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Welche Nachtigall singt im Johannesevangelium?

Der neuseeländische Theologe Edmund Little versteht die Hochzeit zu Kana und die Speisung der Fünftausend vom Alten Testament her als Anlässe der Einsetzung der Eucharistie mit Wein und Brot, ohne deren Genuss kein Mensch in den Himmel kommen kann. Nach Ton Veerkamp ist Jesus im Johannesevangelium jedoch der Messias, der Israel inmitten der Völker aus der weltweit herrschenden Sklaverei befreit.

Eine singende Nachtigall, die auf dem kreuzförmig zugeschnittenen Ende eines Astes sitzt
Welches Lied stimmt der Evangelist Johannes an, indem er in seiner Botschaft vom Messias Jesus das Alte Testament vielfach anklingen lässt? (Bild: wal_172619Pixabay)

Inhaltsverzeichnis

„Nachtigall, ick hör dir trapsen!“

 

1 Wein im Alten Testament und bei der Hochzeit zu Kana

1.1 Das problematische Weinwunder – eins von drei besonders hervorgehobenen Zeichen

1.2 Wein in den jüdischen Schriften

1.2.1 Wein als Segensgabe Gottes

1.2.1.1 Königlicher Wein und Gott als Gastgeber

1.2.1.2 Das Weinwunder zu Kana und die Bundesschlüsse im Alten Testament

1.2.1.3 Der Wein eschatologischen Überflusses und die messianische Hochzeit

1.2.1.4 Wein als Opfer und als Blut

1.2.1.5 Wein und Weisheit

1.2.2 Wein als ein Übel

1.2.3 Die doppelte Bedeutung des Weines

1.2.3.1 … im Alten Testament

1.2.3.2 … im Neuen Testament

1.2.3.3 … im Verhältnis zum Geist Gottes

1.3. Auf dem Weg zu einem Verständnis von Kana

1.3.1 Wundergeschichten in den Traditionen von Mose, Elia und Elisa

1.3.1.1 Wassergefäße zu Kana und auf dem Karmel – was bedeuten die Zahlen 6 und 12?

1.3.1.2 Ein Verwandlungswunder als eins von drei zusammengehörigen Zeichen

1.3.1.3 Mosaische Speisungswunder, die Ehre Gottes und die Mutter des Messias

1.3.1.4 Wunder der Vermehrung und der Reinigung vor allem im Elia-Elisa-Zyklus

1.3.1.5 Enthält die Kana-Erzählung einen Vorgeschmack auf das Gericht Gottes?

1.3.1.6 Inwiefern ist Jesus größer als Mose und Elia?

1.3.2. Zur Parallelität des Weinwunders zu Kana und der Speisung der Fünftausend

1.3.2.1 Jesu Macht über die Schöpfung

1.3.2.2 Der Mangel an Wein und Brot, die Mutter Jesu und das Reinheitsthema

1.3.2.3 Soll Israel im messianischen Zeitalter wiederhergestellt werden?

1.3.2.4 Oder ersetzt Jesus als Ernährer der Seele den befreienden Gott Israels?

1.3.2.5 Setzt Jesus mit dem Zeichen zu Kana einen neuen Bund ein?

1.3.2.6 Der König, der nicht von dieser Welt ist

1.3.2.7 Eschatologie der kommenden Weltzeit auf Erden oder des ewigen Lebens im Himmel?

1.3.2.8 Steht der Wein zu Kana als „Traubenblut“ für das Sühneblut des Lammes?

1.3.2.9 Ist Jesus selbst mit dem Wein zu Kana gleichzusetzen?

1.3.2.10 Jesus und Maria als Bräutigam und Braut bei der Hochzeit zu Kana?

1.3.2.11 Ersetzt Jesus als die Weisheit das alte „Gesetz“ der Juden?

1.3.3 Wie geht man um mit einem überreichen Angebot an Deutungsmöglichkeiten?

1.3.4. Dionysos – neu betrachtet

1.3.4.1 Der Gott des Weines und der Gott der Juden

1.3.4.2 Offenbart sich Jesus als Gott wie Zeus und Hermes vor Philemon und Baucis?

1.3.4.3 Entlieh Johannes seinen Humor dem populärsten der niederen Götter?

1.3.4.4 Hat das Gerichtshandeln Jesu etwas mit der Rachsucht des Dionysos zu tun?

1.3.4.5 Enterbt und übertrifft Jesus das Judentum als ein neuer und größerer heidnischer Gott Dionysos?

1.4 Das Fest des Königreiches und die Kehrseite des göttlichen Gerichts

1.4.1 Die fehlende messianische Freude zu Kana und der Unterschied zwischen hōra und kairos

1.4.2 Bilder des Weins als Ausdruck von Gottes Gericht – nach welchen Kriterien?

1.4.3 Verurteilt Gott Menschen, die er selbst verstockt oder betrunken gemacht hat?

1.4.4 Gefährliche „Herrlichkeit Gottes“ oder Israels Befreiung als die „Ehre Gottes“?

1.4.5 Worin besteht die Zweischneidigkeit des Begriffs sēmeion, „Zeichen“?

1.4.6 Der Wein zu Kana und die Entscheidung zwischen Erlösung und Verdammnis

1.4.7 War Jesu Weinwunder eine soziale Rettungsaktion bei einer Bauernhochzeit?

 

2 Anklänge ans Alte Testament im Wunder der Brote und Fische

2.1 Berg und Meer, oros und thalassa

2.1.1 „Jenseits des Meeres“ und zugleich „nahe“

2.1.2 Der See Tiberias und das Königtum Jesu

2.1.3 „Meer“ als vielfältiges Symbol: vom Toben der Völker bis zur Nahrungsquelle

2.1.4 Berge als Orte der Offenbarung „des Gesetzes“ und der Anbetung Gottes

2.1.5 Jesu Aufstieg auf den Berg und der Mann Gottes aus 1. Könige 13

2.1.6 Jesu Sitzen auf dem Berg als die ihm zustehende Thronbesteigung

2.2 Die Volksmenge, ochlos

2.2.1 Die Zeichen, sēmeia

2.2.1.1 Besteht im Johannesevangelium eine Zurückhaltung gegenüber Zeichen?

2.2.1.2 Zeichen als Hinweis auf kairoi, Festzeiten oder schicksalhafte Augenblicke?

2.2.1.3 Zeichen als Anspielung auf den Bund des Alten Testaments, den Jesus im Sakrament des Abendmahls übertrifft?

2.2.1.4 Zeichen, die mit Königtum und Befreiung zu tun haben

2.2.1.5 Zeichen als Terror Gottes oder als Erweis seines befreienden NAMENS?

2.2.1.6 Zeichen Jesu, die Moses Zeichen übertreffen und einen neuen Bund begründen?

2.2.2 Ist der ochlos eine wohlwollende Volksmenge oder ein feindseliger Mob?

2.2.2.1 Welche Art des „Folgens“ kann und will Jesus von der Volksmenge erwarten?

2.2.2.2 Was muss mitgehört werden, wenn vom „Kommen“ der Volksmenge die Rede ist?

2.2.2.3 Auf welche Weise spielt Johannes mit den Verben des „Sehens“?

2.2.2.4 Jesu „Schauen“ der Volksmenge als Vision eines befreiten Israel?

2.2.2.5 Das „Heben der Augen“: Jesus vom Alten Testament her verstehen!

2.3 Das Kaufen des Brotes

2.3.1 Warum redet Jesus vom „Brot, damit diese zu essen haben“?

2.3.1.1 Das Brot des Sündenfalls

2.3.1.2 Das Brot der Weisheit

2.3.1.3 Das Brot des Opfers

2.3.1.4 Das Brot der königlichen Gastfreundschaft

2.3.2 Überprüfung einer Reihe von Anspielungen auf das Alte Testament

2.3.2.1 Vom Unterschied der griechischen Wörter kreas und sarx, „Fleisch“

2.3.2.2 Will Jesus „spirituellen Hunger“ als ein nicht vorhandenes Bedürfnis stillen?

2.3.2.3 Das Wissen Jesu und die Weisheit Gottes

2.3.2.4 Vom Kaufen des Brotes mit oder ohne Geld im Alten Testament

2.3.3 Woher kann man das Brot kaufen und in welchem Sinn muss man es kauen?

2.3.4 Parallelen zur Prüfung des murrenden Volkes Israel im Johannesevangelium

2.3.5 Das Brot, das „zu wenig“ oder „genug“ ist, und seine Hintergründe im Alten Testament

2.4 Die Versorgung mit Brot

2.4.1 Der paidarion als „Diener“, „Junge“ oder „Sohn“ in den jüdischen Schriften

2.4.2 Gerstenbrote – wichtig für die Ernährung Israels oder für rituelle Zwecke?

2.4.3 Fische bei Johannes und im Buch Tobias und die Wachteln aus dem Meer

2.4.4 Der Lagerplatz im Gras für 5000 Mann

2.4.4.1 Jesus als der Hirtenkönig und Psalm 23

2.4.4.2 Gras als Metapher von Schöpfung und Sündenfall oder für die Hoffnung auf Gerechtigkeit

2.4.4.3 Das Wort arithmos, „Zahl“, als Anspielung auf den „Rest“ Israels und ein neues Passahfest

2.4.5 Muss das Brot der Speisung als der Brotleib Jesu ungebrochen bleiben?

2.4.5.1 Warum bezeichnet Johannes Jesus nicht wörtlich als Gottes „Lamm“, probaton, sondern als amnos, rahel, „Mutterschaf“?

2.4.5.2 Wie deutet Johannes Jesu Tod von der Bindung Isaaks (1. Mose 22) her?

2.4.6 Ein besonderes Wort für die Sättigung: empiplēmi, „gefüllt werden“

2.4.7 Das Einsammeln des Brotes und die Sammlung Israels aus den Völkern

2.4.8 Brot, das nicht verderben soll, und Menschen, denen das Verderben droht

2.4.9 Der Überfluss des Übrigen

2.4.9.1 Opferreste, die verbrannt werden müssen, und das Lamm Gottes ohne zu verbrennende Reste

2.4.9.2 Die Speisung Restisraels mit zwölf Körben und der „Tag eins“ einer neuen Schöpfung

2.4.9.3 Präzedenzfälle im Alten Testament für Menschen, die gefressen werden

2.4.9.4 Jesu Tod am Kreuz als bewusst auf sich genommenes Sühneopfer, um die Verirrung der Weltordnung aufzuheben

2.4.9.5 Stellt Christi neues Opfer eine Umkehrung des alten Bundes, der alten Rituale, des ganzen Alten Testamentes dar?

2.4.9.6 Die übrigen Brocken, klasmata, und Hesekiels falsche Propheten

2.4.9.7 Die Körbe der Befreiung Israels und ihre Füllung zur Ernährung Israels

2.5 Ein König nicht von dieser Welt

2.5.1. Wer will Jesus aus welchen Gründen gegen seinen Willen zum König machen?

2.5.2 Ein König gemäß der Tora ist kein König, „wie ihn alle Völker haben“

2.5.3 Widersteht Jesus in Johannes 6,15 der Versuchung durch den Teufel?

2.5.4 Ist Jesus der flüchtende König und Gott? Ist er Mose, allein auf dem Berg?

2.6 Eine Art von Fazit

2.6.1 Zur Anspielung auf die jüdischen Schriften durch lexikalische Verschiebung

2.6.2 Warum Jesus bei Johannes der König Israels ist, aber kein neuer David

2.6.3 Jesu Göttlichkeit nach Johannes ist noch nicht diejenige der späteren Konzilien

2.6.4 Spiegelt sich im Versagen der Volksmenge das Versagen des Judentums?

2.6.5 Umkehrung alttestamentlicher Themen, vor allem im Blick auf Kult und Opfer

2.6.6 Jenseitige Eschatologie des Seelenheils oder tätige Erwartung einer neuen Weltzeit des Friedens?

 

Anmerkungen

„Nachtigall, ick hör dir trapsen!“

Durch Esther Kobels Buch „Dining with John“, <1> in dem sie zu belegen versucht, wie stark das Johannesevangelium durch Vorstellungen aus heidnischen Mysterienkulten und Blutsbruderschaftsriten geprägt ist, wurde ich auch aufmerksam auf ein Buch von Edmund Little aus Neuseeland <2> mit dem Titel Echoes of the Old Testament in the Wine of Cana in Galilee (John 2: 1-11) and the Multiplication of the Loaves and Fish (John 6: 1-15). Towards an Appreciation. Es geht zurück (1) auf „zwei an der École Biblique verfasste Dissertationen, durch die der Autor seine Neugier bezüglich des Wunders von Kana und der Brot- und Fischvermehrung im Johannesevangelium befriedigen“ und den Weg zu einer neuen Wertschätzung der beiden Texte ebnen wollte.

Meine Neugier wurde dadurch geweckt, dass Esther Kobel trotz ihres Interesses, heidnische Einflüsse auf das vierte Evangelium hervorzuheben, am Rande auch den Ansatz Littles würdigt, der, so Kobel 96f., „den alttestamentlichen Hintergrund“ der genannten Passagen aufzeigen will:

Little geht in beiden Untersuchungen davon aus, dass das Publikum des Evangeliums mit der Verwendung von Anspielungen auf die hebräische Schrift ebenso versiert und vertraut war wie der Autor. Dies impliziert, dass bestimmte Wörter und Sätze die Leser an Themen, Personen und Ereignisse in diesen Schriften erinnern würden.

… Verschiedene intertextuelle Anspielungen auf die jüdische Schrift werden im Detail behandelt und beweisen, dass das vierte Evangelium fest in der jüdischen Tradition verwurzelt ist.

Damit verfolgt Little einen ähnlichen Weg wie der biblische Theologe Ton Veerkamp, der in seiner Johannes-Auslegung Solidarität gegen die Weltordnung <3> davon ausgeht, dass das Griechisch des Evangeliums im Grunde verkleidetes Hebräisch ist, so dass man sich bei jedem Wort fragen muss, ob seine seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. üblich gewordene heidenchristliche Bedeutung tatsächlich der ursprünglichen Aussageabsicht entspricht. Ganz so weit wie Veerkamp geht Little allerdings insofern nicht, als er fast ausschließlich den Rückbezug des Johannesevangeliums auf die griechische Übersetzung der hebräischen Schriften, die Septuaginta (LXX) behandelt, und nicht deren hebräische Urform selbst. <4> In den beiden Abschnitten des Evangeliums, die Little behandelt, geht er sehr gründlich vor und stellt auch Zusammenhänge her, die Ton Veerkamp nicht berücksichtigt.

In meiner Hoffnung, Little würde das Johannesevangelium durch den Rückbezug auf das Alte Testament auch inhaltlich ähnlich wie Veerkamp auslegen, wurde ich leider enttäuscht. Da er an vielen Stellen sogar weit hergeholte Verbindungen zu rituellen jüdischen Vollzügen herstellt, kam es mir schon bald so vor, als ob ich die berühmte Nachtigall trapsen hörte: Edmund Little als katholischer Theologe will tatsächlich beweisen, dass die von ihm untersuchten Passagen die Art und Weise beschreiben, wie Jesus im Johannesevangelium die Feier der Eucharistie mit Wein und Brot für seine Gemeinde einsetzt. Damit verbindet er die Überzeugung, dass Johannes nicht etwa als Jude den Messias Jesus von den jüdischen Schriften her begreift, sondern dass Jesus in seiner Eigenschaft als fleischgewordener Gott alle jüdischen Vorstellungen von Befreiung und Erlösung himmelhoch übertrifft, ablöst und überflüssig macht (3):

In Jesus wird die Geschichte Israels mit seinen Patriarchen, Priestern, Propheten und Königen aufgegriffen und durch den fleischgewordenen Logos, der das Lamm, die Weisheit, die Macht und die Herrlichkeit Gottes ist, übertroffen.

Letzten Endes wird bei Little aus der jüdischen Hoffnung auf das Leben der kommenden Weltzeit in Freiheit, Recht und Frieden, die der Messias anbrechen lässt, eine christliche Hoffnung auf die Errettung der Seelen in den Himmel durch den Glauben an Jesus Christus.

Ist es also völlig gleich, ob man das Johannesevangelium von den jüdischen Schriften oder von heidnischen Einflüssen her auslegt? Kommt in jedem Fall heraus, dass Johannes die jüdische Bibel nur als Steinbruch benutzt, aus deren Material eine neue christliche Religion mit dem allein selig machenden Jesus Christus erbaut wird?

Ohne Zweifel hat das schon bald dominierende Heidenchristentum das Evangelium des Johannes genau so ausgelegt. Es hat die jüdischen heiligen Schriften zwar nicht, wie es Markion wollte, ganz ad acta gelegt, aber doch als letztlich überholtes Altes Testament abqualifiziert und seine Hoffnungen auf eine Veränderung des irdischen Lebens der Menschen durch Hoffnungen auf ein ewiges Leben im Jenseits ersetzt.

In meinen an Ton Veerkamp geschulten Augen entspricht das jedoch ganz und gar nicht den ursprünglichen Absichten des vierten Evangeliums. Vielmehr ist Johannes ursprünglich an der Befreiung Israels aus der Sklaverei der im 1. Jahrhundert weltweit herrschenden Römischen Weltordnung interessiert.

Auch mir kann man vorwerfen, dass ich mir das Johannesevangelium zurechtbiege, so dass es in meine Vorstellungswelt hineinpasst. Und wer in Ton Veerkamps Auslegung die Nachtigall sozialistischen Gedankenguts der Arbeiterbewegung trapsen hört, aus dem er wertvolle Impulse zur Bibelauslegung gewinnen konnte, hat keine schlechten Ohren.

Die Frage ist letzten Endes, ob die Wünschelrute der Interessen und Gedanken, von denen man sich bei der Exegese leiten lässt, in einen Text nur hineinliest, was niemals in ihm drin oder auch nur angelegt war, oder ob sie dazu geeignet ist, ursprüngliche Aussageabsichten aufzuspüren, die durch eine Jahrhunderte lang dogmatisierte Auslegung verschüttet waren.

Das Ziel meiner Besprechung des Buches von Edmund Little ist daher, eingehend zu prüfen, welche Nachtigall denn nun tatsächlich im Johannesevangelium ursprünglich ihren Gesang erhoben hat:

  1. War es, wie er meint, ein christlicher Vogel, der den Genuss eines von Jesus Christus eingesetzten Abendmahls mit Brot und Wein preist, um die Vergebung der Sünden und das ewige Leben nach dem Tod zu gewinnen?
  2. Oder erklang hier der Gesang eines jüdischen Messianisten, dem weder der Sinn stand nach Ritualen, die ihres Sinnes entleert sind, wenn sie nicht den Geist der Befreiung atmen, aus dem sie entstanden sind, noch nach neuen Ritualen einer Erlösung, die über die Sorgen der Entrechteten und Unterdrückten auf der Erde unter dem Himmel Gottes hinweggehen? Die erste Feier des Passah hatte zu Moses Zeiten die Befreiung aus Ägypten eingeleitet. Unter den Bedingungen der weltweiten Versklavung unter die römische Herrschaft ist nach Johannes ein neues Passah der Befreiung notwendig, um die messianische Hochzeit Gottes mit seinem Volk Israel herbeizuführen, nämlich den Anbruch des erfüllten Lebens der Weltzeit, die kommen soll. Dieses neue Passahfest leitet der Messias Jesus durch seinen Tod und sein Aufsteigen zum Gott Israels ein; so ist die Überwindung der Weltordnung zwar schon besiegelt, aber noch nicht vollendet; sie vollzieht sich darin, dass diejenigen, die auf Jesus vertrauen, von Jesus den Geist der Treue des Gottes Israels empfangen und nach dem neuen Gebot der agapē, einer „solidarischen Liebe“, leben. Wenn man bei Johannes überhaupt von der Einsetzung eines Ritus sprechen will, dann allenfalls vom Sakrament der Fußwaschung, bei der sich der Herr zum Sklaven macht und jede Versklavung anderer Menschen ausschließt.

Ich werde den letzteren Gedankengang begründen und wende mich zugleich gegen Littles Schlussfolgerungen, die den ersteren belegen sollen.

Dankbar bin ich Edmund Little für zahlreiche Hinweise auf Rückbezüge des Johannesevangeliums zum griechischen Alten Testament (Septuaginta, LXX), die Ton Veerkamp zum Teil außer Acht gelassen hat und die mich dazu herausgefordert haben, manche meiner Sichtweisen noch einmal zu überdenken und zu verändern.

Ein erstes interessantes Detail, das mir bisher nicht bewusst gewesen war, taucht am Rande bereits im ersten Absatz der Einleitung seines Buches auf (1), in dem es ihm hauptsächlich darum geht, sich von Rudolf Bultmann abzugrenzen und sich auf Marie-Émile Boismard zu berufen, dessen Einsichten er folgt:

Bultmann hält beide Wunder für heidnische Mythen, die auf Jesus angewandt werden. <5> Boismard besteht darauf, dass der johanneische Christus vor allem in der Tradition der Propheten, insbesondere des Mose, steht, die von Gott gesandt wurden, um den Menschen seinen Willen zu offenbaren. <6> Jesus ist nicht nur der Prophet wie Mose in 5. Mose 18,18, sondern auch Gott und Weisheit, <7> „der Sohn Josephs“ <8> und König.

Mir war nicht klar gewesen, dass Jesus im Johannesevangelium als Josefs Sohn nicht nur im Sinne einer leiblichen oder Kindschaft verstanden werden konnte, sondern auch als Sohn des biblischen Josef im übertragenen Sinne. Oder kann es sogar sein, dass man überhaupt nicht wusste, wie der Vater Jesu hieß, sondern auf ihn den Namen des alttestamentlichen Josef übertrug, da Jesus unter anderem auch als zweiter Josef verehrt wurde?

Für Matthäus würde das noch mehr Sinn machen, da Josef in seinem Evangelium ebenso von Träumen geleitet wird wie der Sohn Jakobs, und ebenso wie dieser wird er in eine enge Verbindung mit Ägypten gebracht. <9> Johannes wiederum könnte Jesus insofern mit Josef in Verbindung bringen, dass beide die Ernährung Israels sicherstellen, denn die Worte der Mutter des Messias an die Diensthabenden bei der Hochzeit zu Kana (2,5): „Was er euch sagt, das tut“, nehmen auf, was der Pharao (1. Mose 41,55) den Ägyptern in der Hungersnot im Blick auf Josef sagt: <10>

Als nun ganz Ägyptenland auch Hunger litt, schrie das Volk zum Pharao um Brot. Aber der Pharao sprach zu allen Ägyptern: Geht hin zu Josef; was der euch sagt, das tut.

Eingehender wird Little diesen Bezug auf Josef aber später nur am Rande aufgreifen.

1 Wein im Alten Testament und bei der Hochzeit zu Kana

Nun folge ich kommentierend dem Verlauf von Littles Buch und beginne mit seiner ersten Dissertation zur Metapher des Weins in Johannes 2,1-11.

1.1 Das problematische Weinwunder – eins von drei besonders hervorgehobenen Zeichen

Zum Weinwunder zu Kana bemerkt Little gleich am Anfang (1), wogegen er sich wehrt, erstens gegen Bultmanns Auffassung, dass „Jesus zu Kana niemand anders ist als Dionysos in einer Maske, der griechische Gott des Weines, verkleidet als jüdischer Messias“, und zweitens gegen „andere Kommentatoren“, für die „der Wein selbst mehr als das Heidentum das Problem darstellt“. Daher konzentriert er sich bei der „Untersuchung des alttestamentlichen Einflusses auf die Kana-Erzählung auf den umstrittenen Wein“, verzichtet aber darauf, sich zur Frage „der Historizität des Wunders“ festzulegen,

außer sich über den Dogmatismus derer zu wundern, die Wunder nicht mögen oder den Herrn vom Alkohol fernhalten wollen. Hätte man den Wein als etwas an sich Böses betrachtet, so hätte er von Jesus oder dem Evangelisten nicht als Symbol für etwas Gutes verwendet werden können. Das Alte und das Neue Testament wissen sehr wohl um die Gefahren des Weintrinkens, betrachten den Wein aber trotz der Tendenz des Menschen, ihn zu missbrauchen, als Geschenk Gottes. Das Wunder muss also nicht als rein symbolisches Ereignis „wegerklärt“ werden. Ob Gleichnis oder Geschichte, es zeigt die Barmherzigkeit Jesu, der eingreift, um eine soziale Katastrophe abzuwenden.

Unter den exegetischen Problemen, die sich mit der Hochzeit zu Kana verbinden, bemerkt Little nebenbei, dass Brown <11> (Anm. 25) „auf einen Konflikt mit Markus 6,5 aufmerksam macht, wo Jesus unfähig war, in seinem eigenen Land ein Wunder zu tun. Hier vollbringt er eine Wundertat in Galiläa.“

Interessant finde ich hierbei, dass Brown sich einerseits irren muss, denn Jesus vollbringt auch nach Markus eine ganze Reihe von Wundertaten in Galiläa. Andererseits ist es richtig, dass Jesus nach allen synoptischen Evangelien in Nazareth, seiner Vaterstadt, patris, nicht anerkannt wird und so gut wie keine Wunder tun kann (Matthäus 13,54.57-58; Markus 6,1.4-5; Lukas 4,23-24). Johannes weicht aber insofern von den synoptischen Evangelien ab, als er das Wort Jesu (4,44), „dass ein Prophet in seiner Vaterstadt nichts gilt“, nicht auf Nazareth in Galiläa, sondern auf Jerusalem bezieht, die Stadt des Gottes Israels, den Jesus seinen VATER nennt. <12>

Weiter erwähnt Little (10), dass „Jesus bei Matthäus und Lukas sich geweigert hatte, Steine in Brot zu verwandeln“ (Matthäus 4,4, Lukas 4,4), hier aber „verwandelt er Wasser in Wein, das einzige Wunder im Neuen Testament, das mit der Verwandlung einer Substanz in eine andere einhergeht“. Und er beschäftigt sich ausführlich mit Gelehrten und Kirchengemeinden (12), die über „die offensichtliche Ermutigung zum starkem Alkoholkonsum“ durch die Tat Jesu und „den Einsatz seiner Kräfte für einen unbedeutenden Zweck“ beunruhigt sind. <13>

Eine besondere Schwierigkeit für die Deutung der Kana-Erzählung sieht Little darin (13), dass „der Evangelist selbst keinen erklärenden Kommentar zum Wunder liefert“, was er in anderen Zusammenhängen durchaus tut (Anm. 38), sei es durch Bemerkungen des Erzählers (2,21; 7,39; 9,7; 11,13.51; 12,16.33; 21,19) oder indem Jesus selbst seine Taten erläutert (4,32-34; 13,14-15).

Nach Kana folgt keine Rede, um etwas zu verdeutlichen. Der Schreiber, der es für nötig hielt, die Gefäße der jüdischen Reinigung zu erklären (Johannes 2,6), sieht keine Notwendigkeit, in derselben Perikope den Wein zu „erklären“.

In diesem Zusammenhang (Anm. 39) erwähnt Little den Hinweis der beiden Exegeten Brown und Schnackenburg <14>, dass

es auch nach der Heilung des Sohnes des Beamten, dem zweiten Zeichen (Johannes 4,46-54) keine Rede gibt. Beide Gelehrte übersehen das Fehlen von Kommentaren und Reden beim „dritten Zeichen“, dem Fischwunder in Johannes 21.

Damit bestätigt Little den Zusammenhang der drei einzigen Zeichen im Johannesevangelium, die mit einer Zahlenangabe versehen sind (wobei das erste Zeichen wörtlich nicht als das „erste“, protēn, sondern als der „Anfang“, archēn, der Zeichen bezeichnet wird).

Little zieht daraus keine weiteren Schlüsse. Man mag aber überlegen, ob Johannes diesen drei Zeichen deswegen keine erläuternden Zusätze hinzufügt, da sie dem gesamten Evangelium seine besondere Struktur geben. <15>

1.2 Wein in den jüdischen Schriften

Zunächst untersucht Little eingehend (17ff.) die hebräischen Wörter, die in den jüdischen Schriften für „Wein“ verwendet werden: jajin kommt 141mal vor, thirosch 38mal, bis zu je 5mal die weiteren Wörter ˁassiss, ssobeˀ und shemer. Hinzu kommt das aramäische Wort chemar. Die (19) griechische Septuaginta übersetzt diese Wörter fast überall mit oinos, auch im Neuen Testament kommt für „Wein“ fast nur oinos vor.

1.2.1 Wein als Segensgabe Gottes

Grundsätzlich gilt Wein in den jüdischen Schriften als eine Segensgabe Gottes, insbesondere (20) als ein Zeichen des Überflusses im Gelobten Land. Nach 1. Könige 5,5 (auch Micha 4,4; Sacharja 3,10; 1. Makkabäer 14,12) ist es „ein sprichwörtliches Zeichen des Wohlergehens, dass jeder von Dan bis Beerscheba unter seinem eigenen Weinstock und Feigenbaum wohnen“ kann. Umgekehrt gilt es als eines von vielen Kennzeichen einer Strafe Gottes, die über Israel hereinbricht, dass „Korn und Wein“ verschwinden (Klagelieder 2,12). Häufig (21) wird Wein mit Lebensfreude in Verbindung gebracht, im Hohelied Salomos sogar mit den Freuden erotischer Liebe.

1.2.1.1 Königlicher Wein und Gott als Gastgeber

Wenn Könige im Zusammenhang mit Wein erwähnt werden, kann es um rauschende Feste gehen, aber auch um die unrechtmäßige Aneignung eines Weinbergs (1. Könige 21), vor der bereits der Prophet Samuel gewarnt hatte (1. Samuel 8,14). Aber (22) nicht nur Könige feierten Feste, bei denen reichlich Wein floss:

Dem Volk wird befohlen, das Laubhüttenfest zu feiern, wenn es die Erträge von Tenne und Kelter einsammelt. Freude ist nicht freigestellt, sondern ein Gebot (5. Mose 16,13-15). Simsons Hochzeitsmahl dauert sieben Tage (Richter 14,12.17). Ben Sirach vergleicht die Musik zu einem guten Wein mit einem Smaragdsiegel in einer goldenen Fassung (Sirach 32:5). Das Andenken an Josia hält er für so angenehm wie Musik bei einem Weinfest (Sirach 49:1).

Gott selber (23) kann sowohl als Gastgeber als auch als Teilnehmer eines Festmahls dargestellt werden; so gibt Gott nach der griechischen Übersetzung von Psalm 23,5 dem Psalmbeter einen überfließenden Becher mit berauschendem Inhalt.

1.2.1.2 Das Weinwunder zu Kana und die Bundesschlüsse im Alten Testament

So weit, so gut. Dann allerdings fügt Little eine Argumentation ein, bei der ich die berühmte Nachtigall trapsen höre, ohne schon genau zu wissen, worauf sie hinaus will. Unter der Überschrift „Wein und Bund“ führt er nämlich im Anschluss an „das Konzept der Tischgemeinschaft mit Gott“ biblische Texte auf, die belegen sollen, dass „festliches Essen und Trinken einen wesentlichen Bestandteil zur Besiegelung eines Bundes“ darstellen. Bei genauem Hinsehen stellt sich aber heraus, dass der Wein als Getränk zu all den von ihm angeführten Anlässen nirgends ausdrücklich auftaucht, insbesondere in 2. Mose 24 weder beim Bundesschluss mit dem Blut des Bundes (24,3-8) noch beim Festmahl der Ältesten Israels mit Gott (24,9-11) und nicht einmal beim Tanz um das Goldene Kalb mit anschließendem Essen und Trinken (2. Mose 32,6), durch den der eben geschlossene Bund gebrochen wird.

Die nachfolgenden Sätze machen deutlich, dass Little offenbar nachweisen will, dass das Weinwunder bei der Hochzeit zu Kana etwas mit den Bundesschlüssen im Alten Testament zu tun hat. Aber da er wohl selbst merkt, wie dünn hier die Luft seiner Argumentation geworden ist, fügt er ergänzende Argumente hinzu:

Das Handeln Jesu zu Kana wird ein „Zeichen“ genannt (Johannes 2,11), ein Wort, das starke Assoziationen an einen Bund weckt. Der Regenbogen am Himmel ist ein Zeichen für den Bund zwischen Noah und allen Lebewesen (1. Mose 9,12-13). Auch die Beschneidung wird als Zeichen des Bundes zwischen Gott und Israel gesehen (1. Mose 17,11).

Diese beiden Beispiele weisen aber keineswegs nach, dass das Zeichen des Weinwunders bei der Hochzeit zu Kana tatsächlich mit dem Thema des Bundes zu tun hat. Immerhin kommt das Wort Bund, diathēkē, im gesamten Johannesevangelium kein einziges Mal vor. Das Wort „Zeichen“, sēmeion, gibt es im Alten Testament aber nicht nur an den genannten Stellen, sondern insgesamt etwa 120mal. Es werden noch weitere Argumente notwendig sein, um Littles Behauptung zu begründen.

1.2.1.3 Der Wein eschatologischen Überflusses und die messianische Hochzeit

Vielversprechender auf der Suche nach Zusammenhängen der Hochzeit zu Kana mit den jüdischen Schriften sind Vorstellungen von der Weltzeit, die kommen soll, die von Theologen „eschatologisch“ genannt werden, „mit den letzten Dingen zusammenhängend“. Dabei schleicht sich leicht, wie Ton Veerkamp darlegte, <16> das Missverständnis ein, als gebe es nach dem Jüngsten oder Letzten Tag keine weiteren Tage mehr, als ziele die Apokalypse auf ein absolutes Weltende. Ganz im Gegenteil meint jedoch die biblische Vorstellung vom Tag der Entscheidung lediglich ein Ende der Tage der Unfreiheit und Unterdrückung, von Schmerz und Leid, und danach brechen die Tage der neuen Weltzeit des Friedens in Freiheit und Gerechtigkeit an.

Tatsächlich werden apokalyptische Vorstellungen (23) mit einem Überfluss an Wein in Verbindung gebracht, zum Beispiel im 1. Buch Henoch (10,19) oder in der Syrischen Baruch-Apokalypse (2. Baruch 29,5-8). Schon (24) der Prophet Amos (9,11-14) sieht eine Zukunft unter einem neuen König David, in der wieder Wein gekeltert und getrunken wird.

Der Prophet Jesaja allerdings geht nach Edmund Little weit über derartige Visionen hinaus:

Er stellt sich ein Festmahl vor, das der Herr der Heerscharen für alle Völker bereitet, ein Festmahl mit reichen Speisen und edlen Weinen. Der Tod wird für immer verschlungen sein (Jesaja 25,6-8). Irdische Könige geben ein Festmahl für ihre Edelleute. Gott, als universaler König, bereitet Speisen und Wein für alle Völker zu. Der Text blickt über die bloße Wiederherstellung des sündigen Israel hinaus auf einen Punkt, an dem Zeit und Geschichte der Ewigkeit weichen.

Nichts in der jesajanischen Darstellung und im Kontext der gesamten jüdischen Schriften deutet jedoch darauf hin, dass Jesaja mit der Überwindung des Todes tatsächlich eine Vorstellung von Ewigkeit verbindet, die auf eine jenseits dieser irdischen Wirklichkeit liegende Welt im Himmel hinausläuft.

Noch spannender ist ein weiteres prophetisches Bild, auf das Little eingeht, nämlich

die Vorstellung von Gott als Bräutigam Israels, die Jesaja in den Kontext der Wiederherstellung Israels stellt. Gott ruft sie zu sich zurück wie eine verlassene Frau. Der Schöpfer ist ihr Ehemann und ihr Erlöser (Jesaja 54,4-8). Das Bild wird in Jesajas Gedicht über die glorreiche Zukunft Jerusalems weitergeführt. Die Stadt wird „Meine Lust ist in ihr“ heißen und das Land „Die Verheiratete“. Das Land wird seine Hochzeit haben, und der Herr wird sich über sie freuen wie ein Bräutigam über seine Braut (Jesaja 62,4-5). Die kanonischen Texte enthalten keine ausdrückliche Beschreibung eines Hochzeitsfestes, mit dem die Hochzeit Israels mit seinem Gott gefeiert wird. Das Bild der Braut ist jedoch unverkennbar, und eine Hochzeit ohne Wein war undenkbar. In Hosea wird das Bild Israels als Ehefrau Gottes noch deutlicher formuliert. Sie ist eine untreue Ehefrau geworden, eine Hure. Sie ist nicht mehr seine Frau und er nicht mehr ihr Mann (Hosea 1,2; 2,4), aber wenn sie sich versöhnt haben, wird er ihr die Weinberge zurückgeben (Hosea 2,17). Er verlobt sich in Treue mit Israel, und die Erde wird ihm mit Getreide, neuem Wein und Öl antworten (Hosea 2,23-24).

Unter all den Zusammenhängen, die Little für den Wein der Hochzeit zu Kana in der jüdischen Bibel sucht, geht er ausgerechnet auf diese passendste aller Übereinstimmungen nur recht beiläufig ein. Dabei sollte doch gerade eine Hochzeit, die ohne Wein nicht gefeiert werden kann, die erste Kandidatin für einen stimmigen Rückbezug der johanneischen Erzählung auf die prophetischen Verheißungen Israels sein.

