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Unkonventioneller Glaube und der verletzbare Gott

In der Trauerfeier für eine Frau, die nach äußerst schwerem kurzen Leben gestorben ist, geht es um die Frage, ob man auch, wenn man nicht in konventioneller Weise glaubt, das Vertrauen leben kann, um das es in der Bibel geht, wenn Menschen zu einem verletzbaren und angreifbaren Gott beten, der den Namen der Befreiung trägt.

Unkonventioneller Glaube und der verletzbare Gott: Zwei Hände unterschiedlicher Hautfarbe halten einander, eine davon mit rosa Bändchen
Füreinander einstehen, Vertrauen leben, unkonventioneller Glaube (Bild: Vicki NunnPixabay)

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.

Liebe Trauernde, Sie sind hier versammelt, weil Frau L. im Alter von [über 40] Jahren gestorben ist. Wir nehmen Abschied von ihr, indem wir uns an sie erinnern, und da dies eine christliche Trauerfeier ist, lade ich gleich auch dazu ein, dass wir uns auf die Worte eines alten biblischen Gebets einlassen, in dem Erfahrungen ihren Niederschlag gefunden haben, die mich hier und da an das Leben von Frau L. erinnert haben, so wie Sie es mir geschildert haben.

Was ich über Frau L. weiß, das habe ich erfahren von zwei Menschen, die beide das Leben der Verstorbenen geteilt haben, jeder nur einige Jahre lang, jeder auf andere Weise, jeder mit unterschiedlichem Blickwinkel auf ihr Leben. Die anderen, die heute hier sind, werden sich in noch anderer Form an Begegnungen mit ihr erinnern.

Was ich in einer Ansprache tun kann und will, ist einfach, dass wir uns bewusst machen: Von diesem konkreten, einmaligen, unverwechselbaren Menschen nehmen wir heute Abschied. Auch wenn auf ihrem Grab keine Inschrift mit ihrem Namen stehen wird, so ist sie doch keine Nummer und kein Mensch wie jeder andere, und sie hat ein Recht darauf, dass wir ihr mit dieser Feier die letzte Ehre erweisen.

Sie verlor früh ihre Mutter, ihr Vater nahm sich das Leben. Sie wurde bei ihrer Oma groß, aber als auch sie starb, schien ihr ein Leben in einem geborgenen Zuhause nicht mehr möglich zu sein. Nach der Grund- und Hauptschule machte sie eine Lehre, konnte ihren erlernten Beruf allerdings wegen Allergien nicht weiter ausüben. So schlug sie sich auf andere Weise durch; zeitweise lebte sie auf der Straße.

Eine lange Krankheitsgeschichte begann; sie überstand eine Krebserkrankung, aber mit schwerwiegenden Folgen. Durch ihre geschwächte Immunabwehr litt sie auch an vielfältigen anderen Beschwerden, vor allem immer wieder unter starken Schmerzen. In den letzten Jahren war sie viel in einem Internetforum zum Thema Schmerztherapie unterwegs und machte vielen Menschen Mut zum Leben.

Über diese Selbsthilfegruppe haben auch Sie, lieber Herr M., Frau L. kennengelernt. Zuerst kannten Sie einander nur virtuell; dann haben sie einander auch besucht. Was nur als Rettungsaktion für kurze Zeit gedacht war, entwickelte sich zu etwas Dauerhaftem, zu einer Lebenspartnerschaft bis zu ihrem Tod. Sie fand in Ihnen einen Menschen, dem sie ihr Vertrauen schenken und auf den sie sich verlassen konnte, egal wie starke Schmerzen sie hatte oder wie oft sie einen Zusammenbruch erlitt.

Sie wissen noch genau, wie oft sie in dieser Zeit dem Tode nahe war, denn die genaue Zahl dieser Zusammenbrüche verschiedener Art, die sie überlebt hat, dokumentieren die vielen kleinen Liebesbeweise, die Sie – ich sage jetzt einfach – Ihrer Frau zum Trost jedes Mal geschenkt haben. Es war ein weiterer, letzter Zusammenbruch, bei dem sie nun gestorben ist.

