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Erinnern – an Schmerz und Trostworte

Es klingt paradox. Erinnern, um zu vergessen? Aus der Seelsorge weiß ich, dass das Vergessen und Verdrängen keine seelischen Wunden heilt. Nur der verarbeitete Schmerz heilt. Wer sich erinnert, wer sein Herz ausschüttet, wer Trauer und Angst, Zorn und Schuld nicht in sich vergräbt, der bleibt mit seiner Qual nicht allein, und alte Wunden können vernarben.

Schriftzug "Erinnerung", darauf steht ein Männchen
Erinnerung kann ein schweres Geschäft sein (Bild: Peggy und Marco Lachmann-AnkePixabay)

Andacht zur Kranzniederlegung der Frauengruppen der Landsmannschaften der Ost- und Westpreußen, Pommern, Nieder- und Oberschlesier und Sudetendeutschen mit ihren Angehörigen am Donnerstag, 19. November 1998, 14.00 Uhr am Neuen Friedhof in Gießen

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.

Lasst uns beten.

Allmächtiger Gott, von dem allein unsere wahre Hilfe kommt, lass uns nun unsere Gedanken sammeln zu dir. 53 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben wir uns zusammengefunden, um der Toten und Vermissten zu gedenken, die aus dem Krieg nicht zurückkehren durften. Herr, schenke uns Gedanken des Friedens und nicht des Verderbens. Amen.

Liebe Frauen, liebe Männer, die Sie hier auf dem Gießener Friedhof versammelt sind, bevor ich Sie anspreche mit meiner Ansprache, möchte ich Ihnen kurz sagen, wer Sie heute hier anspricht: Ich bin Pfarrer Helmut Schütz und arbeite erst seit einem Monat in der evangelischen Paulusgemeinde in Gießen – das ist die Gemeinde, auf deren Gebiet dieser Friedhof liegt. Ich selbst bin sieben Jahre nach dem Krieg geboren, meine Eltern haben jedoch Erfahrungen geteilt, die die meisten von Ihnen gemacht haben – sie verloren die Heimat in Westpreußen bzw. in Schlesien und mussten nach dem Krieg in Westdeutschland noch einmal ganz von vorn anfangen. Von meinem Vater weiß ich, dass er wie so viele andere noch Jahrzehnte lang bis zu seinem Tod an Kriegsfolgen zu leiden gehabt hat.

Heute sind wir gemeinsam hier, um uns zu erinnern. In seinem kurzen Gedicht „Vielleicht“ ist Erich Fried auf das Erinnern eingegangen:

Erinnern
das ist
vielleicht
die qualvollste Art
des Vergessens
und vielleicht
die freundlichste Art
der Linderung
dieser Qual.

Das klingt paradox. Erinnern, um zu vergessen? Sich Qualen schaffen, um sie zugleich zu lindern? Aus der Seelsorge weiß ich, dass das Vergessen und Verdrängen keine seelischen Wunden heilt. Das ist so ähnlich wie bei einer oberflächlich verheilten Wunde am Körper, unter der sich ein entzündlicher Abszess ausbreitet. Sie wissen, da muss der Chirurg noch einmal an die Wunde heran, er muss sie aufschneiden, damit sie von innen her verheilen kann. Das ist auch bei unserer Seele so: Nur der verarbeitete Schmerz heilt. Wer sich erinnert, wer sein Herz ausschüttet, wer Trauer und Angst, Zorn und Schuld nicht in sich vergräbt, der bleibt mit seiner Qual nicht allein, und alte Wunden können vernarben.

Woran erinnern wir uns heute? Da sind die Kriegstoten und Vermissten, die Ihnen nahestanden. Sie zogen als Soldaten hinaus, ihrem Vaterland verpflichtet, ohne selber entscheiden zu können, zu dürfen, ob der Krieg wirklich im Interesse des Vaterlandes war. Wir wissen heute, dass es ein sinnloser Krieg war, geboren aus nationaler Ideologie und Machtinteressen, um so mehr schmerzt der Gedanke an all die Toten, die sich ihr Schicksal nicht selber ausgesucht haben. Und nicht nur Soldaten sind gestorben, auch an die vielen anderen denken wir, Kinder, Frauen und Männer, die bei den Bombenangriffen oder auf der Flucht ihr Leben lassen mussten. Mein Vater erzählte mir, wie es war, als er fünf Jahre nach Kriegsende davon erfuhr, dass seine erste Frau und seine Tochter in Dänemark auf der Flucht gestorben waren.