In diesem Fall unterlässt es Little, das Bild der Hochzeit des Gottes Israels mit seinem Gott in einem verjenseitigten Sinn auszulegen, sondern er beschränkt sich darauf, die diesseitigen Zukunftsbilder der Propheten wiederzugeben: das Land mit neuem Getreide, Wein und Öl wird Israels wieder gehören. Offen bleibt aber, inwiefern Gott als der „Erlöser“, goˀel, Israels verstanden wird. Ein goˀel, ein „Löser“, war ja ursprünglich, wie aus dem Buch Ruth hervorgeht, ein Mensch, der einem in Not geratenen nahen Verwandten aus seiner Not, etwa einer Schuldknechtschaft, heraushelfen konnte. Im Christentum wurde auch diese Vorstellung, auf Gott übertragen, ausschließlich im Sinne der Erlösung von Sünde und Tod im Himmel verstanden. Die Befreiung aus diesseitiger Unterdrückung und Knechtschaft kann dabei unwichtig werden und auf der Strecke bleiben.

Den zum Verständnis von Hosea entscheidenden Vers 2,18 lässt Little ganz außer Acht:

An jenem Tage geschieht‘s, spricht der HERR, da wirst du mich nennen „Mein Mann“ und nicht mehr „Mein Baal“.

Ein baˁal ist nach den jüdischen Propheten der Prototyp eines fremden Gottes, der dem befreienden NAMEN des Gottes Israels absolut entgegensteht, ein Unterdrückergott, der sein Volk besitzt und ausbeutet, statt ihm solidarisch, in Liebe, zur Seite zu stehen. Der Gott Israels will von Israel auf Augenhöhe von Israel angesprochen werden, als „mein Mann“, ˀisch, von seiner Frau, ˀischa, wie Gott auch die Menschen in ihrer partnerschaftlichen Zuordnung zueinander geschaffen hat (1. Mose 2,23), und nicht als „mein Baal, mein Besitzer“. Wenn Johannes diese allttestamentlichen Stellen im Sinn hat, indem er von der Hochzeit zu Kana erzählt, dann wird deutlich, dass er als prinzipielles Zeichen Jesu einen Vorgeschmack auf die messianische Hochzeit beschreiben will, durch die Israel sich nicht mehr dem römischen Kaiser als einem baˁal, König und Besitzer, unterwerfen muss, sondern im Friedensreich Gottes und einzigen Königs, der „mein [geliebter] Mann“ genannt wird, in Freiheit leben darf. <17>

1.2.1.4 Wein als Opfer und als Blut

Da Edmund Little, wie gesagt, letzten Endes auf eine rituelle Bedeutung des Weins zu Kana im Blick auf das christliche Abendmahl hinaus will, ist es nicht verwunderlich (24), dass er großen Wert auf die alttestamentlichen Stellen legt, in denen Bestimmungen über den Wein als Opfergabe im Jerusalemer Tempel festgelegt sind. Auch erwähnt er (1. Mose 14,17-20) den Priesterkönig Melchisedek, der „Brot und Wein herausbringt und Abraham segnet“.

Interessant ist (25), was Little über die Zusammenhänge zwischen Wein und Blut im Alten Testament herausfindet.

Grundlage für den jüdischen Umgang mit Blut ist das noachidische Gebot (1. Mose 9,4), in dem Blut mit dem Leben identifiziert wird. Aus diesem Grund ist es strikt verboten, das Blut von Tieren oder Menschen zu trinken (Anm. 87):

Wer das Blut eines Vogels oder eines Tieres isst, wird aus dem Volk ausgestoßen (3. Mose 7,26; 17,10.14).

In derselben Anmerkung fügt Little jedoch die Bemerkung hinzu:

In anderen Kulturen wurden Menschenfleisch und -blut gegessen, weil sie das Leben des Menschen enthielten. Man ging davon aus, dass ihre Tugenden auf den Esser übergingen.

Kann es sein, dass das noachidische Gebot genau dieser Vorstellung, sich durch das Essen eines Opfertieres oder das Trinken von Menschenblut die besonderen Kräfte dieses Menschen oder Tieres einzuverleiben, einen Riegel vorschieben wollte? In der Regel ging es bei solchen Ritualen um Opfertiere, die als Verkörperung heidnischer Gottheiten verstanden wurden, wie Esther Kobel <18> darlegt. So gesehen erscheint es völlig ausgeschlossen, dass der johanneische Jesus auf dionysische Riten zurückgegriffen haben sollte, als er seine Schülerschaft provokativ dazu aufrief, sein Blut zu trinken (Johannes 6,53-55) – allenfalls konnte er dies in ironischer Absicht tun und vielleicht sogar, um zur Vorsicht gegenüber der Abendmahlspraxis anderer messianischer Gemeinden zu mahnen. <19>

Was taten Juden mit dem Blut? Beim Schlachten von Tieren wurde es (5. Mose 12,16) auf die Erde geschüttet wie Wasser. Blut von Opfertieren diente aber auch zu Zwecken der rituellen Reinigung und Sühne, indem es an den Altar gesprengt wurde.

Was hat nun Wein mit Blut zu tun? Edmund Little schreibt dazu:

Als Jesus beim letzten Abendmahl den Wein mit seinem eigenen Blut gleichsetzte, setzte er damit ein Thema fort, das bereits im Alten Testament verankert ist. Nach Jakobs Zeugnis wird Juda seine Gewänder im „Blut der Trauben“ waschen (1. Mose 49,11). Der Herr gibt Israel das Blut der Weintrauben zu trinken (5. Mose 32,14)…

Außerdem betont er (26), dass „während des Exils unter persischem und babylonischem Einfluss“ begonnen wurde, Wein an Stelle von Blut für rituelle Zwecke zu verwenden:

In einem fremden Land und ihres Tempels beraubt, konnten die Juden keine Blutopfer mehr darbringen. Stattdessen opferten sie Wein.

Ein solches (25) „Trankopfer mit Wein, nicht mit Blut, am Fuß des Altars am Versöhnungstag“ wird nach Sirach 50,15 im 3. Jahrhundert v. Chr. vollzogen, und (26)

im Herodianischen Tempel … als einem heiligen Schlachthaus muss eine enorme Menge an Blut und Wein geflossen sein. Es wäre nicht abwegig, einen Überfluss an Wein mit Blut, Tod, Sühne, Gericht und Erlösung in Verbindung zu bringen.

Gegen das letztere Argument wäre einzuwenden, dass nicht jeder Überfluss an Wein als solcher, wie er bei der Hochzeit zu Kana erwähnt wird, auf rituelle Vollzüge schließen lässt. Würde Jesus nach Johannes wie in den anderen Evangelien bei der letzten Mahlzeit vor seinem Tod den Ritus des Abendmahls einsetzen, läge ein solcher Zusammenhang nahe. Aber Johannes ersetzt bei diesem Anlass (Johannes 13) einen solchen Ritus durch die Fußwaschung, er erwähnt nicht einmal das Trinken von Wein und vergleicht auch nirgends Wein mit Blut. Darauf geht Little mit keinem Wort ein.

1.2.1.5 Wein und Weisheit

In einem kurzen Absatz, den man leicht übersehen könnte (26), kommt Little auf den Wein zu sprechen, den die als Frau dargestellte Weisheit, „die Anteil an der göttlichen Natur hat und ein Werkzeug der Schöpfung ist (Sprüche 8,22-31; Weisheit 7,22-8,1)“, im Buch der Sprüche (9,1-6) zu einem Festmahl serviert. Ganz unvermittelt schreibt Little im nächsten Satz:

Durch Jesaja ruft Gott selbst das Volk auf, zum Wasser zu kommen, um Wein und Milch ohne Geld zu kaufen. Warum Geld ausgeben für etwas, das kein Brot ist? Er verspricht ihnen reiche Nahrung, Leben und einen ewigen Bund (Jesaja 55,1-3).

Ob man jedoch ganz so einfach die Verheißungen des Propheten Jesaja vollständig mit der in der Weisheitsliteratur vertretenen Haltung identifizieren kann, müsste genauer untersucht werden (mehr zum Thema „Weisheit“ siehe im Abschnitt 1.3.2.1 und Abschnitt 1.3.2.11).

1.2.2 Wein als ein Übel

Nachdem Little (26) eine solche Menge an „historischen und theologischen Hintergründen im Alten Testament“ betrachtet hat, scheint „die Ehrenhaftigkeit des Weins als geeignetes Motiv für eine Wundergeschichte“ erwiesen zu sein. Allerdings könnte sich „ein Gegner von Kana auf andere, weniger ermutigende Texte stützen“.

Die Tora erzählt Geschichten im Zusammenhang mit der Trunkenheit durch Weingenuss (1. Mose 9,18-27; 19,30-38), die (27) bei frommen Bibellesern Empörung hervorrufen. In der „prophetischen Literatur wird die Trunksucht scharf verurteilt“, ebenso in der Weisheitsliteratur. Übermäßiger Konsum von Wein oder überhaupt von Alkohol (28) kann zum Problem sowohl für Könige als auch für Priester und Propheten werden.

Sowohl (29) die Tora (5. Mose 32,32.38) als auch die Propheten (Jesaja 57,6; 59,11; Jeremia 7,18; 32,29; Hesekiel 20,28) verurteilen den Wein als Trankopfer für falsche Götter. Aber auch im israelitischen Kult selbst gibt es Verbote, Wein zu trinken, etwa für Menschen, die sich als nasir für Gott weihen (4. Mose 6,1-5), oder für Priester im Zelt der Begegung (3. Mose 10,7) oder im inneren Hof des Tempels (Hesekiel 44,21). Dem entspricht auch, dass die oben erwähnten Trankopfer mit Wein erst seit dem Exil üblich wurden; offenbar wurden entsprechende Bestimmungen erst nachträglich in die Tora eingefügt. <20>

Da in vielen Erzählungen (30) Wein nicht vorkommt, in denen er zu erwarten wäre, etwa bei der Bewirtung der drei Boten Gottes durch Abraham (1. Mose 18,1-15) oder des Königs Saul durch die Hexe von Endor (1. Samuel 28,24), bleibt offen, ob Wein oder nicht vielmehr Wasser das übliche Getränk bei Mahlzeiten war, außer bei einem Festmahl.

1.2.3 Die doppelte Bedeutung des Weines

Damit ist deutlich geworden (31), dass der „Wein in der Schrift positive und negative Bilder hervorruft.“

1.2.3.1 … im Alten Testament

Edmund Little fasst die Haltung der jüdischen Heiligen Schrift gegenüber dem Wein folgendermaßen zusammen (32): „Der Missbrauch, nicht der Gebrauch, ist das Ziel von Spott und Verurteilung.“ Oder, etwas ausführlicher (33):

Ben Sirach bringt die moralische Situation auf den Punkt, wenn er das Blut der Weintraube zusammen mit Wasser, Feuer, Eisen, Salz, Weizenmehl, Milch und Honig, Öl und Kleidung zu den wichtigsten Bedürfnissen des Menschen zählt. All diese Dinge hält er für die Guten für gut, während sie für die Sünder zum Übel werden (Sirach 39,26-27). Die Wahl, so folgert er, liegt bei den Menschen, die sie benutzen. Derselbe Gedanke der Wahl kommt im Bild des Weinbergs zum Ausdruck, der Israel ist. Der Herr hat es auf einen fruchtbaren Hügel gepflanzt (Jesaja 5,1-2), als einen Weinstock von gesundem Stamm (Jeremia 2,21). Es liegt an seiner eigenen Wahl, ob es wilde Trauben hervorbringt (Jesaja 5,2.4) oder sich in die Setzlinge eines fremden Weinstocks verwandelt (Jeremia 2,21).

1.2.3.2 … im Neuen Testament

Für die Zeit Jesu hatte Little bereits im Zusammenhang mit seinen Betrachtungen zum Alten Testament (31) im Anschluss an Dix <21> erwähnt,

dass Wein im Palästina des ersten Jahrhunderts auch für die Ärmsten erschwinglich war und dass seine Abstinenz als Kennzeichen professioneller Asketen wie der Essener und des Täufers galt, von denen sich unser Herr Jesus stets distanzierte.

Außerdem betont Little nochmals (33), dass sich

zur Zeit Jesu der Wein im jüdischen Gottesdienst etabliert hatte. Ein goldener Weinstock schmückte den Säulengang des herodianischen Tempels, was einige Heiden zu der Annahme verleitete, die Juden würden Dionysos verehren. Die Tatsache, dass der Wein zu diesem Zeitpunkt bereits ein fester Bestandteil des Passahmahls war, spricht für seine Akzeptanz und Ehrbarkeit.

Weiter legt Little dar, dass der Wein auch im Neuen Testament differenziert betrachtet wird. „Es folgt der weisheitlichen und prophetischen Tradition in ihrer Verurteilung übermäßigen Trinkens.“ Man ist sich der Gefahren bewusst, die in der Versklavung unter den Alkohol liegen (vgl. etwa Titus 2,3), aber

Jesus predigt und praktiziert keine Abstinenz vom Wein und wird als Weinsäufer bezeichnet (Matthäus 11,18; Lukas 7,34). … Der Herr heiligt den Wein durch seine Gegenwart und sein Handeln beim letzten Abendmahl, wo der Wein bei den Synoptikern und bei Paulus (1. Korinther 11,23-27) mit seinem Blut identifiziert wird.

Dazu betone ich nochmals: Johannes mag den Ritus des Abendmahls gekannt haben, aber er erwähnt in seinem Evangelium weder dessen Einsetzung noch überhaupt den Genuss von Wein beim letzten Mahl mit seinen Schülern.

1.2.3.3 … im Verhältnis zum Geist Gottes

Im letzten Abschnitt des zweiten Kapitels beschreibt Little einen Zwiespalt in der biblischen Haltung zum Wein, der mit religiöser Erfahrung selbst zu tun hat (34):

Die doppelte Bedeutung des Weins zeigt sich auch in Texten, in denen göttliche Ekstase mit Trunkenheit verwechselt wird. Eines der kühnsten Bilder von Gott im Alten Testament zeigt ihn, wie er aus dem Schlaf erwacht, wie ein Mann, der aus einem alkoholischen Rausch erwacht (Psalm 78,65), und sich aufmacht, die Feinde seines Volkes zu rächen. Jeremia vergleicht sich selbst mit einem Betrunkenen, der wegen des Herrn und seiner heiligen Worte vom Wein überwältigt ist (Jeremia 23,9). Eli sieht Hanna beten und schließt fälschlicherweise, dass sie betrunken ist (1 Samuel 1,12-13). Jesus wird Fresser und Weinsäufer genannt (Lukas 7,33-35). Die geisterfüllten Jünger werden für betrunken gehalten (Apostelgeschichte 2,13). Vielleicht hat Paulus diese Episode im Sinn, wenn er den Ephesern sagt, sie sollten vom Geist erfüllt und nicht vom Wein berauscht sein (Epheser 5,18).

Daraus schließt Little (35), dass die „scheinbare Verführung zur Trunkenheit“ durch das Weinwunder zu Kana „ein wesentlicher Bestandteil des Zeichens sein“ könnte. „Die Möglichkeit eines Skandals könnte ein Element des Geheimnisses ausmachen.“

1.3. Auf dem Weg zu einem Verständnis von Kana

Durch das zweite Kapitel ist deutlich geworden, so Edmund Little (37), „dass Jesus nicht die Legenden von Dionysos brauchte, um ihn zur Wahl des Weins für ein Wunder oder Zeichen zu inspirieren“. Gegen Bultmann, der das anders sieht, führt er Boismards ironische Bemerkung an (Anm. 117), „dass Bultmann in seiner Theologie des Neuen Testaments den johanneischen Schriften hundert Seiten widmet, fast ohne das Alte Testament zu zitieren“.

1.3.1 Wundergeschichten in den Traditionen von Mose, Elia und Elisa

Nicht nur für den Wein selbst findet Little genug Anhaltspunkte in den jüdischen Schriften, sondern auch für

das Wirken des Wunders und seine Ergebnisse. Diese lassen sich treffend (wenn auch unelegant) unter den folgenden Überschriften zusammenfassen: Macht über das Wasser, Verwandlung, Ernährung, Vermehrung, Überfluss und Reinigung.

1.3.1.1 Wassergefäße zu Kana und auf dem Karmel – was bedeuten die Zahlen 6 und 12?

Zunächst (37) verweist Little auf die „Macht über das Wasser“, die Gott im Alten Testament „als Schöpfer und Retter“ ausübt, „als einer, der straft und zerstört“. Die meisten der entsprechenden Bibelstellen scheinen mir aber nichts mit dem Wasser zu tun zu haben, um das es bei der Hochzeit zu Kana geht, außer der letzten, die Little anführt:

In seiner Begegnung mit den Propheten Baals (1. Könige 18,20-40) weist Elia das Volk dreimal an, vier Krüge Wasser über das Brandopfer und das Holz zu gießen. Trotzdem brennen Opfer und Holz. Die Kraft des Wassers, das Feuer zu löschen, ist nicht mehr vorhanden. Wie in Kana ist das Wort für „Krug“ hydria.

Auf dieselbe Parallele macht Ton Veerkamp <22> aufmerksam, indem er sich außerdem über die Anzahl der Wassergefäße Gedanken macht:

Es gibt sechs Wassergefäße, die für die Reinigung der Judäer gedacht sind. Über die sechs Gefäße kann man rätseln, für Johannes und seine Hörer hatte sie zweifellos eine Bedeutung. Die Zahl sechs in 12,1 („sechs Tage vor Pascha“) lässt sich schwer mit der Zahl hier erklären. Möglich ist folgende Erklärung. Zwölf ist die Zahl für „ganz Israel“. Diese Deutung wird unterstützt durch die Erzählung 1 Könige 18, wo Elia zwölfmal – dreimal vier – Gefäße mit Wasser füllen lässt (18,34), nachdem er zwölf Steine – „nach der Zahl der Stämme der Söhne Jakobs“ – hat aufrichten lassen (18,31). Hier ist aber das „halbe“ Israel. Die andere Hälfte ist noch gar nicht da. (Vgl. 10,16: „Andere Schafe habe ich, die sind nicht von diesem Hof“.) Das toratreue Israel im Lande (die sechs Gefäße, gefüllt mit Wasser) muss zum messianischen Israel werden (zu sechs Gefäßen, gefüllt mit Wein). Freilich bleibt die Frage: warum sechs?

Später wird Veerkamp die zuletzt gestellte Frage dahingehend beantworten, dass der johanneische Jesus daran interessiert ist, nicht nur die Juden Judäas in seiner messianischen Gemeinde Gesamt-Israels zu versammeln, sondern auch die Samaritaner, die die verlorenen zehn Stämme des Nordreichs Israel repräsentieren, und die in der Diaspora zerstreut lebenden Juden. <23>

1.3.1.2 Ein Verwandlungswunder als eins von drei zusammengehörigen Zeichen

Zwei alttestamentliche Wunder sieht Little als (37f.)

Parallelen zum Kana-Ereignis: die Verwandlung eines Stabes in eine Schlange (2. Mose 4,3) und die Umwandlung von Wasser in Blut (2. Mose 4,9). Zusammen mit dem Wunder der Heilung (2. Mose 4,6-7) sind sie „Zeichen“ der Macht, um unter den Israeliten Vertrauen auf Mose zu erwecken. Wasser wird in Blut verwandelt, um die Ägypter mit der Macht des hebräischen Gottes zu beeindrucken (2. Mose 7,5).

Interessant ist dazu der Hinweis von Boismard (Anm. 118), <24>

dass im Johannesevangelium drei Zeichen aufgezählt werden (2,11; 4,54; 21,14). Alle werden vollbracht, um Glauben zu wecken. In jedem Fall ist das erste Zeichen eine wundersame Verwandlung, das zweite eine Heilung.

Allerdings ist es doch recht unwahrscheinlich, dass Johannes mit seiner Nummerierung nur dieser drei zeichenhaften Handlungen ausgerechnet auf die doch ziemlich anders gearteten Zeichen Bezug nimmt, die Mose vollbrachte. Little scheint es für möglich zu halten (38), dass das „Wasser in Steingefäßen“ zu Kana, das „in einen Überfluss an Wein verwandelt wird“, etwas mit „all den Wassern in Ägypten“ zu tun hat, „die verwandelt werden, so dass überall in Ägypten Blut war, sogar in Hölzern und Steinen (2. Mose 7,19)“, en te tois xylois kai en tois lithois.

Wie der Wein im Alten Testament hat auch das Blut eine doppelte Bedeutung. Für die Ägypter bedeutet es den Tod. Für die Israeliten ist es ein Zeichen der Befreiung. Später wird das Blut des Lammes sie vor dem Todesengel schützen.

Hier höre ich wieder Littles Nachtigall. Allzu bemüht versucht er auf Grund noch so schwacher Korrelationen zweier Texte zu belegen, dass der Wein zu Kana auf das versöhnende Blut Jesu Christi hindeutet, obwohl nirgends im Johannesevangelium von der Sühnekraft des Blutes oder von einem Todesengel ausdrücklich die Rede ist.

Auf der anderen Seite versäumt es Little, beim Stichwort der „Zeichen“ darauf hinzuweisen, dass „Zeichen und Wunder“ (2. Mose 7,3), sēmeia kai terata, nicht einfach „die Ägypter mit der Macht des hebräischen Gottes beeindrucken“ sollen. Tatsächlich lässt sich der ägyptische Pharao ja überhaupt nicht beeindrucken, Gott will sogar sein Herz bewusst verhärten, und trotzdem sollen (2. Mose 7,5) die Ägypter den NAMEN des Gottes Israel kennenlernen, auf Griechisch: hoti egō eimi kyrios, „dass ich der HERR bin“, hebräisch ki-ˀani JHWH, „dass ich der NAME bin“, der die Bedeutung hat: „ich werde meine Hand über Ägypten ausstrecken und die Israeliten aus ihrer Mitte wegführen”. Der unaussprechliche Gottesname JHWH, den die Juden unter anderem mit ha-schem, „der NAME“, umschrieben, dient nicht wie in anderen religiösen Kulten zur Beschwörung eines Gottes, sondern hat in Israel keinen anderen Inhalt als den unverbrüchlichen Willen Gottes, für sein Volk da zu sein, Israel zu befreien und ihm ein Leben in Gerechtigkeit und Frieden zu ermöglichen. Dieser befreiende NAME überwindet fremde Götter und Königreiche, die Israel unterdrücken, aber er wendet sich unerbittlich auch gegen Israel selbst, wenn das Volk gegen die Disziplin der Freiheit verstößt, die ihm in der Wegweisung, thora, auferlegt ist und zu der sich Israel im Bundesschluss mit dem NAMEN verpflichtet (2. Mose 24,3). So würde ich den Gesang der anderen Nachtigall beschreiben, die Ton Veerkamp in den jüdischen Schriften und auch im Evangelium des Johannes singen hört. <25>

1.3.1.3 Mosaische Speisungswunder, die Ehre Gottes und die Mutter des Messias

Weiterhin stellt Little „auffallende Parallelen zwischen der Kana-Erzählung, der Speisung der Fünftausend im 6. Johannes-Kapitel und Geschichten aus dem Mose- und Elia-Elisa-Zyklus“ fest.

Ein wiederkehrendes strukturelles Muster ist erkennbar. Ein Mangel an Nahrung wird vom Wundertäter bemerkt oder ihm zur Kenntnis gebracht. Der Wundertäter gibt einer anderen Person Anweisungen. Nachdem die Anweisungen befolgt worden sind, geschieht das Wunder. Manchmal wird eine weitere Anweisung gegeben, nachdem das Wunder vollbracht ist.

Insbesondere betrachtet Little den Mangel an Nahrung und Wasser, den die Israeliten gegenüber Mose beklagen (2. Mose 16,3; 17,2), worauf „ein Dialog zwischen Mose und dem Volk folgt“ und Gott jeweils ein Wunder ankündigt und wirkt.

Eine weitere Parallele ist darin zu erkennen, dass Gott im Zusammenhang mit dem Wunder von Brot und Fleisch den Israeliten seine Herrlichkeit oder Ehre, doxa, hebräisch kavod, zeigt (2. Mose 16,7.10); ebenso „offenbart Jesus den Schülern seine Herrlichkeit (Johannes 2,11)“. Ähnlich wie bei der Bedeutung des NAMENS Gottes erläutert Little aber auch nicht näher, was in den jüdischen Schriften mit kavod gemeint ist. Begreift man diese „Herrlichkeit“ nur als überweltlichen Glanz und den Ausdruck einer überwältigenden Macht, dann könnte man den Gott Israels mit einem der üblichen altorientalischen Götter verwechseln, der seine Macht nach seiner Willkür ausübt. Ton Veerkamp <26> weist aber darauf hin, dass Israels Gott die Ehre seines NAMENS untrennbar mit seiner Selbstverpflichtung verknüpft hat, für Israel da zu sein:

Die Ehre Gottes ist das lebende Israel. Jeschua [Jesus] hatte Martha am Grabe gesagt: „Wenn du vertraust, wirst du die Ehre Gottes sehen.“ Jeschua betet hier: „VATER, gib deinem Namen die Ehre!“ Hier ist an Psalm 115 zu denken:

Nicht uns, DU, nicht uns, nein, Deinem Namen gib die Ehre,
deiner Solidarität wegen, deiner Treue wegen.
Warum sollen die Völker sprechen:
„Wo ist denn ihr Gott?“
Unser Gott ist im Himmel,
Alles, was seinem Gefallen entspricht, das tut Er … (Verse 1-3)

Dieser Psalm besingt die Einmaligkeit des Gottes Israels…

Schließlich erkennt Little auch im „Dialog zwischen Mose und dem Volk in Rephidim (2. Mose 17,2-3)“ eine Parallele zum Gespräch zwischen (39) „Jesus und seiner Mutter in Kana“, da Mose ähnlich wie Jesus zunächst Einwände gegen die Ausführung des Wunders erhebt. Im Unterschied zu Mose, der daraufhin Anweisungen von Gott, dem eigentlichen Wundertäter, erhält, ist es in Kana Jesus selbst, der den Diensthabenden Anweisungen erteilt.

Wenn Johannes aber wirklich in seiner Kana-Erzählung auf diese Mose-Geschichten anspielt, würde damit Ton Veerkamps <27> Annahme bestätigt, dass die Mutter des Messias in seinem Evangelium als Repräsentantin Israels zu begreifen ist:

Bei Johannes spielt die Mutter gerade beim „Anfang der Zeichen“ eine entscheidende Rolle. Die Mutter Jeschuas gehört an erster Stelle zur Hochzeitsgesellschaft, Jeschua und seine Schüler wurden danach herbeigerufen. Gerade sie stellt einen gravierenden Mangel fest, der das Hochzeitsfest unmöglich macht: „Wein haben sie nicht.“ „Wein“ steht am Anfang des Satzes, er ist die Hauptsache. Gerade diese Hauptsache fehlt. Die Mutter Jeschuas steht also zwischen dem Messias mit seinen Schülern und der Hochzeitsgesellschaft. Sie vermittelt zwischen Israel und dem Messias.

Später tritt die Mutter noch einmal auf, unter dem Kreuz. Dort wird sie zur Mutter des Schülers gemacht, dem Jeschua in besonderer Weise solidarisch verbunden war, und dieser Schüler zum Sohn jener Frau. Johannes nennt niemals den Namen der Mutter Jeschuas. Bei ihm ist sie nur die Mutter des Messias. Sie muss in der messianischen Gemeinde, aus der das Johannesevangelium stammt, eine herausragende Rolle gespielt haben. In der Erzählung von der messianischen Hochzeit besteht ihre Rolle in der Vermittlung zwischen dem Messias und Israel. Sie ist aber nicht, wie die römisch-katholische Mariologie meint, der Prototyp der christlichen Kirche.

Abschließend (39) erwähnt Little zu diesem Thema noch eine weitere Wundergeschichte, die mit Mose zusammenhängt:

Im 4. Buch Mose folgt das Wasserwunder einem ähnlichen Muster: Klage über Wassermangel (in dieser Version gibt es keinen Ausschluss der Verantwortung durch Mose); Anrufung Gottes, der Anweisungen gibt; die Ausführung der Anweisungen und das darauf folgende Wunder (4. Mose 20,2-11).

Auf einen entscheidenden Punkt dieser Erzählung weist Little erst später hin (40):

In der Folge wird sogar Mose und Aaron der Einzug in das Gelobte Land verweigert, weil sie nicht glaubten, dass Jahwe seine Heiligkeit behaupten konnte, als das Volk Jahwe für seine Notlage verantwortlich machte (4. Mose 20,12).

Das ist richtig, nur ist wieder zu fragen, ob es dem NAMEN nur ganz allgemein darum ging, seine Heiligkeit zu behaupten. Ton Veerkamp <28> gibt zu bedenken, dass Mose in 4. Mose 20,10 das Volk Israel als apeitheis, hebräisch morim, denunziert, was man mit „ungehorsam, widerspenstig, rebellisch“ übersetzen kann, obwohl es ein Recht darauf hat, von seinem Gott das lebensnotwendige Wasser zu fordern.

Falls Johannes auch diese Geschichte im Hinterkopf hat, als er von der Hochzeit zu Kana erzählt, könnte er darauf hindeuten wollen, dass ein mit seinen Führern haderndes Volk, das angesichts einer verheerenden Dürre um sein Überleben fürchtet (4. Mose 20,2-5), Hilfe vom heiligen Gott Israels erwarten darf, während die göttliche Strafe für Mose und Aaron an die johanneische Kritik gegenüber den judäischen Eliten zur Zeit Jesu (Priester und Pharisäer) sowie seiner eigenen Zeit (das entstehende rabbinische Judentum) erinnert. Diesen wirft er ja vor, dass sie Jesus das ihm zustehende Vertrauen als dem Messias Israels verweigern und, um ihn zu beseitigen, mit den Feinden Israels, der römischen Weltordnung, kollaborieren oder sich zumindest arrangieren.

In diesem Zusammenhang wird noch verständlicher, warum Jesus seine Anweisung, die Steinkrüge mit Wasser zu füllen, erst erteilt, nachdem die Mutter des Messias (Johannes 2,5) den Diensthabenden gesagt hat, dass sie tun sollen, was Jesus ihnen sagt. Sie tut dies nämlich, wie Ton Veerkamp sagt, als Repräsentantin eben eines Israel, das bereit ist, auf den von Gott gesandten Messias zu hören. <29> Edmund Little bestätigt diese Sichtweise, indem er ihre Rolle mit derjenigen des Volkes Israel im Rahmen der erwähnten mosaischen Wundergeschichten vergleicht (40f.):

In Kana hat die Mutter Jesu die gleiche informative Funktion wie das Volk in der Wüste, obwohl ihre Aussage ein Aufruf zum Handeln und keine Klage gegen Gott ist, ein Parallelismus des Kontrasts, nicht der Ähnlichkeit.

Sie repräsentiert also ein Israel, das mit vollem Recht um die Behebung eines Mangels bittet und zugleich bereit ist und es von den Verantwortlichen des Volkes einfordert, Jesus als den Messias Israels anzuerkennen.

Unverständlich ist für mich, dass Little unter Berufung auf Thurian <30> und andere (Anm. 124) in der genannten Parallelität nicht nur einen Beleg dafür findet, „dass Maria … das Judentum in seiner messianischen Hoffnung“ repräsentiert, sondern – ohne das weiter zu begründen – auch „die in Not befindliche Menschheit… Sie ist die Verkörperung der Menschheit und Israels, die auf Rettung hoffen.“ Uns Christen ist eine solche gesamtmenschheitliche Perspektive natürlich sympathisch, aber die von Little aufgezeigten Parallelen sprechen dafür, dass die Mutter Jesu im Johannesevangelium tatsächlich Israel allein und nicht die Menschheit insgesamt vertritt. <31>

1.3.1.4 Wunder der Vermehrung und der Reinigung vor allem im Elia-Elisa-Zyklus

Außerdem verbindet Little (39) zwei weitere Wunder mit der Kana-Erzählung, die aus dem Elia-Elisa-Zyklus stammen und von „Vermehrung und wundersamer Fülle“ handeln. Für die Vermehrung des „Mehls im Topf und des Öls im Krug“ durch Elia für die Witwe von Sarepta (1. Könige 17,12-16) weist er darauf hin, dass für das Gefäß, in dem das Mehl aufbewahrt wird, dasselbe Wort hydria verwendet wird wie für die Wasserkrüge in Kana (der Krug für das Öl wird kapsakē genannt). Als der Prophet Elisa die Vermehrung des Öls in den Krügen der Witwe eines Prophetenschülers veranlasst, um ihre Söhne vor der Schuldsklaverei zu bewahren (2. Könige 4,1-7), taucht das Wort hydria allerdings nicht auf, sondern die Krüge sind schlicht skeuē, „Gefäße, Geräte“. Little erwähnt auch die Brotvermehrung durch Elisa (2. Könige 4,42-44), auf die er im Zusammenhang der Speisung der Fünftausend ausführlicher eingehen wird.

Weitere Wunder (39), von denen eins mit Mose und zwei mit Elisa verbunden sind, haben mit der Reinigung bitteren Wassers (2. Mose 15,22-27), einer bösen Quelle (2. Könige 2,19-22) und einer tödlich wirkenden Suppe (2. Könige 4,38-41) zu tun. Das bittere Wasser bei Mara macht Mose mit Hilfe eines Stücks Holz süß und trinkbar. Dabei (40) nennt (2. Mose 15,25) der NAME das Hören auf seine Stimme als Bedingung dafür, dass er als Arzt die Israeliten vor den Krankheiten der Ägypter bewahrt. Mit Salz reinigt Elisa die böse Quelle, mit Mehl macht er die Suppe genießbar.

Nach Little enthält die Anweisung Elisas, „dass die Suppe für die Leute ausgeschüttet werden soll (2. Könige 4,41)“, angeblich Worte, „die mit den Anweisungen Jesu zusammenstimmen, den Wein zum Haushofmeister zu bringen (Johannes 2,8)“. Tatsächlich findet sich in beiden Versen aber kein einziges übereinstimmendes griechisches Wort. Für „schütten“ hat die Septuaginta das Wort enchein, Johannes verwendet das Wort antlein. Auch ist die Situation eine andere; der Diener Elisas soll die Prophetenschüler mit Suppe bewirten, die Diener bei der Hochzeit zu Kana erhalten den Auftrag, Wein als Kostprobe für den Manager des Festes zu schöpfen.

Ein Echo der „Anweisungen, die die Mutter Jesu den Dienern gibt“, findet Little schließlich nicht nur „in Pharaos Worten über Josef“, sondern auch im „Rat der Diener Naemans, dass er tun solle, was Elisa ihm sagt (2. Könige 5,13)“. In diesem Fall merkt Little selbst an, dass dieses Echo sehr „schwach“ ist und (Anm. 123) dass die „Parallele eher situativ als lexikalisch“ ist. Natürlich geht es sowohl in den jüdischen als auch in den messianischen Schriften (Altes und Neues Testament) grundlegend um das Hören auf Gott und die von ihm Beauftragten; von daher können solche Übereinstimmungen ähnlicher Situationen nicht belegen, dass Johannes gerade auf diese bestimmte Erzählung Bezug genommen haben sollte.

Überhaupt erscheinen mir alle Rückbezüge der Kana-Erzählung auf Geschichten im Elia-Elisa-Zyklus, die Little beschreibt, abgesehen vom Wasserwunder auf dem Karmel (siehe Abschnitt 1.3.1.1), sehr viel weniger überzeugend als einige Parallelen zu den Wundern während der Wüstenwanderung Israels.

1.3.1.5 Enthält die Kana-Erzählung einen Vorgeschmack auf das Gericht Gottes?

Littles Betrachtung (40) der Geschichten von Mose, Elia und Elisa läuft darauf hinaus, dass er „einigen dieser Wunder einen düsteren Beigeschmack“ bescheinigt:

Mose bringt den Tod über die Ägypter. Für die Baalspropheten hat das Wunder des Elia deren Niedermetzelung zur Folge, aber auch Gottes eigenes Volk ist bedroht. Die Wüstenwunder haben ihren Ursprung im mangelnden Glauben der Israeliten, die Jahwes Geboten nicht gehorchen (2. Mose 16,27-29) und ihn auf die Probe stellen (2. Mose 17,2.7). In Mara werden sie ermahnt, Gott gehorsam zu bleiben.

Wie bereits gesagt, wird beim Haderwasser (4. Mose 20,13) aber nicht etwa das Volk für sein Hadern mit Gott bestraft (4. Mose 20,2-5), sondern Gottes Strafe trifft die Führung des Volkes, Mose und Aaron (4. Mose 20,12). Und das nicht einfach nur, wie Little sagt, weil „sie nicht glaubten, dass JHWH seine Heiligkeit behaupten konnte, als das Volk JHWH für seine Notlage verantwortlich machte“. Tatsächlich besteht die Heiligkeit, die Ehre, kavod bzw. doxa, des NAMENS darin, die berechtigten Forderungen des Volkes zu erfüllen; jedoch (4. Mose 20,10) Mose erkennt weder diese Ansprüche an, indem er das Volk als morim, „ungehorsam, rebellisch“ beschimpft, noch vertrauen Mose und Aaron darauf, dass der NAME sein Volk versorgen kann. Auf solche Differenzierungen geht Little nicht ein; er argumentiert sehr allgemein:

Das Wunder von Kana, das in vielerlei Hinsicht mit den mosaischen Wundern vergleichbar ist, könnte ebenfalls ein Vorzeichen für Unheil sein.

