der ersten Stunde verschloss dir dafür nur die Augen? Was sind für dich denn „Dinge der Welt“?

Für mich ist dieser „Kosmos“ die Weltordnung, wie sie seit dem „Großen“ Alexander besteht: eine Herrschaft der Reichen, Schönen und Korrupten über so viele ihrer Freiheit und Eigenart beraubten Völker, eine Herrschaft, die auf dem Elend so vieler Menschen beruht, die verarmten, von ihrem Land vertrieben wurden und ihre Familie und sich selbst in die Sklaverei verkaufen mussten. In dieser Weltordnung ist keine Spur von dem zu finden, was mir in der Heiligen Schrift wichtig war: Barmherzigkeit und Recht, Schalom für alle Völker. Stattdessen besteht der Kosmos in einer Weltherrschaft despotischer Könige und Kaiser mit Hilfe despotischer Götter. Dieser Weltordnung habe ich abgeschworen – sie ist prinzipiell entmachtet, seit Jesus am Verbrecherkreuz der Römer starb und von Gott aus den Toten erweckt und ins Recht gesetzt worden ist.

Du scheinst unter den Dingen dieser Welt etwas anderes zu verstehen:

„Ich hatte immer weniger Lust zum Beten und zum Lesen in der Schrift“.

Als ob es „weltlich“ sei, wenn man nicht so viel beten will. Tu ich auch nicht. Jesus hat davor gewarnt, allzu exzessiv zu beten, jedenfalls keinesfalls als Pflichtübung oder als Schau für andere. Oder als ob es „weltlich“ sei, die Lust am Lesen in der Schrift zu verlieren. Naja, wenn du den Glauben nur als Pflicht siehst, dann meinst du am Ende noch, du müsstest auch die Bibel auf eine ganz bestimmte Weise lesen. Nicht mit dem Vertrauen eines Gotteskindes, das sich von der Schrift in die Freiheit führen lässt, sondern mit der Buchstabengläubigkeit eines engstirnigen Schriftgelehrten, der Angst davor hat, den selbstgezogenen Zaun um das Gesetz zu übertreten und dabei das wirkliche Leben verpasst.

Und was verstehst du unter dem „Kampf gegen die fleischlichen Lüste“, den du mit immer weniger Überzeugung führtest und am Ende ganz aufgabst? Lerne aus der Schrift, dass Gott nicht prüde ist. Er hat zum Beispiel nie etwas gegen die sogenannte Onanie gesagt. Onan hatte ein Problem mit der Institution der Schwagerehe und praktizierte den Coitus interruptus, weil er keine Lust hatte, seinem Bruder einen legitimen Nachkommen zu verschaffen; das war sein Verstoß gegen den Geist der Tora.

Gott ließ es auch zu, dass eine Sammlung sehr erotischer Liebeslieder in die Bibel aufgenommen wurde, das Hohelied Salomos. Gott hat etwas gegen Unzucht, weil durch sie Menschen sich und andere zu bloßen Objekten der Begierde machen. Er hat etwas gegen Vergewaltigung und gegen die Vergöttlichung der Sexualität. Er hat etwas gegen Ehebruch, weil die Treue seine hervorstechendste Eigenschaft ist, die er uns Menschen offenbart hat, und weil Menschen in ihren intimen Beziehungen ohne Vertrauen und Treue verraten und verkauft sind.

Weiter schreibst du:

„Ich redete mir ein, dass Gott unendlich viel Geduld mit mir habe und viel Verständnis für meine Schwachheiten; dabei belog ich mich jedoch selber, denn die Heiligen Schriften reden ja von einem ganz anderen Wesen Gottes.“

Ich denke, dass du dich nicht damit belogen hattest, sondern indem du jetzt so denkst, missverstehst du die Schriften gründlich. Die Ungeduld Gottes in der Schrift bezieht sich auf das, was in der Tat böse und menschenfeindlich ist: Ausbeutung, Unterdrückung, Vergewaltigung, Mord, Rufmord, unterlassene Hilfeleistung. Ich nehme an, dass du nicht Schuldgefühle hast wegen solcher Taten, sondern dass du dich quälst mit Dingen, von denen du nicht verstehst, dass sie dir verboten sind, und die du mit schlechtem Gewissen tust, zwanghaft, ohne sie zu genießen, wie eine Sucht.

Nein, du bist nicht von Dämonen besessen (es sei denn, du verstehst unter einem Dämon eine zwanghafte Neurose, für deren Behandlung erst im 20. Jahrhundert ein Mann jüdischer Abstammung einige Ideen haben wird). Ich würde dir raten, mal über die Maßstäbe nachzudenken, an denen du misst, was „Sünde“ ist. Wenn Schuldgefühle auch nach wiederholten Beichten nicht verschwinden, liegt das häufig daran, dass man etwas Unmögliches meinte tun zu müssen, zum Beispiel wenn einem etwas Normal-Menschliches verboten wurde. Manchmal ist es auch leichter, sich schuldig als machtlos zu fühlen.

Abgesehen davon bin ich nicht begeistert von deinen sogenannten „Brüdern“, die dir in deiner seelischen Not nur noch mehr Druck gemacht haben, statt dir in deinen Glaubenszweifeln verstehend und verständnisvoll beizustehen. Ich habe den Verdacht, dass du da in eine ganze Gemeinde von zwanghaften Christen hineingeraten bist, die unter einem geistlichen Leben die Absage an eine missverstandene Fleischlichkeit verstehen.

Ich glaube, da hast auch du den Paulus missverstanden. Denn sein Bekenntnis: „Das Wollen ist bei mir vorhanden, aber das Vollbringen dessen, was recht ist, finde ich nicht“, bezieht sich gar nicht auf körperliche Lüste, sondern auf die Unmöglichkeit, in dieser römischen Weltordnung der Kriegsgewinner und nach unten Tretenden konsequent nach der Tora zu leben. Paulus findet im Vertrauen auf den Messias Jesus das große Dennoch: dort am Kreuz hat Jesus ein Loch in die Weltordnung gemacht. Und Paulus erteilt jedem Besser-und-größer-sein-Wollen als andere Menschen, egal ob auf politische oder fromme Weise, im Vertrauen auf Jesus eine Absage.

Glaube zwischen Anfechtung und Wunder

Deine Untersuchungen,

„ob es außer dem Glauben wirklich noch einen gewichtigen Unterschied gibt zwischen einem Gottlosen und einem Jünger Jesu“,

werfen ebenfalls ein bezeichnendes Licht auf die christliche Gruppierung, in der du deinen Glauben gelebt hast. Wer zum Beispiel behauptet,

„dass ein Kind Gottes ja ständig in einer innigen Gemeinschaft zu seinem himmlischen Vater steht“,

kennt die Bibel nicht vollständig.

Da gibt es den durchaus gläubigen Weisen Kohelet (auch Prediger Salomo genannt), der schon 200 Jahre vor der Geburt Christi erkannt hat, dass die Gerechten im Volk Israel nicht „mit mehr Glück und Gelingen gesegnet werden als die Ungläubigen“, wie du es für die Christen beklagst. Da gibt es einen Hiob, der eine sehr streitbare Beziehung zum „Ewigen“ hat, den er als ungerechten Despoten anklagt – und dafür bekommt er von Gott am Ende sogar Recht. Da gibt es einen Jesus, der definitiv gesagt hat: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“, womit Jesus den Psalm 22 zitiert hat, das heißt, diese Erfahrung war auch den alten Israeliten schon vertraut.

Umgekehrt erfahren auch „Ungläubige“ durchaus Gottes Handeln, manchmal so, dass sie dadurch zum Glauben kommen, manchmal so, dass sie dadurch vom hohen Ross herunter müssen, manchmal so, dass Jesus vom Glauben der angeblich Ungläubigen überrascht ist.

Und deine Erkenntnis,

„dass es ja auch bei den Gottlosen wundersame Krankenheilungen gibt, häufig einfach nur bedingt durch Willenskraft und Selbstbeeinflussung“,

ist nicht gerade neu, denn schon in der Schrift steht, dass die Magier des Pharao ähnliche Zauberkunststücke wie Mose mit seinem Stab zustandebrachten und dass die Hexe von en-Dor ein gutes Medium war. Nicht jede Magie ist automatisch ein Wunder Gottes.

Wunder Gottes müssen nicht in etwas Übernatürlichem bestehen. In der Schöpfung Gottes ist gerade das Natürliche das Wunderbare, und zwar nicht nur dann, wenn man es noch nicht erklären kann. Die entscheidenden Wunder Gottes bestehen darin, dass die Tora mit ihrem Recht und ihrem Frieden, mit ihrer Barmherzigkeit und ihrer Freiheit sich durchsetzt, dass Menschen Vertrauen zu Gott, zu sich selbst, zum Leben und zum Nächsten finden, dass sie Liebe erfahren und Liebe üben.

Manchmal sind Wunder Gottes auch schrecklich, wenn sie nämlich etwas durchkreuzen, was wir für wünschenswert halten. Nicht jedes Wunder ist eine Wunscherfüllung, aber wenn ein Wunder eine Wunscherfüllung ist, spricht das nicht dagegen, dass es trotzdem ein Wunder sein könnte.

Dass nicht alle Gebetswünsche erfüllt werden, dafür gibt es keine einfache Erklärung. Ich erinnere wieder an Hiob, dessen Klagen zunächst auf taube Ohren stoßen. Die Erklärung, Gott habe in einer Wette mit Satan ihn auf die Probe stellen wollen, befriedigt letztendlich nicht. Die Bibel beharrt darauf, dass es rechtens ist, Gott anzuklagen und auf seinen Willen anzusprechen, der Gerechtigkeit und Frieden und Freiheit und Liebe für die Menschen will. Jesus lebt seine Überzeugung, dass letzten Endes der das Leben gewinnen wird, der im Extremfall bereit ist, es loszulassen und hinzugeben – nicht aus Liebe zum Tod, sondern aus Liebe.

