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Trauer und Angst nicht verdrängen

Es ist viel gewonnen, wenn wir uns gestatten, Trauer und vielleicht auch manche Angst zu empfinden. Solche Gefühle zu überspielen, kann gefährlich werden. Abstumpfung kann krank machen, kann auch zum Hass gegen andere führen. Gestehe ich mir nicht ein, verletzt zu sein, gerate ich in die Gefahr, ohne es zu wollen, andere zu verletzen.

Ein Mahnmal, das zwei sitzende Männer zeigt, von denen der eine dem anderen den Rücken stärkt
Ein Mann stärkt einem Trauernden den Rücken (Bild: manfred KindlingerPixabay)

Rede am Volkstrauertag, 16. November 1986, auf dem Friedhof in Heuchelheim und Reichelsheim

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!

Als ich vorgestern einige Sportkameraden fragte: „Was meint ihr, was soll ich am Volkstrauertag auf dem Friedhof sagen? Ich muss da eine Rede halten, und ich will ja nicht jedes Jahr wieder dasselbe sagen“, da sagte einer: „Am besten ist, du sagst gar nichts. Eine Schweigeminute ist viel besser.“

„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!“, sagt man ja auch. Aber ich denke: Alles zu seiner Zeit! Schweigen ist angebracht, wenn Betroffenheit uns den Mund verschließt, wenn unmittelbare Trauer über ein uns alle angehendes Ereignis sonst zerredet würde. Aber in der Situation sind wir nicht; Grund zur Trauer gibt es zwar allenthalben, aber wir sind im Großen und Ganzen nicht imstande, diese Trauer in uns zuzulassen und zu verkraften. Deshalb verdrängen wir lieber, stumpfen wir uns ab gegen alles, was uns gefühlsmäßig stark berühren könnte. Wir fliehen vor den Gefühlen in einen kühlen Verstand; wir tun uns schwer, einen Ort zu finden, wo wir einmal aussprechen könnten; was uns wirklich bewegt. Um trauern zu können, um Trauer bewältigen zu können, brauchen wir Menschen, die uns begleiten, die zuhören können, die nichts zudecken und zerreden wollen, sondern da sind und stützen und Mut machen zu einem nächsten Schritt, den wir gehen können.

Am Volkstrauertag kommen wir zusammen, nicht um künstliche Traurigkeit zu erzeugen, sondern vielleicht um wenigstens einmal im Jahr eine Gelegenheit zu haben, nicht allein zu bleiben mit dem, was uns als Volk, als Gesellschaft, als Gemeinschaft von miteinander lebenden Menschen belastet und bedroht. Hier können wir uns bewusst den Ereignissen stellen, die wir gemeinsam beklagen und betrauern.

Nach wie vor ist die Erinnerung an die Schrecken der Weltkriege und ihre Folgen lebendig, an die Soldaten, die gefallen, ihren Verwundungen erlegen oder in Kriegsgefangenschaft gestorben sind, an die Frauen, Kinder und Männer, die durch Kriegshandlungen, auf der Flucht oder bei der Vertreibung ihr Leben lassen mussten. Weniger verwurzelt ist bei uns die Erinnerung an die, die unter der Gewaltherrschaft Opfer ihrer Überzeugung oder ihres Glaubens wurden, oder an die, die getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten oder einer anderen Rasse zugerechnet wurden. Wir dürfen sie nicht vergessen.

Auch in den 41 Jahren seit dem 2. Weltkrieg, in denen unser Land vom Krieg verschont blieb, sind noch Menschen an den Folgen des Krieges gestorben. Die Teilung Deutschlands forderte ihre Opfer; bis heute sterben jedes Jahr Japaner an den Folgen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki; Atomtests haben Inseln im Pazifik unbewohnbar gemacht und die Luft in Ost und West radioaktiv verseucht. Kriege, Bürgerkriege, Terrorismus versetzen die Welt Jahr um Jahr in neue Schrecken. Auch in diesem Jahr sind wieder neue Opfer des grauenvollen, brutalen und sinnlosen Terrors, auch in unserem Land zu beklagen.

Hat nun das Jahr 1986 noch weitere Ereignisse gebracht, die es wert sind, besonders am Volkstrauertag erwähnt zu werden?