Die Aufzählung dieser Beispiele durch Little zeigt deutlich, dass auch er letzten Endes ausschließlich Wundergeschichten aus dem Mose-Zyklus und die Elia-Erzählung vom Karmel als Parallelen zum Weinwunder von Kana ansieht. Damit bestätigt er in meinen Augen, dass Johannes die Gründung der messianischen Gemeinde durch Jesus, die im Anschluss an die Hochzeit zu Kana erfolgt, auf dem Hintergrund von biblischen Bildern entwickelt, die mit der Befreiung Israels aus Ägypten und von Fremdgöttern wie Baal zusammenhängen. So deutet er die entscheidende Frage an: Will Israel auf den Messias des befreienden Gottes Israel vertrauen? Oder will es zurück nach Ägypten, unterwirft es sich der gegenwärtig weltweiten Sklaverei durch die römische Weltordnung? Entscheidet es sich für Baal, einen Besitzergott, den heute der römische Kaiser als absoluter Widersacher, diabolos (Johannes 8,44), repräsentiert, oder für den Gott Israels, der nach Hosea 2,18 von seinem geliebten Volk bei der messianischen Hochzeit wieder vertrauensvoll „mein Mann“ genannt werden will (siehe Abschnitt 1.2.1.3)?

1.3.1.6 Inwiefern ist Jesus größer als Mose und Elia?

Edmund Little will auf etwas anderes hinaus. Ihm geht es im Vergleich von Mose und Jesus zwar um Parallelen, aber letzten Endes darum, vereinfacht gesagt, dass Jesus Mose als Religionsstifter ablöst.

Dass Jesus ein neuer und größerer Mose ist, ist ein Thema des Johannesevangeliums. Jesus, der Vermittler von Gnade und Wahrheit, gibt ein Zeichen, das dem des Gesetzesvermittlers ähnelt (Johannes 1,17). Von ihm, so behauptet Jesus, hat Mose geschrieben (Johannes 5,46). Es besteht ein wichtiger Unterschied in der Betonung. Beide Männer geben sich als Abgesandte Gottes zu erkennen. Mose verkündet die Macht Gottes. In Kana offenbart Jesus den gläubigen Jüngern seine eigene Herrlichkeit, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes des Vaters (Johannes 1,14).

Es würde zu weit führen, auf alle Punkte in diesem Zitat ausführlich einzugehen, zu denen Ton Veerkamp eine alternative Auslegung vorschlägt. Dazu mag man bei Veerkamp selber nachlesen, dass „Gnade und Wahrheit“ schriftgemäß vom hebräischen chessed we-emeth her zu verstehen ist, <32> dass Jesus nicht einfach die jüdische Tora als „Gesetz“ abtut, sondern ihre befreiende Kraft durch das neue Gebot der agapē, „Solidarität“, hervortreten lässt, <33> inwiefern Mose vom Messias Jesus geschrieben hat <34> und dass Jesus nicht einfach der einzige Sohn des VATERS ist, als ob Israel niemals (2. Mose 4,22) der erstgeborene Sohn des NAMENS gewesen wäre. <35>

Dass unter der doxa, hebräisch kavod, Jesu <36> nicht einfach seine eigene Selbstherrlichkeit zu verstehen ist, sondern die Ehre des Gottes Israels, dessen befreienden Willen für Israel Jesus als Messias vollkommen verkörpert, hatte ich bereits oben erläutert (siehe Abschnitt 1.3.1.3). Was wäre, wenn Jesus nicht als Erlösergott einer neuen Religion Abschied nehmen würde vom befreienden Gott Israels, sondern an Stelle einer nicht mehr möglichen Befreiung Israels durch einen Auszug aus einem Unterdrückerstaat wie Ägypten in ein Gelobtes Land Kanaan die Befreiung von der Sklaverei der weltweit herrschenden Pax Romana durch seinen Tod am Kreuz und die Praxis der Solidarität seiner Nachfolger im Auge gehabt hätte?

Little wertet Mose gegenüber Jesus ab (41):

Mose verwandelt Wasser in Blut. Jesus verwandelt Wasser in Wein. Mose gibt eine bloße Demonstration seiner Macht. Der fleischgewordene Logos, eins mit dem Vater, bietet Wein bei einem Festmahl an. Angesichts der alttestamentlichen Identifizierung von Wein mit Blut entwickelt das Wunder von Kana das Thema von Jesus als Lamm Gottes weiter, das in der Rede nach der Speisung der Fünftausend noch deutlicher wird, wenn Jesus sich selbst als das Brot des Lebens erklärt (Johannes 6,35), dessen eigenes Fleisch und Blut wirkliche Speise und Trank ist (Johannes 6,53-58).

Aber bereits die von Mose im Auftrag des NAMENS bewirkten Machterweise hatten ihren Zweck nicht in sich selbst, dienten nicht der bloßen Zurschaustellung eines Gottes mit Superkräften, sondern standen im Dienst der Befreiung Israels. Wenn tatsächlich schon der Wein zu Kana auf das vom Lamm Gottes vergossene Blut hindeutet, dann darf die Frage nicht außer Acht gelassen werden, in welcher Weise Jesus als das Lamm Gottes die Befreiung Israels inmitten der Völker ermöglicht (vgl. dazu Abschnitt 2.4.5.1 und Abschnitt 2.4.9.4). Ausdrücklich ist im Johannesevangelium allerdings nirgends wie in den anderen Evangelien oder bei Paulus vom Blut des Bundes die Rede, und der johanneische Jesus setzt auch keinen Ritus ein, in dem Wein getrunken wird und von seinem Blut die Rede ist.

Edmund Little beendet seine Ausführungen über die Mose- und Elia-Elisa-Geschichten mit einem pauschalen Fazit:

Die thematischen und strukturellen Muster der Elia-Elia-Geschichten wurden aufgezeigt. In Mose erfüllt und transzendiert Jesus das Gesetz. In Elia erfüllt und transzendiert er die Propheten. Beide verblassen vor dem fleischgewordenen Wort, als sie ihm in den synoptischen Evangelien auf dem Berg der Verklärung den Platz räumen.

Auf diese Weise folgt Little der seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. üblich gewordenen heidenchristlichen Auslegung der messianischen Schriften des so genannten Neuen Testaments. Angeblich wird das alttestamentliche fordernde Gesetz durch das neutestamentliche Evangelium der freien Gnade abgelöst. Mose und Elia spielen für Christen nur noch eine Rolle, indem sie Jesus Christus den Weg bereiten. Dass bereits das zentrale Thema der jüdischen Schriften Befreiung ist und die Tora in ihrem Kernanliegen eine Disziplin der Freiheit darstellt, um die errungene Freiheit nicht nur nach außen, sondern auch im Inneren des befreiten Gemeinwesens zu bewahren, bleibt dabei außer Acht.

Davon, dass Jesus nach Johannes dennoch Mose „transzendiert“, indem der neue Auszug aus dem Sklavenhaus in der Überwindung der gesamten Weltordnung bestehen muss, war bereits die Rede gewesen. Die Rückbezüge der Kana-Erzählung auf den Propheten Elia, die Little feststellt, sind so schwach ausgeprägt, dass nicht erkennbar ist, ob und in welcher Weise der johanneische Jesus sich überhaupt auf Elia bezieht oder sich von ihm abhebt. Jedenfalls halte ich die von Little beigebrachten Belegstellen nicht für aussagekräftig genug, um zu untermauern, dass Johannes auf seine Weise dieselbe Aussage treffen wollte wie die synoptischen Evangelien mit ihrer Verklärungsgeschichte. Abgesehen davon ist nicht einmal ausgemacht, ob die Synoptiker (Matthäus 17,1-8; Markus 9,2-8; Lukas 9,28-36) tatsächlich ausdrücken wollen, dass Mose und Elia ihren Platz für Jesus einfach nur räumen. Auch dort kann davon ausgegangen werden, dass die Bedeutung Jesu nicht anders zu verstehen ist als von der Tora und den Propheten Israels her.

1.3.2. Zur Parallelität des Weinwunders zu Kana und der Speisung der Fünftausend

Immerhin kann man dankbar sein, dass Edmund Little seinen Rückbezug der Kana-Erzählung auf die biblischen Schriften mit Mose und den Erzählungen vom Auszug aus der Sklaverei begonnen hat, also mit dem zentralen Thema der Befreiung, das Johannes am Herzen liegt. Um die Parallelität dieser Erzählung mit dem in Johannes 6 dargestellten Wunder nachzuweisen, bringt er Argumente, die sehr wenig mit diesesm Grundthema zu tun haben.

1.3.2.1 Jesu Macht über die Schöpfung

Schaut man sich an, wie der Kirchenvater Irenäus nach Little das Weinwunder zu Kana und die Speisung der Fünftausend im Johannesevangelium interpretiert, dann könnte man denken, dass Israel dabei überhaupt keine Rolle spielt, sondern ganz allgemein die gesamte Schöpfung (42):

Beide Wunder zeigen auch die Macht Christi über die Schöpfung. Nach Irenäus gibt derselbe Gott, der die Erde schuf und sie Früchte tragen ließ, der die Wasser schuf und die Ströme hervorbrachte, jetzt, in diesen letzten Tagen, dem Menschengeschlecht durch seinen Sohn den Segen von Speise und Trank. <37> Die Verwandlung eines Elements in ein anderes in Kana, die kurz nach dem Prolog des Johannes erfolgt, in dem die Präexistenz des fleischgewordenen Wortes verkündet wird, erinnert an die präexistente Weisheit, die in der Schöpfung tätig ist und hilft, die Welt zu gestalten und zu erneuern.

Das ist alles nicht völlig falsch. Aber gerade das Johannesevangelium konzentriert die Bemühungen des Messias Jesus zunächst ganz auf Israel einschließlich der verlorenen Stämme Samarias und der Juden der Diaspora und spricht nur sehr vorsichtig (12,20) von „einigen Griechen“, die Jesus sehen wollen, statt wie Paulus, Lukas und auch Matthäus von einer planmäßigen Mission auch der gojim, der „Völker“, des ganzen Menschengeschlechts, zu sprechen. Diese Vorsicht war offenbar berechtigt, wenn auch wirkungslos, denn was seine Befürchtung gewesen sein mag, dass nämlich heidnische Vorstellungen alles zur Seite drängen könnten, was mit der Befreiung oder überhaupt der Würde Israels zu tun hat, das wurde allzu bald in einer anti-jüdisch-heidenchristlichen Kirche zur entsetzlichen Wirklichkeit.

Das Stichwort „Präexistenz“ mag seine Berechtigung haben, so lange es mit dem Bild der vor dem NAMEN spielenden Weisheit, sophia, verknüpft bleibt (Sprüche 8,22.30). Auf Jesus übertragen, suggeriert es die abwegige Vorstellung, Jesus habe als der jüdische Mensch, der er ganz und gar war, bereits Erinnerungen an ein Leben im Himmel bei Gott haben können. Was Johannes meint, ist etwas völlig anderes, nämlich dass Jesus als der Sohn des Gottes Israels im jüdischen Sinn sich vollkommen vom Willen und damit auch der Weisheit des NAMENS bestimmen lässt.

Bezeichnend ist aber, dass das Wort sophia, „Weisheit“, im Johannesevangelium nirgends vorkommt. Stattdessen wird Jesus mit dem göttlichen logos identifiziert, der die Befreiungstaten in Erinnerung ruft, die der Gott Israels durch seine logoi, hebräisch devarim, „Tatworte, Worttaten“, immer wieder in Gang setzte. In der verzweifelten Situation Israels nach dem Judäischen Krieg kommt es Johannes nicht darauf an, die von Gottes Weisheit wunderbar geordnete Schöpfung, ktisis, zu preisen, sondern die durch menschliche Gewaltherrschaft in Unordnung gebrachte so genannte Weltordnung, kosmos, durch den auch Israel unterdrückt wird, zu überwinden.

1.3.2.2 Der Mangel an Wein und Brot, die Mutter Jesu und das Reinheitsthema

Eine zweite Parallele zwischen dem Weinwunder und dem Speisungswunder erblickt Little (42) in Marias Hinweis (Johannes 2,3) auf den Mangel an Wein und Jesu Frage an Philippus (6,5), die sich auf den Mangel an Brot bezieht. Die von ihm behauptete ausgeprägte Übereinstimmung der Substantive in beiden Sätzen besteht jedoch in keinster Weise: nicht ein einziges Wort stimmt überein. Nebenbei bemerkt ist es nicht ganz korrekt, die Mutter Jesu bei Johannes Maria zu nennen; er verwendet den Namen niemals, wohl weil sie für ihn die Repräsentantin eines Israel ist, das auf den Messias hören will, ähnlich wie er auch den Namen des Schülers, mit dem Jesus in agapē, solidarischer Liebe, verbunden ist, nicht nennt: Er ist Repräsentant der von Jesus gegründeten messianischen Gemeinde, die das auf Jesus vertrauende Israel am Kreuz Jesu in das ihm Eigene aufnimmt. <38>

Richtig ist Littles Beobachtung, dass die „Aussage der Mutter gegenüber Jesus in der Übersetzung oft abgemildert wird. Sie sagt nicht, dass kein Wein mehr da ist. Es überhaupt kein Wein da.“ Auf diese Weise stellt sie fest, dass Israel zu dieser Zeit unter einer Strafe Gottes leidet:

Dürre und die leere Kelter und der Mangel an Brot waren schon lange ein Zeichen für die Strafe Gottes über Israel. In den bereits zitierten alttestamentlichen Texten über Fruchtbarkeit und Segen, Hungersnot und Strafe wird das Vorhandensein oder Fehlen von Reben oder Wein häufig mit dem Vorhandensein oder Fehlen von Brot, Weizen oder Getreide in Verbindung gebracht. In Kana und am See von Tiberias findet sich ein Echo auf den Schrei der Kinder in den Klageliedern (2,12). Israel trauert wie eine jungfräuliche Braut in Sackleinen um den Bräutigam ihrer Jugend (Joel 1,8).

Von daher hätte Little ähnlich wie Veerkamp in den Blick nehmen können, dass zur Zeit des Johannes nach dem Judäischen Krieg die Lage für Israel noch schlimmer geworden ist und dass sein Evangelium (ähnlich wie die anderen Evangelien <39>) einen Versuch darstellt, die Passion Israels zu bewältigen, indem er die Passion Jesu als den Sieg über die Römische Weltordnung begreift.

Das tut Little nicht. Stattdessen denkt er nach (42f.) über „die starke Vermutung, dass die Krüge der Reinigung leer waren, wenn sie von den Dienern gefüllt werden mussten“, und erwähnt kommentarlos (Anm. 131) Browns Ressentiment gegenüber jüdischen Riten [Brown 1966, 105]: Er „sieht ‚Sie haben keinen Wein‘ als eindrückliche Anspielung auf die Unfruchtbarkeit der jüdischen Reinigungen, ganz im Sinne von Markus 7,1-23.“ Abgesehen davon, dass zu fragen wäre, ob nicht auch das Reinheitsthema bei Markus auf einer Linie mit innerjüdischer prophetischer Kritik behandelt wird, kann man bei Johannes keine grundsätzliche Ablehnung jüdischer Riten feststellen und erst recht nicht ihren ausdrücklichen Ersatz durch christliche Riten. Um einen Wassermangel geht es bei der Hochzeit zu Kana jedenfalls nicht, denn es ist ja genug Wasser da, um die Krüge zu füllen.

1.3.2.3 Soll Israel im messianischen Zeitalter wiederhergestellt werden?

Drittens spiegeln (43) nach Edmund Little „beide Wunder das Thema der Wiederherstellung“ wider. „Sogar die Ankündigung eines ‚Mangels‘ mit seiner möglichen Anspielung auf Psalm 23 bringt Hoffnung auf Befreiung mit sich.“ Tatsächlich war Israel von seinem Gott (Little nennt ihn bezeichnenderweise „God of old“, den „Gott der alten Zeit“) „des Brotes, Weines und starken Getränks beraubt worden, um sie wissen zu lassen, dass er Gott ist“, und derselbe Gott hatte „Nahrung und Wohlstand“ für das Volk wiederhergestellt. Little versäumt aber durchgehend, auf die Bedeutung des NAMENS des Gottes Israels hinzuweisen. Gott will nicht einfach erweisen, dass er Gott ist, als wäre er beliebig austauschbar und als käme es nur auf seine Übermacht an, aus der heraus er willkürlich seine Gnade und Gunst erweist. Nein, der Gott Israels erweist sich als der NAME, dessen Liebe oder Solidarität diesem kleinen, unbedeutenden Sklavenvolk Israel gilt, das er in eine Freiheit führen will, die durch klare Rechtssatzungen einer Disziplin der Freiheit gesichert werden muss, damit alle in diesem Volk unter ihrem Feigenbaum und Weinstock im Frieden leben können. Und Johannes proklamiert den Messias Jesus als die Verkörperung dieses befreienden NAMENS, um durch das neue Gebot der Solidarität die herrschende Weltordnung zu überwinden. Damit zielt er wirklich auf eine Wiederherstellung Israels, wenn der Tag der Entscheidung gekommen ist und die Weltzeit des Friedens, die kommen soll, anbricht.

Zwar verweist Little durchaus darauf (Anm. 137), dass nach Brown [1966, 105]

das Wunder von Kana durch diese Symbolik von den Jüngern als Zeichen der messianischen Zukunft und des neuen Zeitalters verstanden werden konnte, so wie sie auch die Aussage Jesu über den neuen Wein in der synoptischen Tradition verstanden hätten.

Was Little selbst (43) hier über Jesus schreibt, hat aber einen anderen Klang:

Die Fülle des Weins in Kana, des Brotes am See von Tiberias, die Ströme lebendigen Wassers, die beim Laubhüttenfest versprochen wurden (Johannes 7,37-39), und die Fülle der Fische nach der Auferstehung (21,11) offenbaren Jesus als den Geber ähnlicher göttlicher Segnungen für das neue Israel. Was einst in der alleinigen Autorität des Vaters lag, wird nun vom Sohn vollzogen, der aus seiner Fülle gibt (1,16).

Verräterisch ist der Ausdruck „das neue Israel“, der schon bald von der christlichen Kirche für sich selbst beansprucht wurde, während die Juden, die ihre Religion nicht aufgeben wollten, sämtlicher Ansprüche auf Befreiung und Recht, ja, sogar ihrer Würde als Kinder Gottes enterbt wurden. Implizit werden alle Hoffnungen auf Befreiung und Gerechtigkeit für das irdische Leben unter dem Himmel auf die Erlösung für ein Leben im Himmel verschoben.

1.3.2.4 Oder ersetzt Jesus als Ernährer der Seele den befreienden Gott Israels?

Little wird noch deutlicher, indem er behauptet (43f.):

Gott war in Israel die oberste Quelle für alle Nahrung und allen Wohlstand. Jesus übernimmt nun diese Rolle. … Wenn man davon ausgeht, dass Jesus und seine Jünger nach dem Wunder auf der Hochzeit bleiben, können die Augen des Glaubens darin ein Bild der Ältesten Israels sehen, die Gott schauten, als sie am Sinai aßen und tranken. Der Spender der Gnade und der Wahrheit sitzt nun mit den Ältesten bei einem Festmahl des Neuen Bundes zu Tisch und erinnert an das Bild des Psalmisten von einem Tisch, den ein Hirtengott bereitet hat, der einen überfließenden und – in der griechischen Version – einen berauschenden Kelch anbietet (Psalm 23,5).

Wieder erscheint Jesus in verhängnisvoller Weise als derjenige, der praktisch den Gott Israels in seiner Konzentration auf die Befreiung Israels ersetzt, und zwar paradoxerweise gerade indem er die feiernden Schüler Jesu bei der Hochzeit zu Kana mit den Ältesten Israels vergleicht, die (2. Mose 24,9-11) Gott schauen und ein Mahl mit ihm halten dürfen. Ausdrücklich ist aber gar nicht davon die Rede, dass Jesu Schüler in Kana essen und trinken oder Gott in einer Vision schauen, und einen Neuen Bund erwähnt Johannes erst recht nirgends in seinem Evangelium.

Mit einem Hinweis auf den hellenistisch beeinflussten Juden Philo [Legum allegoriae II, 84-5; III, 169-70], der „das Manna und den Felsen in der Wüste als Sinnbild für den ‚Logos‘, das Wort und die Weisheit Gottes, gedeutet hatte, die die Seele nähren“, legt Little außerdem nahe, dass es sich bei Jesu Gnade und Wahrheit um rein spirituelle Wahrheit und seelenerlösende Gnade handelt, nicht mehr um die Solidarität und Treue des Gottes Israels, der die Befreiung seines geliebten Volkes inmitten der Völker bewirken will. Nach Johannes handelt Jesus nicht auf eigene Rechnung, sondern er wirkt voll und ganz die Werke, devarim, logoi, des befreienden NAMENS.

1.3.2.5 Setzt Jesus mit dem Zeichen zu Kana einen neuen Bund ein?

Später kommt Little erneut darauf zurück, dass das Weinwunder zu Kana als ein „Zeichen“, sēmeion, auf die Einsetzung eines neuen Bundes durch Jesus hindeuten soll (47):

Die Verbindung von „Zeichen“ und Bund wurde bereits beobachtet. Die von Mose in Ägypten vollbrachten Zeichen führen schließlich zum Aufbruch der Israeliten in die Wüste und zum Sinai, wo ein Bund mit Gott mit Blut ratifiziert (2. Mose 24,6-8) und mit einem Fest zu Füßen von Gottes Thron gefeiert wird (2. Mose 24,9-11). Die Anwesenheit Jesu bei einem Festmahl in Kana, die Assoziation von Wein und Blut und das Wunder als Vorwegnahme der „Stunde Jesu“ deuten stark, aber subtil auf einen neuen Bund hin, der durch das fleischgewordene Wort durch seinen Tod als Priester und Opfer geschlossen wird.

Wie bereits erläutert, sind die Fäden des Netzes dieser ganzen Zusammenhänge alles andere als reißfest (siehe Abschnitt 1.2.1.2). Doch selbst wenn das Zeichen des Weinwunders auf die in Ägypten vollbrachten Zeichen und den Bundesschluss vom Sinai anspielen sollten, ist immer noch zu fragen, ob ein zu Kana neu geschlossener Bund Gottes mit seinem Volk, der zur Gründung der messianischen Gemeinde führt (Johannes 2,11-12), anders zu verstehen wäre als der von Jeremia (31,31) vorausgeschaute neue Bund, der „mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda“ geschlossen wird und nicht die Enterbung Israels durch die christliche Kirche zum Ziel hat.

1.3.2.6 Der König, der nicht von dieser Welt ist

Noch einmal baut Little unter der eben genannten Überschrift, die sich auf Johannes 18,36 bezieht, ohne dass er darauf hier näher eingeht, auf recht vage angedeuteten Zusammenhängen weitreichende Schlussfolgerungen auf (44):

Nathanael, der selbst aus Kana stammte (Johannes 21,2), hatte Jesus bereits als König Israels gepriesen (Joh 1,49). Das Wunder mit dem Wein in königlichen Mengen erinnert an die Texte über königlichen Wein und königliche Feste. Philo [III, 82] hatte Melchisedek als den idealen König gesehen, der Wein statt Wasser anbietet und den Seelen starken Trank gibt, damit sie von einem göttlichen Rausch ergriffen werden. In Kana feiert Jesus, der neue, noch nicht ausgerufene König aus dem Hause David, ein Festmahl mit den „Edlen“ seines Hofes und seinen künftigen „Untertanen“. Im Lukasevangelium spricht Jesus davon, dass er ihnen ein Reich übertragen hat, wie der Vater ihm eines übertragen hat. Sie werden an seinem Tisch in seinem Reich essen und trinken und auf Thronen sitzen, um die zwölf Stämme Israels zu richten (Lukas 22,30). Kana und die Speisung der Fünftausend sind johanneische Versionen dieser Verheißung, die das Festmahl mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich vorwegnehmen, von dem die Kinder des Reiches ausgeschlossen sein werden (Matthäus 8,12), oder das Hochzeitsmahl, zu dem viele eingeladen waren und wenige kamen (Lukas 14,15-24). Die von den Jüngern erlebte Herrlichkeit ist die eines Königs, dessen Reich sich von der Zeit bis in die Ewigkeit erstreckt.

Hier bringt Little Johannes vorschnell mit den Synoptikern in Übereinstimmung, obwohl Johannes sich des öfteren gerade bewusst von ihnen absetzt, etwa, indem er Jesus gerade nicht als Sohn Davids und Bethlehem nicht als seine Geburtsstadt angibt. Erst recht ist im Johannesevangelium nirgends pauschal vom Ausschluss der Kinder des Reiches die Rede. Und wieder muss Philo dafür herhalten, um die johanneische Vorstellung von Jesus als dem König der Juden auf eine spirituelle Ebene zu heben, denn Little meint ja mit dem sich in die Ewigkeit erstreckenden Königreich offenbar ein himmlisches, jenseitiges Reich.

Dankbar bin ich Little für seinen Hinweis, dass der unmittelbar vor der Kana-Erzählung erwähnte Nathanael, der Jesus als König Israels preist, nach Johannes 21,2 aus Kana stammt. Vom Gespräch Jesu mit Nathanael her, dem Israeliten ohne Tücke, den Jesus unter dem Feigenbaum gesehen hatte, ist aber Jesu Königtum deutlich auf Israels Befreiung zu beziehen, denn das Leben unter dem Feigenbaum und Weinstock (siehe Abschnitt 1.3.2.3) deutet auf das kommende Zeitalter des Friedens für Israel auf dieser Erde unter dem Himmel hin. <40>

Dafür spricht nach Little auch (Anm. 140) die Beobachtung Hengels <41>

unter Bezugnahme auf 1. Mose 49,10-12, dass der Weinbecher, der Krug, das Weinblatt und die Weintraube häufig auf den Münzen der Aufstände von 66-73 und 132-35 erscheinen, die durch eschatologisch-messianische Überlegungen motiviert waren.

Damit ist belegt, dass noch zur Zeit des Johannes sehr irdische zelotische Bestrebungen mit dem Bild des Weinstocks verbunden waren. Vom Zelotismus grenzt sich Johannes zwar entschieden ab, aber nicht durch eine Verjenseitigung der Ziele des Messias Jesu, sondern durch die Ablehnung militärischer Mittel zur Überwindung der herrschenden Gewaltordnung.

1.3.2.7 Eschatologie der kommenden Weltzeit auf Erden oder des ewigen Lebens im Himmel?

Little bleibt dran am Thema der Eschatologie, der letzten Dinge, indem er im Zusammenhang mit der Hochzeit zu Kana auch auf Bilder des Überflusses und endzeitlicher Festmahle eingeht (44):

Gott als universeller König, als Gastgeber eines großen Festmahls, sorgt für Speise und Trank für sein eigenes Volk und für alle Völker. In Kana steht Jesus, das fleischgewordene Wort, in teilweiser Erfüllung der Vision Jesajas (25,6-8) einem Festmahl vor, zu dem die Juden und schließlich alle Völker eingeladen werden, bei dem edler Wein und reichhaltige Speisen gereicht werden und der Tod für immer abgeschafft ist. Kana könnte die Erfüllung des Aufrufs Gottes sein, der wiederum durch Jesaja zum Ausdruck kommt: Kommt zum Wasser, kauft Wein und Milch ohne Geld, umsonst. Denjenigen, die dieser Einladung folgen, werden Leben und ein ewiger Bund versprochen (Jesaja 55,1-3). Unsterblichkeit ist ein Thema des ganzen Evangeliums. „In ihm war das Leben“ (Johannes 1,4).

Das ist zwar richtig, aber wieder ist in Frage zu stellen, ob Johannes tatsächlich wie Paulus und die Synoptiker so ohne Weiteres eine Einladung an alle Völker ausspricht und ob er das Konzept einer Unsterblichkeit vertritt, die sich auf das ewige Leben im Himmel beschränkt. Und wieder ist nicht klar, ob Johannes wirklich die Vorstellung des Markus (14,25) übernimmt (45), dass „der Wein zu Kana … ein Vorgeschmack des Weines ist, den er mit seinen Schülern trinken wird, wenn der Tod nicht mehr ist und die Welt erneuert worden ist.“ Wie dem auch sei: Littles Verweis auf das 1. Buch Henoch (62,14-16), demzufolge „nach dem Gericht die Gerechten bei dem Menschensohn wohnen und mit ihm essen und das Gewand des Lebens anziehen werden“, bezieht sich auf das Leben auf dieser Erde nach dem Anbruch der kommenden Weltzeit des Friedens.

Da wiederum Johannes (6,63) auch den Geist als Lebensspender begreift, kann nach Little „der Wein auch mit dem Heiligen Geist in Verbindung gebracht werden, einem Zeichen für die Lehre, die Christus jetzt gegeben hat und die der Geist geben wird, wenn er aufgefahren ist (Johannes 14,26).“ Bestätigt wird das ihm zufolge nicht nur (Anm. 142) durch „die Fülle des guten Weines“, die auch Hengel [102] „mit dem Geist“ in Verbindung bringt, den Gott nicht ek metrou gibt (Johannes 3,34), was Little mit „ohne Maß“ übersetzt, <42> sondern auch durch eine Verbindung

zwischen Wein und Feuer, die Goodenough <43> betont. Wein ist in dieser vom hellenistischen Heidentum übernommenen Sichtweise das dem Wasser hinzugefügte Feuer. Er zitiert 4. Esra 14,38-47, in dem Esra berichtet, wie ihm beim Schreiben des Buches „ein voller Becher gegeben wurde, der gleichsam mit Wasser gefüllt war, dessen Farbe aber wie Feuer war“. Eine solche Kombination von Wasser und Feuer, so Goodenough weiter, sei sehr häufig anzutreffen und werde natürlich rituell im Wein dargestellt.

In diesem Zusammenhang spricht Little auch noch von der Ersetzung der Wassertaufe des Täufers Johannes durch Jesu Geisttaufe (Johannes 1,33), bei der es auch wieder darauf ankommt, ob „Geist“, pneuma, hebräisch ruach, in rein geistigem oder überweltlichen Sinn oder von der jüdischen Tora her verstanden wird. <44>

1.3.2.8 Steht der Wein zu Kana als „Traubenblut“ für das Sühneblut des Lammes?

Obwohl es Edmund Little bewusst ist (45), dass es „keine eucharistische Einsetzung im johanneischen Bericht über das letzte Abendmahl und keine Einsetzungsworte in Kana“ gibt, will er das Weinwunder zu Kana doch als die Art und Weise verstehen, in der Johannes die Einsetzung des Abendmahlsweins vornimmt. Zu diesem Zweck verweist er darauf, dass (46) Jesu „Eingreifen in Kana eine Vorwegnahme seiner ‚Stunde‘ ist“, in der Jesus als das „Lamm Gottes“ einen sühnenden Tod stirbt:

Jesus war von Johannes dem Täufer als das „Lamm Gottes“ verkündet worden, das die Sünde der Welt wegnimmt (Johannes 1,29.36). Das Passahlamm wurde nicht zur Sühne für die Sünde geopfert. Es erinnerte an die Befreiung aus Ägypten und den Tod der ägyptischen Erstgeborenen. Implizit erinnert es die Gläubigen an die Befreiung in das verheißene Land. Lämmer wurden jedoch in Sühneopfern dargebracht. Der leidende Gottesknecht geht in den Tod wie ein Lamm zum Schlachter (Jesaja 53,7). Um sein Volk vom Tod zum Leben zu befreien, muss Christus sterben (Johannes 12,24) und so in das Haus seines Vaters eintreten, um seinen Jüngern einen Platz zu bereiten (14,2). Der Menschensohn muss erhöht werden (am Kreuz und in den Himmel), damit jeder, der an ihn glaubt, ewiges Leben hat (3,14-16.36). Unsterblichkeit wird durch den Tod erreicht. In der Chronologie des Johannes wird Jesus also am Mittag des Tages vor dem Passahfest verurteilt, als die Priester begannen, die Osterlämmer im Tempel zu schlachten. In einer nur bei Johannes vorkommenden Szene fließt Blut zusammen mit Wasser aus der Seite Jesu (19,34).

Interessant ist hier zunächst das Passahlamm, das Little nicht so sehr in den Kram passt, da es eben „nicht zur Sühne für die Sünde geopfert“ wurde, sondern an die Befreiung Israels aus dem ägyptischen Sklavenhaus erinnerte. Wenn aber Jesus nach Johannes ausgerechnet zur Zeit der Schlachtung der Passahlämmer gekreuzigt wird, könnte Johannes ihn genau als ein neues Passahlamm begreifen, das heute die Befreiung aus dem weltweiten Sklavenhaus Roms bewirkt.

Die Frage bleibt aber, was Johannes (1,29) mit dem Wegnehmen der „Sünde der Welt“ durch das Lamm meint. Alle drei Wörter, airein, „aufheben, wegtragen“, hamartia, „Sünde, Verfehlung, Verirrung“, und kosmos, „Welt, Weltordnung“, bedürfen einer genaueren Klärung (vgl. dazu Abschnitt 2.4.5.1 und Abschnitt 2.4.9.4). Nach Ton Veerkamp <45> ist auch die Übersetzung „Lamm“ für amnos nicht unbedingt korrekt, er wählt stattdessen „Mutterschaf“:

1,29 „Siehe: das Mutterschaf, das von GOTT kommt
und die Verirrung der Weltordnung aufhebt.

Amnos steht für hebräisch rachel, ein weibliches Schaf, das bereits Lämmer geworfen hat. Johannes bezieht sich auf Jesaja 53,7: „das Mutterschaf, das verstummt vor seinen Scherern.“ Jesaja 53 handelt von einem Menschen, der Verantwortung für seine Stadt Jerusalem trug und von der Reichsregierung haftbar für die Rebellion der Stadtbewohner gemacht wurde. Das „Tragen der Sünden“ ist das Auf-sich-Nehmen der Folgen, die sich aus der Rebellion ergeben. Hier geht es um die Verirrung der Weltordnung, das heißt der Welt, die durch das Römische Reich geordnet wurde. Der „Menschensohn“ wird haftbar gemacht für diese Verirrung, er muss den Gang antreten, den der „Knecht Gottes“ in Jesaja 53 gehen musste. Es geht also nicht um moralische Verfehlungen der einzelnen Menschen, sondern um die Verirrung der ganzen Menschenwelt.

Little dagegen geht davon aus, dass Jesus das ganze Konzept der jüdischen Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung hinter sich lässt und durch die christliche Erlösung von einer eher religiös-moralisch verstandenen Sünde ersetzt. Die gesellschaftspolitische Übertretung der Tora mit ihrer Forderung nach Befreiung und einer Disziplin der Freiheit bleibt bei ihm völlig außer Acht. Ebenso auch, dass es nicht die Unsterblichkeit als solche ist, die durch den Tod Jesu erreicht wird, sondern die Überwindung der Todesmächte der bedrückenden Gewaltherrschaft der Römischen Weltordnung. Auf die Auferstehung der Toten am Tag der Entscheidung hofft der Jude Johannes dagegen bereits auf Grund von Daniel 12,2.

Es verwundert nicht, dass Little als katholischer Priester auch Jesus im Johannesevangelium mit priesterlichen Zügen ausstattet (46):

Kana nimmt Jesus als Priester und leidenden Gottesknecht auf dem Kalvarienberg vorweg. Als Priester und König, als neuer Melchisedek, schenkt Jesus Wein und später Brot aus, die seinen eigenen Leib und sein Blut vorausdeuten, die er als Opfer zur Tilgung der Sünde der Welt darbringt. Das aus Reinigungsgefäßen geschöpfte Wasser weist auf die Vergeblichkeit der alten Riten mit Wasser und Tierblut hin. Auf Golgatha werden Blut, Wein und Brot der alten Opfer erfüllt und abgelöst. Es ist kein Zufall, dass die Reinigung des Tempels und die Vertreibung der Opfertiere aus dem Tempel unmittelbar nach dem Wunder beschrieben wird.

Hier betreibt Little meines Erachtens massive Eis-egese, also nicht Ex-egese als Auslegung der Schriften, sondern Hineindeutung bestimmter dogmatischer Interessen. Man erkennt, warum Melchisedek wegen seines Angebots von Wein an Abraham mit Jesus parallelisiert wird, aber (anders als im Hebräerbrief, <46> der tatsächlich auf Melchisedek eingeht und Jesus ausdrücklich als wahren Hohenpriester begreift) Johannes bezeichnet nirgends den Messias Jesus selbst als Priester und beschreibt auch keine Einsetzung eines Sühneritus. Was man allenfalls als sakramentale Handlung bezeichnen könnte, ist die Fußwaschung, mit der Jesus ein Beispiel des freiwilligen Sklavendienstes gegenseitiger Solidarität geben wollte. Und er vertritt natürlich priesterliche Anliegen, indem er den Tempel reinigt und sein gesamtes messianisches Handeln am jüdischen Festkalender ausrichtet.

Auch die Schlussfolgerung, es ginge im Johannesevangelium um „die Vergeblichkeit der alten Riten mit Wasser und Tierblut“, die durch die christlichen Opfer von „Blut, Wein und Brot“ abgelöst werden, kann sich nicht wirklich auf die angeführten Begründungen stützen. Genau so gut könnte man sagen,

  • dass Jesus den messianischen Wein aus dem Wasser der Tora schöpfen lässt,
  • dass er im Johannesevangelium weder (wie in Markus 12,33 und Matthäus 9,13; 12,7 einigen Propheten folgend) Kritik am Opferkult übt noch ausdrücklich einen neuen Opferritus mit Wein und Brot einsetzt
  • und dass er die Tempelreinigung gut jüdisch-prophetisch mit dem Eifer um das Haus Gottes (Johannes 2,17; Psalm 69,10), das nicht zu einem Kaufhaus gemacht werden soll (Johannes 2,16), begründet. <47>

Aber was ist mit dem folgenden Argument von Little (47)?