Zweifel an der Vorherbestimmung des Glaubens und an der ewigen Verdammnis

Deine ersten Zweifel, die sich an den christlichen Glauben an solchen richten, beziehen sich auf zwei Fragen:

„Wenn der Glaube eine Gabe Gottes ist, warum hat Gott diesen Glauben nicht auch den anderen Menschen geschenkt?“

Weißt du, Demas, diese Frage geht am Wesen des Glaubens vorbei. Wer glaubt, der glaubt selber, der hat sich dafür entschieden, und zugleich weiß er, dass dieser Glaube keine eigene Leistung, sondern ein Geschenk ist. Ich kann mir auf meinen Glauben nichts einbilden. Der Glaube ist Entscheidung und Geschenk zugleich.

Dein Problem entsteht dort, wo ein bestimmtes Konzept von Glauben mit einem bestimmten Konzept von der ewigen Verdammnis gekoppelt wird. Glaube ist Gottvertrauen und damit in eins eine Lebenshaltung, die an der Tora ausgerichtet ist. Um Glauben in diesem Sinne ging es Jesus. Wer sich von der Quelle des Lebens trennt, geht verloren, so wie einer, der aus einer guten Wasserquelle nicht trinkt, obwohl er es könnte, verdurstet. Jesus hatte nie im Sinn, den Glauben als eine persönliche Liebesbeziehung zu sich selbst zu fordern und davon das ewige Leben abhängig zu machen. Nach Jesus hängt das Leben von Barmherzigkeit ab, von der Barmherzigkeit, die man empfängt und die man verschenkt. Er freute sich über jeden Goj (jeden Menschen aus den nichtjüdischen Völkern), der sich in die Erfüllung der Tora mit hineinnehmen ließ.

Im Gericht wird jeder (egal ob Jude oder Goj, ob Christ oder Nichtchrist) nach den Werken der Barmherzigkeit gerichtet, das ist die Meinung Jesu und auch die Meinung des Paulus – und wer damit Probleme hat unter den Bedingungen dieser Weltordnung und der eigenen Unzulänglichkeiten, der findet in Jesus einen Anwalt und Bewährungshelfer, einen Sündenbock, der uns hilft, mit unserer Sünde, ohne sie zu verharmlosen, ins Reine zu kommen.

Mit dem Konzept der ewigen Verdammnis habe ich auch meine Probleme. Jesus war Jude, und in der ganzen Schrift, die er kannte, kommt das Wort „Hölle“ (Gehenna) nicht vor. „Hades“ heißt etwas anderes: Scheol, Totenreich, das war nicht etwas Ewiges, etwas durchaus zu Überwindendes, aus dem der von den Toten erweckte Christus die dort Gefangenen herauszuholen imstande ist. In den messianischen Schriften hat es etwa 20 Mal das Wort „Hölle“, sehr viel seltener als das Wort „Himmel“. Wer die Hölle als Drohung einsetzt für die, die nicht glauben möchten, verzerrt also die Stoßrichtung der Schrift gewaltig. Es geht um die Einladung zum erfüllten Leben unter dem Himmel, mit der Tora, auf der Erde, ein Leben, das durch den Tod nicht zerstört wird. Um das Jenseits brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. So einfach sehe ich das.

Deine Kritik an der grausamen Vorstellung eines Gottes, der Menschen, die ihm trotzen, entweder ewig leiden lässt oder durch Folter gefügig macht, teile ich voll und ganz. Ein solcher Gott wäre nicht Gott, sondern der schlimmste aller Teufel.

Deine Frage:

„Warum hat Er nur uns auserwählt und nicht gleich auch alle Menschen auf einmal errettet?“

ist schwer zu beantworten. Ist die Antwort der Schrift nicht die, dass wir so „im Licht wandeln sollen“, dass wir durch unsere Ausstrahlung auch andere zum Glauben einladen? Erwählung ist ja nicht die Auszeichnung einer Elite, sondern die Beauftragung zu einem Dienst an anderen.

Du fragst:

„Warum hat Er in der Schöpfung überhaupt uns der Gefahr ausgesetzt, dass der Mensch in Sünde fallen konnte und dadurch sein ewiges Glück verlöre?“

Darauf gibt es nur die Antwort, dass der Mensch nicht Mensch auf dieser Erde wäre, wenn es anders wäre. Der Mensch erfährt sich als Mensch im Unterschied zum Tier, indem er ethisch handeln kann und daran – ohne Gottvertrauen – immer wieder scheitert. Er sehnt sich nach Frieden und Gerechtigkeit, bringt aber viel besser Krieg und Ausbeutung zustande – bis hin zu solchen perfekt durchorganisierten globalen Systemen wie dem Römischen Reich. Die Bibel bringt Gott als den Anwalt derer zur Sprache, die keine Stimme haben, Gott „sieht“ das Unrecht und bringt Menschen in Bewegung, die Befreiung in Gang setzen. Mit Gottvertrauen kann der Mensch sich an der Tora orientieren und seine Freiheit bewähren.

Dass du zweifelnde Fragen stellst wie Hiob oder Thomas, spricht für dich; dass deine Glaubensbrüder dieses Fragen abqualifizierten, spricht gegen sie. Denn du hast Recht: Kinder sind von Jesus nicht deswegen uns als Vorbild hingestellt worden, weil sie nicht fragen würden (wer kann soooo penetrant „Waaaaruuuum?“ fragen, wenn nicht ein Kind im Fragealter?), sondern weil sie darauf angewiesen sind, auf ein unbedingt zuverlässiges Gegenüber vertrauen zu können und dies auch tun.

Gottes Heil für alle Menschen

Deine Gedanken über Gottes Heil für alle Menschen hast du selbst als eine Art Offenbarung Gottes an dich selbst erfahren:

„Mir war, als ob Gott selbst sich aufgemacht hätte, um mir den richtigen Weg zu weisen.“

Ich kann verstehen, dass dir ein Stein vom Herzen fiel, als du erkanntest, dass deine ständigen Gedanken an Hölle und Verdammnis und Ausschluss vom Heil unnötig waren:

„Auf einmal wusste ich, dass Gott alle Menschen liebt und in Sein Heil mit eingeschlossen hat. Ich sah in den Ungläubigen keine Hunde und Schweine mehr, sondern meine Brüder und Schwestern, die von Gott genauso geliebt werden wie ich.“

Was ich nicht ganz verstehe, ist der Widerspruch, den du bei deinen „Brüdern“ erfahren hast. Sie scheinen wirklich ein sehr exklusives Christentum zu vertreten und die Universalität der Liebe Gottes zu übersehen. Kennen sie denn nicht das Wort aus 1. Timotheus 2, 4?

Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.

Kennen sie nicht das Wort des Paulus in Römer 11, 26?

So wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht: Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob.

Im einzelnen könnte man viel darüber diskutieren, ob es wirklich eine so klare Stufenfolge gibt vom Judentum zum Christentum und zu einer noch vernünftigeren Religion. Aufklärung war manchmal auch sehr unaufgeklärt, das Judentum in seinen Gesetzen viel bodenständiger und vernünftiger, als du annimmst, und Christen können manchmal sehr engstirnige und heuchlerische Schriftgelehrte sein.

Ich stimme deinen Ausführungen in der Weise zu, dass auch ich denke: Menschen müssen sich in ihren Anschauungen von Gott der menschlichen, politischen, religiösen usw. Ausdrucksformen bedienen, die sie nun mal haben, und die sind immer unvollkommen. Ob wir diejenigen sind, die es perfekt schaffen, von Gott zu reden, bezweifle ich, aber Gott ist immer größer und barmherziger als unsere Vorstellungen von ihm – und wenn er es will, schafft er es immer wieder neu, sich uns – und jedem in der Welt auf seine Weise – zu offenbaren.

Nur in einem widerspreche ich dir: Es mag sein, dass Gott sich „aller bestehenden Religionen bedient“, um sein Ziel zu erreichen, und doch kann es sein, dass er nicht unter allen Umständen will, „dass jeder einzelne in seiner eigenen Religion äußerste Treue beweist“. So hat es ja im Buddhismus auch eine kritische Wendung dem Hinduismus gegenüber gegeben, ähnlich wie das Christentum aus dem Judentum heraus entstanden ist. Welche Religion „Recht“ hat, das ist von uns nicht zu entscheiden; wir haben von Jesus gelernt, nicht über fremde Menschen und Religionen zu richten, sondern daran zu denken, dass wir an der Tora Gottes, wie sie in Christus erfüllt worden ist, gemessen werden.

Die Bibel – ihre Inspiration als menschliches Buch

Ich widerspreche dir also insofern, als ich keinen grundlegenden Widerspruch zwischen deiner Haltung und den recht verstandenen „Aussagen der Heiligen Schrift“ erkenne. Du hast in der Gemeinde deiner Brüder gelernt, dass derjenige, der mit dem Wort der Schrift so lebendig auslegend umgeht, wie es Jesus, aber auf ihre Weise auch die Rabbinen zu tun pflegten,

„dem Worte Gewalt antun und es auf unzulässige Weise dehnen“.

So etwas hat man auch Jesus vorgeworfen, als er das Sabbatgebot neu auslegte, oder dem Paulus, als er neue Vorstellungen über das Ende bzw. die Erfüllung des Gesetzes in die Auslegung der Tora einführte.

Die Lehre von der buchstäblichen Inspiration der Schrift teile ich schon deswegen nicht, weil ich spätestens von Jesus gelernt habe, dass „der Buchstabe tötet“. Und nur die Inspiration Gottes selbst, die auf mich durch diejenigen gewirkt hat, die ich als Zeuginnen und Zeugen der Frohen und Befreienden Botschaft gehört habe, macht lebendig. Unfehlbar ist nicht die Schrift, was ist das überhaupt für ein merkwürdiges Missverständnis: als ob Jesus nicht deutlich genug gemacht hätte, dass Verfehlung etwas ist, was die ganze Haltung eines Menschen, ja die Verfassung der ganzen Weltordnung angeht. Diese Verfehlung in Ordnung zu bringen, ist Jesus in die Welt gekommen, nicht um eines wortwörtlich zu glaubenden und abzuschreibenden Buches willen.