Es war ein hartes Leben mit vielen Schicksalsschlägen und Enttäuschungen, mit Erfahrungen von Streit und Gewalt und Zerrissenheit. Es war aber auch ein Leben voller Stärke und Überlebenswillen, in dem auch Raum war für Menschlichkeit, für Solidarität unter Leidensgenossen, für Vertrauen und Liebe, die ein Leben sinnvoll, kostbar und lebenswert machen.

Die meisten von Ihnen haben schon lange nicht mehr im intensiven Kontakt mit Frau L. gelebt; trotzdem ist ihr Tod Anlass zur Trauer, denn traurig kann uns auch stimmen, dass sich Menschen, die sich einmal nahestanden, auseinandergelebt haben, und dass jetzt keine Gelegenheit mehr besteht, sich noch einmal auszusprechen.

Sie, lieber Herr M., verlieren mit Frau L. die Frau, mit der Sie bis zuletzt in Liebe verbunden waren, für wenige, aber außerordentlich erfüllte Jahre. Es fällt schwer, damit fertigzuwerden; zugleich, denke ich, können Sie dankbar dafür sein, dass Sie beide diese gemeinsamen Jahre erleben und gemeinsam so viel Schweres durchstehen konnten.

Dass Sie mir gesagt haben, Sie würden nichts glauben, kann ich nach unserem Gespräch nur so verstehen, dass Sie nicht auf konventionelle Art glauben. In meinen Augen ist Glaube genau so ein Vertrauen, wie Sie es beide gelebt haben, nicht nur in Ihrer Partnerschaft, sondern auch in der Selbsthilfegruppe, in der Menschen, die zu verzweifeln drohen, einander ihren Lebensmut stärken.

Erst zum Abschluss dieser Feier möchte ich nun einen Psalm mit Ihnen beten, was üblicherweise am Anfang einer Trauerfeier vorgesehen ist. Es ist der Psalm 102, den ich immer wieder einmal für Menschen bete, die es im Leben sehr schwer hatten oder haben. Ich bete ihn heute nach der Bibelübersetzung von Martin Luther, aber ich habe mir erlaubt, überall da, wo Luther den unaussprechlichen Namen Gottes mit „HERR“ wiedergibt, eine eigene Umschreibung zu verwenden, denn schon in den Augen derer, die damals auf diesen Gott vertrauten, ist Gott nicht ein Herr, so wie wir normalerweise Herren verstehen:

1 Ein Gebet für den Elenden, wenn er verzagt ist und seine Klage vor dem Gott ausschüttet, dessen Name unaussprechlich ist und der mit keiner Gebetsformel beschworen werden kann.

2 Du Gott, den wir nicht in der Hand haben, der aber auch uns nicht in seiner Hand zerdrücken will, höre mein Gebet und lass mein Schreien zu dir kommen!

3 Verbirg dein Antlitz nicht vor mir in der Not, neige deine Ohren zu mir; wenn ich dich anrufe, so erhöre mich bald!

4 Denn meine Tage sind vergangen wie ein Rauch, und meine Gebeine sind verbrannt wie von Feuer.

5 Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie Gras, dass ich sogar vergesse, mein Brot zu essen.

6 Mein Gebein klebt an meiner Haut vor Heulen und Seufzen.

7 Ich bin wie die Eule in der Einöde, wie das Käuzchen in den Trümmern.

8 Ich wache und klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.

9 Täglich schmähen mich meine Feinde, und die mich verspotten, fluchen mit meinem Namen.

10 Denn ich esse Asche wie Brot und mische meinen Trank mit Tränen

11 vor deinem Drohen und Zorn, weil du mich hochgehoben und zu Boden geworfen hast.

12 Meine Tage sind dahin wie ein Schatten, und ich verdorre wie Gras.

13 Du aber, dessen Name lautet: „Ich bin, der ich bin“, „ich bin für euch da“, du bleibst ewiglich und dein Name für und für.

18 Einen Herrn, der nicht beherrscht, haben wir: Er wendet sich zum Gebet der Verlassenen und verschmäht ihr Gebet nicht.

20 Denn er schaut von seiner heiligen Höhe, der Herr, der frei macht, sieht vom Himmel auf die Erde,

21 dass er das Seufzen der Gefangenen höre und losmache die Kinder des Todes.