Der Tempel (mit seinen überflüssigen Tieropfern) würde zerstört und durch den Leib Jesu ersetzt werden (Johannes 2,20-22). Jesus hat dies im Sinn, wenn er der samaritanischen Frau am Brunnen eine neue Ordnung der Anbetung voraussagt. Gott wird weder auf dem Berg Gerizim noch auf dem Berg Zion (Jerusalem) angebetet werden, sondern im Geist und in der Wahrheit (Johannes 4,21-24).

Hier ist einerseits zu bedenken, dass Kritik an einem Opferkult, der nicht mit einer toragemäßen Sozialpolitik einherging, bereits von jüdischen Propheten geübt wurde und dass der Tempel auch im rabbinischen Judentum nach seiner Zerstörung durch die Konzentration auf die Tora ersetzt wurde. Andererseits ist zu fragen, ob die Anbetung „im Geist und in der Wahrheit“ wirklich als eine christliche Neuerung im Gegensatz zur jüdischen oder samaritanischen Religionsausübung auf ihren heiligen Bergen betrachtet werden muss. Zu dieser Frage und zur Überwindung des Entweder-Oder der Berge Zion oder Gerizim muss ich ausführlich Ton Veerkamp <48> zitieren, um zu klären, was Johannes wirklich meint:

Auf der Ebene der Erzählung (fiction) existiert das Heiligtum in Jerusalem noch; auf der Ebene des Erzählers (reality) sind beide Heiligtümer zerstört. Beide Völker haben „keinen Ort, nirgends“ mehr. „Weder Jerusalem noch Gerizim“ ist trostlose Realität, für beide Völker. Welche Zukunft haben sie denn? Wem können sie noch nachgehen, es sei denn dem Götzen dieser Weltordnung?

Aber dann kommt der Satz: „Ihr verneigt euch vor dem, wovon ihr kein Wissen habt. Wir verneigen uns vor dem, wovon wir Wissen haben.“ …

Das „wir“ ist hier keine homogene jüdische Größe, was im Kontext des Johannesevangeliums auch nicht anders zu erwarten ist. Es ist das „wir“ der messianischen Gemeinde, die weiß, dass sie judäischen Ursprungs ist und das weder verleugnen will noch kann. Nur so ist sie eine Bewegung für und in Israel gewesen, nur so eine konkret-politische Befreiungsbewegung des Volkes Israels, das mehr ist als das Volk Judäas. Das weder – noch weist über den Gegensatz zwischen Judäa und Samaria hinaus, freilich nicht in der Form eines christlichen, alle Gegensätze überwindenden Jenseits. Das „Jenseits“ ist für Johannes das Diesseits „ganz Israel in einer Synagoge bzw. einem Hof“, der Inhalt seines politischen Programms (11,52 bzw. 10,11-16). Diese messianischen Judäer wissen, vor wem sie sich verneigen, indem sie wissen, dass das historisch reale Heiligtum, das emporion, zum Markt, geworden war und zerstört wurde, ersetzt wurde durch das in drei Tagen aufgebaute Heiligtum des „Körpers des Messias“, d.h. der messianischen Gemeinde (2,18ff.). …

„Es kommt die Stunde – und das ist jetzt! -, dass die, die sich wirklich vor dem VATER verneigen, sich inspiriert und getreu verneigen.“ In Geist und Wahrheit übersetzt man immer. Nicht falsch, aber abgegriffen, verschlissen. Das Bewusstsein hat die Treue Gottes zu Israel als wesentlichen lnhalt und diese inspiriert. Inspiration – das Wort enthält das lateinische Wort spiritus (pneuma, ruach) – ist das, was das Handeln, Reden und Denken der Menschen orientiert, von der Treue her, auf die Treue hin. „Gott“ ist das, was die letztendliche Loyalität der Menschen beansprucht, es ist das, worum es einem Menschen eigentlich geht. „Gott“ hat in Israel einen NAMEN, und diesen NAMEN kann man nur aussprechen als: Der aus dem Haus des Sklaventums herausführt (Exodus 20,2), als moschiaˁ jißraˀel, Befreier Israels (Jesaja 45,15). „Gott“ funktioniert aber tatsächlich als alles mögliche andere, als namenlose Götter. Samaria ist aufgerufen, nur diesem NAMEN als „Gott“, als dem, worum es eigentlich geht, zu huldigen.

Solche suche der VATER, „denn Gott“, so Jeschua, „darf nur noch als diese Inspiration funktionieren“. Das heißt: sich durch den Befreier und seine Befreiung inspirieren lassen, seine ganze politische Tätigkeit auf diese Befreiung ausrichten, diese Befreiung „Gott“ sein lassen. Es geht in diesem Gespräch nicht um akademische Klarstellung, ob Gott ein „Geist“ sei. Nein: Gott inspiriert durch seine Treue zu seinem Volk, das er befreien will, wie er einst Israel aus dem Sklavenhaus befreite.

1.3.2.9 Ist Jesus selbst mit dem Wein zu Kana gleichzusetzen?

Edmund Little geht noch einen Schritt weiter (47), um seine christlich-sakramentale These zu vertreten:

Jesus ist der Wein. Indem er ihn den Menschen gibt, gibt er sich selbst. Im biblischen Denken war das Blut das Leben (1. Mose 9,4). In seiner Abhandlung über Träume hatte Philo [De Somniis II, 249] den Logos als den Mundschenk Gottes identifiziert, der in den Kelch der eigenen Vernunft der Seele sein eigenes Selbst einschenkt, „die Wonne, die Süße, die Erheiterung, die Heiterkeit, die Ambrosia-Droge, deren Medizin Freude und Wonne gibt“. Hier ist für Philo das Wort selbst das Getränk. Nach der Speisung der Fünftausend verkündet Jesus, dass sein Leib und sein Blut für diejenigen, die davon essen und trinken, Quellen des Lebens sind.

Eine hellenistische Exegese des Johannesevangeliums darf sich sicher von Philo in dieser Weise vorbereitet und bestätigt wissen. Trotzdem bleibt offen, ob schon Johannes als jüdischer Messianist Jesus in dieser Weise mit dem Wein identifizierte, da ja nirgends im Evangelium auch nur ein Tropfen rituellen Weins getrunken wird.

Allerdings untermauert Little seinen Gedanken mit einem weiteren Argument:

Die Identität des Weins in Kana mit Jesus selbst wird durch die internen Belege des Evangeliums bestätigt. Der Verwalter auf der Hochzeit weiß nicht, woher der Wein kommt (2,9). Die Pharisäer wissen nicht, woher Jesus kommt (9,29-30). Ein verwirrter Pilatus fragt Jesus, woher er komme (19,9).

Ton Veerkamp fragt sich zu diesem Detail der Kana-Erzählung, wer mit dem architriklinos gemeint ist, dem der Wein zur Prüfung gebracht wird. <49> Ihm zufolge entpuppt sich diese geheimnisvolle Gestalt nach Johannes 3,29 <50> als der Vertraute des Messias, Johannes der Täufer, der zunächst kein Wissen vom Messias hatte, aber im Wirken des Messias die „Stimme des Bräutigams“ erkennt und als sein Zeuge auftritt.

1.3.2.10 Jesus und Maria als Bräutigam und Braut bei der Hochzeit zu Kana?

Schließlich behandelt Little (47) den „Zusammenhang mit einer Hochzeit“, in den das Weinwunder gestellt wird und der „auf das alttestamentliche Bild der Hochzeit als eines Ausdrucks von Gottes Beziehung zu Israel anspielt“. Jetzt erwähnt auch er Johannes den Täufer als den Freund des Bräutigams, ohne allerdings seine Identität mit dem architriklinos der Hochzeit zu Kana zu bemerken.

Ein „weiteres Beispiel johanneischer Ironie“ erkennt Little darin (47f.)

dass der wahre Bräutigam Israels seine Herrlichkeit als ein Gast bei einer Hochzeit in Kana offenbaren sollte. … Der Leser erkennt Jesus, den unbekannten Spender des Weins, als den wahren, aber verborgenen Bräutigam der Geschichte.

Denkbar ist aber auch, dass Johannes bewusst in der Schwebe lässt, wer genau der Bräutigam Israels ist. Nach den jüdischen Schriften ist und bleibt dieser Bräutigam der Gott Israels (siehe Abschnitt 1.2.1.3), und Johannes als jüdischer Messianist hätte niemals Jesus als eine neue göttliche Gestalt verstanden, die den Gott Israels als Partner Israels bei der endzeitlichen Hochzeit ersetzt. Allerdings tritt im Laufe des Evangelium immer deutlicher hervor, dass der Messias Jesus voll und ganz den befreienden NAMEN des Gottes Israels verkörpert und in dieser Funktion tatsächlich als der Bräutigam der messianischen Hochzeit erkannt werden kann – und das nicht erst (48) im Buch der Offenbarung (19,9 und 21,2), sondern bereits in Johannes 3,29. <51>

Am Rande (Anm. 157) geht Little auch noch auf den Vorschlag Charliers <52> ein, „dass Jesus und seine Mutter der wahre Bräutigam und die wahre Braut bei der Hochzeit sind“. Er hält das für gar nicht abwegig, sondern für

eine Art fruchtbares Paradoxon, das in der Schrift und der Theologie zu finden ist. Israel wird im Alten Testament als Braut (Jesaja 62,5), Tochter (Jesaja 62,11) und Sohn (Hosea 11,1) dargestellt. Maria ist die Mutter Jesu, aber als Vertreterin Israels ist sie auch die Braut Gottes und die Braut ihres Sohnes. Paulus‘ Bild von der Kirche als Leib Christi (1 Korinther 12,12-30) passt gut zu der Vorstellung von der Kirche als Braut Christi. So wird Christus, rein rational betrachtet, zu seiner eigenen Braut. Eine Ehe zwischen dem buchstäblichen Verstand und der poetischen, insbesondere theologischen Symbolik wird immer unglücklich sein.

Dem letzten Satz ist zwar zuzustimmen; dennoch spricht nichts dafür, Maria im johanneischen Kontext als Braut Christi zu verstehen, es sei denn, man will Johannes unterstellen, dass er Maria wenigstens als Gottesbraut darstellt, wenn er schon darauf verzichtet, sie durch Geburtsgeschichten Jesu als Gottesmutter zu stilisieren. Ist es nicht Ehre genug für die Mutter des Messias, wenn sie ein Israel repräsentiert, das bereit ist, auf den Messias Jesus zu hören (siehe Abschnitt 1.3.2.2)?

1.3.2.11 Ersetzt Jesus als die Weisheit das alte „Gesetz“ der Juden?

In einem letzten Anlauf (48) setzt Little den mit dem Wein identifizierten Jesus konsequenterweise auch mit der Weisheit gleich (wovon bereits ganz am Anfang dieses Kapitel, Abschnitt 1.3.2.1, die Rede war):

Der Wein kann mit der Weisheit assoziiert werden, die im neunten Kapitel der Sprüche ihr Festmahl vorbereitet und die Menschen dazu einlädt. Jesus ist nach dieser Auffassung die fleischgewordene Weisheit, die den Wein seiner Lehre für diejenigen zubereitet, die sie annehmen werden, vielleicht den neuen Wein der synoptischen Evangelien, der nicht in alte Schläuche gefüllt werden sollte.

Dazu merkt Little an (Anm. 158), dass Boismard und Lamouille [1977, 105] „im Anschluss an Origenes, Kyrill von Alexandrien und den heiligen Ephrem die Identifizierung des Weins mit der Weisheit, der durch das Wort Gottes gegebenen Lehre“, bevorzugen. Demzufolge wäre nicht Jesus selbst die Weisheit, sondern seine Lehre.

Johannes 2,10 sollte nach Boismard in diesem Sinne interpretiert werden. Der alte Bund, der durch das Gesetz, die Propheten und die Weisheit gegeben wurde, war gut, aber die Offenbarung durch Jesus war noch besser. Er wendet Jesaja 55,1-3 auch auf Kana an. Jesus als das fleischgewordene Wort Gottes lädt die Menschen ein, zum Wasser zu kommen und Wein und Milch ohne Geld zu kaufen.

In gewisser Weise ist auch gemäß der Auslegung von Ton Veerkamp richtig, dass Johannes den Messias Jesus gegenüber Mose und den Propheten als überlegen begreift. Immerhin verkörpert er den NAMEN des Gottes Israels selbst, ist er eins mit ihm, seinem befreienden Willen. Und seine Aufgabe überbietet ebenfalls gewaltig die Aufgaben seiner Vorgänger, indem diese die Befreiung in Form des Auszugs aus der Unterdrückung in ein Land der Freiheit oder der Rückkehr aus dem Exil zu bewerkstelligen hatten, das Werk des Messias dagegen besteht darin, durch seinen eigenen Tod am Kreuz die weltweite Sklaverei durch die herrschende Weltordnung zu überwinden.

Little selbst fährt fort (49):

Da Weisheit häufig mit der Tora in Verbindung gebracht wird, ist eine plausible Interpretation von Kana, dass Jesus als wahre Weisheit den Wein seiner Offenbarung anstelle des alten Gesetzes anbietet. Wer Weisheit begehrt, sollte die Gebote [des Gesetzes] halten (Sirach 15:1f). Wer ihn liebt, so erklärt Jesus, sollte seine Gebote halten (Johannes 14:15).

In der Tat ist das die vertraute christliche Auffassung: durch das neue Gebot der Liebe Jesu, durch sein Evangelium, wird die Tora der Juden, üblicherweise als Gesetz bezeichnet, ersetzt und überholt, weitestgehend überflüssig gemacht. In seiner Auslegung von Johannes 1,16-17 (siehe Abschnitt 1.3.1.6, insbesondere meine Anm. 33) schreibt Ton Veerkamp <53> zum Verhältnis zwischen der Tora und Jesu neuem Gebot:

Die Solidarität Gottes mit Israel zeigte sich in der Tora (nomos) durch Mosche [Mose]. Die Peruschim [Pharisäer] sagten zum geheilten Blindgeborenen: „Wir sind die Schüler des Mosche“ (9,28). Das bedeutet, dass Mosche ihr Lehrer ist, Mosche rabbenu. Letzteres ist geradezu die Definition des rabbinischen Judentums. Die Solidarität Gottes mit Israel ist in diesem Judentum ausschließlich die Tora des Mosche. Diese Tora beschreibt die Ordnungen, in denen das Volk Israel leben will. Diese Ordnungen sind heilsam, sie ermöglichen ein menschliches Leben in Israel.

Diese Gesellschaftsordnung von Autonomie und Egalität ist/war die Solidarität Gottes. Ist sagt das rabbinische Judentum. War, sagt Johannes. Denn die Umstände – und wahrlich die weltweiten, globalen Umstände – haben sich so geändert, dass die Gesellschaftsordnung der Tora politisch nirgendwo mehr durchführbar ist. Die Tora ist jetzt das mandatum novum, die Solidarität, die agapē der Schüler des Messias untereinander. Also nicht die allgemeine Menschenliebe, sondern der Zusammenhalt der Gruppe unter allen, auch unter den widrigsten Umständen. So geschieht heute die bleibende chessed we-ˀemeth, charis kai alētheia des Gottes Israel durch den Messias Jeschua.

Ist das eine neue Tora? Es scheint so: „Was nun als Tora durch Mosche gegeben wurde, das geschieht als solidarische Treue (chessed we-ˀemeth) durch Jeschua Messias“ (1,17). Man kann das eine nicht gegen das andere ausspielen, denn dieser Satz heißt: Solidarische Treue Gottes Israel gegenüber bleibt auch dann, wenn die Tora unter den tatsächlichen Umständen keine konkrete Lebensmöglichkeit mehr ist. Das sahen viele Messianisten (Paulus, Römer 7). <54> Die Tora ist durch die qualitativ neuen Verhältnisse sozusagen „ausgesetzt“ (oder einstweilen „geledigt“). <55>

Johannes redet nicht von einer neuen Tora (nomos kainos), sondern von einem neuen Gebot (entolē kainē). Johannes redet freilich sehr distanziert von der Tora („eure Tora“ 8,17; 10,34; „ihre Tora“ 15,25). Gleichzeitig aber bleibt die Tora (oder die Schrift) für Johannes davar, logos, Rede, die erfüllt werden muss. Erfüllen bedeutet für Johannes nicht erledigen (vgl. 19,24.28).

Der Verfasser des ersten Johannesbriefes hat da seine Schwierigkeiten. Ist das „Neue“ die ersatzlose Streichung des „Alten“, Jeschua die ersatzlose Streichung des Mosche? Der Ausdruck: Solidarität für [anti] Solidarität legt diese Schlussfolgerung nahe, erst recht der Satz: „Was nun als die Tora durch Mosche gegeben wurde, das geschieht als solidarische Treue durch Jeschua Messias.“ 1 Johannes 2,7f. lautet:

Freunde, ich schreibe euch kein neues Gebot,
sondern ein Gebot von alters her, das ihr von Anfang an hattet.
Das Gebot von alters her ist das Wort, das ihr gehört habt.
Wiederum schreibe ich ein neues Gebot.
Was vertrauenswürdig ist bei ihm, ist es auch bei euch:
dass die Finsternis vorbeigeht
und das wirkliche Licht bereits scheint.

Der Verfasser des ersten Johannesbriefes sieht keinen Ersatz des „Gebots von alters her“ (Mosche) durch das neue Gebot. „Das Gebot von alters her“ (entolē palaia) ist das gehörte Wort. Er vermeidet das Wort anti („statt, für“) der Vorrede. In der messianischen Gruppe um Johannes ist das Verhältnis zum rabbinischen Judentum noch lange im Fluss geblieben. Neu ist für ihn die neue Situation, die durch den Messias bereits in der alten Ordnung der Finsternis leuchtet. Kein Ersatz der Tora durch das mandatum novum. Die Diskussion in der Gruppe um Johannes ging offenbar auch um die Frage, ob man das „Alte“ überhaupt noch braucht. Überall suchten die messianischen Gemeinden ihr Verhältnis zum rabbinischen Judentum zu klären. Johannes 1,16f. reflektiert diese Debatte.

So gesehen ist es zwar verständlich, dass die Tora für die schon bald heidenchristlich dominierte Kirche immer mehr an Bedeutung verlor. Aber im Johannesevangelium selbst sollte das neue Gebot Jesu die befreiende Kraft der Tora nicht ersetzen, sondern unter den neuen Umständen auf neue Weise zur Erfüllung bringen.

1.3.3 Wie geht man um mit einem überreichen Angebot an Deutungsmöglichkeiten?

Nachdem Edmund Little (49) eine überwältigende Menge an alttestamentlichen Parallelen zum Stichwort „Wein“ in der johanneischen Kana-Erzählung aufgeführt und erläutert hat, beklagt er, dass viele Exegeten „sich von der Forschungsarbeit zurückziehen und auf Allgemeinplätze zurückgreifen“, was „den Bedeutungsreichtum des Johannes-Textes schmälert und das Wunder auf eine ‚gewaltige, aber banale‘ Aussage reduziert.“

Ein noch unglücklicherer Ansatz ist es, sich für eine bestimmte Interpretation zu entscheiden und dann den Rest als phantasievoll oder nicht durch den Text gestützt abzutun.

Dafür führt Little Bultmanns Weigerung an (49f.),

die Bedeutung des Weins außerhalb heidnischer Modelle zu suchen… Er verwirft in einer bloßen Fußnote entschieden jede mögliche Verbindung von Kana mit der jüdisch-christlichen Idee des messianischen Festmahls oder Hochzeitsmahls, weil seiner Ansicht nach in der Perikope kein Nachdruck auf die Hochzeit als solche gelegt wird [84]. Wie oft hätte Johannes die Hochzeit erwähnen müssen, um einen angemessenen Nachdruck zu setzen, der sie mit dem Alten Testament verbinden würde? Johannes stellt dieses vermeintlich heidnische Wunder in den Kontext einer jüdischen Hochzeit und weist auf jüdische Reinigungsgefäße hin. Dass es im Evangelium keine Erwähnung von Dionysos und in der Dionysos-Legende selbst keine Hochzeit gibt, bereitet Bultmann keinerlei Kopfzerbrechen.

An Rudolf Schnackenburgs entgegengesetzter Auffassung (50) – „er widmet der Dionysos-Frage einige Aufmerksamkeit, lehnt aber mögliche heidnische Einflüsse ebenso ab wie Bultmann die jüdischen“ <56> – kritisiert er dessen Skepsis gegenüber „sakramentalen Implikationen“ des Wunders zu Kana, während Schnackenburg solche in den Kapiteln 3 und 6 durchaus anerkennt:

Weder die Verwandlung des Wassers in Wein, noch seine Fülle, noch seine besondere Qualität bieten einen Vergleichspunkt [mit der Eucharistie], der ins Auge springt [Schnackenburg 1951, 16]. Für ihn sind es die Quantität und die Qualität des Weins, die den Sinn des Wunders erschließen, das er mit den bekannten alttestamentlichen Bildern des Glücks und der Freude in der messianischen Zeit in Verbindung bringt [18]. <57> Der Wein ist der erste der neuen Welt, die mit dem Erscheinen Jesu anbricht. Das Wunder ist die erste Manifestation der Majestät Jesu, der die Welt erneuert. Die Tatsache, dass es im Rahmen einer Hochzeit stattfindet, ist bedeutsam, denn im rabbinischen Denken ist der Tag des Messias ein Hochzeitstag, und der Wein ist ein Symbol für die neue Zeit [19]. Er lehnt eine eucharistische Deutung des Zeichens mit der Begründung ab, dass weder Jesus noch der Evangelist dies nahelegen, und vergisst dabei, dass Jesus und der Evangelist auch nicht auf die Fülle des Weins hinweisen, die an messianische und eschatologische Texte im Alten Testament erinnert.

Zusammenfassend urteilt Little über Auslegungen nach dem Muster Bultmanns oder Schnackenburgs:

Ein solcher einseitiger Dogmatismus in Verbindung mit einem phantasielosen Buchstäblichkeitswahn würde, wenn er ernst genommen würde, die meisten Auslegungen der Perikope praktisch ausschließen.

Als Beispiele dafür führt er unter anderem an, dass natürlich in Kana Wein „nicht von den Hügeln fließt oder von den Bergen tropft, wie es in Amos und Joel verheißen wird“, und (51) dass die Menge an Wein zwar großzügig bemessen ist „für eine Hochzeit auf dem Lande, aber erbärmlich im Hinblick auf eine eschatologische Vision.“ Auch die Verweise einiger Exegeten „auf die Fruchtbarkeit der Erde und die Anpflanzung von Weinstöcken als Zeichen der messianischen Freude“ werden wörtlich genommen in der Kana-Erzählung nicht bestätigt: „Kein Boden, keine Reben, keine Trauben sind beteiligt“, nicht einmal von Freude wird berichtet. Gegen Anspielungen auf die messianische Hochzeit könnte sprechen, dass nicht Jesus der Bräutigam ist, und gegen Jesus als die Weisheit, dass Jesus (52) sich weder mit ihr identifiziert noch wie die Weisheit (Sprüche 9) Gäste einlädt, vielmehr vollzieht er sein Wunder als Festgast bei einer Hochzeit. Am Ende seiner Aufzählung schreibt Little:

Mit einem streng prosaischen oder pedantischen Blick betrachtet, kann keine dieser Interpretationen vollständig gerechtfertigt werden, da keine von ihnen vollständig mit dem alttestamentlichen Text oder der Situation, mit der sie verbunden ist, übereinstimmt. Sollten sie daher alle verworfen werden, so dass wir mit einer Wundergeschichte zurückbleiben, der keine Bedeutung beigemessen werden muss? Glücklicherweise sind wir nicht an eine prosaische und pedantische Sicht der Dinge gebunden. So wie sie die Poesie töten kann, kann sie auch das Verständnis der Heiligen Schrift zerstören.

Little plädiert also (53) für einen offenen Umgang mit Assoziationen zu Vorstellungen im Alten Testament auf „einer poetischen, symbolischen Ebene“ und hält es für „engstirnig, auf strengen rationalen Kriterien für die Interpretationen anderer zu bestehen, während man der eigenen volle poetische Freiheit zugesteht.“ Das führt ihn zu folgendem Urteil über seine eigenen Ausführungen:

Alle bisher vorgebrachten Interpretationen sind plausibel. Keine ist vollständig beweisbar. Wir haben keine Aufzeichnungen über die Absichten des Johannes und müssen daher vorsichtig sein, um zu unterscheiden, was relevant und was auf die Kana-Erzählung anwendbar ist. Wir wenden alttestamentliche Bilder auf die Kanaerzählung an, um ihre Bedeutung zu entdecken. Ob Johannes selbst sie für seine Erzählung als relevant empfunden hätte, können wir nicht feststellen, und in jedem Fall lässt sich die Bedeutung großer Literatur nicht immer auf das beschränken, was ihr Autor ursprünglich beabsichtigte.

Schließlich stellt Little fest, dass andere Bilder als der Wein und die Hochzeit nicht in der Lage gewesen wären, dieselben Assoziationen heraufzubeschwören.

Reichliche Mengen Milch oder Honig würden sicherlich die Vorstellung von Gottes reichlichem Segen durch Jesus vermitteln und dem Zuschauer und Leser ein Bild von Jesus vermitteln, der wie der Gott der Vorzeit sein Volk mit guten Dingen versorgt und es in ein neues gelobtes Land führt. Mehr würde es nicht vermitteln. Öl in großen Mengen wäre ebenso wenig aussagekräftig.

Tatsächlich kann man Little dafür dankbar sein, die vielfältigen Zusammenhänge, in denen die Bilder des Weins und der Hochzeit in den jüdischen Schriften auftauchen, in eine Beziehung zur johanneischen Kana-Erzählung zu stellen. Davon, dass es Gründe geben kann, die eine oder andere Assoziation in den Vordergrund zu rücken und andere für zu weit hergeholt oder gänzlich unpassend zu beurteilen, war oben zu jedem Einzelfall bereits die Rede gewesen.

1.3.4. Dionysos – neu betrachtet

Da (53) der „Wein in vielen Kulturen üblich war“, untersucht Edmund Little auch „die Möglichkeit, dass Johannes mehr als die jüdische Tradition im Sinn gehabt haben könnte“.

Dabei geht er davon aus (54), dass die „hellenistischen Einflüsse, die den Wein in das Pessachmahl einbrachten, wahrscheinlich schon vor der Geburt Jesu auf andere Weise am Werk“ waren, denn das

jüdische religiöse Leben hatte bereits kanaanäische, babylonische und ägyptische Einflüsse aufgenommen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Götter Griechenlands und Roms es völlig unberührt gelassen haben.

Ohne Zweifel (55) war, worauf Cullmann <58> hinweist,

das palästinensische Judentum nicht homogen…. Er kontrastiert ein offizielles Judentum mit einem „mehr oder weniger nonkonformistischen Judentum, das bereits hellenistische Elemente enthielt.“

1.3.4.1 Der Gott des Weines und der Gott der Juden

Nach Bultmanns eigenen Kriterien, so stellt Little jedoch „ironischerweise“ fest, „sollte der Einfluss des Dionysos-Kults auf die Kana-Erzählung als unwahrscheinlich zurückgewiesen werden“, denn Dionysos vollbringt kein Wunder der Verwandlung von Wasser in Wein.

Und auch umgekehrt (56) hat niemand

bisher einen mosaischen Einfluss auf die Bacchen vermutet oder umgekehrt, obwohl Mose Wasser aus einem Felsen schlägt und sein Volk in ein Land führt, in dem Milch und Honig fließen. Da Brot, Wasser, Wein, Milch und Honig sowohl in Griechenland als auch in Palästina vertraute Nahrungsmittel waren, könnte ihre Verwendung in der religiösen Symbolik der beiden Völker zufällig sein. Wenn Johannes diese oder andere heidnische Legenden als Quelle genommen hat, hat er sie so gut verschleiert, dass sie von den jüdischen Quellen nicht zu unterscheiden sind, die der Kana-Erzählung näher stehen als den dionysischen Geschichten.

Übereinstimmungen mit heidnischen Quellen mögen also zufällig sein; trotzdem meint Little (57), dass es „ebenso töricht ist“, einen „heidnischen Einfluss für unzulässig zu halten … wie die völlige Ablehnung der alttestamentlichen Quellen.“ Und er fügt hinzu:

Der Wein ist in der Tat eine kleine Übereinstimmung im Vergleich zu anderen Parallelen zwischen Jesus und dem heidnischen Gott. Dionysos wurde von einer sterblichen Mutter, Semele, und dem Gott Zeus, dem Vater der Götter, geboren. In Phrygien wurde er als Diounisis, ein Gott der Vegetation, verehrt, der starb und wieder auferstand. <59>

Hier ist es an der Zeit, ein entscheidendes Kriterium heranzuziehen, nämlich den grundlegenden Unterschied der heidnischen Götterwelt zum Gott Israels, wie ihn jedenfalls diejenigen Juden verstanden, denen der NAME dieses Gottes und sein befreiendes Wirken für Israel am Herzen lag. Weder sind die Vorstellungen über göttliche Vaterschaft in der griechischen Mythologie und in der jüdischen Bibel miteinander zu vereinbaren noch kann das Sterben und Auferstehen eines heidnischen Vegetationsgottes mit dem Kreuzestod Jesu als dem zum VATER aufsteigenden Messias identifiziert werden. <60>

Falls Johannes tatsächlich ein hellenistisch denkender Jude gewesen wäre, der heidnisches Gedankengut aufgegriffen und sich von der jüdischen Tradition bis hin zur grundsätzlichen Judenfeindschaft entfernt hätte, wovon etwa Adele Reinhartz <61> ausgeht, dann sind auch dionysische Einflüsse nicht auszuschließen. War er aber ein jüdischer Messianist, wie Ton Veerkamp mit guten Gründen annimmt, dann kann er zwar Kenntnis von heidnischen Mysterien gehabt haben, aber sich allenfalls ironisch und voller Abscheu auf sie bezogen haben.

1.3.4.2 Offenbart sich Jesus als Gott wie Zeus und Hermes vor Philemon und Baucis?

Das gilt auch (56) für die Geschichte von Philemon and Baucis (Ovid Metamorphosen VIII 626-720), bei denen Zeus und Hermes zu Gast sind und ein Wunder vollbringen. Eine Entsprechung zur Kana-Erzählung sieht Little darin (56f.), dass

ihre Gastgeber, ein einfaches, häusliches Paar, nichts von der wahren Identität der Götter wissen. Auch in Kana wissen die Dorfbewohner nichts von der wahren Identität und Mission Jesu. Die Götter offenbaren sich später Philemon und Baucis. Jesus offenbart seine Herrlichkeit den Jüngern.

Hätte das Wunder zu Kana einen solchen Hintergrund, ergäbe sich ein recht banaler Sinn. Jesus zaubert 600 Liter Wein, und am Ende wissen alle Festteilnehmer: er ist ein Gott. Oder christlich gesprochen: Gottes Sohn. Inwiefern er als der Messias des Gottes Israels dessen Sohn ist und worin seine doxa, Herrlichkeit oder Ehre, besteht, warum er diese Ehre zunächst gar nicht allen Anwesenden, sondern nur seinen Schülern offenbart, all das macht weitaus mehr Sinn im Rahmen einer jüdisch-messianischen Lektüre, die das Ereignis zu Kana als das prinzipielle Zeichen der messianischen Hochzeit begreift (vgl. dazu Abschnitt 1.2.1.3 und Abschnitt 1.3.1.3).

1.3.4.3 Entlieh Johannes seinen Humor dem populärsten der niederen Götter?

Nach Edmund Little (57) ist ein „weiteres Element der Erzählung, das dem dionysischen Einfluss zugeschrieben werden könnte, ihr Humor.“ Er bezieht sich dabei nicht nur (58) auf die „Praxis, Menschen, die zu beschwipst sind, um den Unterschied zu bemerken, minderwertigen Wein zu servieren“, sondern auch (57) auf den „Dialog in Kapitel 9 zwischen dem Blindgeborenen und den verärgerten Pharisäern“, die er für „eine der amüsantesten Passagen der Heiligen Schrift“ hält, wobei (58) der „Humor das Drama des Wunders und der Heilung durch den Kontrast im Tonfall deutlich hervortreten lässt“.

Zur Frage, ob diese Form des Humors speziell dionysisch geprägt oder aus der jüdischen Tradition heraus verstanden werden kann, meint Little:

Viviano <62> weist darauf hin, dass die antike Komödie für Figuren aus der Unterschicht als geeignet galt. Tragische Figuren mussten königlich sein. In Kana sind die niederen Diener, die Jesus gehorchen, in den Scherz eingeweiht, bevor der oberste Verwalter herausfindet, was vor sich geht. All dies ist vor einem israelischen Hintergrund durchaus verständlich. Mit hellenistischen Augen betrachtet, wird die Geschichte zu einem Bündel von Themen, die traditionell mit dem populärsten der griechischen niederen Götter verbunden sind, Dionysos, Bacchus, dem Gott des Weins, der Komödie, der niedrigen Feste, der wilden Tänze, des irdischen kleinen Volkes. Aus dieser Sicht sagt uns der Autor, dass Jesus sich nicht vor dem Lachen oder vor dem Volksvergnügen scheut. Er ist der Herr des Tanzes, der Herr des Vergnügens.

So reizvoll es ist, Jesus mit den Freuden der einfachen Leute in Verbindung zu bringen, halte ich es doch für unwahrscheinlich, dass der jüdische Messianist Johannes ihn zu diesem Zweck mit Zügen eines heidnischen Gottes ausstatten würde.

1.3.4.4 Hat das Gerichtshandeln Jesu etwas mit der Rachsucht des Dionysos zu tun?

Immerhin (58) ist es Little bewusst, dass die

Freude des Evangeliums wenig mit den Gelagen des Dionysos und seiner Anhänger gemein hat, die zu Beginn des vierten Buches der Metamorphosen von Ovid beschrieben werden.

Allerdings vergleicht er, wenn auch mit Einschränkungen, die Rachsucht des Dionysos mit dem Gerichtshandeln Jesu:

Es wäre jedoch ein Fehler, Dionysos nur mit Freude in Verbindung zu bringen. Er war ein boshafter kleiner Gott [Ovid Metamorphosen IV, 9.]. Wer sich ihm widersetzte oder sich weigerte, an seinen Gelagen teilzunehmen, wurde ertränkt wie die mäkonischen Matrosen oder wie Pentheus von seiner eigenen Mutter in Stücke gerissen oder in Fledermäuse verwandelt wie die Töchter des Minyas [Ovid Metamorphosen III-IV]. Jesus präsentiert eine höhere Ethik und die Gebote der Liebe, aber auch er verurteilt diejenigen, die sich nicht an seine Gebote halten, zum Tode.

Hier erweist es sich endgültig als abwegig, einen heidnischen Gott mit seiner kleinlichen Rachsucht auf eine Stufe zu stellen mit Jesus, der vom Gott Israels (Johannes 3,19; 5,22-30) als der Menschensohn mit dem Gericht über die finsteren Machenschaften beauftragt ist, die in der herrschenden Weltordnung gang und gäbe sind und die sich gerade auch im Auftreten der heidnischen Götter widerspiegeln. Hier rächt sich eine Sichtweise der Rache des alttestamentlichen Gottes, die in ihr nicht die Kehrseite der Barmherzigkeit und Solidarität des befreienden und Recht schaffenden NAMENS erblicken kann.

1.3.4.5 Enterbt und übertrifft Jesus das Judentum als ein neuer und größerer heidnischer Gott Dionysos?

In einer abschließenden Betrachtung innerhalb seines Exkurses zu heidnischen Einflüssen auf das Johannesevangelium macht Edmund Little deutlich, dass er trotz der Anerkennung seines „alttestamentlichen Hintergrunds“ der von Exegeten wie Brown [1966, 104] vertretenen Auffassung zustimmt, dass durch Jesus alle jüdischen Heilsgüter ersetzt werden (Anm. 198) und „alle früheren religiösen Institutionen, Bräuche und Feste in seiner Gegenwart an Bedeutung verlieren“. Wenn das so ist, sind auch Einflüsse einer (59) „hellenistischen Strömung, die vom jüdischen Denken absorbiert wurde“ nicht auszuschließen:

Jesus ist der neue Mose, der neue Elia und Elisa, die neue Weisheit, die neue Tora, der neue Tempel. Sein Leib und sein Blut sind neues Manna für die Juden, neue und lebensspendende Nahrung für die Heiden. Mit Blick auf die heidnische Welt, ob bekehrt oder unbekehrt, verkündet Johannes Jesus als den neuen und größeren Asklepios, einen neuen und größeren Dionysos, dessen Freude vollkommener ist und dessen Urteil gerechter ist.

So gesehen, wäre Jesus letzten Endes nichts weiter als ein neuer heidnischer Gott, nur in höherer moralischer Vervollkommnung. Mit dem Anliegen der Befreiung und des Rechts für das unterdrückte und entwürdigte Volk Israel hätte ein solcher Gottessohn nichts mehr zu tun. Obwohl Little von „neuem Manna für die Juden“ spricht, kann er in diesem Zusammenhang nur das eucharistische Brot für Judenchristen meinen, die die neue Religion des Christentum angenommen haben.