Natürlich ist die Schrift

„– unter Gottes Zulassung und Kontrolle – ein vom menschlichen Geist geschriebenes Buch, das den geistigen Einflüssen ihrer Zeit unterworfen war“

und ist. Was denn sonst? Wie sollten Menschen dieses Buch sonst verstehen, auf sich beziehen, in ihr Leben übersetzen können? Ich habe kein harmonisches Bild von dem Buch, das allerdings ein kostbares Geschenk Gottes an uns ist, und zwar gerade weil es die unzähligen Brüche widerspiegelt, unter denen Menschen in dieser Weltordnung und in der Zerrissenheit ihrer Existenz leben.

Deine erste Liebe zur Bibel scheint übrigens auch ein wenig vom Blick durch eine rosarote Brille gefärbt gewesen zu sein, hattest du doch

„beim Lesen der Schriften festgestellt, dass sie mir eine harmonische Erklärung für alle Lebensbereiche bieten, sowohl für solche, die meiner eigenen Realität und Wahrnehmung nahe kommen, als auch solchen, die außerhalb meines Wissens und meiner Erfahrung stehen, z. B. das Leben nach dem Tod. Das biblische Weltbild klang mir einfach und plausibel.“

Schön und gut, aber musstest du nicht irgendwann bemerken, dass die Bibel so harmonisch nun auch wieder nicht ist – und zwar eben weil sie ein realistisches Buch über die Menschenwelt unter dem Himmel Gottes ist?

Warum du einen Gegensatz konstruierst zwischen deinem auf Nachdenken gegründeten Akzeptieren der Schrift und dem Wirken des Heiligen Geistes, verstehe ich immer noch nicht. Wie ich oben schon sagte, widerspricht sich beides nicht. Ja, ich gehe sogar so weit zu sagen, dass ein Glaube gegen deine Vernunft ein absurder Glaube wäre, der nichts mit dem Heiligen Geist zu tun hätte. Wenn du im Nachhinein festgestellt hast, dass dein

„Glaube nichts anderes als die Annahme von angebotenen Wunschvorstellungen war, die unserem Einbildungsvermögen erwachsen“,

dann würde ich daraus den Schluss ziehen, dass dein Glaube mit dem in der Schrift gemeinten Glauben nicht viel zu tun hat, denn Glaube vollzieht sich dort oft genug gegen die Wunschvorstellungen der Beteiligten und hat viel mehr mit dem Ziel von Recht und Frieden unter den Menschen zu tun als mit persönlichen Wünschen. Und vom Heiligen Geist gewirkt scheint mir ein Wunscherfüllungsautomatismus-Glaube auch nicht zu sein, so leid mir das tut.

Wenn du Zeus und seine Götterfamilie in einem Atemzug mit Adonaj („meinem Herrn“, wie wir den unaussprechlichen Gottesnamen JHWH umschreiben) nennst, dann irrst du gewaltig. So weit haben sich also die Heidenchristen schon von den Juden entfernt, dass sie den Einen Gott und seine Geschichte der Befreiung aus der Despotie von Königen und ihren Gottheiten in einen Topf werfen mit den Götzen, die nichts als ins Unermessliche projizierte menschliche Leidenschaften verkörpern.

Ja, auch Adonaj wird mit menschlichen Zügen dargestellt, aber er ist kein egoistischer, despotischer Gott. Er wirkt manchmal so, weil sein Eifer für die Befreiung und sein Hass gegen alle Sklaverei und seine Leidenschaft für den Schalom seines Volkes inmitten der Völkerwelt sich nicht mit der Weltordnung vertragen, die den Völkern seit Generationen mit Gewalt aufgepfropft worden ist.

Richtig, dieser Gott widerspricht auch meinem Harmonieverständnis; aber ich habe eingesehen, dass Harmoniesucht nicht immer dem Frieden dient. Jesus wollte Frieden, nicht Harmonie. Der Unterschied besteht in einer Feindesliebe, die gefährlich für den werden kann, der sie übt, während der Harmoniesüchtige (ich weiß, wovon ich spreche!) mitschuldig wird am System, indem er sich heraushält. Der jüdische Gott ist kein anderer als der christliche; in den alten Schriften strahlt Gott genauso viel Wärme und Geborgenheit aus, wie umgekehrt auch in den neuen Schriften seine Härte gegenüber der Verfehlung der Barmherzigkeit zu finden ist.

Ungereimtheiten in der Schrift

Dass es in den Erzählungen der Bibel historische Ungenauigkeiten gibt, weiß ich, und ich sehe darin kein Problem. Die Bibel will kein Geschichtsbuch sein, sondern sie will in die Freiheit der Kinder Gottes führen. Dazu benutzt sie Gedichte und Gebete, Berichte und Dichtungen, Gleichnisse und Symbole.

Was die historische Genauigkeit angeht – denk doch mal nach: Ich habe selber aufgeschrieben, was ich im Laufe der letzten 40 Jahre von verschiedensten Leuten über ihre Begegnungen mit Jesus erfahren habe, und ich hätte verzweifeln müssen, wenn es mir darum gegangen wäre, was nun genau passiert ist. Denke nur an die Zahl derer, die bei der großen Speisung sattgeworden sind: waren es nun 4000 oder 5000? Ich hörte beide Zahlen, kann nicht ausschließen, dass Jesus mehrere Male so viele Leute satt gemacht hat, aber vielleicht wurde die gleiche Geschichte auch wie eine „stille Post“ beim Weitererzählen verändert.

Aber das Problem der historischen Genauigkeit ist unbedeutend gegenüber einer viel schwerwiegenderen Anfechtung. Weißt du, worum es mir beim Aufschreiben der Geschichte von Jesus ging? Du kannst dir nicht vorstellen, wie es mir und allen, die aus Judäa und Galiläa stammen, zur Zeit geht: Im Jahr 67 färbte sich der See Genezareth rot vom Blut der Galiläer, die von den römischen Truppen ermordet wurden, als sie von Norden her auf Jerusalem zu marschierten. Im Jahr 70 liegt Jerusalem in Trümmern, Tausende sind ums Leben gekommen; viele, die dachten, der Messias würde jetzt den römischen Grausamkeiten ein Ende bereiten und endlich das verheißene Friedensreich aufrichten, sind bitter enttäuscht und fragen sich, ob der Glaube an den Messias Jesus vielleicht doch eine Illusion ist.

Wenn du mein Evangelium liest, dann wirst du feststellen, dass ich es nicht gewagt habe, eine ausgemalte Auferstehungsgeschichte mit Erscheinung des Auferstandenen usw. ans Ende zu stellen. Ich kenne welche, natürlich, wer kennt sie nicht. Paulus hat ja behauptet, dass 500 Brüder auf einmal Jesus gesehen hätten. Ja, ich war selber im leeren Grab, weiß aber nicht, was da „passiert“ ist. Zu sehen war nichts. Drei Frauen kamen auch hin, aber die liefen verschreckt und entsetzt davon und wagten nicht einmal den Jüngern etwas weiterzuerzählen. Und als sie es taten, da tat man ihre Geschichten als Weibergeschwätz ab.

Es hat einige Zeit gedauert, als wir anfingen, aufzustehen aus unserer Gelähmtheit, Niedergeschlagenheit und aus unserem Entsetzen, das zunächst nicht etwa geringer wurde durch die Erkenntnis, dass Jesus wirklich auferstanden und wirklich der Messias war. Bevor der Heilige Geist uns Mut machte, die Konsequenzen dieser Erkenntnis auszuhalten, blieben wir alle ängstlich in den Mauern unserer Häuser verborgen.

Auferstehung, das hieß ja nicht einfach: Wiederbelebung eines Toten, sondern mit Messias Jesus Aufstehen gegen eine ganze Weltordnung, und das sogar ohne Waffen wie die Zeloten, wehrlos wie Jesus.

Als die christliche Gemeinde dann wuchs und wuchs, wurde die Stimmung immer besser, und bald schossen auch die Auferstehungsgeschichten ins Kraut, es wird bestimmt noch Evangelien geben, die mehr davon überliefern als ich. Ich habe darauf verzichtet, weil ich glaube, dass die Zeit des christlichen Überschwangs vorbei ist angesichts des Untergangs von Jerusalem. Wenn sich die Auferstehung des Messias Jesus und unser Aufstehen nicht dort bewährt, wo wir leben, hier und jetzt, angesichts des Blutvergießens und der Trümmer, angesichts von Krankheit und Armut, Unfrieden und Unfreiheit, dann nützt uns keine noch so triumphale Auferstehungserzählung.

Schon damals habe ich die Frauen nach Galiläa zurückgeschickt, wo sie und die Jünger hergekommen waren, dort sollten sie den Spuren ihres und unseres Lehrers nachspüren. Heute bin ich noch überzeugter als damals, dass wir Jesu Auferstehung nirgendwo deutlicher bezeugt finden als in den Spuren seines irdischen Lebens auf den Straßen zwischen und um Galiläa, Samaria und Judäa. Und mein Evangelium habe ich so geschrieben, dass das immer deutlich bleibt. Auf dem Blutsee Genezareth ist Jesus den Jüngern als Tröster und Auferstandener erschienen. Lies mein Evangelium und du findest nicht den Willen zur absoluten historischen Genauigkeit, sondern den Willen, herauszuarbeiten, wie der Messias Jesus in die verborgenen Tiefen dieser Weltordnung eintauchte, um sie von der Tora Gottes her von innen heraus zu überwinden.

Kannst du dich nicht darauf einlassen, dass Ungereimtheiten in der Schrift bei einem von so unterschiedlichen und so fehlbaren Menschen verfassten Buch normal sind? Löse dich doch von der Verbalinspirations-Knute deiner „Brüder“ und blicke unbefangen vom lebendig-machenden Geist her auf die Schrift, statt vom tödlichen Buchstabenglauben. Der Heilige Geist lässt durchaus zu, dass sich sogar ein Paulus verplappern kann.

Dass du als Grieche reichlich phantasielos bist und mit der orientalischen Lust an bilderreicher Sprache nichts anfangen kannst, will ich dir nicht verdenken. Aber bitte nimm solche Worte, wie vom Bergeversetzen, von Handabhacken und Augenausreißen nicht wortwörtlich. Ich weiß, dass Jesus nicht wollte, dass lauter einäugige oder einhändige Jünger in dieser Welt herumlaufen. Er hat in krassen Bildern deutlich machen wollen, wie einschneidend das Vertrauen auf die Tora Gottes uns in unserem Leben herausfordert, welche Berge von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der Glaube zu versetzen imstande ist, in welche Konflikte auch mit der eigenen Familie uns das Bekenntnis zu Jesus Messias verstricken kann.

