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Abwege, auf die Jesus führt

Vor Abwegen wird gewarnt. Man könnte sich verirren, man könnte auf unbekanntem Gelände Schaden erleiden. Man sollte doch lieber auf der ebenen Straße bleiben, die geradeaus führt. Man sollte sich nicht zu weit von dem entfernen, was alle tun. Doch Jesus will uns auf Abwege führen. Auf eine besondere Art von Abwegen.

Abwege, auf die Jesus führt: Ein Obdachloser schläft auf einer Bank inmitten einer unwirtlichen Stadtlandschaft, ein kleines Kind legt eine Münze in seinen Hut
Wie würde Jesus das Gleichnis vom Samariter heute erzählen? (Bild: AD_ImagesPixabay)

Gottesdienst am 13. Sonntag nach Trinitatis, 9. September 1979, in Dorn-Assenheim, Beienheim und Heuchelheim
Lieder: 244, 1+3+4 / 246, 3-5 / 469, 1-3 / 469, 7
Gnade und Friede sei mit uns allen. Amen.

Der Predigttext steht im Evangelium nach Lukas 10, 25-37:

25 Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?

26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?

27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst«.

28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.

29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?

30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen.

31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber.

32 Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.

33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn;

34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.

35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir‘s bezahlen, wenn ich wiederkomme.

36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?

37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Herr, hilf uns, hinzusehen und hinzugehen! Amen.

Liebe Gemeinde!

Jesus will uns auf Abwege führen.

Vor Abwegen wird sonst gewarnt. Man könnte sich verirren, man könnte auf unbekanntem Gelände Schaden erleiden. Man sollte doch lieber auf der ebenen Straße bleiben, die geradeaus führt. Man sollte sich nicht zu weit von dem entfernen, was alle tun.

Doch Jesus will uns auf Abwege führen. Auf eine besondere Art von Abwegen.

Wenn wir an das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter denken, dann scheint es uns auf den ersten Blick selbstverständlich richtig, dass der Samariter vom Wege ab- und zu dem Verletzten hingeht. Wie der Gesetzeslehrer, dem Jesus die Geschichte erzählt, würden auch wir sagen: Natürlich, der dritte Mann hat als Mitmensch gehandelt. Ist also das Abweichen des Samariters vom geraden Weg überhaupt ein Abweg? Ist es nicht ganz klar, dass man jemandem hilft, der in Not ist, wenn wir davon erfahren? Kann man denn die Augen verschließen vor dem Unglück dessen, der am Wegrand liegt?

Das Gleichnis weist auf die Erfahrung hin, dass man es sehr wohl kann. Gründe gibt es genug dafür. Der Weg zum Überfallenen wäre für den vorbeikommenden Priester nicht nur im wörtlichen Sinn ein Abweg gewesen. Er hätte sich durch Blut verunreinigt, er hätte seinen Dienst als Priester im Tempel zu Jerusalem nicht tun können an diesem Tag. So auch der Levit, der Hilfspriester.

Vielleicht halten auch andere Gründe davon ab, zum Verletzten zu gehen: die Angst, die Räuber könnten noch in der Nähe sein, die Eile, der Gedanke, dem ist doch nicht mehr zu helfen. Priester und Levit gehen weiter auf der geraden Straße, ihrer Aufgabe nach, die sie nun einmal haben. Sie werden die ersten Kilometer vielleicht noch beunruhigt sein; sie werden darüber nachdenken, wie sie ihr Tun bzw. ihr Nicht-Tun rechtfertigen können, sie werden sich fragen: hätte ich denn anders handeln können? und sie werden sich beruhigen: jetzt ist es sowieso viel zu spät, um umzukehren. Und dann kommen die Verpflichtungen, andere Gedanken, und der Mann an der Straße ist nur noch eine schwache Erinnerung aus der Vergangenheit. Ja, man müsste etwas tun, um die Straßen sicherer zu machen, denken sie gelegentlich. Aber ich als einzelner, was kann ich schon dazu beitragen?

Menschen am Wegrand, die überfallen wurden, die betteln oder verunglückt sind, begegnen uns so gut wie nie. Das Gleichnis beschreibt eine Form des Unglücks, die damals sehr häufig vorkam. Für uns kommt es darauf an, dass alle, die vorüberkamen, den Mann da liegen SAHEN. Alle wussten Bescheid. Aber die ersten beiden wollten nicht hinsehen, geschweige denn hingehen.

Wir wissen heute auch Bescheid über das Leiden vieler Menschen. Wir können uns sogar über die Ursachen informieren und uns die Mühe machen, die verschiedenen Ansichten über die Ursachen zu vergleichen.

Warum sehen wir trotzdem oft nicht hin? Warum gehen nur wenige aus ihrem gewohnten Gang heraus, um sich für einen einzelnen oder für das Wohl vieler Menschen einzusetzen? Warum gibt es unter uns nicht viel mehr barmherzige Samariter, die hinsehen und hingehen, wo wir gebraucht werden?

Wir meinen, wir stehen allein.

Wir haben schon so viel zu tun.

Wir haben Angst, nicht vor Räubern, aber vor den Mächtigen, die Leiden in Kauf nehmen und gute Gründe nennen, warum es nicht anders geht. Die z. B. Waffen in mögliche Kriegsgebiete liefern wollen, sonst gingen bei uns Arbeitsplätze verloren.

Wir sind verwirrt, wenn die Argumente zweier Seiten gegenüberstehen und es wirklich schwerfällt, zu entscheiden, wo die Wahrheit liegt. Bei der Frage z. B., ob sich die Kirche überhaupt mit Politik befassen soll. Bei der Frage Atomkraft – Ja oder Nein. Bei der Frage, ob den Schwarzen in Südafrika mit einem Boykottaufruf gedient ist, wie ihn die Evangelische Frauenarbeit in Deutschland mehrfach ins Gespräch gebracht hat.