Da ist das Stichwort Reykjavik, das Treffen der beiden mächtigsten Männer der Welt, das mit zaghaften Friedenshoffnungen verknüpft gewesen war. Hat uns das Scheitern von Reykjavik zu gemeinsamer Trauer geführt? Zur Frage, wie beide Seiten neu aufeinanderzugehen können, mit Aussicht auf Erfolg?

Und da ist das Stichwort Tschernobyl – Symbol dafür, dass wir auch mitten im Frieden in einem Ausmaß bedroht sind, das an die Gefahren eines Krieges heranreicht. Damals im Mai waren wir betroffen, schockiert, verunsichert – heute haben wir uns gewöhnt an die Radioaktivitäts-Messwerte in den Zeitungen, an Millirem und Becquerel. Muss das sein? müssen wir Trauer und Betroffenheit verdrängen, weil wir meinen, eh nichts machen zu können? Oder weil wir nichts machen wollen, weil uns das zu viel kosten würde?

1986 ist ein Jahr, das uns klar vor Augen geführt hat, dass wir uns einen Teil unseres technischen Fortschritts erkauft haben, indem wir einen Krieg gegen die Natur führen. Der Rhein ist tot, fahrlässig und zum Teil sogar mit voller Absicht vergiftet. Sind wir fähig, Trauer zu empfinden für all die Fische, all die Lebewesen, die dort eine Lebensgemeinschaft gebildet haben und nun mit einem Schlag ausgerottet worden sind? Oder müssen erst Menschen sterben wie im fernen Tschernobyl, ehe wir uns anrühren lassen von den Folgen unserer Eingriffe in die Natur, die uns mehr und mehr außer Kontrolle geraten?

Menschen? Wie reagieren wir, wenn wir von menschlichem Leid erfahren? Können wir uns denn alles nahegehen lassen? Was bedeutet es, wenn bei Fernsehaktionen mehr Geld für bedrohte Tiere zusammenkommt als für krebskranke Kinder? Was ist los mit unserem Mitgefühl, wenn wir Asylsuchende als Bedrohung und als Schmarotzer empfinden, und gar nicht mehr fragen, was das für Menschen sind und was sie dazu getrieben hat, in unser Land zu kommen?

Es ist viel gewonnen, wenn wir uns gestatten, Trauer und vielleicht auch manche Angst zu empfinden. Solche Gefühle zu überspielen, kann gefährlich werden. Abstumpfung kann krank machen, kann auch zum Hass gegen andere führen. Gestehe ich mir nicht ein, verletzt zu sein, gerate ich in die Gefahr, ohne es zu wollen, andere zu verletzen…

Die Bibel wirbt für einen anderen, aber sehr unpopulären Weg. Den Nächsten zu lieben wie sich selbst, die Erde bebauen und bewahren, Böses mit Gutem zu überwinden, nach besten Kräften Frieden zu stiften. Wer nach Gott und seinem heiligen Geist fragt, wer sich mit anderen zusammentut, die das gleiche tun wollen, der wird die Kraft finden, auf diesem Weg zu gehen, Schritt für Schritt. Wer sich den Frieden Gottes schenken lässt, findet auch den Mut, hier im Alltag für Frieden einzutreten, Frieden in der Familie, Frieden in der Nachbarschaft, in Schule und Beruf, in der Gesellschaft und zwischen den Völkern. Wer sich von Gott getragen weiß, kann sich auch getrost den Herausforderungen unserer Zeit stellen, kann Trauer an sich heranlassen, kann mit den Weinenden weinen, wie er auch mit den Lachenden lachen kann.

Wir haben Grund zur Trauer, sowohl rückblickend auf die Kriege, wie auch im Blick auf die Gegenwart. Auch die Zukunft sieht nicht rosig aus. Aber wir haben keinen Grund, die Trauer zu verdrängen. Ja, Hoffnung gibt es sogar nur, wenn wir die Trauer an uns heranlassen und uns von ihr mitnehmen lassen. Glücklich dran ist jeder, der dazu sich Kraft schenken lässt, von einem Gott, der sich Menschenschicksale nahe gehen lässt und der auf Weinende hört.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

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