Ich unterbreche mein Beten kurz, indem ich darauf aufmerksam mache, dass der Psalmbeter, der bisher im Vertrauen auf Hilfe vor Gott sein Herz ausgeschüttet hat, nun gleich eine harte Anklage gegen Gott richtet:

24 Er demütigt auf dem Wege meine Kraft, er verkürzt meine Tage.

25 Ich sage: Mein Gott, nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage!

Ja, auch so kann man beten. Man kann Gott als den erfahren, der einem nicht Kraft gibt, sondern nimmt. Man kann Gott bitten, nicht nach einem halben Leben schon sterben zu müssen, und Gott erfüllt diese Bitte nicht. Frau L. hat zumindest das Letztere erfahren; sie wurde nur [über 40] Jahre alt, kann nicht gemeinsam mit ihrem Lebenspartner alt werden.

Ob es hilft, den Psalm zu Ende zu beten? Noch einmal wendet sich der Beter zu dem Gott, auf den er vertraut, auf den er sich immer verlassen konnte, und er wagt es, Gott zu loben:

Deine Jahre währen für und für.

26 Du hast vorzeiten die Erde gegründet, und die Himmel sind deiner Hände Werk.

27 Sie werden vergehen, du aber bleibst; sie werden alle veralten wie ein Gewand; wie ein Kleid wirst du sie wechseln, und sie werden verwandelt werden.

28 Du aber bleibst, wie du bist, und deine Jahre nehmen kein Ende.

Ich denke, es ist wichtig, sich immer vor Augen zu halten, welcher Gott hier angeredet ist. Welchen Namen dieser Gott trägt. Es ist ein Name der Befreiung. Dieser Gott ist da, wo wirkliche Liebe ist. Liebe im Sinn von Solidarität, wie Sie sie im Selbsthilfeforum leben. Dieser Gott ist da, wo man gegen alle Gewalt und Zerrissenheit dieser Welt nicht aufgibt, dem Vertrauen und der Menschlichkeit eine Chance zu geben. Es ist dieser Gott, der in Jesus am Kreuz starb und scheinbar scheiterte. Aber in Wirklichkeit hat sich gerade in Jesus das verletzbare Vertrauen, die angreifbare Menschlichkeit in dieser Welt eine Bahn gebrochen.

Es ist dieser verletzbare Gott, dem ich heute die verstorbene Frau L. anvertrauen möchte. Wir müssen sie loslassen und können dies vielleicht ein wenig getröstet tun, wenn wir bedenken, dass sie in ihrem Tod nicht verlorengeht, sondern in der Liebe Gottes aufbewahrt bleibt. Und wer nicht so an Gott glauben kann, mag sich daran festhalten, dass es nicht umsonst war, sie so sehr geliebt zu haben. Amen.

Gott, wir kennen nur unzureichende Namen für die Wirklichkeit, die du bist. Wir kommen von dir her, wir leben ein Leben, in dem du uns so sehr verschiedene Chancen einräumst, dass wir oft an deiner Gerechtigkeit zweifeln. Erfüllung finden wir in diesem Leben, wo wir Vertrauen und Liebe erfahren und davon anderen weitergeben. Für solche Erfahrungen, für solche Bewahrung und Erfüllung auch im Leben von Frau L. sind wir dankbar.

In ihrem Tode vertrauen wir sie dir nun an. Wir wissen nicht, wie wir uns ein ewiges Leben bei dir vorstellen können; alles, was wir über die Ewigkeit sagen können, sind menschliche, unzureichende Bilder. Wir bitten dich einfach: Lass nicht verlorengehen, was sie in ihrem Leben an Liebe gelebt hat. Lass sie, wie auch immer, Frieden finden.

Wir vertrauen dir auch alles an, was uns belastet und bedrückt, und bitten dich: Lass uns fertig werden mit gemischten Gefühlen, mit Enttäuschungen, mit unerfüllter Sehnsucht. Gib uns Klarheit über das, was unsere Verantwortung ist, und schenke uns Menschen, die unser Vertrauen nicht enttäuschen. Amen.

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