Hier muss ich massiv Einspruch erheben. Johannes als jüdischer Messianist hätte sich mit Schaudern von einer solchen Entstellung seiner Absichten abgewandt. Wo er auf die jüdischen Schriften zurückgreift, da geht er von der unverbrüchlichen Treue des Gottes Israels zu seinem Volk aus. Alles, was der Messias Jesus lehrt und tut, begreift er von den Schriften her, <63> zwar durchaus im messianischen Kontrast, da die Tora unter veränderten Umständen anders zur Erfüllung gebracht werden muss als bisher und da sich im Messias der NAME des befreienden Gottes selbst verkörpert, aber niemals mit dem Zweck, von der Befreiung Israels Abschied zu nehmen. Eine so selbstverständliche Ausrichtung des Johannesevangeliums auf die Heiden, wie Little sie voraussetzt, ist jedenfalls nicht zu belegen. <64>

1.4 Das Fest des Königreiches und die Kehrseite des göttlichen Gerichts

In seinem vierten Kapitel unternimmt Edmund Little einen weiteren Anlauf (61), um das Wunder zu Kana zu interpretieren. Einleitend schreibt er dazu:

Alle bisher untersuchten Interpretationen des Kana-Wunders gehen davon aus, dass es das Wohlwollen Gottes in Christus ausdrückt. Wein in Hülle und Fülle wird mit allem verbunden, was gut und angenehm ist: Segen, messianisches Glück, Weisheit. Es ist viel von Freude und Wonne die Rede, als Vorahnung des Lebens mit Gott am Ende der Zeit, wenn beim Fest des Reiches Gottes alles gut wird.

So vielversprechend diese Aussichten auch sind, sie stehen nicht im Einklang mit einer Reihe von Texten, in denen der Wein ein Zeichen menschlichen Fehlverhaltens und menschlicher Erniedrigung ist. Andere Texte, die nie im Zusammenhang mit dem Kana-Wunder zitiert werden, setzen den Überfluss an Wein mit dem Zorn Gottes und seinem Gericht über die sündige Menschheit gleich.

1.4.1 Die fehlende messianische Freude zu Kana und der Unterschied zwischen hōra und kairos

Zunächst überprüft Little (61), ob überhaupt „Kana als ein freudiges Ereignis“ dargestellt wird. Tatsächlich ist nirgends von Freude die Rede, „abgesehen von der komischen Bemerkung des Verwalters.“ Ganz anders als etwa „im Lukasevangelium“, <65> in dem „die Wunder Jesu die ausdrückliche Bewunderung und Ehrfurcht derer hervorrufen, die sie miterleben, gibt es keine freudige Überraschung seitens der Gäste, die nicht einmal die Herkunft des Weines kennen“. Und das Zögern Jesu, „der Hochzeitsgesellschaft eine Kostprobe“ des Weins der „messianischen Freude“ zu geben,

könnte auf dem Wissen beruhen, dass das Zeichen, wenn es einmal gegeben ist, weder für ihn noch für die anderen ganz angenehm sein wird. Seine „Stunde“ wird sowohl Leiden und Tod als auch Herrlichkeit umfassen. Warum sollte er sich voreilig auf seine Passion einlassen?

Hier macht Little auf einen wichtigen Aspekt der Kana-Erzählung aufmerksam. Allerdings sollte Jesu Zögern gerade im Johannesevangelium nicht einfach auf seine eigene Scheu vor dem Leiden zurückgeführt werden. Nach Ton Veerkamp <66> hat zwar ganz offensichtlich „der Wein etwas mit der ‚Stunde‘ zu tun“, nämlich mit dem Augenblick,

wo dem Mangel an Wein abgeholfen wird, wo Israel wieder zu Israel wird, indem die Kluft zwischen Israel (die Mutter) und der messianischen Gemeinde (Jeschua und seine Schüler) zugeschüttet werden wird. … Das Ansinnen der Frau ist wie eine dringende Bitte in dieser Feststellung [„Wein haben sie nicht“] verborgen. Es ist eine Bitte wie die der Schüler, Apostelgeschichte 1,6: „Ob du in dieser Zeit das Königreich für Israel wiederherstellen wirst?“ Dort wurden die Schüler zurückgewiesen (Apostelgeschichte 1,6), wie hier die Mutter zurückgewiesen wird. „Noch nicht“, sagt Jeschua hier, und er wird es später Maria aus Magdala sagen, weil sie Jeschua wie einen Lebenden zu berühren sucht: „Noch bin ich nicht zum VATER hinaufgestiegen“ (20,17).

Davon, dass Jesus das messianische Zeichen sofort vollbringt, sobald seine Mutter sich als ein Israel zu erkennen gibt, das bereit ist, auf den Messias zu hören, war bereits im Abschnitt 1.3.1.3 (insbesondere Anm. 29) die Rede. Das Zeichen besteht aber eben nicht in einem Aufruf zum sofortigen zelotischen Kampf für den Anbruch des messianischen Zeitalters; mit einem solchen Missverständnis, als ob es Jesus um den kairos, <67> den richtigen Zeitpunkt für einen gewaltsamen Aufstand gegen die römische Weltordnung ginge, wird der johanneische Jesus in 7,3-10 abrechnen, nachdem er sich bereits in 6,14-15 der Ausrufung als König entzieht.

Darauf, dass Johannes den Begriff kairos im Sinne eines günstigen Zeitpunkts für ein Vorhaben nur für den von ihm verurteilten zelotischen Kampf verwendet, geht Little übrigens auch im Zuge seiner Untersuchung (64) des Begriffs der hōra, „Stunde“, nicht ein, das für Johannes das bevorzugte Wort für die Zeit von Jesu entscheidendem Handeln ist. Aber was genau meint Johannes mit der „Stunde“ Jesu? In Littles Augen könnte

Kana ein Zeichen sowohl für das eschatologische Glück als auch für das endgültige Gericht Gottes sein, das wie die „Stunde“ Jesu noch nicht gekommen, sondern bereits vorweggenommen und im johanneischen Sinne bereits da ist. Mit seiner „Stunde“ meint Jesus nicht nur seinen Tod und seine Auferstehung, sondern die Folgen dieser Ereignisse. Sowohl das Leiden als auch die Herrlichkeit sind in ihr enthalten. Das Gericht ist eine wesentliche Folge von beidem.

Während der Begriff kairos also auf einen militant-zelotischen triumphalen Sieg über die Feinde Israels ausgerichtet ist, hat das Wort hōra mit der schockierenden Einsicht zu tun, dass der Messias getötet werden muss, um die Weltordnung überwinden zu können. Israel muss endgültig von messianistisch-zelotischen Abenteuern Abschied nehmen, darauf will Johannes mit dieser Wortwahl hinaus.

Mit „Herrlichkeit“ scheint Little in diesem Zusammenhang lediglich den Erweis zu meinen, dass Jesus als der „Sohn“ eben Gott ist und als solcher zum „Vater“ in den Himmel zurückkehrt. Das sehe ich anders – dazu mehr in Abschnitt 1.4.4.

Auf jeden Fall stellt Little zu Recht fest (62):

Nachdem der Wein hergestellt wurde und der Vorsitzende des Festes die Qualität des Weins kommentiert hat, wird die Tür zur Szene abrupt geschlossen. Es ist nicht einmal klar, ob Jesus unmittelbar nach dem Wunder oder erst nach dem Ende des Hochzeitsfestes nach Kapernaum abreiste.

Und er wehrt sich dagegen, daraus den Schluss zu ziehen,

dass jede Hochzeitsgesellschaft, die mit einer großen Menge guten Weins beschenkt wird, fröhlich, betrunken oder beides wird, und dass Johannes es uns überlassen hat, eine unvermeidliche Schlussfolgerung zu ziehen. Ist dies die einzige Schlussfolgerung, die man ziehen kann? Das Schweigen könnte Teil der Gesamtsymbolik sein, ein Zeichen für ein Ereignis, das der Evangelist noch nicht erzählen kann, weil die Erzählung noch nicht abgeschlossen ist.

Auf ein starkes Indiz für diese Nichtabgeschlossenheit der Erzählung macht Ton Veerkamp <68> aufmerksam, nämlich die letzten beiden Worte des architriklinos, des Vertrauten des Bräutigams, heōs arti, „bis jetzt“:

Dieser Vertraute sagt zum Bräutigam: „Jeder Mensch setzt zuerst den guten Wein vor und, wenn sie gezecht haben, den minderen. Du hast den guten Wein bewahrt – bis jetzt.“ Fangen wir mit dem letzten Satz an. Das Wort „bewahren“ bedeutet im Johannesevangelium sonst immer „das Bewahren der Gebote“. Noch zweimal hören wir den Ausdruck „bis jetzt“. In 5,17: „Mein VATER wirkt bis jetzt und auch ich wirke.“ Die andere ist 16,24: „Bis jetzt habt ihr um nichts mit meinem Namen gebeten. Bittet und ihr werdet nehmen, damit eure Freude erfüllt sei“, ganz am Ende der sogenannten „Abschiedsreden“. Diese Stellen erklären unsere Stelle hier. Jeschua hat gewirkt „bis jetzt“; bis jetzt spielte bei der Sehnsucht (beten) der Schüler der Name Jeschuas keine Rolle. In dem Moment, wo sie ihre Sehnsucht nach der kommenden Weltzeit mit dem Namen Jeschua verbinden, werden sie das, worum sie beten, annehmen, und ihre Freude wird sich erfüllen. Jetzt wird Israel zu jenem „guten Wein“; bis jetzt war es alles andere als guter Wein, Jesaja 5,1ff.:

Ich will singen für meine Geliebte,
ein Liebeslied:
Einen Weinstock hatte mein Geliebter, Weinstock für ihn,
an einem Hang fetten Bodens.
Er grub ihn um, entfernte Steine aus ihm,
er pflanzte in ihm einen edlen Wein,
baute einen Wachtturm in der Mitte
und hob ein Keltertrog aus.
Er hoffte, dass er Trauben bringt,
er brachte nur Saures.

Das gleiche Bild verwendet Jeremia (2,21). Das Zeichen Jeschuas verwandelt „zuletzt“ die bitteren Worte der Propheten in das, was der Geliebte von seinem Weinstock Israel immer erhoffte: guten Wein. Die Hoffnung Gottes geht „zuletzt“ in Erfüllung. Der architriklinos hilft dem Bräutigam aus einer großen Verlegenheit, ohne auch nur zu ahnen, wo der Wein herkommt, was hier überhaupt geschieht.

1.4.2 Bilder des Weins als Ausdruck von Gottes Gericht – nach welchen Kriterien?

Weiterhin erinnert Little daran (62), dass „sogar die Bibelstellen, die Wein mit Gottes Wohltat in Verbindung bringen, einen unheilvollen Ton anschlagen oder andeuten. Vor allem die Texte aus dem 5. Buch Mose machen deutlich, dass Gottes Wohlwollen an Bedingungen geknüpft ist“, nämlich „die Befolgung seiner Gebote“:

Die Texte, die auf die messianische und eschatologische Fülle hinweisen, implizieren, dass ein Gericht stattgefunden hat. Nur wer die Einladung annimmt und für würdig befunden wird, darf an dem Festmahl oder Hochzeitsmahl teilnehmen. Der Mann, der im Gleichnis von Matthäus nicht das passende Hochzeitskleid trägt, wird hinausgeworfen (Matthäus 22,11-14).

Wieder unterlässt es Little allerdings, die Frage zu beantworten oder sie überhaupt zu stellen, worin genau die Kriterien dieses Gerichtes bestehen. Ist derjenige würdig, der alle Gebote befolgt? Vielleicht auch derjenige, der Gottes Vergebung annimmt? Nimmt derjenige die Einladung an, der an Jesus als den Gottessohn glaubt?

Ausgerechnet die beiden nächsten Abschnitte, in denen Little auf blutrünstige Texte beider Testamente eingeht, machen deutlicher, worum es tatsächlich geht:

Zur Zeit Moses war die Verwandlung von Wasser in Blut eine Warnung an die Ägypter und ein Versprechen auf Befreiung für die Israeliten. Das Thema der Verwandlung von Wasser in Blut wird in der Apokalypse als deutliches Zeichen der Bestrafung und Zerstörung fortgesetzt. Der zweite Engel leert seine Schale mit dem Zorn Gottes über der Erde aus. Es fließt Blut und alles stirbt. Quellen und Flüsse verwandeln sich in Blut, wenn der dritte Engel seine Schale leert (Offenbarung 16,3-4).

Die Identifizierung von Blut und Wein in beiden Testamenten wurde bereits erörtert. Sie tritt in Texten, die das Gericht zum Thema haben, noch viel deutlicher hervor. In einem apokalyptischen Gedicht des Jesaja erscheint Gott wie ein Traubenernter, dessen Kleider mit Saft befleckt sind. Das „Blut“ der Trauben, wenn er die Weinpresse tritt, wird mit dem menschlichen Blut derer identifiziert, die er im Gericht niedergetreten hat, so dass sich ihr Saft/Blut über seine Kleider ergießt (Jesaja 63,3-4). Im apokalyptischen Gericht über die Heiden wird die ganze Ernte der Erde in die riesige Kelter des Zorns Gottes gelegt… (Offenbarung 14,17-20).

Entscheidend ist im ersten Satz das Stichwort Befreiung und sind in diesem gesamten Text die jeweiligen Hintergründe der Versklavung oder Bedrückung Israels – unter Ägypten zur Zeit des Mose, durch Babylon zur Zeit des Jesaja und in weltweitem Maßstab unter Rom zur Zeit der Offenbarung. Israels Gott, der NAME, hat sein Volk aus den ägyptischen Sklavenhaus befreit und zu einer Disziplin der Freiheit verpflichtet. Sobald es als Volk gegen diese Tora der Befreiung verstößt, etwa fremden Göttern hinterherläuft, in deren Namen ihre Könige sich widerrechtlich Nabots Weinberg aneignen (1. Könige 21), oder es zulässt, dass die Söhne und Töchter Israels versklavt werden (Nehemia 5,5), setzt es nicht nur die eigene Freiheit, sondern seine ganze Existenz aufs Spiel.

Würde man dagegen annehmen, dass Gott Menschen ausrottet, einfach weil sie die falsche Religion haben, oder ein Strafgericht über ganze Völker kommen lässt, weil sich einzelne Menschen moralisch falsch verhalten haben, muss man zu dem Schluss kommen, dem ich früher selbst zuneigte, dass der alttestamentarische Gott eben ein strafender Gott der Rache ist, der noch nicht die vollkommene Höhe des barmherzigen Vaters erreicht hat, den Jesus verkündet. Gegen ein derartiges Ausspielen der Gottesbilder beider Testamente spricht schon die eben angeführte Ähnlichkeit blutrünstiger Bilder der Offenbarung mit prophetischen Texten, aber auch die Beobachtung, dass dem johanneischen Jesus als dem Menschensohn die Aufgabe des Gerichts übertragen ist (5,22).

Zurück zu Little. Nachdem er außerdem (63) auf das Bild vom Kelch des Zorns hingewiesen hat, das an vielen Stellen der Bibel als Metapher für „Krieg und kommendes Gericht“ verwendet wird, so etwa in Psalm 75,9; Jeremia 25,15; 51,7; Offenbarung 14,10; 16:19, fasst er unter der Überschrift „Errettung oder Verdammnis“ zusammen, dass „das Trinken von Wein im Alten Testament sowohl negative als auch positive Assoziationen“ haben konnte (64):

Es kann ein Zeichen des Segens oder der Verurteilung sein. … Alle Ausleger gehen davon aus, dass Jesus, indem er den Wein bereitstellt, dem wohlwollenden Modell des Alten Testaments folgt. Die alternative Möglichkeit eines möglichen Zorns wird dabei übersehen.

Aber ist es denkbar, das Wein-Wunder zu Kana auch vor dem Hintergrund etwa von Jeremia 13,12-15 zu verstehen? Dort sagt der NAME dem ganzen Haus Israel und dem ganzen Haus Juda dieses harte Wort:

So spricht der HERR, der Gott Israels: Alle Krüge werden mit Wein gefüllt. Und wenn sie zu dir sagen: „Wer weiß das nicht, dass alle Krüge mit Wein gefüllt werden?“, so antworte ihnen: So spricht der HERR: Siehe, ich will alle, die in diesem Lande wohnen, die Könige, die auf dem Thron Davids sitzen, die Priester und Propheten und alle Einwohner Jerusalems mit Trunkenheit füllen und will einen am andern, die Väter samt den Söhnen, zerschmettern, spricht der HERR, und will weder schonen noch barmherzig sein und sie ohne Mitleid verderben. Hört und merkt auf und seid nicht so hochfahrend, denn der HERR hat‘s geredet.

Nichts spricht dagegen, dass der johanneische Jesus die judäische Elite seiner Zeit wegen ihrer Kollaboration mit der römischen Besatzungsmacht ähnlich hart beurteilt. In der deutschen Übersetzung erinnert die zweimal wiederholte Formulierung von den gefüllten Krügen sehr deutlich an Johannes 2,7. Allerdings stimmen die griechischen Wörter für „Krüge“ und „füllen“ an den beiden Stellen nicht überein: Jeremia hat askoi und plēroun, Johannes dagegen hydriai und gemisein. Gegen einen Bezug des betrunken machenden Weins auf die judäische Führung spricht auch, dass die Hochzeit ja ganz am äußersten Rand Galiläas und gerade nicht im Zentrum der Macht, in Jerusalem, stattfindet.

1.4.3 Verurteilt Gott Menschen, die er selbst verstockt oder betrunken gemacht hat?

Das schließt allerdings nicht aus, dass das Weinwunder neben dem hauptsächlichen Verweis auf die messianische Hochzeit auch auf mit dem Wein verbundene Gerichtstexte der jüdischen Schriften anspielt, zumal ein Thema, das Little in Anm. 206 anspricht, durchaus eine wichtige Rolle im Johannesevangelium spielt:

In einigen Texten scheint Gott die Herzen der Menschen zu verhärten oder sie taub und blind zu machen, so dass sie nicht wahrnehmen oder verstehen können, was er ihnen sagt (2. Mose 4,21; Jesaja 6,9-10). Dann verurteilt er sie für eine Empfindungslosigkeit, die er selbst herbeigeführt hat. In Texten, die mit Wein zu tun haben, führt Gott selbst die Trunkenheit herbei.

In Jesu Fazit seines vergeblichen Wirkens in Judäa, das er in Johannes 12,37ff. zieht, zitiert er genau die Verse Jesaja 6,9-10. Aber wie kann Gott Menschen für etwas verurteilen, was er selbst verursacht hat? Diese Frage halte ich für so schwierig zu beantworten und für so entscheidend wichtig, dass ich die Antwort, die Ton Veerkamp <69> dazu vorschlägt und die mir einleuchtet, hier vorstellen will. Im Zusammenhang seiner Auslegung von Johannes 20,23 kommt er zwar erst ganz am Schluss auf Jesaja 6,10, aber um zu verstehen, was er meint, muss so weit ausgeholt werden:

Die folgenden Sätze sind schwer zu übersetzen und noch schwerer zu erklären:

20,23 Wenn ihr irgendwelchen die Verirrungen vergebt,
mögen sie ihnen vergeben werden.
Soweit ihr bei ihnen Verstockung bleiben lasst,
bleiben sie verstockt.“

Vorab sei gesagt: Hier wird nicht, wie die Katholiken lesen, das Sakrament der Beichte eingerichtet. Es geht um Verirrung (hamartia, chataˀ, „Sünde“), um wegnehmen (aphienai, ssalach) und um verstockt sein lassen (kratein). Das Verb kratein kommt bei Johannes nur hier vor, das Verb aphienai dagegen vierzehnmal. Bis auf 20,23 bedeutet letzteres „verlassen, entlassen“. Man übersetzt dann „Sünden erlassen, vergeben“. Weil wir das Wort „Sünde“ ob seines moralistischen Beigeschmacks vermeiden und von „Verirrung“ reden, müssen wir aphienai mit einem Wort wie „aufheben“ umschreiben. In der Schrift werden „Sünden“ nur von Gott „vergeben“, „Verirrungen“ werden nur durch Gott „bedeckt“ (kipper vgl. jom kippur) oder „aufgehoben“, vgl. Markus 2,7. Das Verb ssalach („vergeben“) hat in der Schrift kein anderes Subjekt als Gott bzw. der NAME.

Was geschieht, wenn Verirrungen aufgehoben werden? In den ersten Kapiteln des Buches Leviticus wird über Verirrungen gesprochen. Der, der in die Irre gegangen ist, muss ein Opfer darbringen, er muss etwas vernichten, ein Handvoll Mehl verbrennen oder ein Tier schlachten. Er zeigt drastisch, dass durch seine Verirrungen etwas kaputtgegangen ist. Wenn er dieses Bewusstsein – mit einem drastischen Opfer – zeigt, wird die Verirrung bedeckt, und sie kann nicht länger ihre gesellschaftszerstörende Wirkung entfalten. Die Menschen können also wieder das tun, was ihre eigentliche Bestimmung von ihnen verlangt.

Das hebräische Verb chataˀ bedeutet so etwas wie „ein Ziel verfehlen“. „Vergeben“ bedeutet dann „wieder auf das ursprüngliche Ziel orientieren“. Wie gesagt, diese Neuorientierung kommt in der Schrift nur von Gott. „Wer vermag Verirrungen aufzuheben, es sei denn Gott“, fragen die Peruschim [Pharisäer] bei der Heilung des Gelähmten in Markus 2,7. In der Tat: Verirrungen kann man nicht dadurch aus der Welt schaffen, indem man sie „vergibt“. Die ursprüngliche Bestimmung der Menschen wird wiederhergestellt, indem Gott, von dem diese Bestimmung kommt, sie wieder zur Bestimmung der Menschen macht. In der Vollmacht „Gottes“ kann das der Messias, und in der Vollmacht des Messias können es die vom Messias inspirierten Schüler. Anders gesagt: Nur wenn ein Mensch Gott und seine gesellschaftliche Ordnung – die Tora – wieder als sein alleiniges Ziel annimmt, „ist ihm vergeben worden“ (nisslach lo, aphethēsetai autō). Diese Vollmacht erteilt der Messias durch seine Inspiration der Heiligung den Schülern.

Kratein ist offenbar das Gegenteil. Kratein, „ergreifen, verhaften, dingfest machen“. Wir sollten uns erinnern an Johannes 9,41: Jeschua sagte ihnen: „Wenn ihr blind wärt, würdet ihr euch nicht verirren. Jetzt sagt ihr: wir sehen. Eure Verirrung bleibt.“ Wenn also die Schüler feststellen, dass Menschen sich (politisch) irren, diese Verirrung bei ihnen „fest sitzt“, etwa wenn sie behaupten, sie seien auf dem richtigen Weg, dann bleibt nichts anderes übrig, als sie in die falsche Richtung gehen lassen, dann „ist“ die Verirrung in ihnen „fest gemacht worden“, so kann man das passive Perfekt kekratēntai umschreiben.

Die Schüler und ihre messianischen Gemeinden sollten darin bestärkt werden, die Resignation und die Ohnmacht der Weltordnung gegenüber „aufzuheben (aphienai)“. Wer allerdings die Übermacht, ja Allmacht der Weltordnung als eine Tatsache ohne Alternative auffasst, dessen Verirrung sitzt dann so tief, dass er sich nicht mehr bewegen kann. Das ist Verstockung. Dadurch, dass die Schüler die Alternative zeigen, ja leben, wird aus der politischen Verblendung Verstockung. Sie verursachen sozusagen die Verstockung.

Wir müssen diese Stelle nicht als Begründung für die Beichte auffassen, sondern versuchen, sie im Lichte des Erfüllungszitates Jesaja 6,10 zu verstehen, das uns Johannes 12,37-43 in einem bitteren Resümee hören ließ. Dort ging es um die Verstockung. Die Schüler sollen tun und reden wie die Propheten, wie Ezechiel, „dass der Verirrte, der umkehrt von seiner Verirrung, seine Seele am Leben hält“ (Ezechiel 18; 33,1-20); wie der Prophet Jesaja: ein Volk „mit verfettetem Herzen, schwerhörigen Ohren und verschmierten Augen“ geht zugrunde (6,10). Keine beneidenswerte Aufgabe für die inspirierten Schüler. Propheten finden selten Gehör!

1.4.4 Gefährliche „Herrlichkeit Gottes“ oder Israels Befreiung als die „Ehre Gottes“?

Äußerst spannend finde ich die Art (65), wie Edmund Little das Wort „Herrlichkeit“, griechisch doxa, hebräisch kavod, betrachtet. Bisher schien er, wie gesagt, vorausgesetzt zu haben, dass sich mit ihr Jesus einfach in seiner Eigenschaft als die zweite Person der Dreieinigkeit offenbart. Mit dem Wortbestandteil „Herr“ lässt der Begriff im Deutschen die unendlich große, überwältigende Macht Gottes erahnen. Der englische Begriff „glory“ deutet noch mehr auf das gleißend strahlende Licht der Allmacht Gottes hin, das niemand sehen kann, ohne zu erblinden oder zu vergehen.

Im Blick auf die Manifestation der „Herrlichkeit“ Jesu zu Kana stellt Little fest, dass Jesus „eine alttestamentliche Tradition“ umkehrt:

Mose hatte, anders als die Jünger, darum gebeten, Gottes Herrlichkeit zu sehen. Gott antwortet, dass niemand seine Herrlichkeit sehen und leben kann (2. Mose 33,18-23). Er erlaubt Mose, seinen Rücken zu sehen, während seine Herrlichkeit vorbeizieht. Für die Geschöpfe ist die Herrlichkeit des Schöpfers gefährlich.

Das klingt so, als ob Jesus hier seine himmelhohe Überlegenheit über Mose erweist. Mose durfte Gott nur von hinten sehen. Jesus zeigt selbst den Schülern zu Kana seine göttliche Herrlichkeit. Aber dieses Bild ist nicht stimmig. Denn nirgends im Johannesevangelium wird das Sehen der Herrlichkeit Jesu als unmittelbar gefährlich für die Beteiligten beschrieben <70> – und bereits in den jüdischen Schriften gibt es Belege dafür, dass Menschen Gottes Herrlichkeit sehen und nicht sterben: am Haderwasser erscheint sie vor Mose und Aaron (4. Mose 20,6), im Zelt der Begegnung (3. Mose 9,6.23) und bei der Verkündung der Zehn Gebote (5. Mose 5,24) vor allem Volk.

Little weiß auch selbst, dass „Herrlichkeit an anderer Stelle im Alten Testament eine doppelte Bedeutung“ hat:

Sie kann Freude oder Verderben bringen. Als Manoah feststellt, dass er und seine Frau Gott gesehen haben, glaubt er, dass sie dem Tod geweiht sind (Richter 13,22). Als der Herr seine Herrlichkeit zur Zeit von Korahs Rebellion offenbart (4. Mose 16,19), öffnet sich die Erde, um ihn und seine Männer zu verschlingen (4. Mose 16,32-34). Die Ägypter werden Gottes Herrlichkeit durch die Rache erfahren, die er an ihnen üben wird (2. Mose 14,17). Für die Israeliten ist die Herrlichkeit des Herrn auf dem Sinai wie ein verzehrendes Feuer (2. Mose 24,17). Der Psalmist verkündet das Heil und die Herrlichkeit Gottes (Psalm 96,3.7.8), verkündet ihn aber auch als Richter (Psalm 96,10.13). Als Jesaja die Herrlichkeit des Herrn im Tempel sieht, wird er von seiner eigenen Unwürdigkeit überwältigt und erschrickt (Jesaja 6,5). Daraufhin wird er mit einem Gerichtsauftrag nach Israel gesandt. Diese Reaktion ist von besonderer Bedeutung, denn nach Ansicht des Johannes war es Jesus selbst, den Jesaja gesehen hatte (Johannes 12,41).

Trotz des ersten Satzes in diesem Absatz führt Little fast nur unheilvolle Belege an, darunter sogar einen Vers (Richter 13,22), in dem das Wort kavod, doxa, gar nicht vorkommt. Als freudebringend sieht er die Herrlichkeit Gottes nur in Psalm 96,3.7.8 dargestellt, was er aber sogleich dadurch relativiert, dass derselbe Psalm (96,10.13) Gott „auch als Richter“ verkündet. Bei genauerem Hinschauen hätte er in diesen Versen etwas von dem erkennen können, worin die Herrlichkeit des Gottes Israels wirklich besteht: Er richtet nämlich, wie Martin Buber <71> übersetzte, die Völker in „Geradheit“, mit „Wahrspruch“ und in seiner „Treue“.

Little setzt dagegen in seinem nächsten Absatz seine Tendenz unbeirrt fort, vor allem auf die dunkle Seite der Herrlichkeit Gottes hinzuweisen (65f.):

Auch Hesekiel ist überwältigt von seiner Vision der Herrlichkeit Gottes, die seinem Auftrag vorausgeht, einem rebellischen Volk zu predigen und Gottes Urteil über es zu verkünden (Hesekiel 1,28). Die Völker werden die Herrlichkeit Gottes an dem Gericht erkennen, das er vollstreckt, und an der Hand, die er über sie hält (Hesekiel 39,21). Wie Henton-Davies <72> bemerkt: „Fast immer wird die Herrlichkeit in P mit der Stiftshütte in Verbindung gebracht, manchmal als eine Manifestation der Gunst, aber häufiger als ein Zeichen des göttlichen Zorns.“

Was bei dieser Sicht der „Herrlichkeit“ Gottes völlig außer Acht bleibt, ist ihre konkrete inhaltliche Füllung. Das Wort kavod kommt in den jüdischen Schriften viel häufiger vor, als Little auch nur andeutet, insgesamt 200mal. Wo es auf Menschen oder Völker angewendet wird, bezieht es sich auf ihre Ehre, Größe oder ihren Reichtum. Aber in den meisten Fälle bezeichnet es die unvergleichliche Eigenart des Gottes Israels, seines befreienden NAMENS. Und, wie ich bereits unter Berufung auf Ton Veerkamp feststellte (siehe Abschnitt 1.3.1.3), besteht die „Ehre“ des Gottes Israels in seiner unverbrüchlichen Sorge um sein Volk Israel. Gottes Ehre ist die Befreiung Israels und sein Leben im Frieden.

Das bezeugen vor allem die Propheten Israels. Nach Jesaja 43,7 spricht der NAME von den Söhnen und Töchtern Israels als von all denen, „die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.“ Jeremia sagt (17,12-13): „die Stätte unseres Heiligtums ist der Thron der Herrlichkeit, erhaben von Anbeginn. Denn du, HERR, bist die Hoffnung Israels.“ Und in noch eindringlicheren Worten garantiert der Gott Israels gemäß Sacharja 2,9-12 seinem Volk, das in der Zerstreuung lebt, Befreiung und immerwährenden Schutz:

Und ich selbst will, spricht der HERR, eine feurige Mauer rings um sie her sein und will mich herrlich darin erweisen. Wehe, wehe! Flieht aus dem Lande des Nordens!, spricht der HERR; denn ich habe euch in die vier Winde unter dem Himmel zerstreut, spricht der HERR. Wehe! Nach Zion rette dich, die du wohnst bei der Tochter Babel! Denn so spricht der HERR Zebaoth, nachdem seine Herrlichkeit mich gesandt hat zu den Völkern, die euch berauben: Wer euch antastet, der tastet seinen Augapfel an.

Little hat zwar durchaus Recht mit seiner Beobachtung, dass die „Herrlichkeit“ oder „Ehre“ Gottes auch die Kehrseite des göttlichen Gerichts in sich trägt. Konkret ist damit gemeint, dass sich Israel als Volk, vor allem aber seine Führung, von der Tora der Freiheit und Gerechtigkeit abgewandt hat, so dass Gott sagen muss (Jeremia 2,11):

Aber mein Volk hat seine Herrlichkeit eingetauscht gegen einen Götzen, der nicht helfen kann!

Aber so hart das Gericht über Israel auch ausfällt, der befreiende NAME bleibt der Gott dieses Volkes, Israel bleibt seine Ehre (Hesekiel 39,21-25:

Und ich will meine Herrlichkeit unter die Völker bringen, dass alle Völker mein Gericht sehen sollen, das ich gehalten habe, und meine Hand, die ich an sie gelegt habe. Und das Haus Israel soll erfahren, dass ich, der HERR, ihr Gott bin, von dem Tage an und fernerhin, und die Völker sollen erfahren, dass das Haus Israel um seiner Missetat willen weggeführt worden ist. Weil sie sich an mir versündigt hatten, darum habe ich mein Angesicht vor ihnen verborgen und habe sie übergeben in die Hände ihrer Widersacher, dass sie allesamt durchs Schwert fallen mussten. Ich habe ihnen getan, was sie mit ihrer Unreinheit und ihren Übertretungen verdient haben, und habe mein Angesicht vor ihnen verborgen. Darum, so spricht Gott der HERR: Nun will ich das Geschick Jakobs wenden und mich des ganzen Hauses Israel erbarmen und um meinen heiligen Namen eifern.

Dabei kam es durchaus einmal fast dazu, dass der NAME seine Geduld mit Israel verlor. Das Kapitel 4. Mose 14 beschreibt nach der Auskundschaftung Kanaans mit den Riesen, die dort angeblich wohnen, die Angst der Israeliten vor der Einnahme des Gelobten Landes und ihre Rebellion gegen Mose, Aaron und Gott selbst. Da erscheint (V. 10) „die Herrlichkeit des HERRN über der Stiftshütte“, um das Volk zu vertilgen und Mose zu einem größeren Volk machen. Das verhindert Mose, indem er (V. 18) an die Geduld und Barmherzigkeit des NAMENS – und an seine Ehre! – appelliert (V. 15-16): Sollen die Völker denn sagen können: „Der HERR vermochte es nicht, dies Volk in das Land zu bringen, das er ihnen zu geben geschworen hatte“?

Genau dieser Gedanke taucht immer wieder in den jüdischen Schriften auf, etwa in Psalm 115,1-2:

Nicht uns, HERR, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre um deiner Gnade und Treue willen! Warum sollen die Heiden sagen: Wo ist denn ihr Gott?

Ähnlich ruft das verzweifelte Volk von Juda zu Gott (Jeremia 14,21-22):

Aber um deines Namens willen verwirf uns nicht! Lass den Thron deiner Herrlichkeit nicht verspottet werden; gedenke doch an deinen Bund mit uns und lass ihn nicht aufhören! Ist denn unter den Götzen der Heiden einer, der Regen geben könnte, oder gibt der Himmel den Regen? Bist du es nicht, HERR, unser Gott, auf den wir hoffen? Denn du hast das alles gemacht.

Und umgekehrt spricht Gott selber zu seinem Volk (Jesaja 48,9-11):

Um meines Namens willen halte ich lange meinen Zorn zurück, und um meines Ruhmes willen bezähme ich mich dir zugut, dass du nicht ausgerottet wirst. Siehe, ich habe dich geläutert, aber nicht wie Silber, sondern ich habe dich geprüft im Glutofen des Elends. Um meinetwillen, ja, um meinetwillen will ich‘s tun, dass ich nicht gelästert werde; denn ich will meine Ehre keinem andern lassen.

Diese Belege mögen genügen, um zu zeigen, dass die „Herrlichkeit“ oder „Ehre“ des Gottes Israels darin besteht, dass Israel aus Verbannung und Zerstreuung neu versammelt wird und in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden leben kann. Wenn man sich klar macht, dass der Messias Jesus sich diese Ehre seines VATERS zu eigen macht, dann muss man das Johannesevangelium mit völlig anderen Augen lesen, als es gemeinhin getan wird – anders auch als Edmund Little.

Little kommt am Ende seines Abschnitts über „die Herrlichkeit“ noch einmal auf seinen Ausgangsgedanken zurück (66):

Die volle Herrlichkeit Gottes, die dem Mose verwehrt war, wird durch Jesus offenbart. Für die Übeltäter bleibt es gefährlich, denn die Auferstehung wird die Verurteilung bringen (Johannes 5,29).

Diese Aussage wird auch durch Wiederholung nicht richtiger. Zwar wurde Mose in seiner besonderen Situation eine Vision des NAMENS von Angesicht zu Angesicht verwehrt, aber in vielen anderen Situationen überliefert die Bibel, wie wir gesehen haben, durchaus einen deutlichen und sehr konkreten Blick auf das, was die Ehre des Gottes Israels ausmacht.

Wenn aber diese Ehre darin besteht, dass Israel am Leben bleibt, nicht gedemütigt wird, sondern befreit und zu seinem Recht gebracht wird, dann wird die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes durch Jesus gerade nicht in vollem Sinne, sondern vielmehr überhaupt nicht erkannt, wenn man diese dadurch zu definieren versucht, dass Jesus durch sein Weinwunder seine eigene göttliche Natur erweist.