Einen Widerspruch zwischen Paulus und Jakobus sehe ich insofern nicht, als ich auch von Paulus weiß, dass jeder vor dem Richterstuhl Gottes an seinen Werken gemessen wird (2. Korinther 5, 10), aber Tatsache ist, dass derjenige, der im Vertrauen zu Gott frei geworden ist zur Barmherzigkeit, auch mit sich selbst barmherzig umgehen und Barmherzigkeit im Gericht erwarten darf. Der Unbarmherzige ist jetzt schon in der Hölle und muss gar nicht erst irgendwo hineingeworfen werden, wo immer das sein soll.

Von den Johannesleuten weiß ich nicht so viel, sie leben vor allem in der Auseinandersetzung mit der Gnosis und denken auch in gnostischen Denkmustern, die mir wenig vertraut sind. Aber der Gedanke, aus Gott geboren zu sein und die eigene Rettung geschenkt zu bekommen wie ein Kind, gefällt mir gut. Warum sollte niemand gerettet werden, wenn man das Geschenk der Neugeburt aus Gott nur auspacken und nichts weiter tun muss, als es im eigenen Leben zu entfalten?

Recht hast du, wenn du Paulus und Juden überhaupt als „Künstler der Exegese“ bezeichnest. Du liegst auch damit richtig, dass die Überlieferungen der Bibel, von so vielen einzelnen Männern und Frauen zusammengetragen und aufgeschrieben, nicht ohne Irrtümer sind. Es stimmt auch von der Stoßrichtung her, was du von dem „Vater“ schreibst, vom Aufschreiben der mündlichen Erzählungen, von der Ergänzung durch eigene Überlegungen, allerdings nicht unbedingt, um „den Wert der Berichte zu heben“, sondern um in veränderter Zeit die Aussagen neu auf die Gegenwart auszurichten.

In einem irrst du dich: Juden haben viel mehr Ehrfurcht vor alten Texten, als du denkst: Deshalb wurden eben „bestehende Ungereimtheiten“ gerade nicht überall „aus dem Text herausgenommen“, sondern stehengelassen, um dem Leser die Entscheidung über die Wahrheit des Textes und seine eventuell verborgenen Tiefen zu überlassen. Dein Zitat aus Psalm 12, 7 über die sieben Mal geläuterten Worte Gottes finde ich einfach treffend.

Die Botschaft Gottes: Recht und Freiheit auch für die „kleinen Leute“

Deine Interpretation des Sündenfalls krankt daran, dass du den Symbolgehalt der Geschichte nicht erkennst. Nicht der Schreiber des Genesisbuches, sondern du unterstellst Gott,

„er habe den Menschen zur Einfalt und Schwachsinnigkeit erschaffen“.

Nein, Gott ist nicht missgünstig, sondern die geniale Erzählung von der Diskussion Evas mit der den Abgrund des Todes und des Nichtseins verkörpernden Schlange verdeutlicht, worin die Gratwanderung jedes Menschen besteht, der von einem ihm wohlwollenden Gott als freies Geschöpf geschaffen worden ist. Da, wo der Mensch seine Geschöpflichkeit und sterbliche Begrenztheit nicht als Gottesgeschenk anzunehmen in der Lage ist, sondern sich an die Stelle Gottes setzen und unbegrenztes, übermenschliches Leben erlangen will, verspielt er auch das, was er hat. Es geht nicht um das Thema Einfalt, sondern um das Thema Vertrauen.

Der Neid, den du Gott unterstellst, ist das Thema, das im Gespräch mit Eva die Schlange aufbringt; berechtigt wäre dieser Vorwurf, wenn die Menschen in der Lage wären, wie Gott zu sein, oder wenn Gott ein allzumenschlicher Gott in der Art der griechischen Götterlandschaft wäre, der mit den Menschen um die Früchte des Gartens wetteifern würde.

Einen einzigen Baum hat Gott den Menschen verboten, einen, von dem zu essen ihnen schaden würde, ausgerechnet von dem müssen sie essen, statt sich an allen anderen gütlich zu tun, die ihnen erlaubt sind. Vielleicht gehört es zum Menschsein, diese Erfahrung des Scheiterns an Gut und Böse zu machen; es gehört aber auf jeden Fall zum Gottsein, dass sein Interesse dahin geht, dass die Menschen dieses Scheitern im Lauf der Menschheitsgeschichte und des einzelnen Menschenlebens überwinden.

In einem muss ich Paulus vor dir in Schutz nehmen: Er lehrt keineswegs,

„dass Gott ein Gott der Dummen und Zurückgebliebenen sein will“.

Er lehrt eine Weisheit, die über die Weisheit dieser Weltordnung, dieses Kosmos hinausgeht, wie sie von Griechen und Römern seit Jahrhunderten gelehrt wird, als ob die Schönen, Reichen und herrschenden Schichten diese Welt unter sich auf ewig aufteilen dürften, und das alles auf dem Rücken der versklavten Mehrheit aller Menschen.

Klar soll der Mensch aus seiner geistigen Finsternis heraustreten und „Recht und Wahrheit“ erkennen. Aber worin besteht Recht und Wahrheit? In der Freiheit für die Besitzenden und Gebildeten, ihre Privilegien zu bewahren? Oder in Recht und Freiheit auch für die „kleinen Leute“? Was für Griechen Torheit und für Juden ein Ärgernis ist, das ist für Paulus das Wort vom Kreuz – dass der gekreuzigte Jesus der Messias sein soll, dass er die herrschende Weltordnung von Grund auf überwunden hat.

Paulus spekuliert nicht wie Sokrates als Philosoph über die Möglichkeiten der Erkenntnis, sondern ihm geht es darum, welche Weisheit sich politisch durchsetzen soll und wird: die Weisheit des hellenistisch-römischen Kosmos oder die Torheit des Kreuzes Jesu. Es mag naiv gewesen sein von Paulus, wenn er annahm, dass die einfachen und von mir aus auch einfältigen Menschen bei Gott endlich auch einmal eine Chance haben sollten. Er nahm den Hochmut derer aufs Korn, die sich nur deshalb ihre Bildung leisten können, weil andere für sie die Drecksarbeit machen.

Ich kenne sehr viele behinderte Menschen und andere „einfach gestrickte“ Menschen, die durch das Evangelium in ihrer Würde aufgerichtet worden sind und deshalb glauben, aber nicht weil sie leichtgläubig sind. Leichtgläubigkeit hat mit Aberglauben zu tun, nicht mit dem Evangelium der Befreiung.

Dass die Athener Paulus in der Weise missverstanden mögen, wie du es sagst, gestehe ich zu. Sie fanden bei ihm keine philosophisch-logisch ausreichenden Beweisgründe. Allerdings hat er auch nicht auf Grund seelisch-religiöser Wunschvorstellungen einen solchen Eifer an den Tag gelegt. Es war eine politisch-religiöse Umwälzung, die Paulus im Sinn hatte und auf deren Weg er gegen seinen Willen durch eine Vision des auferstandenen Jesus Messias geführt wurde.

Du hast Recht:

„Unsinniges und Widersprüchliches kann nicht einfach mit dem Heiligen Geist geheiligt werden.“

Aber du hast auch Unrecht: Nicht alles, was wahr ist, kann von allen Menschen nachvollzogen werden. Es gibt Wahrheit, die gelebt werden muss, auf die man sich mit seiner ganzen Haltung einlassen muss. Vertrauen kann man nicht „wissen“, auf Vertrauen kann man sich nur einlassen, dazu muss man Kontrolle loslassen. Alles auf die eine Karte des gekreuzigten Messias Jesus zu setzen, dass er die Weltordnung des Hasses und der Unterdrückung besiegt hat, ausgerechnet er, dazu gelangt man nicht durch wissenschaftliches Vorgehen, sondern durch das Wagnis des Vertrauens. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass man sich über dieses Vertrauen nachdenkend verantwortet.

Die Karikatur, die du vom sonntägliches Gottesdienst in einer fernen Zukunft entwirfst, ist grauenvoll. Ich kann nur hoffen, dass es nicht so weit kommen wird, dass tatsächlich

„das Evangelium immer und immer wieder den Gläubigen in einschläfernder Weise eingebleut wird, bis sie es in- und auswendig kennen.“

Aber was hast du für ein merkwürdiges Verständnis von Gebeten? Wie stellst du dir denn das Hören auf Gott bei Mose oder Elia oder den anderen Propheten vor? Wo sollen sie Gott denn gehört haben, wenn nicht in ihrem eigenen Geist, in ihrem eigenen Innern? Wenn eine Stimme für alle akustisch hörbar zu ihnen geredet hätte, wozu wären dann die Propheten als Sprachrohr Gottes nötig gewesen? Wie hätte man ihnen dann unterstellen können, vielleicht Lügenpropheten zu sein oder auf wahnhafte Vorstellungen ihrer eigenen Innenwelt zu hören? Lügenpropheten oder wahnkranke Menschen gab und gibt es ja in der Tag, und kein Prophet ist automatisch vor Missdeutung gefeit. Außerdem vergisst du, dass die Propheten immer eine absolute Minderheit innerhalb der Menschheit und auch des Gottesvolkes waren. Die meisten Menschen erfuhren Gottes Anrede aus den Worten der Schrift oder im betenden inneren Gespräch mit Gott.

Die naive Vorstellung,

„Gott würde heimlich auf der Lauer liegen, um zu testen, ob wir auch ja jeden morgen brav unsere „stille Zeit“ im verschlossenen Kämmerlein verrichten, damit wir dafür einmal eine genaustem registrierte Belohnung bekommen“,

ist wirklich „wahnhafter Aberglaube“, da stimme ich dir voll zu.

Gott will den aufrechten Gang seiner Kinder!

Du schreibst, du hättest von Paulus, als du ihm gegenüber deine Zweifel äußertest, zur Antwort bekommen, dass nach der Lehre unseres Herrn Jesus

„alle Menschen verdammt würden, wenn sie nicht an das Evangelium glauben“.