Glaubt man in solchen Fragen nicht viel eher einem angesehenen Vertreter der vorherrschenden Meinung, wenn er sagt, es sei alles nicht so schlimm, wie die anderen sagen, es liefe alles am besten, wenn wir so weitermachen wie bisher und wenn die Fachleute entscheiden. Die anderen wollten ja nur Protest, sind ja nur immer dagegen – aber wir kommen doch nur voran, wenn wir gemeinsam etwas tun! Glaubt man nicht lieber ihm, als dass man den beschwerlichen Weg eigenen Nachdenkens auf sich nimmt? Leuchtet es nicht ein, dass Protest und der Einsatz einer kleinen Minderheit oft gar nichts bewirkt?

Jedoch – auch dass ist zu überlegen: was hilft es, wenn wir auf einem falschen Weg gemeinsam gehen? Vor 40 Jahren gingen die Deutschen, soweit sie nicht in den KZs verschwunden waren, gezwungen oder freiwillig gemeinsam in den Krieg, zuerst auf der Straße der Siege, dann auf dem Weg in den Zusammenbruch. Millionen Tote und die Teilung Deutschlands waren die Folge. Diejenigen wenigen, die damals den Abweg des Widerstand gingen, sind heute hoch geehrt – denn wären das damals mehr gewesen, vielleicht wären die Schritte zum Krieg nicht alle gegangen worden, vielleicht hätte es Schritte der Umkehr, Schritte zum Frieden gegeben.

Gibt es heute in ähnlicher Weise wie damals verführerische Wege, auf denen die Mehrheit geht, die aber in die Irre führen? Das Motto zum Beispiel: Wozu Energie sparen, es gibt ja noch die Atomenergie? Der Standpunkt: Erst einmal für uns sorgen, dann kommen erst, wenn was übrig bleibt, die Hungernden in der Welt? Oder das Abschieben von Randgruppen in die Heime, denn da sind sie gut versorgt und begegnen uns nicht auf der Straße? Oder die Duldung der Ausländer in unserem Land als Arbeitskräfte – aber sie sollen ja nicht irgendwelche Rechte beanspruchen oder gar deutsche Staatsbürger werden dürfen?

Jesus will uns auf Abwege von solchen unmenschlichen Wegen führen.

Wir haben unsere Augen, um an den Wegrand zu sehen, den Wegrand unserer Gesellschaft, zu sehen, wer unsere Hilfe braucht, ob es jemand in unserer Gemeinde ist oder Menschen irgendwo in unserer kleiner gewordenen Welt, die zu unseren Land eine Beziehung haben.

Der Gesetzeslehrer fragt Jesus, um ihn aufs Glatteis zu führen. Er fühlt sich ja als ein gerechter und frommer Mann. Wenn er Jesus fragt: „Wer ist denn mein Mitmensch?“, dann wird er vielleicht Vorschläge von Jesus erwarten: Dieser und jener ist dein Mitmensch, für andere bist du aber nicht unbedingt zuständig. Vielleicht erwartet er die Antwort, dass die Mitmenschen in erster Linie im eigenen Volk und hier wieder besonders unter den Frommen zu suchen sind, die auch wirklich Hilfe verdienen.

Dem widerspricht Jesus radikal. Er kehrt durch sein Gleichnis die Frage des Gesetzeslehrers um: Wir sollten nicht fragen, wer denn unsere Hilfe am ehesten verdient, sondern wir sind jedem Menschen gegenüber als Mitmensch gefordert, der in unser Blickfeld kommt. Dem sind wir Mitmensch oder wir sind der, der ihm noch den letzten Tritt gibt.

Besonders ärgerlich für den Gesetzeslehrer war sicherlich, dass Jesus ihm ausgerechnet einen von den Judäern verachteten Samaritaner, der nicht das ganze jüdische Gesetz anerkannte, als Vorbild hinstellt. „Geh hin und mach es ebenso“, sagt ihm Jesus. Halte selbst die Augen offen, wem du ein Mitmensch sein kannst, entscheide selbst, wann du es für richtig hältst, vom Wege abzugehen, um zu helfen.

Die Augen offenhalten, helfende Abwege suchen – das kann ich mir heute nicht anders vorstellen, als dass wir miteinander reden. Ich möchte daher dafür werben, dass wir uns in unseren Gemeindekreisen auch auf solche Fragen einlassen. Ich möchte z. B. werben für den Treffpunkt Offene Gemeinde oder für die Zusammenkünfte der Frauenhilfe.

Mir ging es schon manchmal so, wenn ich neu in eine Gruppe kam, in der dann viel geredet und geplant wurde: da dachte ich: wo bin ich hier bloß hingeraten, mir raucht der Kopf, wie soll ich das alles verarbeiten. Aber einige Zeit später merkte ich dann: wie schnell bin ich doch in die Gruppe hineingekommen, weil ich nicht zu früh aufgegeben habe, wie schnell habe ich doch etwas Wichtiges gelernt, weil ich auch meine eigenen Fragen gestellt habe, und wie schnell bin ich fähig geworden, auch etwas von mir aus für diese Gruppe zu tun. Vielleicht geht es Ihnen ebenso. Und ganz nebenbei – ist man nicht mehr allein mit sich und seinen eigenen Sorgen und Problemen, denn auch über die kann gesprochen werden, wenn ich Vertrauen zu den anderen fasse.

Jesus will uns mit dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter auf Abwege führen, auf Abwege, die Wege zum Leben sind. Amen.

Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne, in Jesus Christus. Amen.

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