Johannes will vielmehr sagen: Bei dieser Hochzeit am Rande Galiläas, in dem unbedeutenden Kaff namens Kana, tritt ein Mensch auf die Bühne des Geschehens in Israel, der wahrhaft im Namen des befreienden Gottes Israels zu reden und zu wirken befugt ist. Er ist imstande, für den Wein der messianischen Hochzeit des NAMENS mit seinem Volk zu sorgen. Da er den NAMEN des Gottes Israels selbst verkörpert, liegt ihm die Ehre des NAMENS am Herzen, die darin besteht, seinem Volk treu zu sein, ganz Israel um sich zu versammeln und auf die Spur der Befreiung von der Sklaverei der Weltordnung zu setzen. Dieses Vertrauen ist nach Johannes die Geburtsstunde der messianischen Gemeinde, wie er sie in dem einen Vers 2,12 beschreibt:

2,12 Danach stieg er ab nach Kapernaum,
er selbst und seine Mutter und seine Brüder und seine Schüler
Und dort blieben sie nicht viele Tage.

Zu dieser Übersetzung erläutert Ton Veerkamp <73> den letzten Satz folgendermaßen:

„Sie blieben dort nicht viele Tage“, heißt es abschließend. Von Israel hieß es: „Ihr saßt fest in Kadesch-Barnea, viele Tage, die Tage, die ihr fest saßt“ (Deuteronomium 1,46), und: „Wir umkreisten das Gebirge Seïr viele Tage“ (Deuteronomium 2,1). Schließlich heißt es: „Und die Tage, die wir gingen von Kadesch-Barnea bis zum Bach Sered [die Grenze zu den Feldern Moabs], waren achtunddreißig Jahre“ (Deuteronomium 2,14). „Nicht viele Tage“ bedeutet: der Aufenthalt in Kapernaum soll nicht wie der Aufenthalt in Kadesch-Barnea werden: die achtunddreißig Jahre Israels sind vorbei. Um das zu verstehen, müssen wir bis 5,1ff. warten.

Mit dem letzten Satz spielt Veerkamp auf die Heilung des Mannes an, der 38 Jahre lang gelähmt gewesen war und der in seinen Augen das politisch erstarrte und bewegungsunfähige Israel symbolisiert. Ähnlich interpretiert er auch die weiteren Zeichen, die Jesus vollbringt, im Sinne der Ernährung Israels, der Heilung seiner Verblendung und der Belebung des verwesenden Israel. <74>

Gefährlich bleibt die „Herrlichkeit“ oder „Ehre“ Gottes, die durch Jesus offenbart wird – wie bereits in den jüdischen Schriften – für diejenigen, die sich dem Vertrauen auf den Messias Jesus verschließen, und damit ist nicht gemeint, dass sie an ihn als den Stifter einer neuen Religion glauben. Wer auf den Messias vertraut, der hört auf, dem korrupten Denken und Handeln der unterdrückerischen Weltordnung zu folgen, sondern folgt dem Beispiel des freiwilligen Sklavendienstes Jesu, als er seinen Schülern die Füße wusch. Wer die Weltordnung der Gewalt und des Unrechts für unüberwindbar hält, wird mit ihr untergehen, wird in seiner Verirrung sterben (Johannes 8,23), hat keine Chance, das neue Zeitalter von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden zu erreichen. Wer dagegen Jesu neues Gebot der agapē, der solidarischen Liebe, befolgt, lebt schon jetzt im Vorschein einer neuen Weltzeit, die noch nicht da ist, aber allen Todesmächten zum Trotz vom Gott Israels verheißen wird.

1.4.5 Worin besteht die Zweischneidigkeit des Begriffs sēmeion, „Zeichen“?

Ähnlich ausführlich wie mit dem Begriff „Herrlichkeit“ setzt sich Edmund Little (66) auch mit dem Begriff sēmeion, „Zeichen“, auseinander. Er weist auf die „Zeichen“ hin, die „eng mit dem mosaischen Zyklus von Exodus und Befreiung verbunden“ sind und wieder eine zweischneidige Bedeutung haben: „Segen für Israel ist Unheil für andere Menschen.“

Wieder ist dieser letzte Satz im Blick auf den befreienden Willen des Gottes Israels aber nicht völlig korrekt: Andere Völker erfahren Unheil nicht einfach deswegen, weil Gott immer auf der Seite Israels steht oder weil sie eine andere Religion haben, sondern wenn sie Israel bedrohen oder unterdrücken und ausbeuterischen Göttern folgen. Umgekehrt darf auch Israel nur dann Gottes Segen genießen, wenn es der Disziplin der Freiheit folgt, die Gott ihm als heilsame Wegweisung, thora, auferlegt.

Auf den Ungehorsam Israels weist auch Little später hin, allerdings ohne deutlich zu machen, dass es die befreiende Tora ist, gegen die Israel verstößt (67) :

Leben, Hoffnung, Heilung und Sieg könnten durch das Zeichen von Kana angedeutet werden. Die „Schattenseite“ muss ebenfalls berücksichtigt werden. Zeichen sind eng mit dem Ungehorsam Israels verbunden. Es weigert sich, auf die von Gott gegebenen Zeichen zu hören (4. Mose 14,11-23).

Nach der Aufzählung vieler weiterer Bibelstellen zum Stichwort „Zeichen“ kommt Little zu einer wieder sehr allgemeinen Schlussfolgerung, ganz ähnlich wie zuvor im Zusammenhang mit dem Stichwort „Herrlichkeit“:

„Tod“, „Lehrstück“, „Warnung“, „Verhängnis“ – all das kann das Wort „Zeichen“ im alttestamentlichen Sprachgebrauch implizieren. Das Wort wird oft im Zusammenhang mit dem Gericht Gottes über die sündige Menschheit verwendet.

1.4.6 Der Wein zu Kana und die Entscheidung zwischen Erlösung und Verdammnis

Worauf Edmund Little mit seinen bisherigen Ausführungen in diesem Kapitel hinaus will, verdeutlicht er mit seiner Behauptung (67), dass Jesus zu Kana nicht nur „das Vorrecht des Vaters ausübte, indem er seine schöpferische Macht über die Materie zeigte“ und „Leben gibt“, sondern dass er „als Sohn auch das Vorrecht hat, zu richten“, was er „nach der Heilung am Teich von Bethesda herausstellt (Johannes 5,26-27).“ Auch das zweite Vorrecht kommt laut Little bereits im Weinwunder zum Ausdruck (68):

Es ist eine Epiphanie und ein Prolog, eine Vorahnung des Heils oder der Verdammnis, je nachdem, wie der Wein empfangen wird. Den Gästen wird der Wein der Erlösung angeboten, und der Vorsitzende des Festmahls bestätigt, dass er gut ist. Ob sie ihn annehmen und würdig trinken, bleibt ihnen überlassen.

Indem Little erwähnt, dass „Paulus ähnliche Gedanken in anderem Zusammenhang in anderer Weise ausdrückt, wenn er die Korinther davor warnt, den Kelch des Herrn unwürdig zu trinken (1. Korinther 11,27)“, zeigt er unmissverständlich, dass er auch den Wein zu Kana im Sinne eines eucharistischen Angebots am Abendmahlstisch der christlichen Kirche verstehen will.

Auf jeden Fall begreift Little das gesamte Johannesevangelium als die „Einladung zu einem Fest“ (so die Überschrift des nächsten Abschnitts):

Das Schicksal der Hochzeitsgäste nach dem Wunder wird nicht enthüllt, denn der Rest des Evangeliums ist ihre Geschichte, während es die Begegnung zwischen Jesus und einer gefallenen Welt schildert.

Bezeichnend ist in diesem Satz die Formulierung der „Begegnung zwischen Jesus und einer gefallenen Welt“. Trotz seiner so umfassenden Untersuchung der Rückbezüge des Johannesevangeliums auf das Alte Testament kommt ihm nicht in den Sinn, dass es Jesus als dem Messias Israels darum gehen könnte, ganz Israel aufzusuchen und zu sammeln, sowohl in Judäa und Galiläa, wo er mit unterschiedlichen Arten von Zustimmung und Widerspruch konfrontiert wird, als auch in Samaria, wo er mit einer Repräsentantin der verlorenen zehn Stämme Nordisraels ein ausgesprochen segensreiches Gespräch führt.

Tatsächlich klärt Little überhaupt nicht, was er mit dem Wort „Welt“ überhaupt meint. Schon zuvor (64) hatte er vom „Urteil über diese Welt“ und ihren „Fürsten“ gesprochen und die Bedeutung dieser Begriffe offenbar als bekannt vorausgesetzt: <75>

Nach seinem Einzug in Jerusalem sagt er seinen Jüngern, dass die Stunde gekommen ist, in der der Menschensohn durch seinen Tod verherrlicht wird (Johannes 12,23.27). Das Urteil über diese Welt wird gefällt und der Fürst dieser Welt, der bereits verurteilt ist, wird vertrieben (12,31-32; 14,30; 16,11).

Für Little scheint Jesus im Johannesevangelium trotz seiner jüdischen Hintergründe nicht mehr der Messias Israels zu sein, sondern ein Allerweltsheiland nach dem Muster heidnischer Mysterienreligionen, dem die Ehre des NAMENS, nämlich die Befreiung und Gerechtigkeit für Israel, nicht mehr am Herzen liegt:

Allen wurde der Wein der Weisheit, des Heils, der Gemeinschaft und der Freude angeboten, der alles übertraf, was im alten Israel und in heidnischen Traditionen versprochen worden war.

Aber was meint Little hier mit „Heil“? In den jüdischen Schriften zielte das Wort sōtēria auf die Befreiung Israels von Unterdrückung und Ausbeutung. Die christliche Kirche deutete das Wort im Sinne einer Erlösung der Seele in den Himmel um.

Auch Johannes übernimmt nicht einfach alle überlieferten Traditionen aus der Schrift. Unter der weltweiten Unterdrückungsherrschaft des römischen Imperiums seiner Zeit kann Israel seine Freiheit nicht mehr getrennt von den Völkern in einem eigenen Gelobten Land erreichen und leben. Daher verkündigt er den Messias Jesus als den sōtēr tou kosmou, den „Befreier der Welt“, der die Menschenwelt, in der Israel leben muss und leben soll, durch seinen Tod am Kreuz der Römer von dem Joch der herrschenden Weltordnung, die auf ihr lastet, befreien wird.

Little dagegen spricht von dem, was Jesus in die Welt bringt, in einer Weise, als ob es um ein neues religiöses Angebot an alle Menschen in der Welt ginge:

Was sie danach damit taten, blieb ihnen überlassen. Er war ein Geschenk des fleischgewordenen Wortes, so wie Wein und Weinberg einst ein Geschenk Gottes an Israel gewesen waren. Sie konnten es in ein Fest des Reiches Gottes oder in ein Antifest der Schlägerei und des Erbrechens verwandeln. Ihr Rausch konnte die von Philo verkündete nüchterne Trunkenheit sein oder die von Paulus verurteilte Trunkenheit wider den Geist. Je nach ihrer Veranlagung würden sie den Wein des Paradieses oder einen Becher des Zorns trinken.

Am Ende werden seine Ausführungen zu einer eindringlichen Ermahnung an seine Leserinnen und Leser (68f.):

Die Gegner von Kana, die die Menge des Weins beklagen, haben diesen Punkt nicht erkannt. Das Problem ist viel ernster als die Möglichkeit, dass ein geselliges Hochzeitsfest in einen Saufgelage umschlägt. In Wirklichkeit geht es um eine Entscheidung über Leben oder Tod, Glück oder Unglück, Himmel oder Hölle. Ob historisches Ereignis oder Gleichnis, das Wunder von Kana ist ein vorgezogenes Zeichen für Gericht, Erlösung und Verdammnis. Über das Verhalten der Hochzeitsgäste nach dem Wunder zu spekulieren, bedeutet, über das Schicksal aller zu spekulieren, die dem Herrn mit seinem Angebot von Leben oder Tod begegnen. Wir sind alle zu dem Fest eingeladen. Was für eine Party wir daraus machen, ist unsere eigene Entscheidung.

Es gab Zeiten, in denen ich einer solchen Ermahnung innerlich vollständig zugestimmt hätte, war ich doch davon überzeugt, dass Menschen zur ewigen Verdammnis verurteilt sind, wenn sie sich nicht für den Glauben an Jesus Christus entscheiden. Mittlerweile halte ich eine solche Überzeugung zumindest für frag-würdig, und zwar aus einer ganzen Reihe von Gründen:

  1. Der jüdische Messianist Johannes verband mit dem Vertrauen auf den Messias Jesus eine ganz bestimmte befreiungstheologische Haltung, die mit der politischen Situation seiner Zeit zu tun hatte und auf den Verheißungen des NAMENS für Israel zusammenhingen. Auch in ihr geht es um Leben und Tod, aber im Blick auf die Frage, ob der Messias den Anbruch der kommenden Weltzeit des Friedens heraufführen kann oder nicht, und nicht um ein ewiges Leben im Himmel.
  2. Auch wenn man als Christ an Jesus als den fleischgewordenen Sohn Gottes glaubt, ist er das als die Verkörperung des Gottes Israels und seiner barmherzigen Liebe. Dass dieser Jesus jüdische Menschen nur deswegen in die Hölle verdammen könnte, weil sie – möglicherweise auf Grund der Judenfeindlichkeit der Kirche oder auch ihrer Machtentfaltung, die so gar nicht zum freiwilligen Sklavendienst Jesu bei der Fußwaschung passt – kein Vertrauen zu ihm aufbringen können, kann ich mir nicht vorstellen.
  3. Vor allem aber macht Jesus die Entscheidung im Weltgericht vom barmherzigen Handeln abhängig (Matthäus 25,31-46) und nach Johannes 5,29 vom Tun des Guten, nicht von der Glaubensentscheidung für eine bestimmte Religion.

Ich bestreite also nicht, dass Johannes vielleicht schon mit dem Weinwunder zu Kana auf die ernste Entscheidung für oder gegen das Vertrauen auf den Messias Jesus anspielt, gehe aber davon aus, dass er dies als jüdischer Messianist im Rahmen seiner Erwartung der kommenden Weltzeit des Friedens auf der Erde unter dem Himmel tut.

Obwohl wir als Christen natürlich nicht alle Aspekte dieser johanneischen Haltung teilen können, bin ich doch der Auffassung, dass eine ganze Reihe seiner Impulse auch dem christlichen Vertrauen auf Jesus durchaus gut tun. Es ist nichts zu sagen gegen die christliche Auferstehungshoffnung, die wir seit dem Buch Daniel ja ohnehin bereits mit den Juden teilen, aber die Einsicht, dass es im Johannesevangelium um die Überwindung der Resignation angesichts übermächtiger weltweit herrschender Unterdrückungssysteme geht, ist brandaktuell. Ob wir es schaffen, seinem neuen Gebot der Solidarität entsprechend zu leben, das die toragemäße Disziplin der Freiheit nicht aufhebt, sondern auch für Nichtjuden lebbar macht – und hoffentlich auch im interreligiösen Dialog mit Juden und Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen – ist für mich die Frage, an dem sich heute Leben und Tod der Welt, jeder Religion und jedes einzelnen Menschen entscheiden.

1.4.7 War Jesu Weinwunder eine soziale Rettungsaktion bei einer Bauernhochzeit?

In einem Nachwort (71) geht Little auf die Frage ein, ob „sich die ‚erhabene‘ Symbolik des Weins, sei es die Freude der Erlösung oder das Unheil von Gericht und Verdammnis, mit der ‚Vulgarität‘ einer ländlichen Hochzeit vereinbaren“ lässt:

Hat jemand die Geschichte erfunden, um symbolisch eine Aussage über Jesus zu treffen, oder hat der Evangelist ein echtes, historisches Wunder aufgezeichnet, das von Jesus als Zeichen vollbracht wurde und das der Evangelist als Zeichen der Herrlichkeit ansieht?

Letztlich spielt das aber keine Rolle. Die Wahrheiten, die durch die Symbolik vermittelt werden, bleiben wahr, egal ob der Evangelist sich mit der Geschichte oder dem Gleichnis befasst.

Interessanter ist die Frage, „ob Jesus wohl gewollt hätte, in dieser Weise in Erinnerung gehalten zu werden“. Eine „Vorliebe für ‚niedere‘ Gesellschaft“ zeigt sich jedenfalls darin, dass es im Johannesevangelium vor allem der ochlos, die Volksmenge, ist, die sich um Jesus schart und ihn teilweise sogar (7,31), entgegen dem Willen der führenden Priester und Pharisäer, für den Messias hält, und wird durch die die synoptischen Evangelien bestätigt: „Dass er mit Zöllnern und Sündern aß, verärgerte die Pharisäer und brachte ihm den Ruf ein, ein Trunkenbold und Vielfraß zu sein.“

Unter Berufung auf Derrett <76> hält Little das Weinwunder sogar für „eine echte Rettungsaktion“, denn

ein Gastgeber, der seiner Verpflichtung, die Hochzeitsgäste mit Essen und Trinken zu versorgen, nicht nachkam, konnte nicht nur gesellschaftlich geschmäht, sondern auch gerichtlich belangt werden. … Steine in Brot zu verwandeln, wie Jesus in den Versuchungsgeschichten von Matthäus und Lukas aufgefordert wird, wäre ein Akt der Selbsternährung und der Selbstverliebtheit gewesen. Das Verwandlungswunder in Kana war ein Akt der Freundlichkeit des Herrn, der damit seine Sorge um die Menschen zeigte, die die Welt und einige Bibelkommentatoren für vulgär hielten.

So bestechend eine solche Auslegung auch in meinen Augen sein mag, spricht doch einiges gegen sie. Wenn es vordergründig um die Hilfe aus einer bedrohlichen sozialen Situation gehen würde, wäre das Zögern Jesu unverständlich (ähnlich wie später bei der Auferweckung des Lazarus). Zu einer Hochzeit von armen Leuten würde zudem nicht passen, dass viele Diener und ein architriklinikos beteiligt sind. Außerdem legt Johannes anders als die synoptischen Evangelien den Akzent der Tätigkeit Jesu nicht auf den sozialen Bereich, sondern auf die „große Politik“, nämlich die Überwindung der Weltordnung im Ganzen. <77> Dabei spielt allerdings die politische Randständigkeit Kanas am äußersten Rand des ohnehin randständigen Galiläa durchaus eine Rolle: es ist eine Provokation für die judäische Führung, dass der Messias ausgerechnet aus dieser unbedeutenden Region kommen soll. <78>

Was ist aber (72) mit Littles Erwägung, den „Dialog zwischen Jesus und seiner Mutter“ als eine psychologisch meisterhaft gestaltete „kompakte Geschichte von Charakter und Handlung“ zu betrachten? Da ist

die besorgte, aber willensstarke Mutter, der meisterhafte Sohn; Vorschlag, Zögern, Handeln, Entschluss. Die geschilderte Mutter-Sohn-Beziehung hat nichts Sentimentales an sich. Was auch immer die theologischen Implikationen des Gesprächs sein mögen, das menschliche Bild ist das einer besorgten Mutter, die die widerstrebende Zustimmung ihres Sohnes erhält, etwas gegen eine peinliche soziale Situation zu unternehmen. Dass Jesus nach einer scheinbaren Ablehnung handelt, kann natürlich auf eine redaktionelle Einfügung zurückzuführen sein. Dennoch ist es plausibel als Bild einer Mutter, die sich weigert, ein Nein zu akzeptieren, und eines Sohnes, der nach einigem Zögern zustimmt.

Ein meisterhafter Autor ist Johannes ohne Zweifel. Aber Mutter-Sohn-Psychologie ist nicht seine Sache. Vielmehr geht es beim Zögern des Messias um seine „Stunde“, die noch nicht da ist, um ein „Noch nicht“, das sich bis zum Ende des Evangeliums durchzieht, und zwar geht es nicht allein um die Kreuzigung, sondern um deren Folge, das Aufsteigen des Menschensohns zum VATER – es ist bis heute „noch nicht“ vollendet, so lange nicht überall auf Erden solidarische Liebe, agapē, regiert.

Im Übrigen muss erwogen werden, ob Jesus das Ansinnen seiner Mutter überhaupt ablehnt. Seine Frage ti emoi kai soi, wörtlich übersetzt: „Was ist zwischen mir und dir?“ muss keine Zurückweisung sein, sondern kann als eine echte Frage nach Klärung verstanden werden, wie sie zu ihm steht, wie Israel zu ihm steht. Sie sagt den Dienern, dass sie auf den Messias hören sollen. Unmittelbar danach sagt Jesus ihnen, was sie tun sollen. Offenbar wünscht sich Johannes, dass ganz Israel in dieser Weise auf den Messias hören würde!

Die letzte Bemerkung von Little zu diesem Thema bezieht sich darauf, dass es die Gefühle mancher Exegeten verletzen würde,

sich vorzustellen, dass Maria, wenn sie nicht gerade ein Wunder erwartete, Jesus oder seinen Jüngern vorschlug, einen Ausflug zum Weinladen des Dorfes zu machen. Ein solcher Botengang würde nach dieser Sichtweise nicht zu seiner Identität als fleischgewordenes Wort passen. Wenn aber die Lehre von der Inkarnation die wahre Menschlichkeit Jesu meint, gehören solche Besorgungen zu seinem menschlichen Zustand. Die Gnostiker verachteten das „Fleisch“ und sprachen dem Logos jeglichen Anteil daran ab. Wenn wir den Wein verachten, teilen wir ihren Irrtum.

Obwohl ich Littles Anliegen unterstreiche, gegen die Gnosis Jesu volle Menschlichkeit mit all ihren Begleiterscheinungen zu betonen, würde der Gedanke, Maria könnte Jesus ganz banal zum Einkaufen geschickt haben, jedenfalls nicht zur befreiungstheologischen Gesamtstruktur des Johannesevangeliums passen. „Wein haben sie nicht“, keine Aussicht auf messianische Erfüllung, auf die kommende Weltzeit des Friedens – darum geht es in der Feststellung der Mutter des Messias. Sein prinzipielles Zeichen zu Kana vollbringt Jesus, um diese Resignation zu überwinden.

2 Anklänge ans Alte Testament im Wunder der Brote und Fische

Während Edmund Little sich in seiner Beschäftigung mit der Hochzeit zu Kana sehr stark auf die Metapher des Weins konzentriert und nicht jeden Aspekt des Textes behandelt hat, nimmt er in seiner zweiten Dissertation (75) über die Speisung der Fünftausend in Johannes 6,1-15 jeden einzelnen Vers genauestens unter die Lupe, um Anklänge an das Alte Testament aufzuspüren. Den von ihm zu Beginn jedes Kapitels wiedergegebenen Abschnitt des griechischen Bibeltextes zitiere ich jeweils nach der Lutherübersetzung 2017.

2.1 Berg und Meer, oros und thalassa

6,1 Danach ging Jesus weg ans andre Ufer des Galiläischen Meeres, das auch See von Tiberias heißt… 3 Jesus aber ging hinauf auf einen Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern. 4 Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden.

2.1.1 „Jenseits des Meeres“ und zugleich „nahe“

Zunächst fällt Little auf (77), dass zwar „alle Evangelisten voraussetzen, dass das Wunder der Brote und Fische in der Nähe des Galiläischen Meeres stattfindet“, aber „nur Johannes lokalisiert es ans andere Ufer oder jenseits des Sees (peran tēs thalassēs).“ Darin erblickt er ein Echo „der berühmten Erklärung des Mose über das Gesetz Gottes, das nicht jenseits der Meere liegt, so dass man über die Meere gehen muss, um es zu hören und zu halten“, in 5. Mose 30,13. Wem diese Stelle vertraut ist, hört bei den Worten peran tēs thalassēs zugleich die folgenden Verse 14 bis 16 mit, in denen es um die „Wahl zwischen Gut und Böse, Leben und Tod (5. Mose 30,15“ geht: Wenn das Volk „Gottes Gebote“ befolgt, „wird es leben und sich mehren“ – eine Anspielung auf die anschließende Brotvermehrung.

Zugleich erwägt Little (Anm. 227), ob Johannes mit dem Wort engys („nahe“ dem Passah) auf 5. Mose 30,14 Bezug nimmt: „es ist das Wort, to rhēma, ganz nahe bei dir“, ein Wort, das auch von Paulus in Römer 10,8 aufgegriffen wird. Allerdings bezieht Johannes das Wort engys nirgends auf das Wort, sondern hier wie an zwei anderen Stellen auf das Passahfest (2,13; 6,4; 11,55): Immer ist das Fest der Befreiung nahe, nie wird es im Johannesevangelium tatsächlich gefeiert, und zwar offenbar deshalb, weil die Befreiung von der römischen Weltordnung noch aussteht und noch nicht gefeiert werden kann.

Indem die Worte peran tēs thalassēs auch an die biblische Weisheit im Buch Baruch 3,30 erinnern – wer „ist übers Meer gefahren und hat sie gefunden“? – bestätigen sie in Littles Augen auch die Identifikation Jesu mit der Weisheit, denn (77f.)

nachdem Jesus auf die andere Seite des Meeres gelangt ist, wird er ein Wunder der Vermehrung vollbringen und dann zu den Menschen über Leben und Tod sprechen. Nach der Rede bekennt Petrus, dass Jesus die Worte (rhēmata) des ewigen Lebens hat (Johannes 6,68). <79> Er, der Wort, Weisheit und Gott ist (Johannes 1,1, vgl. Sprüche 8,22f.), ist wirklich nahe.

2.1.2 Der See Tiberias und das Königtum Jesu

Für Little (78) ist es auch von Bedeutung, dass „nur Johannes den See Tiberias nennt“ und damit „eine Stadt erwähnt, die von einem König (Herodes) erbaut und nach einem Kaiser (Tiberius) benannt wurde“. Das scheint kein Zufall zu sein, denn in Johannes 1,49 hat „Nathanael Jesus zum König ausgerufen“ und in 6,15 „ist Jesus in Gefahr, von der Menge zum König erklärt zu werden, in einer Szene, die ebenfalls nur bei Johannes vorkommt“. Little geht aber hier nicht auf die Frage ein, welche Art von Königtum Jesus anstreben könnte, und zwar sowohl im Gegensatz zur Herrschaft eines römischen Kaisers wie Tiberius als auch zu dem Versuch, durch einen zelotischen Aufstand König in Jerusalem zu werden. Meines Erachtens erwähnt Johannes vielleicht auch deswegen den Namen Tiberias, weil diese Stadt nach dem Judäischen Krieg „das geistige und religiöse Zentrum“ des rabbinischen Judentums wurde, das in den Augen des messianischen Juden Johannes allzu sehr auf ein ungestörtes Leben in einer Nische des Römischen Imperiums ausgerichtet war, statt die Überwindung der Weltordnung im Vertrauen auf den Messias Jesus ins Auge zu fassen.

2.1.3 „Meer“ als vielfältiges Symbol: vom Toben der Völker bis zur Nahrungsquelle

Auch wenn Little (78f.) seinen folgenden Gedankengang mit dem Stichwort „Berg“ einleitet, beschäftigt er sich zunächst fast ausschließlich mit einer Reihe symbolischer Bedeutungen des Meeres:

Die Gegenüberstellung von Berg und Meer ruft starke Anklänge an alttestamentliche Themen hervor, beginnend mit dem Exodus, in dem die Durchquerung des Schilfmeers und die Verkündigung des Gesetzes auf dem Berg Sinai zentrale Ereignisse sind. Die Durchquerung des Schilfmeers wird als direkte Handlung Gottes gesehen, der Mose als seinen Vertreter einsetzt. Die absolute Herrschaft über das Meer ist ein Aspekt des Königtums Gottes (Psalm 65,8) <80>, der Jesus nach dem Speisungswunder zugeschrieben wird, als er auf dem Wasser geht (Johannes 6,16-21).

An einer Stelle schaut Little nicht ganz genau hin: Psalm 65,8 ist insofern keine exakte Parallele zu Johannes 6,16-21, als Jesus nach Johannes – anders als in Markus 4,39, Matthäus 8,36 und Lukas 8,24 – das Brausen des Meeres (parallelisiert mit dem Toben der Völker) eben nicht stillt; die von Little (Anm. 237) erwähnte weitere Psalmstelle 46,3-4 passt besser zu Johannes, da hier von der Bewältigung der Furcht die Rede ist, obwohl das Meer (noch) nicht aufhört zu wüten und zu wallen. <81>

Während die bisherigen Parallelen zu See bzw. Meer in den jüdischen Schriften auf die Überwindung von Unterdrückung und Untergang in vor allem politisch zu deutenden Chaosmächten Bezug nehmen, verweist Little weiterhin (79) auf „ein anderes Meeresthema“, nämlich „die Fülle und Vermehrung“ im Zusammenhang mit der Erschaffung der Meerestiere (1. Mose 1,20-22) oder dem Vergleich von Abrahams Nachkommen mit „dem Sand am Ufer des Meeres“ (1. Mose 22,17), der in Hosea 2,1 im Blick auf Israel – „trotz seiner Sünden“ – wieder aufgegriffen wird. Jesaja 10,22 schränkt allerdings diese Verheißung ein: „Auch wenn Israel wie der Sand am Meer ist, wird nur ein Rest von ihm zurückkehren“. Dieser Gedanke scheint Johannes zwar nicht fremd zu sein, geht er doch davon aus (1,11), dass der Messias „in sein Eigentum kam, und die Seinen ihn nicht aufnahmen“, und redet dann doch von denen (1,12), die auf ihn vertrauen und ihn aufnehmen. Aber ob allein die Erwähnung des „Sees“ hier auf den „Sand“ am Meer anspielt, der bei Johannes nirgends auftaucht, ist doch zu bezweifeln. Im Blick auf das aufgewühlte Meer von Johannes 6,18 ist als Hintergrund eher an eine andere Jesajastelle (17,12) zu denken, die Little in Anm. 240 erwähnt:

Weh, ein Brausen vieler Völker, wie das Meer brausen sie, und ein Getöse mächtiger Völker, wie große Wasser tosen sie!

Weitere Parallelen aus dem Alten Testament, die Little für das Meer „als Nahrungsquelle“ anführt, bis hin (80) zur „reichlichen Speisung durch Josef, der Getreide wie Sand am Meer aufbewahrte, und zwar so viel, dass man es nicht einmal messen konnte (1. Mose 41,49)“, sind insofern bestechend, dass sie darauf hindeuten, was der Messias Jesus hier tun wird, nämlich für die Ernährung Israels sorgen, falls es bereit ist, auf den Messias Jesus zu vertrauen und sein neues Gebot der agapē, der solidarischen Liebe, zu befolgen. Direkt aus dem Meer kommen die Fische, mit denen Jesus hier die Volksmenge speist, aber nicht – das ist erst in Johannes 21,10 der Fall, im Rahmen einer Erzählung, die nach Ton Veerkamp „eine Aktualisierung von Johannes 6,5-24 zu sein“ scheint. <82>

2.1.4 Berge als Orte der Offenbarung „des Gesetzes“ und der Anbetung Gottes

Zum Stichwort „Berg“ betont Little zunächst (78), dass zwar auch in Matthäus 15,29 Jesus vor der Speisung der Viertausend auf einen Berg steigt und sich dort setzt, aber nur die von Johannes erzählte Speisung der Fünftausend wird von zwei Erwähnungen eines Berges eingerahmt:

Jesus sitzt am Anfang auf dem Berg und nimmt am Ende auf ihm Zuflucht. Seine Bedeutung scheint offensichtlich.

Auf diese Bedeutung geht er aber erst nach den eben diskutierten Bezugnahmen auf das Meeressymbol ein (80), indem er darauf hinweist, dass ihm die Namenlosigkeit des Berges bei Johannes „die abstrakte Qualität eines Symbols verleiht“, ähnlich wie der Name des Gottesbergs im Mose-Zyklus, „manchmal Sinai, manchmal Horeb, … weniger wichtig ist als seine Funktion des Orts der Begegnung zwischen Gott und Mensch.“ Auch andere Menschen Israels erlebten Gott auf Bergen, „Patriarchen, Propheten und Könige“, aber ihre Erfahrungen standen alle im Schatten der „spektakulären Erscheinung“ Gottes, die (Anm. 247) – begleitet durch „Donner, Blitz, dichte Wolken, Trompetenstöße, Rauch und Feuer“ (2. Mose 19,16-18) – Mose und dem Volk Israel zuteil wurde. Nicht zu unterschätzen ist aber, dass „letztendlich der Berg Zion die Berge Sinai und Horeb als Ort der göttlichen Offenbarung ersetzt“, was aus Jesaja 4,5 hervorgeht. Vom Tempel auf dem Berg Zion aus (81) lässt Gott seine Weisung ausgehen und regiert er als König (Jesaja 2,2-3 und 24,23), während zugleich im Palast auf dem Zion ein im Auftrag Gottes gesalbter Mensch als König eingesetzt ist (Psalm 2,6).

Die zentrale Bedeutung dieser Metapher skizziert Little in dem kurzen Satz: „Berge erinnern an die Übergabe des Gesetzes“, in dem ich es bezeichnend finde, dass er das englische Wort „law“, „Gesetz“, benutzt und nicht auf die jüdische Bezeichnung „Tora“ zurückgreift, die mehr umfasst als erlassene Gebote oder geschriebenes Recht, nämlich auch die Geschichte der Zeugung Israels inmitten der Völker und seiner Befreiung aus dem pharaonischen Sklavenhaus Ägyptens. „Wichtig für das Verständnis des Vermehrungswunders und Jesu Rede ist“ dabei Little zufolge „die Beziehung zwischen dem Gesetzgeber und dem Volk.“ Sowohl am Berg Sinai (2. Mose 19,2-8) als auch am Berg Ebal (5. Mose 27,1-10 und Josua 8,30-35)

muss das Volk auf Gottes Stimme hören und die Gebote und Rechte beobachten, die Mose ihnen an jenem Tag auferlegt (5. Mose 27,10). In diesen Berichten ziehen sich die Worte logos und rhēma im Sinne von Geboten und Worten Gottes gleichbedeutend durch die Erzählung. … Das Muster wiederholt sich nach dem Exil. Esra, umgeben von Laien und Leviten, verliest das Gesetz vor Männern, Frauen und Kindern, wobei er auf einem hölzernen Podium, höher als all die Menschen, steht (Nehemia 8,4.7).

Weiter führt Little aus (82):

Die Haltung Gottes gegenüber den Menschen im mosaischen Zyklus ist zweideutig. Er bringt sie auf den Schwingen eines Adlers zu sich. Als Gegenleistung für ihren Gehorsam ihm gegenüber werden sie sein Volk (2. Mose 19,4-5). Sie versprechen, alles zu tun, was der Herr befiehlt (2. Mose 19,8). Dennoch dürfen sie Gott nicht zu nahe kommen. Er wird vor ihren Augen erscheinen, aber wer den Berg berührt, wird getötet (2. Mose 19,12). Sie fürchten, dass sie sterben werden, wenn Gott zu ihnen spricht (2. Mose 20,18-19). In den bereits zitierten Gesetzestexten aus dem 5. Buch Mose, Josua und Nehemia ist eine ähnliche Distanzierung des Volkes von seinem Führer festzustellen, der von Ältesten und anderen Funktionsträgern begleitet wird.

In gleicher Weise beschreibt Little „die Haltung des Volkes gegenüber Gott als ebenso zweideutig“, sein Murren und Rebellieren, die „Anbetung des Goldenen Kalbes“. Das Volk ist

Gott nahe und fern, wie es seiner Führung nahe und fern ist. Es ist sowohl gehorsam als auch aufmüpfig, ein Beispiel für den Glauben und ein Symbol des Abfalls, das das Verhalten der Menge vorwegnimmt, die Jesus annimmt und dann nach dem Wunder gegen ihn „murrt“ (Johannes 6,41.43.61; 7,32). Weder die Führung noch das Volk erwiesen sich als treu. Berge werden zu Symbolen und Stätten von Israels späterem Ungehorsam. Mose selbst wird wegen mangelnden Glaubens aus dem verheißenen Land ausgeschlossen (4. Mose 20,12-13).

Und wieder (83) betont Little die spätere Bedeutung des Berges Zion, mit dem sich Erwartungen „einer messianischen oder endzeitlichen Zukunft“ verbinden:

In der eschatologischen Vision ist das Essen auf dem Berg ein Zeichen der messianischen Freude. Jakob hatte mit seinen Verwandten auf einem Berg das Brot geteilt. Mose, Aaron, Nadab, Abihu und die siebzig Ältesten Israels hatten auf dem Sinai den Herrn geschaut und dann gegessen und getrunken (2. Mose 24,9-11). Jesaja sieht die Endzeit als ein Festmahl auf dem Zion mit reichen Speisen und feinem Wein für alle Völker, bei dem der Tod für immer vernichtet wird (Jesaja 25,6-7). Nach Jeremia sieht Gott sein Volk als verlorene Schafe, die über Berge und Hügel wandern und ihre Herde vergessen haben (Jeremia 50,6). In Hesekiels Vision verspricht Gott, dass er selbst seine Schafe auf den Bergen Israels hüten und weiden wird (Hesekiel 34,11-16). Bei der Entscheidung zwischen Leben und Tod ist der Gehorsam gegenüber dem Gesetz die Nagelprobe (5. Mose 30,15-20). Das Gesetz ist ihr Leben (5. Mose 32,46-47). Die lebensspendenden Eigenschaften des Gesetzes wirken auch auf dem Berg Zion. Diejenigen, die auf den Herrn vertrauen, werden wie der Berg Zion ewig leben (Psalm 133,3 vgl. Psalm 9,12.14).