Und du konntest den Gedanken nicht ertragen, dass Menschen

„dafür büßen sollen, dass sie sich geirrt haben, dass sie nicht den ‚richtigen Glauben‘ von Gott empfangen haben, dass sie mit dem Verstand, den Gott ihnen gegeben hat, nicht erkannt haben, dass unter den vielen Glaubensarten nur eine die richtige und wahre ist.“

Ich vermute, dass ihr schlicht aneinander vorbeigeredet habt. Worum es Jesus und Paulus ging, war Gottes guter und befreiender Wille für die Menschen, seine Tora des Rechtes und der Freiheit und des Friedens für alle Menschen. Beide hatten erkannt, dass Menschen unter den Bedingungen des Menschseins in einer Weltordnung der Raffgier die Forderungen der Tora nicht vollkommen erfüllen können – und die Folgen dieser Verfehlung der Tora ist ein Leben schon hier und jetzt in der Hölle. Gott will die Freiheit der Menschen, nicht ihr zu-Kreuze-Kriechen. Gott will den aufrechten Gang seiner Kinder; er ist kein

„willkürlicher, grausamer, eitler und eifersüchtiger Despot, unter dessen Schreckensherrschaft nur eine kleine, ihm ergebene Elite begünstigt wird, der aber alle Menschen verdammt, die ihm nicht bedingungslosen Gehorsam erweisen“.

Ich sage noch einmal: Wer Gott zu einem solchen Despoten macht, malt den Teufel an die Wand und nicht ein Bild von Gott.

Die philosophische Kritik an der Gottesgerechtigkeit, wie du sie von Epikur schilderst, ist genial, weil man ihr nicht gut widersprechen kann. Aber selbst du sagst, dass du an Gott glaubst. Warum bist du kein Atheist, wenn Epikur dir doch bewiesen hat, dass Gott nicht existiert, weil er entweder schwach oder missgünstig oder beides ist?

Paulus ist an philosophischen Spitzfindigkeiten nicht interessiert, sondern nur daran, dass er von Gott bzw. seinem Messias Jesus aus seinem bisherigen Leben herausgerufen wurde, um den NAMEN, dem er bereits von Kindheit an zu dienen meinte, nun von seiner Erfahrung mit dem Messias her auf neue, befreiende Weise zu dienen. Woher die Übel kommen, ist für ihn letzten Endes nicht erklärbar; entscheidend ist, dass Gott sie beseitigen will und dazu Menschen wie den Messias Jesus und seine Nachfolger braucht. „Woher kommen die Übel in der Welt?“ Für uns sind eigentlich nur die interessant, bei deren Beseitigung wir ein bisschen helfen können.

Ob du den Philosophen der Zukunft mit seiner „besten aller möglichen Welten“ richtig verstanden hast, lasse ich mal dahingestellt sein; bleiben wir doch lieber bei der Tora und ihrem Schöpfungshymnus, in dem Gott selbst die Güte der Schöpfung besingt – und in der Tat ist die Schöpfung ein Lebensraum für Pflanzen, Tiere und Menschen, der genial aufgebaut ist und offen für Konzepte wie Freiheit, Solidarität, Frieden usw., die in einem vertrauensvollen Bund zwischen Gott und den Menschen ihre Erfüllung finden können.

Deine Spekulationen über bessere Welten ohne die menschliche Freiheit zum Widerspruch gegen Gott sind müßig; wir haben Freiheit, wir sind nun mal solche Wesen und nicht anders konstruierte. Niemand kann sagen, warum Gott den ganzen Aufwand betrieben hat, um diese Welt zu schaffen, um den Menschen in einem der kleinsten aller Völker zu begegnen, um ihnen die Freiheit zu geben, sich gegen oder für seine Tora zu entscheiden, um ihnen in Jesus Messias persönlich gegenüberzutreten. Du trittst für einen vernunftmäßig bewiesenen Glauben ein; aber du kannst Gott nicht vernunftmäßig beweisen; seine Existenz erweist sich dort, wo versklavte Menschen Befreiung erfahren und versklavende Menschen das Gericht.

Den Sühnetod Jesu hat Gott nicht „gebraucht“, um Genugtuung zu erfahren. In meinem Evangelium kommt das Wort Sühne gar nicht vor. Hast du mal nachgesehen, wie selten es überhaupt in den messianischen Schriften vorkommt? Wo es vorkommt, stehen im Hintergrund die jüdischen Vorstellungen von der Bedeckung der Verfehlungen durch das Blut des Sündenbockes. Schon das war kein magisches Ritual der Reinwaschung von Sünden gewesen, sondern eine drastische Symbolhandlung, um dem Volk am Versöhnungstag vor Augen zu führen, welche tödlichen Folgen jede Verfehlung gegen die Tora hat.

Der letzte Sündenbock, der getötet und in die Wüste geschickt wurde, war der von Gott gesandte Messias selbst; sein Tod war nicht von Gott veranlasst, um die verletzte Ehre eines tödlich beleidigten Tyrannen wiederherzustellen, sondern zeigte in krassester Weise, dass die Menschheit dieser im Gegensatz zur Tora eingerichteten Weltordnung sogar dazu imstande ist, Gott selber aus dem Weg zu räumen. Getötet wurde Jesus durch Menschen.

Sühnende Wirkung geht von seinem Tod aus, weil Gott wunderbarerweise aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen kann. Es geht nicht um ein von Gott inszeniertes Passions-Spektakel; das Trauerspiel der Passion bringen wir Menschen ganz allein auf die Bühne. Eher geht es um ein von Gott inszeniertes „Freudenspiel“, wenn der Vorhang sich nach dem Karfreitag überraschend noch einmal für einen weiteren Akt hebt.

Dass Grausamkeiten in der Schrift erwähnt werden, lässt auch mich nicht kalt. In den Augen derer, die davon berichten, handelt es sich nicht um ungerechte Taten, sondern Reaktionen auf die Verfehlung der Tora. Allerdings glaube ich, dass Menschen, wenn sie den Heiligen Zorn Gottes gegenüber dem Unrecht zu schildern versuchen (zumal, wenn sie das im Rückblick auf Zeiten versuchen, die bereits einige Jahrhunderte zurückliegen) oft auch über das Ziel hinausschießen. Vielleicht ist dir auch aufgefallen, dass Jesus niemals vom „Herrn der Heerscharen“ geredet hat und auch keinen Krieg Adonajs gegen seine Feinde gefordert hat. Jesus verkörpert die Einsicht, dass Gottes Rachefeldzug gegen die Sünde einen anderen Weg gehen muss, nämlich den Weg der Feindesliebe und im Extremfall der Opferung des eigenen Lebens statt der Tötung fremden Lebens.

Zu deinen Fragen:

„Warum mussten die Bewohner Kanaans überhaupt vertrieben und ermordet werden? Hatten sie durch ihre selbstbestimmte Lebensgestaltung ihr Recht auf Leben verwirkt? Warum hatten die Israeliten nicht die Freiheit, sich mit den Kanaanitern auf eine friedliche Koexistenz zu einigen?“

möchte ich nur kurz bemerken: Es gibt Hinweise in den Büchern Josua und Richter, dass gar nicht alle Bewohner Kanaans vertrieben und ermordet wurden; es gab über viele Jahrhunderte eine mehr oder weniger friedliche Koexistenz zwischen Israel und den umliegenden Stadtstaaten und Völkern. Denk an Frauen wie Ruth, an Männer wie Naeman, die anderen Völkern angehörten.

Wenn die fremden Völker angeklagt wurden, dann nicht für „selbstbestimmte Lebensgestaltung“, was immer du darunter verstehen magst, sondern für dieselben Verfehlungen, die von den Propheten auch im eigenen Volk getadelt wurden: Anbetung für versklavende Götter, Ausbeutung der kleinen Leute, Beugung des Rechts usw.

Erst in der Zeit nach der Wiederkehr aus der Verbannung in Babylon, als Israel im Laufe der Zeit durch die Weltmächte immer mehr in die Enge gedrängt wurde, wurden die Stimmen in Israel lauter, dass man sich total abgrenzen müsse gegen die Gojim, sonst würde der Glaube an den Einen Gott untergehen. Aus dieser Zeit stammen die grausamsten Züge der Erzählungen über die Landnahme und die schärfsten Verbote von Heiraten zwischen Juden und Gojim. Heute können wir sagen: Es wurde höchste Zeit, dass durch Jesus und Paulus die Tür des Gottesvolkes zu den Völkern wieder aufgestoßen wurde.

Die Erzählung von der Bindung Isaaks ist wirklich nicht leicht zu verstehen. Aber eins wird eben nicht beschrieben: die vollzogene Schlachtung Isaaks. Vielmehr steht am Ende der Geschichte der Einspruch des Engels von Adonaj gegen das Kinderopfer. Für das Volk der Juden war die Geschichte wichtig, weil es sich ja in „Isaak“ als seinem Stammvater selbst verkörpert fühlte, und zwar vor allem in den Zeiten, in denen es nur knapp der kompletten Vernichtung und Ausrottung entging. Die Geschichte als Forderung zu lesen, dass man notfalls auch das eigene Kind für Gott opfern müsse, geht an ihrem Sinn vorbei.

Wer glaubt, folgt der Wegweisung Gottes zum erfüllten Leben

Gott fordert nicht den Glauben an ein Buch. Er lädt zum Tun der Tora ein, und dieses Tun der Tora ist nur möglich, wenn man das Vertrauen zu Jesus aufbringt: dass ausgerechnet er, der am Kreuz der Römer starb, den Weg gegangen ist, dem nachzufolgen lohnt und dem nicht nachzufolgen bedeutet, dass diese korrupte Weltordnung im Recht bleibt.

Deine Frage:

„Wozu überhaupt der Glaube, wenn eindeutige Erklärungen und Belege viel mehr bewirken würden?“

geht also an der Sache des Glaubens vorbei. Wo Erklärungen und Belege angebracht und sinnvoll sind, da argumentiere ich selber auch gerne vernünftig und bin deinen Argumenten gegenüber aufgeschlossen. Aber beim Vertrauen oder Nichtvertrauen und beim Tun oder Nicht-Tun der Tora geht es um mein Leben, um meinen Einsatz, um die Bewährung in der Tora, nicht um irgendwelche bewiesenen oder unbewiesenen Fakten.