Wir erinnern uns, weil noch längst nicht alle Wunden vernarbt sind. Wer niemanden im Krieg verloren hat, wer nicht die Heimat für immer zurücklassen musste, der kann sich das wohl nicht vorstellen, und darum treffen Sie sich ja auch hier als Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, die verstehen können, was jeder von Ihnen durchgemacht hat.

Die Wunden sind auch deswegen nicht vernarbt, weil dem Weltkrieg ja noch ein vierzig Jahre währender Kalter Krieg folgte. Erst nach der Öffnung des Ostens konnte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in manchen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion damit beginnen, neue Sammelfriedhöfe für deutsche Soldaten zu errichten, zum Beispiel in Rossoschka bei Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, in Wjasma, Smolensk, Charkow und Kiew.

Wir erinnern uns an den Schmerz der Vergangenheit. Als Christen dürfen wir uns aber auch an etwas anderes erinnern lassen. Von Jesus wird im Evangelium nach Johannes 14, 26 der Satz überliefert:

Aber der Tröster, der heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.

Jesus spricht davon, dass es mehr gibt als unseren Schmerz und unsere Traurigkeit. Es gibt auch den Tröster, Gottes Geist selbst, der uns nahe ist gerade, wenn wir leiden, gerade wenn wir weinen oder auch wenn wir nicht mehr weinen können. Von diesem Geist sagt Jesus auch, dass er uns erinnern wird – und zwar an alles, was uns Jesus gesagt hat. Und hier wird nun ein Tor aufgetan zu einer neuen Welt, die schon hier in unserem Leben beginnt. Schmerz wird nicht verdrängt – und es ist einer da, dem wir unseren Schmerz anvertrauen können. Die Toten werden nicht vergessen – und wir dürfen wissen, dass sie in Gottes Liebe ihre ewige Ruhe gefunden haben. Es tut nach wie vor weh, dass die alte Heimat verloren ist – und wir hören zugleich auf den Jesus, der selbst auf Heimat und Geborgenheit verzichtete, um zu den Menschen zu gehen und den barmherzigen Gott zu verkündigen, der auch die Heimatlosen und Trauernden in seine Arme schließt. Jesus wusste es (Hebräer 13, 14:

Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Viele sagen ja: Die Zeit heilt alle Wunden. Ich glaube nicht, dass die Zeit als solche heilt. Zeit können wir unterschiedlich erleben, unterschiedlich nutzen. Wir können steckenbleiben in einer Trauer, die sich nicht aussprechen kann, dann kann sich auch ein Herz verhärten und verschlossen bleiben für neue Liebe, neue Freude, neues Leben. Wir können aber auch den Weg der Trauer gehen im Bewusstsein, dass ein Tröster da ist – die unsichtbare Hand des himmlischen Vaters, in der wir geborgen sind, vielleicht auch die sichtbare Hand der Angehörigen und Freunde, die uns in den Arm nimmt. Getröstet von Gott können wir auch einander ein Trost sein, wenn wir uns treffen und miteinander Gemeinschaft halten und alte Erinnerungen austauschen. Wir können Wege des Friedens gehen, wenn wir dort, wo Feindschaft war, gemeinsam mit Menschen anderer Völker Hilfe leisten, wie einige von Ihnen es in Königsberg und anderswo tun. So führt uns die Erinnerung an die Toten des Krieges und die verlorene Heimat zu Gedanken der Erinnerung an Worte des Sohnes Gottes, der uns Leben verheißt in einer Welt voller Gräber und voller Schmerzen. Amen.

Wir beten mit Jesu Worten:

Vater unser

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