Worauf will Little mit all diesen reichhaltigen Bezugnahmen auf die Bedeutung von Bergen im Alten Testament hinaus? Er erwähnt Jesu Reinigung des herodianischen Tempels mitsamt der Ankündigung seiner Zerstörung (Johannes 2,12-22) und geht auf die Offenbarung gegenüber der Samaritanerin ein, dass Gott in Zukunft weder auf dem Berg Gerizim noch auf dem Berg Zion angebetet werden wird (4,21). Das heißt: So wie im Alten Testament der Berg Sinai oder Horeb als Ort der Offenbarung Gottes durch den Zion abgelöst wird (und für die Samaritaner durch den Gerizim), so löst im Neuen Testament „Jesu eigener Leib (Johannes 2,21)“ als der neue Tempel (84) beide bisherigen „heiligen Berge an Anbetungsstätten“ ab. Er manifestiert dies, indem er „sich jetzt auf einen anderen Berg setzt, der an einem Meer liegt“.

Am Rande (Anm. 262) erwägt Little sogar, diesen so weit nördlich von Jerusalem liegenden Berg mit dem „Berg des Nordens“ aus Psalm 48,2 in Verbindung zu bringen,

der, wie der Berg Zion im Psalm, zur „Siedlung eines großen Königs“ wird. In der kanaanäischen Dichtung ist der „Berg des Nordens“ der Sitz der Götter. Es gibt keinen Beweis dafür, dass Johannes dieses Thema aufgreift, um den Berg als Sitz des fleischgewordenen göttlichen Wortes darzustellen, aber die mögliche Übereinstimmung ist interessant.

Little ist sicher darin zuzustimmen, dass Johannes mit der Erwähnung des Berges und des Meeres eine Vielfalt alttestamentlicher Motive in Erinnerung ruft. Die Frage wird allerdings sein, mit welcher Zielrichtung Johannes dies tut.

2.1.5 Jesu Aufstieg auf den Berg und der Mann Gottes aus 1. Könige 13

Da (84f.) die Erwähnung von „Berg und Meer lautstarke Anklänge an Mose hervorgerufen haben“, hätte Edmund Little erwartet,

dass beim Aufstieg Jesu auf den Berg das erwartete Verb anabainō wäre, das Moses Aufstieg auf den Sinai-Horeb kennzeichnete. <83> Stattdessen macht Johannes Jesus zum Subjekt von anerchomai, das nur einmal im Alten Testament (1. Könige 13,12) und dreimal im Neuen Testament vorkommt. <84> anabainō kommt häufig vor, wenn Jesus und andere zu jüdischen Festen nach Jerusalem hinaufziehen (Johannes 2,13; 5,1; 7,8.10; 11,55; 12,20), und einmal, wenn sie in den Tempel hinaufsteigen (7,14). Bezeichnenderweise wird es auch verwendet, wenn der Menschensohn zum Himmel hinaufsteigt und vom Himmel herunterkommt (3,13; 6,62). In einer Sprache, die an den Abstieg Gottes auf den Sinai erinnert, werden Jesus und das Brot als vom Himmel herabgekommen beschrieben (6,33.38.41.42.50.51.58). Durch die Verflechtung von anabainō und katabainō im weiteren Verlauf des Evangeliums werden sowohl die mosaische als auch die göttliche Identität Jesu unterstrichen. Warum weicht Johannes nun von der üblichen Praxis ab und verwendet anerchomai, um den Aufstieg Jesu zu beschreiben? <85>

Nach Little (85)

findet sich die Antwort in 1. Könige 13,11-34, wo das Subjekt des Verbs ein „Mann Gottes“ ist, der auf Geheiß des HERRN kommt, um Jerobeams Götzenaltar in Bethel zu verurteilen und die Geburt Josias, des Reformkönigs von Juda, zu prophezeien. Nach der Abreise des Gottesmannes fragt ein Prophet, welchen Weg er genommen habe (tēn hodon en hē anēlthen ho anthrōpos tou theou [1. Könige 13,12]), überholt ihn und lädt ihn zu einem Essen ein. Der Herr hatte dem Gottesmann das Essen verboten, aber der Prophet behauptet, ein Engel des Herrn sei ihm erschienen und habe das Verbot aufgehoben (1. Könige 13,17-19). Der Gottesmann glaubt ihm, isst und wird zur Strafe für seinen Ungehorsam von einem Löwen getötet.

Wenn Johannes bei seiner einmaligen Verwendung von anēlthen tatsächlich auf die einzige Stelle in der griechischen Übersetzung der jüdischen Bibel anspielt, wo dasselbe Verb in derselben Form vorkommt (der hebräische Text enthält allerdings einfach das häufig vorkommende Wort halakh, „gehen“), könnte er sagen wollen (85f.),

dass Jesus, der „Menschensohn“, auch ein „Gottesmann“ war, wie der, der sich Jerobeam widersetzte und seinen Altar verfluchte. Der andere Teil der Mission des Mannes Gottes besteht darin, das Kommen von Josia zu prophezeien, dem König, der das Gesetz und den wahren Gottesdienst in Israel wiederherstellt. In diesem ungewöhnlichen Verb spiegelt sich das Thema des Königtums, der Reinigung, des Ungehorsams und der Bestrafung wider. Auch hier passt es zu einem Mann, der bereits den herodianischen Tempel gereinigt und eine neue Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit vorausgesagt hat. Jesus, der von einem „Jünger“, mit dem er isst und trinkt, verraten wird, ist ein neuer „Mann Gottes“, der gesandt wurde, um die „Finsternis“ und den „Fürsten dieser Welt“ zu bekämpfen. Auch Elisa ist ein „Mann Gottes“, dem dieser Titel bei der Speisung der hundert Männer mit zwanzig Gerstenbroten (2. Könige 4,42) verliehen wurde, eine Übereinstimmung, die später im Bibelabschnitt noch lauter erklingen wird.

Dieser Hinweis von Little ist bestechend. Johannes könnte tatsächlich die Verunreinigung des herodianischen Tempels mit der Verirrung Jerobeams in Verbindung bringen und die Ankündigung des Königs Josia auf Jesus als den wahren König Israels beziehen. Wieder zeigt sich allerdings sofort, dass Little die Anbetung Gottes in „Geist und Wahrheit“ sowie die Überwindung der „Finsternis“ und des „Fürsten dieser Welt“ nicht wirklich konsequent von den jüdischen Schriften her interpretieren, sondern im späteren heidenchristlichen Sinne umdeuten will.

Im Gebrauch von anerchomai sieht Little nämlich eine Abschwächung „der Verbindung mit Mose“, die jedoch „in Johannes 6,4 durch die Erwähnung des Passahfestes wiederhergestellt wird, ein Fest, das durch Gottes Anweisungen an Mose und Aaron eingeführt wurde (2. Mose 12,43-51).“ Diese Erwähnung des Passah erinnert nach Little einerseits an das erste Passah im Gelobten Land (Josua 5,10-12), „die erste Mahlzeit aus dem Getreide und den Zeitpunkt, an dem das Manna aufhörte zu fallen“, und „an König Josia, der das Passahfest gemäß dem von Gott an Mose gegebenen Gebot wieder einführte (1. Esdras 1,6), was die Verbindung zwischen anēlthen und dem „Mann Gottes“, der Josia voraussieht, verstärkt.“ Andererseits verweist Little darauf, dass in Johannes 2,13 das Passahfest schon einmal „nahe war“, als

Jesus nach Jerusalem und zum Tempel hinaufgegangen war, aus dem er die Opfertiere vertrieben hatte. Jetzt ist das Passahfest wieder nahe (Johannes 6,4). Jesus steigt auf einen anderen Berg, einen neuen Sinai und einen neuen Zion. Er steigt nicht auf diesen Berg, weil er ein neuer Sinai-Zion ist. Es ist ein neuer Sinai-Zion, weil er auf ihn hinaufsteigt. Sein Tempel und das neue Opferlamm ist sein Leib.

Hier ist deutlich wieder Littles Nachtigall der christlichen Sühneopfertheologie und Eucharistiefeier zu hören, auf die seine Auslegung auch von Johannes 6,1-15 hinauslaufen wird. Keiner Erwähnung ist es ihm wert, ja, es tritt nicht einmal andeutungsweise in sein Bewusstsein, dass die Botschaft des Johannes auch darauf abzielen könnte, dass das neue Passahfest, das im Johannesevangelium immer nur nahe ist, als ein Fest der Befreiung von der unterdrückenden Weltordnung erst noch bevorsteht und durch den Tod des Messias am römischen Hinrichtungswerkzeug herbeigeführt werden wird.

2.1.6 Jesu Sitzen auf dem Berg als die ihm zustehende Thronbesteigung

Dass (86) Jesus „mit seinen Jüngern auf dem Berg sitzt“, berichtet Edmund Little zufolge nur Johannes, während (Anm. 272) Jesus bei Matthäus in 15,29 zwar auch auf dem Berg sitzt, auf dem später die Speisung der Viertausend erfolgt, aber dort setzt er sich „ganz allein“. Von der viel wichtigeren Stelle Matthäus 5,1 erwähnt Little zwar am Rande (Anm. 273), dass sich das Sitzen auf eine „Haltung des Lehrens“ bezieht, aber nicht, dass sich auch dort Jesus in Gegenwart seiner Jünger auf den Berg setzt, um seine Bergpredigt zu halten <86>; eine entsprechend bedeutsame und sein Handeln auf dem Berg deutende Rede hält Jesus bei Johannes anschließend in der Synagoge zu Kapernaum.

Auf jeden Fall hat (86f.) das Sitzen im Alten Testament eine große Bedeutung, wobei häufig „das Subjekt des Verbs ein Patriarch, Priester, Prophet, Richter oder König“ ist. Dabei sieht Little (87) die engsten Parallelen zum johanneischen Text in den prophetischen Erzählungen von Elia und Elisa in 1. Könige 17,19 und 2. Könige 4,38. Allerdings werden nur im letzteren Fall Prophetenjünger erwähnt, und es heißt nicht von Elisa, dass er sitzt, sondern die Jünger sitzen vor dem Propheten. Später wird sich allerdings zeigen, dass der Abschnitt 2. Könige 4,38-44 noch aus anderen Gründen in engem Zusammenhang mit der johanneischen Speisung der Fünftausend zu sehen ist. Hier weist Little schon darauf hin, dass sowohl in 2. Könige 4,38 als auch in Johannes 6,9 ein paidarion eine Rolle spielt, was in der deutschen Übersetzung aber nicht erkennbar ist, da er im Königebuch als „Diener“ und bei Johannes als „Knabe“ erscheint. Noch eine weitere Stelle in 2. Könige 6,32 erwähnt Little, in der Elisa mit seinen Ältesten, presbyteroi, zusammensitzt und (88)

eine baldige Beendigung einer Hungersnot ankündigt (2. Könige 7,1). Er sitzt mit seinen Ältesten zusammen, bevor die Menschen reichlich zu essen bekommen. Jesus sitzt mit seinen Jüngern zusammen, bevor er die Menge speist.

Aus zahlreichen Erwähnungen des Sitzens bedeutender Menschen im Alten Testament, die ich hier nicht alle wiederholen möchte, zieht Little den Schluss:

Das Verb stellt Jesus gekonnt als Mose, Prophet und König dar. Es identifiziert ihn stärker mit David, Elia und Elisa und stellt seine Jünger mit Hur und Josua [die Moses Arme stützten, als er beim Krieg gegen die Amalekiter auf einem Hügel saß und für den Sieg betete], mit Prophetenjüngern und königlichen Beamten in eine Reihe. Es wird auf die Speisungswunder Elisas und den Überfluss an Nahrung angespielt. Ein schwaches Echo von Jesus als leidendem Gottesknecht ist zu hören, aber noch lauter ertönt der Klang des Gerichts.

Es mag sein, dass solche Anklänge von Johannes beabsichtigt sind, wobei im Einzelnen gefragt werden müsste, was ihm besonders wichtig sein mag. Bezeichnend ist, dass Little ausgerechnet die Parallele zur matthäischen Bergpredigt außer Acht lässt, die einen Rückbezug vor allem auf Mose nahelegt. Eine Identifikation Jesu mit David dagegen ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil Johannes (7,42) keine Davidssohnschaft Jesu kennt und seine Geburt nicht in Bethlehem verortet.

Interessant ist Littles Hinweis auf den palaios hēmerōn, den „Alten an Tagen“, den Daniel (7,9) „sieht (etheōroun)“, wie er sich „setzt“, ähnlich wie in Johannes 6,2 „die Volksmenge die Zeichen gesehen hat (etheōroun), die Jesus getan hat“:

„Menschensohn“ wird oft auf Jesus bezogen, <87> aber hier identifiziert ihn das Verb implizit mit dem Alten an Tagen, der vor der Ankunft des Menschensohns auf dem Thron sitzt. Er nimmt seinen Platz auf dem Thron ein und spricht das Urteil zugunsten der Heiligen (Daniel 7,22). Das Zusammensitzen Jesu mit seinen Jüngern entwickelt das bereits in Kana begonnene Thema des Menschensohns auf seinem Thron der Herrlichkeit mit den Jüngern auf ihren eigenen Thronen, um die zwölf Stämme Israels zu richten. Das Verb unterstreicht Jesu Worte vor und nach dem Wunder über das Gericht, das von ihm selbst (Johannes 5,22.30; 8,16.26.50) oder vom Vater allein (12,47) gefällt wird.

Für Edmund Little besteigt Jesus also, indem er sich mit seinen Jüngern auf den Berg setzt und dort das zu ihm strömende Volk erwartet, den ihm zustehenden Thron – identisch mit dem „Alten an Tagen“, mit Gott selbst. Richtig daran ist, dass Jesus als der Menschensohn tatsächlich das Gericht vom VATER übertragen bekommt und, indem er immer wieder das egō eimi, die Selbstoffenbarung des Gottes Israels von 2. Mose 3,14 ausspricht, dessen heiligen NAMEN verkörpert. Versteht man Jesu Gottes- und Menschensohnschaft aber nicht mehr von diesem befreienden NAMEN her, sondern verleiht Jesu Vater von griechisch-philosophischen oder gar gnostischen Vorstellungen her einen völlig neuen, christlichen, jenseitsorientierten, angeblich den alten Bund überwindenden Anstrich, dann sind Zweifel an einer solchen Argumentation anzumelden.

Außerdem, wie bereits in Abschnitt 1.3.2.6 gesagt, spricht Johannes nirgends ausdrücklich von den Thronen der zwölf Jünger, um die zwölf Stämme Israels zu richten. In anderen biblischen Büchern ist davon durchaus die Rede, so verweist Little (Anm. 279) auf Matthäus 19,28; Lukas 22,30; 1. Korinther 6,2; Offenbarung 3,21; 20,4 sowie Offenbarung 4,4.10; 11,16 und sieht „das Mahl, das auf die Inthronisierung Jesu und seiner Jünger auf dem Berg folgt“, als „die Weiterentwicklung des in Lukas 22,30 genannten Themas durch Johannes.“ Dass Johannes (6,70.71; 20,24) eher selten und zurückhaltend von den zwölf Jüngern spricht, mag einerseits mit seiner Kritik an der von ihnen geführten messianischen Gemeinde in Jerusalem zusammenhängen, <88> andererseits will er sie vielleicht auch nicht direkt auf die zwölf Stämme Israels beziehen, weil er zwischen den zehn Stämmen Samarias und dem mehrheitlich widerstrebenden Stamm Juda differenziert.

2.2 Die Volksmenge, ochlos

6,2 Und es zog ihm viel Volk nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat. … 5 Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt…

Obwohl das griechische Wort ochlos in der gesamten Tora (den fünf Büchern Mose) kein einziges Mal auf das Volk Israel bezogen wird, <89> vergleicht Edmund Little (88) die von Johannes in 6,2 und 5 zum ersten Mal erwähnte Volksmenge, ochlos, ohne Weiteres mit den „Israeliten des Exodus“, die als „‚Volk‘, ‚Versammlung‘ oder als ‚Söhne Israels‘ bekannt waren“ (89):

Die Verben, die sie in die Erzählung einführen, weisen auf ihre doppelte Identität als mögliche Jünger oder als potenzielle „Murrer“ oder Rebellen gegen ihn hin.

2.2.1 Die Zeichen, sēmeia

Zunächst betrachtet Little (91) die Zeichen, sēmeia, die Jesus an den Kranken tat und die die Volksmenge dazu veranlassen, Jesus auf den Berg zu folgen, auf dem Hintergrund der Zeichen, die Mose in Ägypten vollbrachte:

Das erste Auftreten von „Zeichen“ im mosaischen Zyklus verbindet es mit dem Berg Gottes. Jesus wird wie Mose von Gott gesandt und vollbringt Zeichen, damit die Menschen an ihn glauben. Die ersten Zeichen, die durch Mose und Aaron gegeben werden, sollen die widerspenstigen Ägypter zum Glauben bringen (2. Mose 4,8-9). Der Auszug des Volkes aus Ägypten wird das Zeichen sein, dass Gott Mose gesandt hat. Danach wird er Gott auf dem Berg dienen (2. Mose 3,12).

Dass Little diese Zeichen mit dem Ziel des „Glaubens“ an Mose bzw. an Jesus verbindet, zeigt aber wieder, dass er die Aussageabsicht dieser Texte verschiebt – weg vom Vertrauen auf die Befreiung Israels aus dem ägyptischen Sklavenhaus und hin zu einem individuell-religiösen christlichen Glauben an Jesus als den Erlöser. Little verschweigt zwar nicht, dass das Zeichen Gottes im „Auszug des Volkes aus Ägypten“ bestehen wird, <90> aber er zieht daraus nicht die Konsequenz, das griechische Wort pisteuein als das Vertrauen auf die befreiende Macht des NAMENS zu verstehen. Tatsächlich sollen ja die „widerspenstigen Ägypter“ nicht in dem Sinne vom Glauben „an“ Mose überzeugt werden, dass sie die israelitische Religion annehmen; vielmehr wird von ihnen verlangt, ihren Status als Unterdrücker aufzugeben. Interpretiert man die johanneischen Zeichen auf dieser Linie, dann geht es auch Johannes weiterhin um die befreiende Macht des Gottes Israels, die er dem Messias Jesus überträgt – im Vertrauen auf ihn kann Israel und die Welt von der auf ihr lastenden versklavenden Weltordnung, die jetzt Pax Romana heißt, befreit werden.

2.2.1.1 Besteht im Johannesevangelium eine Zurückhaltung gegenüber Zeichen?

Während „in den synoptischen Evangelien ein Zeichen normalerweise etwas ist, was Jesus nicht gibt, obwohl er darum gebeten wird“, scheint das bei Johannes anders zu sein. Aber Little stellt doch auch im Johannesevangelium „eine ähnliche Zurückhaltung“ fest.

Dazu verweist er zunächst auf die geringe Zahl an „ausdrücklich beschriebenen Zeichen“ (Anm. 282), lässt dabei aber außer Acht, dass zum Beispiel die drei durch eine ausdrückliche Zahlenangabe hervorgehobenen Zeichen in den Kapiteln 2, 4 und 21 (siehe Abschnitt 1.1 und Abschnitt 1.3.1.2) oder die vier Zeichen der Heilung, Ernährung, Aufklärung und Belebung Israels in den Kapiteln 5, 6, 7 und 11 <91> den gesamten Inhalt des Evangeliums entscheidend strukturieren. Das Wort sēmeia als Bezeichnung dieser befreienden Machterweise des Gottes Israels muss dabei nicht überall genannt sein; das ist in den Kapiteln 6 und 7 nicht der Fall und auch nicht in Kapitel 21, wo aber der wunderbare Fischfang (21,14) mit dem Zahlwort triton, „das dritte Mal“ ausdrücklich in eine Reihe mit dem archēn tōn sēmeiōn, dem „prinzipiellen Zeichen“ (2,11) anlässlich der messianischen Hochzeit zu Kana und dem deuteron sēmeion, dem „zweiten Zeichen“, der Heilung zu Kana in eine Reihe gestellt wird.

Weiter stellt Little fest, dass den Zeichen Jesu nicht immer auch ein entsprechender Glaube folgt. Vor allem aber beurteilt er Jesu eigene Haltung gegenüber den Zeichen als widersprüchlich (92):

Jesus selbst missbilligt sie oder die Wirkung, die sie auf die Zeugen haben. Das Zeichen in Kana vollbringt er nach der Intervention seiner Mutter mit scheinbarem Widerwillen (Johannes 2,4). Der königliche Beamte wird kritisiert, weil er seinen Glauben an „Zeichen und Wunder“ knüpft (4,48), während die Menge getadelt wird, weil sie ihren Glauben an das Brot knüpft und nicht an die Zeichen, die sie gesehen hat (6,26). Zeichen sollten den Glauben fördern, wie im mosaischen Zyklus. Die Rede Jesu nach dem Wunder mit ihrer Betonung des Glaubens und des ewigen Lebens (6,29.30.35.36.47.64.69) unterstützt diese Ansicht. Dennoch sagt Jesus zu Thomas, dass es noch besser ist, zu glauben, ohne zu sehen (20,29). Auch Mose hatte bei seiner ersten Beauftragung durch Gott Zögern gezeigt (2. Mose 3,11.13; 4,1.10-11) und an seiner Fähigkeit gezweifelt, die Anweisungen Gottes auszuführen. Jesus stellt die angemessene Zeit für das Kana-Wunder und den Sinn von Zeichen im Allgemeinen in Frage.

Diesen Ausführungen muss ich entschieden widersprechen. Bereits in Abschnitt 1.3.1.3 war davon die Rede gewesen, dass Jesus sein Wunder zu Kana nicht etwa mit grundsätzlichem Widerwillen vollbringt, sondern sofort die Anweisung zum Füllen der Krüge erteilt, als seine Mutter als Repräsentantin Israels die Bereitschaft zeigt und von den Diensthabenden fordert, auf ihn als den Messias zu hören.

Auch der scheinbare Widerspruch, den Little zwischen Johannes 4,48 und 6,26 wahrnimmt, muss in Wirklichkeit keiner sein, denn der Satz über die „Zeichen und Wunder“, die die von Jesus Angesprochenen sehen wollen, enthält nach Ton Veerkamp <92> nur dann Kritik und Tadel, wenn man, wie es viele christliche Exegeten tun, den Glauben als etwas versteht, „was nicht zu sehen ist“, und der etwas bewirkt, „was nicht zu sehen ist“. Stattdessen gilt aber in den jüdischen Schriften und auch für Johannes als jüdischen Messianisten:

Befreiung muss in Israel immer sinnlich erfahrbar sein: „Vergesst nicht“, sagt Mosche, „alle Reden, die du gesehen hast, dass sie nicht weichen aus deinem Herzen alle Tage deines Lebens …“ (Deuteronomium 4,9). Hätte also Israel schon damals keine Zeichen und Machterweise gesehen, dann hätte es nicht vertraut und auch nicht vertrauen können. Es geht um die doppelte Bezeichnung dessen, was geschieht; Zeichen (ˀothoth, sēmeia) beziehen sich auf das Objekt der Handlung Gottes, Israel; Machterweise (mofthim, terata) beziehen sich auf das Subjekt, Gott selbst. Deswegen kommen diese Wörter oft zusammen vor, vor allem, wenn das Handeln Gottes bei der Befreiung aus Ägypten und in der Wüste zur Sprache gebracht wird. Zeichen und Machterweise bedeuten immer den Nachweis der Befreiungsmacht des Gottes Israels.

Die Kritik Jesu in Johannes 6,26 an denen, die sich nur am Brot gesättigt haben, ohne das Zeichen zu sehen, bezieht sich nach dieser Auslegung genau darauf, dass sie das Speisungswunder nicht als Hinweis auf die Macht des Messias Gottes erkannt haben, das erfüllte Leben der neuen Weltzeit von Gerechtigkeit und Frieden herbeizuführen. Little sieht das anders: In seinen Augen geht es um den Glauben an das ewige Leben in einem anderen, jenseitsweltlichen Sinn.

Ebenso ist Jesu Wort an Thomas (20,29) über die Seligkeit der Nichtsehenden nicht als Tadel gemeint. Jesus nimmt ja seinen Zweifel ernst und reiht Thomas unter diejenigen ein, die wie der Geliebte Jünger (19,35 und 20,8) und Maria Magdalena (20,18) sehen und vertrauen. <93>

Vielmehr hat das Wort einen völlig anderen Sinn, wie Ton Veerkamp weiß: <94>

Natürlich kann man in den Tagen des Scheiterns des Messias, seines Weggangs, nichts als die unerschütterliche Macht der Weltordnung und die Trümmer Jerusalems sehen. Es ist der Unterschied zwischen dem Israel der sinnlich erfahrenen und erfahrbaren Befreiung und dem Israel vor den Trümmern seiner Geschichte. Diesem Israel wird das Festhalten an einer messianischen Perspektive abverlangt in einem Augenblick, wo es seine Zukunft verloren zu haben scheint. Sicher gibt es in dieser Lage eine Spannung zwischen sehen und vertrauen. Es gibt Zeiten ohne Zeichen und Machterweise, wie Israel weiß und im trostlosen Lied: Warum, Gott, verabscheust du für ewig, Psalm 74,9 singt:

Unsere Zeichen sehen wir nicht mehr,
Nirgends mehr ein Prophet,
keiner ist mit uns, der wüsste, bis wann …

Interessant ist, dass Little genau diesen Psalmvers selbst im nächsten Abschnitt zitiert, um zu betonen, dass die Zeichen „Jesus mit der gesamten prophetischen Tradition Israels verbinden, in der, ohne Zeichen zu sein, bedeutet, ohne Prophet zu sein“. Dort weiß er auch, dass „Gott selbst die letzte Quelle aller Zeichen ist, sogar wenn sie durch Vermittler wie Jesaja (7,11) oder Mose und Aaron (2. Mose 10,3) bewerkstelligt werden“, und dass bei Johannes „Jesus, indem er Zeichen vollbringt, die Werke des Vaters tut (Johannes 10,37-38)“. Insofern dürfte auch er nicht die Wertschätzung der Zeichen durch Jesus in Frage stellen.

Volllkommen abwegig ist Littles Vergleich von Jesu (angeblicher) Infragestellung der rechten Zeit des Zeichens zu Kana und der Sinnhaftigkeit der Zeichen überhaupt mit Moses Zweifeln an seiner Befähigung, dem Auftrag Gottes gerecht zu werden. Von Selbstzweifeln des Messias ist im ganzen Johannesevangelium keine Rede; sogar die Stelle 12,27-28, die das Gebet Jesu aus den synoptischen Evangelien aufnimmt, den Kelch des Todes am Kreuz von ihm zu nehmen (Markus 14,36; Matthäus 26,39; Lukas 22,42), handelt zwar von der Erschütterung der Seele Jesu, aber Jesu spricht ausdrücklich nicht das Gebet: „Befreie mich aus dieser Stunde“, da er bewusst „in diese Stunde gekommen“ ist, damit dem NAMEN des Gottes Israels die Ehre gegeben wird – und diese Ehre besteht, wie wir bereits im Abschnitt 1.4.4 sahen, darin, dass Israel befreit wird und in Gerechtigkeit und Frieden leben kann.

2.2.1.2 Zeichen als Hinweis auf kairoi, Festzeiten oder schicksalhafte Augenblicke?

Von sēmeia, „Zeichen“, ist im Alten Testament sehr häufig die Rede, und nicht jede Stelle, die Little erwähnt (93), muss von Bedeutung sein im Blick auf das Johannesevangelium. Das gilt auf jeden Fall für die sēmeia, die sich auf die kairous, „Zeiten“, im Sinne von Festzeiten oder günstigen Augenblicken beziehen. Nach 1. Mose 1,14 werden „Sonne und Mond“ als „Zeichen für Feste, Tage und Jahre“ erschaffen, wobei kairous mit „Feste“ wiedergegeben ist. Edmund Little meint nun, diese Stelle von Sirach 43,6-7 her näher erklären zu können:

In Ben Sirachs Worten bezeichnen solche Feste einen kairos, einen entscheidenden Augenblick im Leben der Nation. Die Feste des Judentums und die Entfaltung der Zeit sind mit der Schöpfung und dadurch mit dem Schöpfer selbst verbunden. Allein Johannes rückt das „Zeichen“ des Speisungswunders in die Nähe des Passah (6,4) und verbindet sowohl das Passah als auch den Sabbat mit der Passion (19,31). Jesus spricht zu seinen Brüdern über seinen eigenen kairos (7,6.8). Sein persönliches Schicksal ist mit dem der Nation verbunden, ein Thema des Evangeliums, das unwissentlich von Kaiphas angesprochen wird (11,50-51).

Die Nähe des Passah im Johannesevangelium hat aber, wie gesagt, mit der Befreiung Israels zu tun, die nach Johannes noch bevorsteht, weswegen das Passah immer nur „nahe“ ist und im Evangelium nie gefeiert wird, und nicht damit, dass das Wort „Zeichen“ in 6,2 die Stelle 1. Mose 1,14 ins Gedächtnis ruft – zumal dort nur allgemein von „Zeiten“ und nicht speziell vom Passah die Rede ist.

Auch die Verbindung mit Sirach 43,6-7 ist eher zufälliger Art, denn in diesen Versen hat das Wort kairos gar nicht speziell mit dem Schicksal Israels als Nation zu tun, um das es in Johannes 11,50-51 geht und in denen kairos wiederum nicht vorkommt.

Außerdem verwendet Johannes gerade das Wort kairos im Sinne eines „günstigen Augenblicks“ nur an einer einzigen Stelle (7,6.8), um auszudrücken, dass Jesu Zeit eben noch nicht gekommen ist, als seine Brüder ihn zum offenen, zelotischen Kampf gegen die Weltordnung auffordern. Jesu Zeit kommt erst, wenn er die Weltordnung durch seine Erhöhung ans Kreuz und sein Aufsteigen zum VATER überwindet, und diese Zeit heißt im Johannesevangelium immer die „Stunde“, hōra, des Messias, und nicht sein kairos.

2.2.1.3 Zeichen als Anspielung auf den Bund des Alten Testaments, den Jesus im Sakrament des Abendmahls übertrifft?

Weiterhin will Little die Erwähnung der Zeichen mit dem in Verbindung bringen, was im Alten Testament berith, „Bund“, heißt, diathēkē in der griechischen Septuaginta.

Dafür führt er als erstes Argument die Sintflutgeschichte an, in der (1. Mose 9,12.13.17) der Regenbogen als sēmeion tēs diathēkēs, als „Zeichen des Bundes“ zwischen Gott und allen „Lebewesen“, psychēs zōsēs, der „Erde“, tēs gēs, bzw. „allem Fleisch“, pasēs sarkos, auf der Erde aufgerichtet wird. Wieder halte ich es für eine eher zufällige Übereinstimmung, dass auch im Johannesevangelium häufig von „Leben“, „Erde“ und „Fleisch“ die Rede ist.

Zweitens (94) lässt Little zufolge die 13malige Erwähnung von sarx, „Fleisch“, im Johannesevangelium ein weiteres „Zeichen des Bundes, die Beschneidung“ anklingen, denn in 1. Mose 17,11 fordert Gott von den männlichen Israeliten, „das Fleisch ihrer Vorhaut“, tēn sarka tēs akrobystias, zu beschneiden, und zwar en sēmeiō diathēkēs, „als Zeichen des Bundes“. Die als Parallele wörtlich zitierte Stelle Johannes 17,2, wo davon die Rede ist, dass Gott seinem Sohn Macht gegeben hat „über alles Fleisch“, pasēs sarkos, hat allerdings überhaupt nichts mit der Beschneidung zu tun, sondern mit der Übertragung von „Macht, Ehre und Reich“ über „alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen“ an den Menschensohn, von der in Daniel 7,14 die Rede ist.

Immerhin gibt Little zu, dass „das Wort ‚Bund‘ nirgends im Johannesevangelium auftaucht“. Das hindert ihn nicht daran, zu behaupten, dass

sēmeion an die Bundesschlüsse Gottes mit Abraham und Noah erinnert. Die lexikalischen Themen dieser alttestamentlichen Episoden finden sich im gesamten Evangelium im Wortschatz des Johannes wieder. Der Begriff „Bund“ taucht nicht auf, weil es im gesamten Evangelium um die besondere Beziehung geht, die Jesus zwischen Gott und den Menschen hergestellt hat und die die Zusicherung des ewigen Lebens nach dem Tod einschließt. Diese Beziehung übertrifft die alten Bundesschlüsse, so wie Jesus Mose und den Bund am Sinai übertrifft.

Diese Argumentation ist abenteuerlich. Das Fehlen des Wortes „Bund“ im ganzen Evangelium wird nicht etwa ernstgenommen als Hinweis darauf, dass Johannes den Bund Gottes mit Israel eben nicht grundsätzlich in Frage stellt oder ihn gar überbieten will. Stattdessen behauptet Little hier ohne weitere Begründung, <95>

  • dass das gesamte Evangelium von der besonderen Beziehung nicht mehr zwischen Gott und Israel, sondern „zwischen Gott und den Menschen“ handelt,
  • dass Jesus diesen Menschen nicht Befreiung aus Sklaverei und Unrecht wie in den jüdischen Schriften, sondern „ewiges Leben nach dem Tod“ zusichert,
  • und dass darin eine Überbietung aller alten Bundesschlüsse zu sehen ist, die Gott mit Abraham, Noah und sogar Mose geschlossen hat.

Tatsächlich sollte jedoch ernstgenommen werden,

  • dass Johannes als jüdischer Messianist keinen der alten Bundesschlüsse zwischen Gott und Israel aufheben will,
  • dass es ihm nicht um ein ewiges Leben nach dem Tod im Himmel geht, sondern um das Kommen des erfüllten Lebens der neuen Weltzeit auf der Erde unter dem Himmel Gottes,
  • und dass man nur insofern von einer Überbietung des alten Bundes reden kann, als seit der Zeit der globalisierten Unterdrückung der Völker durch den Hellenismus und das Römische Imperium der Bund Gottes mit Israel nicht mehr getrennt von den Völkern verwirklicht werden kann, sondern nur dadurch, dass Israel inmitten der Völker von der Weltordnung befreit wird, die auf aller Welt lastet.

Schließlich schiebt Little eine weitere, noch weniger begründete Behauptung hinterher, die ihm als katholischem Theologen vor allem am Herzen liegt, nämlich dass die in seinen Augen offenbar allgemeingültige

Identifikation von Zeichen mit Bund ein sakramentales und eucharistisches Thema im Bibelabschnitt vorwegnimmt. Wenn das Abendmahl in den Köpfen der Leser des Johannes bereits „eine gegebene Sache“ war, dann sind der Wein von Kana und das Brot von Galiläa als Zeichen ausgezeichnete Kommentare, um ihr (und unser) Verständnis des Ritus zu vertiefen.

Diese Argumentation ist rückblickend von der späteren Abendmahlstheologie der christlichen Kirche her natürlich nur allzu plausibel. Sie nimmt aber nicht ernst, dass Johannes als einziger in seinem Evangelium auf eine ausdrückliche Einsetzung des Abendmahls verzichtet und stattdessen beim letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern die Fußwaschung als eine Art Sakrament der agapē, des freiwilligen solidarischen Sklavendienstes füreinander, beispielhaft vorlebt. Selbst wenn Johannes das Herrenmahl anderer messianischer Gruppierungen kannte, was wahrscheinlich ist, könnte er sich gerade von dieser Praxis kritisch abgegrenzt haben. <96>

2.2.1.4 Zeichen, die mit Königtum und Befreiung zu tun haben

Drei Beispiele nennt Little (94f.) für die „Identifizierung von Zeichen und Königtum“, ohne zunächst den geringsten Hinweis zu geben, warum Johannes ausgerechnet auf diese Bibelstellen anspielen sollte:

Samuel salbt Saul den Kopf als Zeichen des Herrn, dass Gott ihn zum Fürsten über das Volk gesalbt hat (1. Samuel 10,1). Samuel sagt eine Reihe von Zeichen voraus, die Saul widerfahren werden, der so handeln muss, wie es der Anlass erfordert, denn Gott wird mit ihm sein (1. Samuel 10,7), was an Gottes Worte an Mose erinnert (2. Mose 3,12). Esther betrachtet ihre Krone unwillentlich als Zeichen (Esther 4,17w LXX).

Littles letzter Satz gibt den Inhalt des darin angesprochenen Verses allerdings nur unzureichend wieder. Dieser steht nur in der griechischen Langfassung des Estherbuches und spricht davon, dass die Königin Esther ihre Krone, die sie in der Öffentlichkeit tragen muss, als „Zeichen des Hochmuts … wie einen Menstruationslappen verabscheut“. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sich Johannes darauf bezieht, bin Little aber dankbar für den Hinweis auf diese Stelle, weil ich durch sie auf einen spannenden Text von Marie-Theres Wacker über Das Ester-Buch der Septuaginta aufmerksam geworden bin, den ich zur Lektüre empfehlen kann.