Gott verdammt dich nicht einfach, wenn du seine Absichten für unvernünftig hältst. Mir kommt es ja eh so vor, als ob du nicht wirklich Gottes Absichten angreifst, sondern falsche Auslegungen und Deutungen seiner Absichten durch engstirnige christliche Gruppen.

Ich stimme dir zu: Gott will das Lob seiner Geschöpfe keineswegs erzwingen. Und Gott ist kein Gott der Willkür, sondern des Friedens. Warum Gott gelobt werden will? Nicht weil er es „nötig“ hätte wie ein unter Komplexen leidender Mensch, sondern weil das Lob Gottes ein Ausdruck der Freude von Menschen ist, die Gottes wunderbare Schöpfung, Güte und Befreiung real erfahren haben. Im Grunde, um es menschlich auszudrücken, will Gott sich mitfreuen mit den Menschen, denen er etwas wirklich Gutes erwiesen hat. Ist dagegen etwas zu sagen?

Ich finde das von dir gezeichnete Gottesbild,

„das Gott als einen eitlen, launenhaften und rachsüchtigen Despoten darstellt“,

in der Bibel nicht wieder. Ich finde dort einen Gott, der den Weg der Menschen mitgeht und mitleidet, allerdings auch nicht alle Wege mittragen will, wo Menschen durch Menschen versklavt, getötet und entwürdigt werden. Wo man allerdings aus dem biblischen Gott, der dort „geschieht“, wo Befreiung geschieht, einen willkürlichen Weltherrscher macht, der mit seinen Untertanen alles tun kann, was er will, ohne auf die von ihm selbst den Menschen gegebene Tora (= Wegweisung zum Leben) zu achten (gegen einen so verzerrt erfahrenen Gott wendet sich schon Hiob in seinen massiven Anklagen), da hast du mit deinen Vorwürfen Recht. Sie treffen aber nicht den wahren, lebendigen Gott der Bibel.

Was du ablehnst, ist ein Zerrbild des biblischen Gottes.

„Den heidnischen Völkern wurde ein Gott gepredigt, der sich so sehr erzürnte über seine ersten Geschöpfe, weil sie von einer Frucht gegessen hatten, dass er sie und all ihre Nachkommenschaft zum Leiden verurteilte“

– nein, die Frucht ist lediglich das Symbol für das Misstrauen, das in jedem Menschen immer wieder erwacht, wenn er aus Angst vor der Vergänglichkeit und vor dem Zukurzkommen im Leben nicht auf die Güte seines Schöpfers meint vertrauen zu können, sondern das Leben meint dort ergreifen zu müssen, wo er es nicht finden wird -,

„dann aber, als eben diese Nachkommen Seinen eigenen Sohn tötete, darüber so erfreut war, dass Er allen vergab“

– nein, er war nicht über die Tötung erfreut, sondern entsetzt. Die Vergebung war seine freie Tat, die er ja auch schon unabhängig vom Kreuzestod Jesu getan hatte.

„Hinzu kommt noch, dass der Gott, welcher Nachsicht und Vergebung jeder Schuld, bis hin zur Feindesliebe vorschreibt, keine übt, sondern vielmehr in das Gegenteil verfällt“

– nein, gerade in seiner Selbstopferung erwies er ein Höchstmaß an Feindesliebe zu uns Menschen und zeigte zugleich deutlich (siehe oben), wie tödlich unsere Sünde sich auswirkt. Du irrst auch, wenn du die Rache Gottes einem „in seinem Stolz gekränkten Gott“ zuschreibst. Nein, Rache steht in der Bibel dort auf der Tagesordnung, wo Unrecht nicht ungesühnt bleiben, Opfer nicht vergessen sein sollen.

Und ich denke auch, dass Gott nicht Menschen strafen wird, nur weil sie nie vom Gott der Juden oder von Jesus erfahren haben. Was er von ihnen erwartet, ist das Tun der Barmherzigkeit, nicht irgendeine Form von Buchstabenglauben, mit dem sie nie in Berührung gekommen sind.

Statt Wunschdenken und Weltflucht: Konfrontation mit der Weltordnung

Noch einmal widerspreche ich dir. Es mag ja sein, dass deine griechischen Göttergeschichten und orientalischen Mysterienreligionen auf Wunschdenken beruhen. Aber der jüdische Glaube beruhte nicht auf dem Wunsch, Unsterblichkeit zu erlangen, sondern auf einer Befreiungsgeschichte, die Gott dem Menschen ermöglichte, und einer Zumutung, die Gott an den Menschen herantrug: „Ich bin der Gott, der dich befreit hat. Neben mir, der ich dich befreit habe, folge keinen Göttern mehr, die dich wieder in die Versklavung führen. Darum befolge die Tora, die dich in die Freiheit führt, in der du dich bewähren sollst.“

Du beschreibst sehr gut, wie dein furchtbares Gottesbild in dir entstanden ist:

„Jedoch waren Autoritätshörigkeit und Liebesentzug der Preis unseres Gefühls von Geborgenheit. All unsere unerfüllten Erwartungen an einen Vater, der nie für uns da war, haben wir unbewusst auf einen allzeit gegenwärtigen Gott übertragen, um jederzeit ein elternähnliches Gegenüber zu haben. Die Ängste, die wir als Kinder vor der elterlichen Ferne ausgestanden haben, sind für uns heute Hölle und Teufel. Diese Angst blockiert nicht nur das Denken, sie verbietet es geradezu.“

Aber diese in den Himmel projizierte Vaterfigur hat mit dem befreienden Vatergott der Bibel nichts zu tun. Und mit seinem Satz (2. Korinther 10, 5 – dieses und das folgende Bibelzitat aus der Unrevidierten Elberfelder Übersetzung 1905 © R. Brockhaus Verlag):

„Wir nehmen jeden Gedanken gefangen unter den Gehorsam des Christus“

meint Paulus kein Denkverbot in deinem Sinne, sondern er setzt denen eine Grenze, die sich über die Schwächen des Paulus lustig machen, indem er darauf beharrt, dass Apostel Jesu Christi auch an der Schwachheit des Gekreuzigten Anteil haben.

Der Satz Jesu (Johannes 7, 17):

„Wenn jemand Seinen (Gottes) Willen tun will, so wird er von meiner Lehre wissen, ob sie aus Gott ist oder ob ich von mir selbst rede“

hat auch nichts mit Unterwürfigkeit zu tun, sondern mit dem Lebenswandel gemäß der Wegweisung Gottes in die Freiheit und in die Befreiung der Menschen. Das ist ein konsequenter Standpunkt, der wenig Diskussionsspielraum zu lassen scheint, aber mit einem „bequemeren Weg eines vorgefertigten Weltbildes“ hat das nun gar nichts zu tun. Immerhin hat dieser Weg Jesus an Kreuz geführt und Paulus in den Märtyrertod. Wo ist da die Bequemlichkeit? Und es war von Anfang des Volkes Israel kein Ausdruck von „Eitelkeit, … zu den Auserwählten zu gehören“, sondern es war immer eine Zumutung, als auserwähltes Volk, aus auserwählter Prophet zur Zielscheibe von Spott und Schlimmerem zu werden.

Dass der Glaube auch manche Sinnfrage der menschlichen Existenz zu beantworten vermag, streite ich nicht ab. Aber das spricht noch nicht gegen die Wahrheit des Evangeliums. Und von einer „Verdrängung der eintönigen Realität des Alltags“ und einer „Flucht in eine suggerierte Märchenwelt“ ist im Evangelium erst recht nicht die Rede.

Nein, darum ist die Bibel ja ein in vielen Teilen so grausames Buch, weil es in die Niederungen der menschlichen Realität hinabsteigt. Dort ertönt die Stimme der Propheten, dort vollzieht Jesus seine Heilungen. Ja, in der Tat stillt er den Sturm auf dem See Genezareth, du erinnerst dich, auf dem gleichen See, der vor drei Jahren vom Blut der 6700 von den Römern dahingemetzelten Juden rot gefärbt war. Es geht nicht um eine vage

„Hoffung, dass das verlorene Paradies wieder neu erstehen wird, wenn man sich nur entsprechend bemüht“,

sondern um eine sehr realistische Hoffnung, dass Gott sich in der Tat nicht damit abfindet, dass diese Erde ein Jammertal ist, sondern uns in die Nachfolge des Jesus Messias ruft, der dieser grausamen Menschenwelt von Gottes Tora her ein Nein entgegengeschleudert hat, an dem wir uns tätig beteiligen sollen.

„Da soll es einen Gott geben, der einmal von jedem einzelnen Menschen Rechenschaft fordert über jedes unnütze Wort, das er während seines Lebens einmal gesprochen hat! Welch ein unglaubliches Interesse!“

In der Tat – Gott ist interessiert daran, dass wir sinnvolle, liebevolle, befreiende, tröstende Worte sprechen und nicht unnütze Dinge. Du fragst, wie lange ein solches Gericht wohl andauern soll und verkennst, dass das Gericht schon in dem Moment tagt, in dem das unnütze Wort erklingt; das vernichtende Urteil besteht darin, dass dieser Moment vertane Zeit war, die hätte sinnvoller genützt werden können, und dass es Gott nicht gleichgültig ist, was wir, was jeder einzelne Mensch mit seiner Zeit anfängt.

Missbrauch der Vorstellung vom Teufel

Was du vom Teufel erzählst, hat mit den wenigen biblischen Erwähnungen des Teufels nichts zu tun, sondern mit dem Missbrauch der Teufelsvorstellung durch „christliche“ Kleriker, Inquisitoren und schwarze Pädagogen.

In der Bibel ist der Satan der Ankläger der Menschen, der die Haltung vertritt, dass keine Chance für die Befreiung der Menschen besteht, oder er taucht als Versucher auf, um Menschen vom Gottvertrauen abzubringen. Nirgends ist der Teufel eine Gott gegenüberstehende quasi göttliche Gegenmacht. Er vertritt die Finsternis, die von Gott nicht ausdrücklich geschaffen wurde, aber als Schatten des von ihm geschaffenen Lichtes doch zur Schöpfung gehört.

Der Kampf zwischen Licht und Finsternis findet aber nicht als Kampf zwischen mythologischen Göttergestalten statt, sondern auf dem Schlachtfeld zwischen dem Tun der Tora und dem Sich-Halten-an-diese-Weltordnung-der-Raffgier, der in unserem eigenen Herzen und in unserer menschlichen Gesellschaft stattfindet.

Jesu neu ausgelegte und gelebte Tora für Juden und Heiden

Deine Deutung der Geschichte Israels gibt eine zynische Außensicht wieder, die denjenigen verletzen muss, der sie durchlitten hat. Aus der Innensicht hat das Volk Israel sich nicht „ein Gesetz erarbeitet“, sondern die Einsichten der Tora, der Wegweisung Gottes, als ein Geschenk von Gott erfahren und angenommen.

Besonders menschenverachtend klingt in meinen Ohren deine Formulierung, dass sich für die Vernichtung des Nordreiches Israel durch die Assyrer und den durch die Chaldäer verursachten Untergang des Südreiches Juda „glücklicherweise eine plausible Erklärung fand“. Ich glaube nicht, dass die Überlebenden dieser Katastrophen, die ihr Schicksal als Gericht Gottes über die Verfehlung der Tora in beiden Reichen empfanden, das als eine besonders glückliche oder plausible Erklärung ihres Schicksals bezeichnen würden.

Falsch ist, dass das Volk unmittelbar nach der Gefangenschaft auseinanderzufallen begann. Die Vermischung mit anderen Völkern betraf nur die Stämme des Nordreichs; ihre Erben waren die Samaritaner, die deshalb auch der Kritik der Judäer ausgesetzt blieben. Juda selbst fand eigentlich erst in der Zeit der Verbannung zu seiner eigentlich jüdischen Identität, die sich vor allem im Deuteronomium (von den im Land Israel Verbliebenen formuliert) und im Buch Leviticus (von aus Babylon heimkehrenden Priestern verfasst) niederschlug.

Richtig ist, dass diese Identität auf eine immer härtere Probe gestellt war, als Alexander das hellenistische Weltreich begründete und ein Leben nach der Wegweisung der Tora immer schwieriger wurde. Sicher sehnte sich da das Volk der Juden nach einem Retter – allerdings erkannte die Mehrheit der Juden diesen Retter gerade nicht in dem gekreuzigten Messias. Gerade jetzt, nach der Katastrophe von Jerusalem, scheiden sich die Wege der rabbinischen endgültig von den messianisch denkenden Juden. Der Rabbinismus schickt sich an, das Judentum in noch engeren Grenzen als bisher um die Tora herum zu versammeln; der Messianismus versammelt Gemeinden aus Juden und Heiden um die von Jesus neu ausgelegte und gelebte Tora.

Die rachsüchtige Wut, die du bei Jesus zu finden meinst – verwechselst du sie nicht mit einem heiligen Zorn auf die Unbarmherzigkeit derer, die die Wegweisung der Tora zum Leben verfehlen und – schlimmer noch – den kleinen Leuten, den Benachteiligten, den Schwachen der Gesellschaft den Zugang zur Tora verwehren? Schaue immer, wen Jesus mit bestimmten Formulierungen anredet. Droht er wirklich frommen, sensiblen Menschen mit der Hölle?

Das Wort von der Sünde gegen den Heiligen Geist habe ich selbst auch nicht wirklich verstanden, deshalb habe ich es auch nicht in mein Evangelium mit aufgenommen. Ich weiß, dass ich es einmal in einem Zusammenhang gehört habe, der für mich halbwegs Sinn machte: als gottesgelehrte Männer Jesus unterstellten, er würde Menschen, die nicht Herr ihrer selbst waren, nicht wirklich heilen, sondern ihre bösen Geister mit Hilfe des Teufels austreiben. Da meinte er, man könne meinetwegen ihn selbst lästern, aber bitte nicht den Heiligen Geist Gottes selbst den Geist des Teufels nennen.

Was manche krasse Formulierung in den Gleichnissen Jesu angeht – ich glaube, du weißt nicht, welche Funktion Gleichnisse in den theologischen Judenschulen haben, und dass nicht jeder König und Großgrundbesitzer in jedem Gleichnis automatisch mit Gott oder seinem Messias gleichzusetzen ist. Das Material der Gleichnisse ist aus dem Alltag entnommen, in dem die Menschen leben und unter dem sie leiden, zugleich enthalten die Gleichnisse aber viele Anspielungen, die sich auf die Überlieferung der Tora und ihrer Auslegungen beziehen; der Sinn erschließt sich oft erst im Dialog mit den Menschen, denen das Gleichnis erzählt wird; und es ist durchaus möglich, dass dir, der du aus einem ganz anderen Kulturkreis kommst, der Sinn manchen Gleichnisses verborgen bleibt.

Aus der Erfahrung eines Geschichtensammlers und Erzählungen zu einem Ganzen zusammenfügenden Evangelisten heraus sage ich dir außerdem, dass jeder, der mündlich erzählte Überlieferung schriftlich fixiert, auch deutende Ergänzungen hinzufügt, die dazu dienen, in einer veränderten Zeit das Frühere noch einmal anders zu sagen, um es für diese veränderte Zeit bewahren zu können.

In meinem Evangelium findest du jedenfalls kein „Heulen und Zähneknirschen“; wer weiß, vielleicht sind unter meinen Evangelistenkollegen welche, die ein größeres Interesse an derartigen Ausmalungen der schlimmen Folgen eines Abweichens von der Tora haben. Die „Lehre vom Höllenfeuer als Strafe für die Sünde“ ist mir jedenfalls nicht als Lehre Jesu bekannt und ist wohl erst später erfunden worden – was ich genau so wenig gutheiße wie du.

Deine Kritik an Jesus, der „arbeitende Familienväter“ zum Müßiggang nötigt, sie von ihren Pflichten gegenüber verstorbenen Angehörigen abhält, fleißige Geschäftsleute aus dem Tempel vertreibt und selber auf Kosten anderer lebt, erinnert in ihrer Schärfe an die erste Reaktion der Familie Jesu auf ihren erstgeborenen Sohn, der so aus der Art schlug, dass er ihnen total „von Sinnen“ erschien.

Deine Kritik wäre berechtigt, wenn es in dieser Weltordnung ein funktionierendes Recht auf Arbeit ohne Versklavung gäbe, eine Religionsausübung ohne Geschäftemacherei mit dem Geld der Allerärmsten und ein Leben aller Menschen, ob arm oder reich, ob stark oder schwach, ob gesund oder behindert, im Geist der Tora. Dieses Leben im Geist der Tora gab und gibt es eben unter diesen hellenistischen oder römischen Verhältnissen nicht.

Als Alternative gab es die absolut gesetzestreuen Pharisäer, die glaubten, der Messias würde kommen, wenn die Tora samt dem „Zaun um das Gesetz“ vollständig erfüllt würde – und denen sowohl das „Volk des Landes“ als auch die mit den Römern kollaborierenden Römer ein Dorn im Auge waren, weil sie nicht imstande waren, alle Verästelungen aller Reinheitsgebote zu beachten. Die Zeloten gingen in den Untergrund und kämpften mit Gewalt gegen die unterdrückerische „Ordnung“ der Römer – mit katastrophalen Konsequenzen, wie die Ereignisse im jüdischen Krieg zeigen. Die Essener zogen sich in die Wüste zurück, um als heilige Gruppe vom ganzen Weltelend nichts mehr mitzubekommen.

Jesus entzog sich all diesen Alternativen und verkündigte das Reich Gottes, das jetzt schon nahe ist, wo man solidarisch lebt und nicht den angeblichen Sachzwängen der römischen Herrschaft folgt, die in Wirklichkeit Herrschaftszwänge sind. Diese Botschaft war keine Nötigung für diejenigen, die Jesus als Jünger und Jüngerinnen folgten, sondern sie war befreiend und daher eine Freudenbotschaft.

Das Wort „Lasst die Toten ihre Toten begraben!“ wendet sich nicht gegen die Pflicht zur Totenbestattung, sondern dagegen, sein eigenes Leben zu verpassen, weil man bis zum Tod der Eltern meint, deren Leben leben zu müssen und sich von ihrer Bevormundung nicht befreien zu können.

„Angst und Schrecken“ verbreitete Jesus bei denen, die ihre Macht bedroht sahen: bei der Priesterkaste in Jerusalem, die ihre Opferpfründe in Gefahr wähnte, bei der Theologenkaste, die ihr Schriftauslegungsprivileg angetastet sah.

Dass du eine meiner Lieblingswundergeschichten, die mit den Schweinen, so abqualifizierst, betrübt mich ein wenig; schade, dass du den Witz und die Ironie der Geschichte nicht mitbekommen hast. Denn ob damals wirklich eine ganze Schweineherde umgekommen ist, weiß ich gar nicht genau. Aber die Pointe der Geschichte ist doch, dass der arme Mann, der sich von einer Legion unreiner Schweinegeister besessen fühlte, endlich Ruhe und Frieden fand, endlich wieder vernünftig denken konnte, während seine Mitbürger sich nur Gedanken um ihren wirtschaftlichen Verlust machten, statt sich über seine Heilung freuen zu können.

Dass jüdische Menschen in Jesu Hinrichtung einwilligten, liegt mit Sicherheit nicht daran, dass er nicht in bürgerliche Schemata hineingepasst hätte, sondern dass Pilatus sie vor eine teuflische Alternative stellte: er ließ ihnen ja nur die Wahl zwischen dem Tod zweier politischer Gefangener, ein probates Mittel wahrhaft zynischer, perfider, despotischer Herrscher, um unterdrückte Völker zu Mitschuldigen an ihrem eigenem Unglück zu machen.

Freiwillig zum Martyrium gedrängt hat sich Jesus nicht, schon gar nicht aus Berechnung. Dagegen spricht schon die Tatsache, dass Jüngerinnen wie Jünger zunächst in tiefer Verzweiflung versanken, nachdem Jesus gekreuzigt worden war.

Ich bezeuge dir, dass das Gerücht von seiner Auferstehung, dass ich zu verbreiten mitgeholfen habe, ebenfalls nicht auf berechnender Vernunft beruhte, um einer verlorenen Sache doch noch zum Sieg zu verhelfen. Nein, die Erfahrung Seiner Auferstehung wurde uns geschenkt, jedem auf seine Weise, bis hin zu der Vision des Paulus. Und diese Erfahrung war verbunden mit einer Veränderung des Lebenswandels, mit der Nachfolge auf dem Weg Jesu, der nichts anderes war als das Festhalten und sich Bewähren auf dem Weg der Tora. Auferstehungsglaube war keine fromme Leistung, um dafür eine Belohnung zu erhalten.

Der biblische Gott ist lebendig – menschenfreundlich, barmherzig, befreiend!

Als „Neue Schöpfung … durch das Wirken des Heiligen Geistes“ hast du dich offenbar noch nicht erfahren dürfen. Zu sehr hat man dir die Botschaft der Bibel als eine Drohbotschaft und den Glauben als eine fromme Leistung eingebleut, die sich nicht mit dem vernünftigen Gebrauch des eigenen Verstandes vertragen würde. Zu sehr hat man dir auch Sünde gleichgesetzt mit „Fleischeslust“, statt die Verfehlung der Tora in Gestalt der Zerrissenheit dieser Weltordnung und den in ihr lebenden Menschen wahrzunehmen – und Jesus als den Befreier und Versöhner zu erkennen und zu verkünden, der dieser Weltordnung etwas entgegenzusetzen hat. Kein Wunder, dass du die Bibel als totes Buch und Gott als einen toten Gott erfährst. Diese falschen Bilder von der Bibel und von Gott solltest du getrost auf den Müllhaufen werfen – und hinter einem langen Bart musst du dich auch nicht verstecken.

Ein wahrhaft dämonisches Gottesbild hat man dir eingetrichtert, mit dieser furchtbaren Unsicherheit und Angst vor Strafe, vor dem Verlust von Gottes Gunst und vor seinem Zorn. Ich kann dir nur entgegnen, dass es gerade Gott war, der mir die Gewissheit geschenkt hat, mich wirklich

„in Ordnung fühlen zu dürfen, mich mit mir aussöhnen, mich o. k. finden zu können“.

Ja, weil er mich liebt, mich so annimmt, wie ich bin, bin ich auch jeden Tag neu in der Lage, mich mit meinen Macken und Ecken und Kanten auseinanderzusetzen und neue Wege zu gehen, wo es nötig ist. Wenn du einen Gott erlebt hast, der Selbsthass fördert und fordert, dann ist es nicht Gott, sondern ein falscher Dämon. Wer dir eingeredet hat, dass

„bei dem, der Gott nicht erreichte, etwas Schlimmes vorliegen müsse“,

kennt die Heilige Schrift nicht. Psalmbeter, vertrauensvolle Menschen wie Hiob und Jesus, die mit Gott viele befreiende Erfahrungen gemacht hatten, gerieten in Anfechtungen, in denen sie Gottes Stimme nicht mehr zu hören vermochten. Nein, die Schrift will uns nicht in die Rolle einer Ratte in der Tretmühle drängen, sondern erlaubt uns, Ruhe zu finden für unsere Seele. Wer dich

„an den autoritären und lobbegierigen Gott der Bibel verwiesen und verraten“

hat, der hat auch den befreienden und vom Lob der Menschen nicht abhängigen Gott der Bibel verraten und verkauft. OK, in einem bin ich mit deinen „Brüdern“ einig: Auch ich halte „ein Leben ohne Glauben für nicht möglich“, meine aber mit diesem Glauben keinen blinden Glauben an einen autoritären Gott, sondern ein Vertrauen auf einen befreienden Gott, das uns zum aufrechten Gang verhilft.

OK, dem toten Gott, diesem Gespenst, mit dem du gelebt hast, konntest du nicht in die Augen sehen. Aber erst recht nicht dem lebendigen Gott.

Er senkte finster seinen Blick (1. Buch Mose – Genesis 4, 5)

– konnte Gott nicht in die Augen sehen, das wird von Kain erzählt, der – in Eifersucht auf seinen Bruder gefangen – auch von Gott nichts anderes erwartet und erfährt, als dass er sein Opfer nicht gnädig anblickt.

Ähnlich der Mann mit dem einen Talent im Gleichnis von den Talenten (Matthäus 25, 14-30): er „weiß“ von vornherein, dass sein Herr ein harter, grausamer Tyrann und Ausbeuter ist und handelt dementsprechend genauso, dass seine Prophezeiung sich von selbst erfüllt.

Wieso konntest du den Mädchen damals nicht in ihre leuchtenden Augen schauen und in ihnen das Leuchten der Menschenfreundlichkeit Gottes erblicken? Gott ist doch Liebe, und zwar eine Liebe, die sich in der Solidarität der Menschen untereinander auswirkt und bewährt. Du kennst doch sicher das Wort aus 1. Johannes 4, 12:

Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.

Allerdings verstehe ich deine Verklemmtheit nur zu gut. Ich habe als Jugendlicher auch erst gedacht, ich dürfte niemanden außer Gott einen Ehrenplatz in meinem Herzen überlassen, und verstand einfach nicht, dass Gott nicht die Menschen aus meinem Herzen verdrängen wollte. Nein, die Liebe zu Gott besteht gerade darin, ein Herz für die Menschen zu haben. Sicher, nicht jede Liebe ist identisch mit der Liebe, die wir von Gott erfahren; sicher fällt es schwer, unsere Liebe von selbstsüchtigen Besitzansprüchen zu unterscheiden; aber vergleiche mal deine Erfahrung, die du als 17jähriger Christ mit den Mädchen gemacht hast, mit den unbefangenen Liebesliedern des Hohenlieds Salomo, dann kommt dir Gott nicht mehr wie ein ewiger Nörgler über die Freuden der Menschen vor.

Schade, dass du meinen Lieblingspsalm 139 als Totalitätsanspruch eines übermächtigen toten Gottes empfindest, der dich nur lähmt und einschüchtert. Mir vermittelt dieser Psalm eine Geborgenheit in den Armen und unter den Augen eines liebevollen, befreienden, väterlich-mütterlichen Gottes, der lebendig ist und mich nirgends allein und im Stich lässt.

Wenn du dich bei Gott wie ein „korrupter Schmeichler“ anzubiedern versucht hast, wie konntest du glauben, dass er das nicht merken würde? Wenn du dich hineingesteigert hast

„in eine geradezu ekstatische Sucht, in ein gedankenloses Herunterplappern von frommen Worthülsen“,

wie konntest du das in Einklang bringen mit den Worten Jesu (Matthäus 6, 6)?

Wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.

Ich bin entsetzt, dass du deine „kindliche Urangst vor einer unberechenbaren Willkür des Schicksals“ nicht durch ein gesundes Gottvertrauen überwinden konntest, sondern stattdessen einen wahrhaft teuflischen Gott vor Augen gestellt bekommen hast, nämlich

„die Fratze eines unerbittlichen Schuldeneintreibers, der mich mit meiner Angst vor der Verlorenheit immer wieder neu erpresste zur Annahme einer sklavischen Angewiesenheit auf seine Gnade, die von ihm immer wieder neu erbettelt werden muss und die er wie ein Wucherer nur provisorisch vergibt, mit dauerndem Widerrufsrecht.“

Das ist nicht Gott, das ist ein böser Dämon. Dieser Gott wird nicht lebendiger, nicht göttlicher, nicht wirklicher dadurch, dass er, wie du schreibst, für viele verzweifelte Menschen „für ganze Bereiche ihres seelischen Lebens der einzige Gesprächspartner“ ist. Dass du von einem solchen Glauben Abschied nimmst, verstehe ich gut. Das sollst du auch tun.

Ich fühle mich allerdings nicht mit angesprochen, wenn du „die“ Christen als die

elendesten unter allen Menschen

(1. Korinther 15, 19) bezeichnest. Gott trägt für mich nicht die von dir beschriebene dämonische Fratze. Nicht das Evangelium als solches ist Betrug, sondern Menschen, die aus Gott einen erpresserischen Dämon machen, verraten die befreiende und weltverändernde Kraft des Evangeliums.

Paulus mag in seiner Erwartung einer baldigen Überwindung des römischen Kosmos durch die Wiederkunft des Messias Jesus enttäuscht worden sein, dem Glauben an eine

„Märchenwelt von wahnhaften Illusionen und kindlichen Wunschgebilden“

hing er nicht an. Seine Überzeugung, dass die Schwachheit Jesu, die sich in seinem mit den schwächsten Menschen solidarischen Tod am Kreuz manifestierte, stärker war und ist als die gewalttätige Stärke des römischen Imperiums, wird nicht einmal durch den Untergang Jerusalems zu einer Lüge, obwohl ich darüber zutiefst trauere und darin die größte Herausforderung an meinen Glauben erblicke. Gott bleibt nach wie vor auf der Seite derer, die seiner Wegweisung des Friedens und der Gerechtigkeit folgen, egal ob sie ihn namentlich kennen oder nicht.

Du sagst:

„Der wahre Feind Gottes und der Menschen, die Wurzel alles Bösen, ist die Dummheit (d. h. Unwissenheit, Ignoranz, Intoleranz)“,

und unterstellst Paulus, dass er

„ausgerechnet die Einfalt und Dummheit zur Tugend erklärt“

habe. Mit Einfalt und Torheit meint Paulus den schlichten Glauben daran, dass der Zynismus der politischen und religiösen Machthaber dieser Welt nicht ewig herrschen kann und wird, selbst wenn diejenigen, die der Wegweisung Gottes folgen, verfolgt werden und am Kreuz enden. Gegen den Gebrauch des Verstandes hat weder Gott noch Jesus noch Paulus etwas. Der wahre Feind Gottes und der Menschen ist die Unbarmherzigkeit.

So viel zu deinem Brief an Paulus – in Vertretung beantwortet von einem verständnisvollen Kritiker deines Abschieds vom christlichen Glauben –

Dein Markus

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