Im nächsten Satz (95) stellt Little fest, dass „Zeichen, wie Berg und See, mit der Befreiung Israels von seinen Feinden gleichgesetzt wird“, und verweist dazu auf das „Essen des ungesäuerten Brotes und die Rettung der Erstgeborenen … als Zeichen dafür, dass der Herr Israel aus Ägypten herausgeführt hat (2. Mose 13,9.16)“. Und in diesem Zusammenhang erwähnt er nochmals 1. Samuel 10,1 als Beleg für die Salbung Sauls zum Zeichen seines „Auftrags, Israel aus der Macht seiner Feinde zu befreien“. Solche Stellen in den Schriften gehören wirklich zum Hintergrund der Botschaft des Johannes, dass der Messias Jesus von Gott dazu beauftragt ist, die Befreiung Israels aus der weltweit herrschenden Sklaverei heraufzuführen, und die folgende von Little angeführte Stelle beschreibt sehr genau Jesu konkrete Ziele:

Jesaja, der vom zweiten Exodus, der Rückkehr der Verbannten aus Babylon, spricht, sieht den Herrn ein Zeichen für die Völker setzen, die Ausgestoßenen Israels versammeln und die Zerstreuten Judas aus den vier Ecken der Erde sammeln (Jesaja 11,12). <97>

2.2.1.5 Zeichen als Terror Gottes oder als Erweis seines befreienden NAMENS?

Unter (95) der Zwischenüberschrift „Tod und Fluch“ wiederholt Edmund Little, was er am Anfang seiner Betrachtungen zum Thema der Zeichen angedeutet hat:

Gott bewirkt Zeichen, um den Ägyptern Glauben und Furcht einzuflößen und die Israeliten davon zu überzeugen, dass er der Herr ist (2. Mose 10,2). Er wirkt durch Prüfungen, Terror, Bewährungsproben und mit mächtiger Hand im Angesicht seines Volkes. Er ist ein Schrecken für andere Völker und prüft sein eigenes Volk, und wer versagt, den bestraft er (5. Mose 4,34).

Was ich dazu bereits am Beginn dieses Abschnitts 2.2.1 bemerkt habe, nämlich dass die Zeichen kaum dazu dienen sollen, um die Ägypter zum Glauben an den Gott Israels zu bewegen, bestätigt Little jetzt in einer Randbemerkung (Anm. 298):

Im Kontext von 2. Mose 3-11 sind Zeichen nicht so sehr Anreize zum Glauben als vielmehr eine Reihe aggressiver Handlungen, um die Ägypter zur Unterwerfung zu bringen. Siehe auch 5. Mose 6,22; 7,19.

Littles Tonfall und Wortwahl in diesen Beschreibungen lassen erkennen, dass er große Vorbehalte gegenüber dem Handeln Gottes gegenüber den Ägyptern hegt: Er spricht von „aggressiven Handlungen“, ja, von „Terror“, mit dem Ziel der „Unterwerfung“ der feindlichen Ägypter, obwohl er sich wohl eigentlich wünschen würde, dass dieser Gott andere Mittel einsetzt, um den Ägyptern „Anreize zum Glauben“ zu bieten. Zugleich bewirkt Gott Little zufolge Zeichen, um „die Israeliten davon zu überzeugen, dass er der Herr ist“.

Aber was bedeutet „der Herr“? Bleibt dieses Wort undefiniert, könnte man annehmen, dass er ein sich mit willkürlicher Gewalt behauptender Herrgott wie alle anderen altorientalischen Götter ist, die unterdrückende und ausbeutende menschliche Machthaber legitimieren. Stattdessen ist er aber der ganz andere Gott Israels mit einem NAMEN, der das Programm der Befreiung in sich trägt. Gerade 5. Mose 4,34 macht das unmissverständlich deutlich. Der Gott Israels setzt seine ganze Ehre, kavod, doxa, für die Befreiung des von ihm (5. Mose 7,7) „als kleinstes unter allen Völkern“ erwählten Volkes Israel ein.

Daher ist auch klar, dass die Zeichen für den ägyptischen Pharao keine Anreize zu einem religiös zu verstehenden Glauben sind; auch ein Vertrauen auf den befreienden Gott Israels könnten sie nur hervorrufen, wenn der Pharao aufhörte, ein Unterdrücker zu sein. Stattdessen dienen die Zeichen zunächst zur Verhärtung der Position des Unterdrückers, zu seiner Verstockung. Man kann auch sagen: Dass Unterdrücker ihre Macht in aller Regel nicht freiwillig abgeben, gehört zu den realistischen politischen Einsichten der biblischen Autoren.

Für Israel aber stehen die Zeichen des Gottes Israels, dessen NAME das Programm der Befreiung seines Volkes enthält (2. Mose 3,12-14), dafür, dass er auch die Macht hat, diese Befreiung zu bewirken. Sie bewirken das unerschütterliche Vertrauen Israels auf diesen einen und einzigen Gott, der mächtiger ist als alle Götter, die nur ausbeuten und unterdrücken können.

2.2.1.6 Zeichen Jesu, die Moses Zeichen übertreffen und einen neuen Bund begründen?

Little dagegen stellt die Darstellung des Mose durch die Tora als des „einzigartigen Propheten“, den „Gott von Angesicht zu Angesicht kannte“ und „dessen ‚Zeichen und Wunder‘, seine ‚Schreckens-‘ (hebräisch) oder ‚Wundertaten‘ (griechisch)“ sie in 5. Mose 34,10-12 preist, dem johanneischen Jesus gegenüber, der „keine Furcht hervorruft“ (95f.):

Seine Jünger haben nur einmal Angst, als sie ihn zwischen dem Speisungswunder und der Rede auf dem Wasser gehen sehen (Johannes 6,19). Jesus ist nicht von Angesicht zu Angesicht mit Gott. Er ist eins mit dem Vater (10,30). Seine Zeichen scheinen gering im Vergleich zu den spektakulären Darbietungen seines Vorgängers. Mose teilte das Wasser für eine große Zahl von Menschen. Jesus wandelt auf dem Wasser des Meeres vor einigen wenigen Jüngern. Mose handelt auf Anweisung, nicht aus Erbarmen. Jesus verwandelt keine Stöcke in Schlangen, verursacht keine Plagen, sondern speist, heilt und erweckt Menschen von den Toten. Jesus benutzt keine „Requisiten“ wie Rute oder Stock, sondern vollbringt Zeichen mit einer Kraft, die aus der Gemeinschaft mit seinem Vater stammt. Mose wird das Gelobte Land wegen seines Ungehorsams verwehrt. Jesus handelt immer im Gehorsam gegenüber dem Vater und kommt so in sein Reich. Jesus ist ein Prophet wie Mose, aber größer (1,17), weil er Gott ist. Obwohl es nie ausdrücklich gesagt wird, ist es klar, dass Jesus nicht nur Zeichen gibt. Er ist das Zeichen für Leben und Tod auf diesem namenlosen Berg und im gesamten Evangelium.

Little selbst nennt (Anm. 300) diese Beurteilung des Mose im Vergleich zu Jesus eine „Degradierung“, wobei er diese als „respektvoll“ bezeichnet. Unterschwellig schlägt er dennoch einen antijüdischen Tonfall an, indem er dem Juden Mose primitivere Mittel der Furchterzeugung und Zauberei vorhält, während Jesus es aus seiner göttlichen Autorität heraus nicht nötig hat, auf solche Methoden zurückzugreifen.

Dabei hat Little insofern Recht, als der Messias Jesus tatsächlich in den Augen des Johannes die Bedeutung des Mose noch übersteigt. Immerhin ist er der Messias des Gottes Israels und verkörpert dessen heiligen NAMEN, auch kann man Jesus wirklich keinen Ungehorsam gegenüber dem Gott vorwerfen, mit dem er eins ist, indem er vollkommen mit seinem befreienden Willen übereinstimmt.

Tatsächlich verursacht Jesus keine Plagen, um die römische Weltmacht zur Befreiung Israels zu zwingen, Little übersieht aber, dass auch Jesu Wundertaten auf die Heilung, Ernährung, Öffnung der Augen und Belebung Israels gerichtet sind. Und wie Mose das gegenüber dem Pharaonenreich scheinbar hoffnungslos unterlegene israelitische Sklavenvolk dennoch in die Freiheit führen konnte, bewirkt Jesus nach Johannes die Befreiung der Welt und damit auch Israels von der auf ihnen lastenden römischen Weltordnung, indem er am Kreuz der Römer stirbt und (Johannes 19,30) „den Geist übergibt“, paredōken to pneuma, nämlich die Inspiration der Treue des Gottes Israels. Es ist dieser Geist, diese Inspiration, die Jesu Schüler von Jesus empfangen (20,22), während er ihnen als der zum VATER aufsteigende Messias begegnet, und die sie dazu befähigt, mit Hilfe des neuen Gebots der agapē, der solidarischen Liebe, die neue Weltzeit der Gerechtigkeit und des Friedens tätig zu erwarten.

Ob man, wie es Little tut, allerdings so einfach davon reden kann, dass Jesus nach Johannes im Gegensatz zu Mose „in sein Reich kommt“, stellt zumindest Ton Veerkamp <98> in seiner Johannesauslegung in Frage. Das Aufsteigen zum VATER kann für jüdische Messianisten nicht darin bestehen, dass Jesus nun einfach im Himmel bei Gott lebt, denn bei „Johannes, überhaupt in der ganzen Schrift, beherbergt nicht der Himmel, sondern die Erde den kommenden Ort (vgl. Psalm 115,16).“ Vielmehr ist das Aufsteigen zum VATER eine Metapher für den Prozess, den Jesus durch seinen Tod am Kreuz einleitet, nämlich die eben erwähnte Übergabe des Geistes an seine Schülerschaft. <99> Wenn dieser Prozess zur Überwindung der Weltordnung und zum Anbruch der Weltzeit, die kommen soll, geführt hat, dann erst ist das messianische Königreich da, vorher existiert es noch gar nicht. Für uns Christen ist es schwer einzusehen, aber Johannes denkt diesseitig wie die Propheten Israels, nicht jenseitig wie schon sehr bald die christlichen Kirchenväter: die Weltzeit, die kommen soll, stellt er sich auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes vor.

Dann formuliert Edmund Little einen seltsam widersprüchlichen Satz, mit dem er seine weitere christlich-jenseitsorientierte Interpretation der Zeichen Jesu fortsetzt (96):

Gerade die Sanftheit seiner Zeichen verschleiert die Warnung, die von ihnen ausgeht. Die Menge „sieht“ sie als „Leben und Segen“ und erkennt nicht die Möglichkeit von „Tod und Fluch“. Mit der Speisung des Volkes befriedigt Jesus einen menschlichen Appetit. Bei der Auferweckung des Lazarus appelliert er an den menschlichen Wunsch nach Unsterblichkeit. Weder der königliche Beamte, der ein Zeichen verlangte, noch die Menge, die dem Zeichen keine Beachtung schenkte, dringen über die physische Handlung hinaus, um ihre spirituelle Bedeutung zu finden. Essen und Heilung weisen auf tiefere Wirklichkeiten hin. Sie haben nichts mit einem irdischen Königtum zu tun.

Die Widersprüchlichkeit des ersten Satzes in diesem Abschnitt liegt in meinen Augen darin, dass Jesus sich einerseits mit seinen „sanften“ Zeichen von dem Schrecken verbreitenden Gott Israels positiv abheben soll, dass sich aber andererseits hinter diesen nur scheinbar „sanften“ Zeichen ein ganz anderer Schrecken verbirgt. Little deutet das hier nur an, indem er der jüdischen Volksmenge rein dieseitig-materielle Wünsche unterstellt, während es Jesus angeblich nicht um ein irdisches Königtum geht, sondern um „tiefere Wirklichkeiten“ und höhere, spirituelle Bedürfnisse.

Wohlgemerkt: Johannes ist nicht gegen Spiritualität! Aber er versteht pneuma vom befreienden Atem Gottes her, der nach Hesekiel 37 den toten Gebeinen Israels und Judas neues Leben einhaucht, hier auf Erden. Sicher beabsichtigt Jesus mit seinem Speisungswunder mehr als eine vorübergehende Sättigung; er will eine Überwindung der Weltordnung, die dem Volk ein dauerhaftes Leben ohne Ausbeutung, Krieg und Hunger ermöglicht. Insofern will Jesus auch bei der Auferweckung des Lazarus <100> wirklich mehr als Unsterblichkeit; wie seine Worte an Lazarus zeigen – „Macht ihn los und lasst ihn weggehen“ –, geht es ihm darum, „das nicht mehr tote und noch nicht lebende Israel ‚los zu machen‘, zu erlösen von der Bindung des Todes“.

Schwierig ist die Sache mit dem „irdischen Königtum“. Der johanneische Jesus will in der Tat nicht von zelotisch agierenden Nachfolgern zum König ausgerufen werden – alle Evangelisten schreiben ihr Buch vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Judäischen Krieges, die gezeigt haben, in welcher Katastrophe solche Versuche enden mussten. Und selbst wenn Jesus Erfolg gehabt hätte wie die Makkabäer zwei Jahrhunderte vor seiner Zeit, dann konnte, wie Ton Veerkamp sagt, <101> seine Herrschaft „nichts anderes werden als ein Königreich wie alle anderen auch“. Trotzdem behält Jesus gerade bei Johannes das Ziel eines an der Tora orientierten Königtums auf der Erde unter dem Himmel im Auge <102> – realisierbar ist es aber nur, wenn die herrschende Weltordnung von Unterdrückung und Gewalt durch das neue Gebot der agapē, einer „Solidarität“ des freiwilligen Sklavendienstes, überwunden wird.

Wie gesagt, Little verfolgt ganz andere Ziele. In den Zeichen, auf Grund derer die Volksmenge zu Jesus strömt, klingt in seinen Augen an, dass Jesus alle Bundesschlüsse Gottes mit dem Volk Israel hinter sich lässt und durch einen neuen Bund ersetzt (96):

Das bevorstehende Wunder soll ein entscheidender Moment im Leben Israels sein, der an seine Vergangenheit erinnert und auf zwei mögliche Zukünfte hinweist: ein neuer Bund, der Leben, Heilung und Freiheit in einem neuen gelobten Land verspricht, oder Strafe und Tod für Ungehorsam. In der Ausführung der Zeichen findet sich ein entferntes Echo auf das Königtum Jesu, aber ein noch stärkerer Hinweis auf die Gleichheit mit Gott, der als Retter und Richter die Quelle aller Zeichen ist.

Der wahrhafte Schrecken hinter dieser Sichtweise wird erst offenbar, wenn die Katze eines christlichen Absolutheitsanspruchs aus dem Sack gelassen wird, die den Glauben an Jesus Christus in einer ganz bestimmten Art und Weise als Vorbedingung für die ewige Seligkeit im „gelobten Land“ des jenseitigen Himmels fordert. Dann werden die Vorstellungen von einer kommenden Weltzeit des Friedens hier auf Erden, wie sie die Propheten Israels verheißen haben, als irdisch-menschliche Wünsche abgewertet und durch die Hoffnung auf himmlisches Heil ersetzt. Schlimmer noch: Juden, die Jesus nicht als Messias anerkennen können oder wollen, werden von diesem Heil ausgeschlossen und als Kinder des Teufels in die Hölle verdammt.

Ich bestreite, dass bereits Johannes solche Vorstellungen gehegt hat. Ihm geht es nicht um einen neuen Bund, abgelöst von Israel, sondern um ein neues Passah der Befreiung Israels durch die Überwindung der Weltordnung. Das neue Gelobte Land sieht er in einer zukünftigen Weltzeit des Friedens auf der Erde, heraufgeführt durch solidarische Liebe, nicht in einem jenseitigen Himmel.

Aber spricht nicht doch auch Jesus im Johannesevangelium (8,24) davon, dass Menschen in ihren Sünden sterben werden? So wie Little es formuliert, werden Leute, die aus welchen Gründen auch immer nicht an Jesus glauben wollen, dafür mit dem ewigen Tod bestraft. Tatsächlich besteht die Strafe und der Tod als Folge des Nichtvertrauens auf Jesus in Johannes’ Augen darin, dass Menschen ohne Vertrauen auf die Treue Gottes nicht zur Solidarität fähig sind und unter der Herrschaft der Weltordnung in die Todesmächte von Gewalt und Ausbeutung verstrickt bleiben.

2.2.2 Ist der ochlos eine wohlwollende Volksmenge oder ein feindseliger Mob?

Einen weiteren Abschnitt (96-99) widmet Edmund Little der Frage, wie die von Johannes erwähnte Volksmenge, ochlos, sich Jesus gegenüber verhält. Er weist (96) auf den auffälligen Befund hin, dass dieses Wort nur am Beginn der Speisungsperikope (6,2 und 6,5) und dann erst wieder zum Auftakt der Brotrede Jesu in der Synagoge zu Kapernaum (6,22 und 6,24) vorkommt. Im gesamten Kapitel 6 werden „Mitglieder der Menge ansonsten als anthrōpoi und andres bezeichnet“, als Menschen oder Männer (6,10 und 6,14); unerwähnt lässt Little, dass sie an zwei Stellen (6,41 und 6,52) auch als Ioudaioi auftreten. Diese Vielfalt weist in meinen Augen darauf hin, dass Johannes die jüdische Volksmenge grundsätzlich sehr differenziert betrachtet; zelotischen Freiheitskämpfern steht er anders gegenüber als den Vertretern der Pharisäer, die nach dem judäischen Krieg das rabbinische Judentum begründen und anführen; wieder anders sieht er die priesterliche Führungsschicht; und (97) die Volksmenge als solche bezeichnet vor allem im 7. Kapitel „sowohl Jesus gegenüber feindselig eingestellte, als auch wohlwollende Gruppen“:

Die zwiespältige Haltung der „Volksmenge“ wird beim nächsten Vorkommen des Wortes im folgenden Kapitel auf bewundernswerte Weise deutlich, wo sie wie Israel in der Wüste unschlüssig „murrt“ (Johannes 7,12). Die einen halten ihn für einen Dämon, die anderen glauben an ihn als den Christus (7,20.31), und so kommt es wegen ihm zu einer Spaltung der Menge (7,43). Die Pharisäer verdammen die Menge, die ihn unterstützt (7,49). Bevor er Lazarus auferweckt, betet Jesus darum, dass die Menge glaubt, dass der Vater ihn gesandt hat (11,42). ochlos polys wird nach der Auferweckung von Lazarus zweimal wiederholt. Eine „große Menge“ von Juden kommt nicht nur wegen Jesus, sondern auch, um Lazarus zu sehen (12,9). Dann hört eine große Menschenmenge, die zum Fest kommt, dass Jesus unterwegs ist (12,12), und grüßt ihn mit Palmen auf dem Fest (12,13)…

Besonders hebt Little hervor, dass der Ausdruck „große Menge“, ochlos polys, an zwei Stellen im Johannesevangelium jeweils zwei Mal kurz nacheinander vorkommt:

Sowohl vor dem Speisungswunder als auch vor dem feierlichen Einzug Jesu in Jerusalem werden eine große Menschenmenge und ein Fest erwähnt. Beim ersten Mal steht er kurz davor, zum König ausgerufen zu werden, bevor Jesus flieht. Beim zweiten Mal wird er von der Menge zum König ausgerufen (6,15; 12,13). Das Speisungswunder nimmt also den Tod Jesu vorweg.

Die Schlussfolgerung im letzten Satz ist kryptisch. Little will vermutlich eine spiritualisierte Vorstellung von Jesus als dem Himmelskönig mit dem als Sühnopfer verstandenen Kreuzestod Jesu verbinden, was aber noch keineswegs die Sichtweise des Johannes sein musste. Stattdessen betont Johannes, wie sehr das Volk in Jesus seinen König sieht und wie Jesus diese Königsvorstellung immer wieder korrigieren muss, in Kapitel 6 durch die Flucht vor seinen zelotischen Anhängern, in Kapitel 12 durch den Bezug auf das „Eselchen“, onarion, von Sacharja 9,9, wie Ton Veerkamp erläutert. <103>

Im Vergleich des Johannesevangeliums mit den synoptischen Evangelien weist Little darauf hin, dass in den letzteren „die Volksmenge erst ab der Passionserzählung feindselig wird“, wogegen (98) „Johannes eine ‚Menge‘ schildert, die während des Wirkens Jesu in ihren Ansichten gespalten ist“ und (Anm. 305) „in der Passionsgeschichte selbst keine feindliche Gruppe als ‚Menge‘ bezeichnet.“ Daraus ist zu schließen, dass Johannes keineswegs alle Juden oder die Gesamtheit einer jüdischen Volksmenge als jesusfeindlichen Mob darstellen will, sondern die Schuld an der Kreuzigung Jesu allein der mit Rom kollaborierenden – und zugleich Pilatus als den Freund des Cäsar unter Druck setzenden – Priesterschicht und einem von ihnen aufgewiegelten Mob zuweist. <104>

Eine solche Schlussfolgerung zieht Little allerdings nicht in Erwägung. Vielmehr betrachtet er die Zwiespältigkeit der Bedeutung von ochlos im Alten Testament, wo das Wort häufig bewaffnete Truppen bezeichnet, sowohl Israels eigene als auch feindliche. „Es kann eine fromme, enthusiastische Schar oder einen Mob bezeichnen.“

Zweifelhaft erscheint mir aber Littles Annahme, dass Johannes sich mit der Erwähnung des ochlos, der Volksmenge, in 6,2 und 6,5, und des paidarion, gewöhnlich mit „Knabe, Junge“ übersetzt, möglicherweise auf eine Stelle wie 2. Samuel 15,22 beziehen wollte, wo „David während der Rebellion des Absalom die Gefolgschaft des Gatiters Ittai“, eines Anführers der Philister, „akzeptiert“, wobei pantes hoi paides autou kai pas ho ochlos ho met‘ autou, also „alle seine Jungmänner oder Diener“ und „der ganze Tross, der bei ihm war“, an David vorüberziehen. Little will allzuoft Jesus mit David in Verbindung bringen, was gerade Johannes, wie bereits mehrfach gesagt, ausdrücklich nicht tut. Und um nicht aus Israel stammende Leute geht es auch nicht, wo Johannes vom ochlos spricht.

Erwägenswerter als Parallele ist eine andere Stelle in Jeremia 31,8, wo die hebräischen Worte qahal gadol, „große Versammlung“, in der griechischen Übersetzung der Septuaginta (LXX 38,8) mit ochlon polyn, „viel Volks“, übersetzt werden. Dazu schreibt Little (99):

Das Volk wird zum Passahfest nach Zion zurückgebracht, wo Gott es bewachen wird wie ein Hirte seine Herde (Jeremia 31,10) und Gutes vom Herrn auf dem Berg Zion verheißt (Jeremia 38,12 LXX)…

Der ochlos polys greift nun die Themen des Hirten und der Schafe auf, die Rückkehr aus dem Exil in einem neuen Exodus, eine Fülle von Brot und Wein mit Gott als Gastgeber bei einem Mahl auf einem Berg. In Jeremias Vision versammelt Gott das Volk auf dem Berg. Jesus wird auf seinem Berg in Galiläa das Sammeln des Brotes anordnen (Johannes 6,12-13). In Kana wurde Wein gereicht; jetzt ist die Zeit für das Brot gekommen. Anklänge an die Wiederherstellung Israels und das messianische Festmahl verschmelzen zu einem einzigen Ereignis.

Little lässt in seinem Rückgriff auf Jeremia 31 (bzw. LXX 38) allerdings nur vage anklingen, dass es dem Propheten ausdrücklich (Jeremia 31,7) um die Befreiung Israels geht. Das hebräische Wort jaschaˁ bzw. das griechische Wort sōzein stellt in Aussicht, dass der Gott Israels seinem befreienden NAMEN alle Ehre macht, indem er ˀeth-ˁamkha ˀeth schɘˀerith jißraˀel, „dein Volk, den Rest Israels“, griechisch ton laon autou to kataloipon tou Israēl, „sein Volk, den Rest Israels“, von Neuem aus der Zerstreuung sammeln wird, wobei die griechische Septuaginta die Worte en heortē phasek, „zu einem Passahfest“, ergänzt. Sollte Johannes also wirklich mit den Worten ochlos polys auf Jeremia 31,8 (LXX 38,8) anspielen, dann bewegt sich die damit aufgerufene Bildwelt vollständig im Rahmen jüdisch-messianischer Verheißungen auf die Wiederherstellung eines auf den NAMEN vertrauenden Restes des Volkes Israel.

Trotz dieses „verheißungsvollen Ausblicks“ verbleibt nach Little „ein Element der Ungewissheit“ in der Interpretation von ochlos, da die „Volksmenge“ im Alten Testament auch häufig mit dem Bösen assoziiert wird. In den folgenden beiden Abschnitten will er die beiden Verben „folgen“ und „kommen“ untersuchen, die in 6,3 und 6,5 auf die „Volksmenge“ bezogen werden und deren „ungewisse Motive ausdrücken“.

2.2.2.1 Welche Art des „Folgens“ kann und will Jesus von der Volksmenge erwarten?

Das Verb akoloutheō, „folgen“ taucht im Johannesevangelium vor allem im 1. und im 10. Kapitel auf. In Kapitel 1 geht es (99f.) um das „Zusammenspiel von ‚hören‘, ‚sehen‘, ‚suchen‘, ‚kommen‘ und ‚folgen‘“ beim Ruf der ersten Schüler Jesu in seine Nachfolge, in Kapitel 10 um (100) „den Kontext der Herde und des Hirten, wobei die Betonung auf dem Hören und Erkennen der Stimme des Hirten liegt (10,4.5.27)“.

Nicht ganz sauber arbeitet Little, wenn er seinen Satz, dass „die Übereinstimmung von ‚folgen‘ und ‚hören‘ mit der Nachfolge der alttestamentlichen Praxis entspricht“, durch Zitate belegt (2. Mose 15,26; 23,22), in denen das Wort „folgen“, akoloutheō, nicht einmal vorkommt.

Zu fragen ist auch, ob es ausreicht (101), Fundstellen des Wortes akoloutheō im Zusammenhang beispielsweise mit dem Gehorsam gegenüber Gott (4. Mose 14,24), einem Propheten (1. Könige 19,20) oder einem König (Judith 2,3) zusammenzustellen und daraus die Schlussfolgerung zu ziehen:

Das Verb knüpft also an bekannte Themen an. Indem die Menge Jesus „folgt“, bietet sie einem König, einem Propheten und Gott selbst ihre Treue an. Sie sind das Volk eines neuen Exodus und folgen ihrem Herrn in ein neues verheißenes Land des ewigen Lebens.

Selbst wenn es stimmt, dass die Volksmenge Jesus durch ihr „Folgen“ die Treue anbietet und Johannes diese Menschen als „das Volk eines neuen Exodus“ betrachtet, trifft der letzte Halbsatz dieses Abschnitts für das Denken eines jüdisch-messianischen Evangelisten jedenfalls dann nicht zu, wenn mit dem „ewigen Leben“ nicht mehr die zukünftige Weltzeit eines befreiten Lebens für Israel gemeint ist, sondern das Leben nach dem Tod für alle Christen, die an Jesus glauben.

Im Blick auf das Hirtenthema von Johannes 10 verweist Little (102) auf Stellen wie Jesaja 49,9 und Hesekiel 34,11.14, die davon reden, dass Gott selbst sein Volk Israel als Hirte weiden wird, und auf die Verheißung eines neuen David, „der die Schafe im Auftrag seiner selbst weiden wird (Hesekiel 34,23)“. Indem Little die letztere Voraussage mit „Gottes Versprechen der Erweckung eines neuen Propheten wie Mose (5. Mose 18,18)“ in Verbindung bringt, ist für ihn klar, dass „in Jesus der verheißene Hirte, Prophet und König zu einer einzigen Gestalt verschmelzen“. Als Gegenbild dieses „guten Hirten“ sieht Little „Sacharjas schreckenerregende Vision eines Anti-Hirten, der die Schafe nicht sucht, heilt oder verpflegt, sondern frisst (Sacharja 11,16).“

Entscheidend ist für Little die Frage, ob die Volksmenge, die Jesus folgt, um gespeist zu werden, wirklich einen guten Hirten will. Dabei beantwortet Little zunächst gar nicht die Frage, was in seinen Augen ein guter Hirte sein müsste, sondern er fragt nach der Art und Weise der Nachfolge Jesu (102f.):

In welcher Weise wünschen sie dem Herrn zu ‚folgen‘? Das Verb wird im Johannesevangelium mit dem Opfertod des Jüngers in der Nachfolge Jesu in Verbindung gebracht. Es ist auch mit dem Scheitern in der Nachfolge verbunden. Petrus gegenüber macht Jesus klar, dass ihm „nachzufolgen“ bedeutet, zu sterben (13,36-37), aber bevor er ihm folgt, wird Petrus Jesus dreimal verleugnen (13,38). Das Verb erscheint schließlich in der Imperativform bei der Rehabilitierung des Petrus, mit den Implikationen des selbstaufopfernden Todes (Joh 21,19.22).

Dieser Nachfolge, die in letzter Konsequenz das Opfer des eigenen Lebens einschließt, stellt Little alttestamentliche Stellen gegenüber (103), in denen es um das „Folgen“ im Sinne einer „falschen Jüngerschaft“ geht:

Den Israeliten ist es verboten, Götzen nachzufolgen (d. h. sie anzubeten) (3. Mose 19,4.31; 20,6; 5. Mose 12,30). Keiner der Männer über zwanzig Jahre darf das Gelobte Land sehen, weil sie Gott nicht vollständig gefolgt sind (4. Mose 32,11). Das Verb wird verwendet, um sexuelle Versuchung auszudrücken (Hiob 31,7.9; Sirach 5,2), und bezeichnet Israels geistlichen Ehebruch, wenn es falschen Göttern, seinen „Liebhabern“, folgt (Hosea 2,7).

Aus dieser Gegenüberstellung meint Little folgern zu können:

Die Menge sollte Jesus als dem guten Hirten folgen, der sein Leben für sie hingibt. Die folgenden Ereignisse zeigen, dass sie ihm stattdessen als einem Anti-Hirten folgen, einem falschen Gott, einem irdischen König, der sie „fressen“ würde, während sie, wie die Rede deutlich macht, ihn „fressen“ sollten im Sinne von Teilhabe an seiner Selbstaufopferung und Nachahmung. Die Schafe wenden sich ihrem eigenen Vorteil zu und kommen so vor Gericht.

In dieser Argumentation bringt Little verschiedene Ebenen dermaßen durcheinander, dass es schwierig ist, ihre Problematik zu durchschauen.

Richtig ist, dass der johanneische Jesus sich als guter Hirte im Gegensatz zu den Anti-Hirten Israels im Sinne von Hesekiel 34 und Sacharja 11 begreift. Richtig ist auch, dass Jesus sich der Ausrufung als eines König entzieht, wie ihn zelotisch gesinnte Nachfolger (Johannes 6,15) im Sinn haben. Sein messianisches Königtum verwirklicht sich durch seine Erhöhung ans Kreuz, durch seinen Abschied, seine Niederlage. Insofern ist auch richtig, dass auch die Nachfolger Jesu mit ähnlichen Erfahrungen der Niederlage, ja, des Opfertodes rechnen müssen.

Die Frage ist aber, ob damit so selbstverständlich, wie Little es voraussetzt, ohne es näher zu erörtern oder zu begründen, eine Verschiebung der gesamten Ausrichtung der alttestamentlichen Verheißungen vom Diesseits auf Jenseits verbunden sein muss. Im Klartext: Hat bereits Johannes ein sakramentales Verständnis der Teilhabe an Jesu Leib und Blut im Sinne des christlichen Abendmahls, durch das die Nachfolger Jesu vor dem ewigen Tod der Gottesferne gerettet werden und ewiges Leben im Himmel erhalten?

Oder hat Johannes immer noch, ganz im Sinne der Propheten Israels, den Sieg über die falschen Götter im Sinn, die dem befreienden NAMEN des Gottes Israels insofern antagonistisch gegenüberstehen, als sie inzwischen, verkörpert im angeblich wohlgeordneten kosmos des Römischen Imperiums, eine weltumspannende Unrechtsherrschaft errichtet haben? Hofft er auf einen neuen Exodus, ein neues Passahfest der Befreiung im Sinne einer Überwindung dieses kosmos, ja, auf den Anbruch der Weltzeit der Gerechtigkeit und des Friedens für Israel? Der Grund dieser Hoffnung wäre die Inspiration (ruach, pneuma, „Geist“) der Treue des Gottes Israels, die Jesus seinen Schülern im Augenblick seines Todes übergibt (Johannes 19,30: paredōken to pneuma) und die seine Schüler im Zuge des Aufsteigens Jesu zum VATER empfangen (20,22: labete pneuma hagion). Das Mittel ihrer Verwirklichung ist Jesu neues Gebot der agapē, einer solidarischen Liebe, die zum freiwilligen Sklavendienst füreinander bereit ist. <105>

2.2.2.2 Was muss mitgehört werden, wenn vom „Kommen“ der Volksmenge die Rede ist?

Ebenso ausführlich beschäftigt sich Little (103) mit dem „Kommen“ der Volksmenge zu Jesus in Johannes 6,5. Zwar ist „kommen“ ein Allerweltswort, das allein im Johannesevangelium 157mal auftaucht, dennoch geht Little davon aus, dass Johannes

das Verb nicht verwendet, um einen bloßen Bewegungsakt zu bezeichnen, ein beiläufiges Heranschreiten an etwas, das man aus der Ferne sieht. Das Subjekt ist oft Jesus selbst, der in eine wichtige Szene oder einen Dialog eintritt. Wenn andere das Subjekt sind, bedeutet es eine gezielte Ankunft, einen formellen Eintritt in eine wichtige Begegnung oder in die Gegenwart einer wichtigen Person, gewöhnlich Jesus.

Insgesamt (104) hat das „Evangelium eine Dynamik des Kommens. Jesus kommt von Gott in die Welt. Menschen, wie Nikodemus, kommen zu Jesus (Johannes 3,2)… Die Bösen kommen nicht zum Licht, bemerkt Jesus, sondern die, die das Wahre tun, kommen zum Licht (3,20-21).“

Was das Alte Testament betrifft, gesteht Little hier zu, dass sich kaum „viele sinnvolle Parallelen ziehen“ lassen, da dort der „Gebrauch von erchomai in all seinen Zeitformen und Personen zu häufig und umfangreich ist“. Trotzdem bezieht er sich unter den Fällen, „in denen Einzelne oder Gruppen sich auf den Weg zu einer einzelnen Person oder einem Ort oder zu einem Kollektiv wie einer Nation machen“, auf „einige wenige Vorkommen des Verbs in der dritten Person Präsens“, die „Parallelen zu der Menge, die zu Jesus ‚kommt‘,“ darstellen. Außerdem stellt er fest (Anm. 323):

Die Verwendung der dritten Person Singular in Bezug auf das Kommen Gottes stimmt mit dem „Kommen“ Jesu im Johannesevangelium überein und unterstreicht das Bild von Jesus als dem fleischgewordenen Wort und dem Alten der Tage. Das Kommen von „Tagen“, an denen Gott Gutes oder Böses für Israel oder seine Feinde vollbringt, ist im Alten Testament gang und gäbe und findet seinen Widerhall im „Kommen“ der Stunde im Johannesevangelium.

Auf der anderen Seite (105) gibt es im Alten Testament auch ein Unheil verheißendes „Kommen“ von Gruppen, etwa einer feindlichen Armee. Interessant ist Littles folgender Hinweis:

Gott warnt Hesekiel vor der Treulosigkeit Israels selbst, das zu ihm kommt, seinen Worten zuhört, aber nicht nach dem handelt, was es hört. Es zeigt viel Liebe, aber sein Herz ist auf Gewinn ausgerichtet (Hesekiel 33,31 vgl. Johannes 6,26.30). Das ist die Reaktion der Menge nach dem Wunder, als sie, wie Jesus feststellt, nur nach physischem Brot sucht und ein weiteres Zeichen verlangt.

Letzten Endes, so Little, „sagt Jesus den Menschen ganz deutlich, dass niemand zu ihm kommen kann, wenn der Vater ihn nicht zieht“ (Johannes 6,44). Von daher parallelisiert Little die Verse 6,60 und 6,66-67 mit der Verstockung des Pharao in 2. Mose 7,3.13 (105f.):

Die Menge hat trotz der Zeichen und Worte nichts vom Vater gelernt und verlässt ihn deshalb (Johannes 6,66-67). Wie das Herz des Pharao vor Mose verhärtet ist (2. Mose 7,3.13)…, so finden die Skeptiker der letzten Tage die Worte Jesu „hart“, vermutlich weil der Vater nicht gewollt hat, dass sie zu ihm kommen (Johannes 6,60)…

Man mag diese Stellen durchaus in einem solchen Zusammenhang lesen. Allerdings unterlaufen Little in seiner Deutung zwei Ungenauigkeiten. Erstens ist es nicht die Volksmenge, die Jesus verlässt, sondern es sind ausdrücklich (6,60.66) ehemalige Schüler Jesu, die ihn verlassen. Wieder einmal unterlässt es Little also, zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen, mit denen Jesus zu tun hat, zu differenzieren – Zeloten, pharisäisch-rabbinische Juden, Schüler Jesu, die sich zum Teil enttäuscht bzw. entrüstet von ihm abwenden.

Und zweitens tun sie das Johannes zufolge nicht, weil ihr Herz verhärtet wurde, sondern weil sie (6,60) ihrerseits Jesu Wort über das Kauen seines Fleisches und das Trinken seines Blutes als sklēros im Sinne von hart oder böse, ja, unzumutbar, beurteilen. Als direkte Parallele zu diesem Wort sieht Ton Veerkamp <106> die griechische Fassung von 1. Mose 21,11:

Viele Schüler hörten sich das an und reagierten wie Abraham, als Sara von ihm verlangte, er solle die Sklavin und ihren Sohn vertreiben: „Böse (sklēros) war die Rede, sehr, in Abrahams Augen“, Genesis 21,11. Das griechische Wort sklēros wird oft gebraucht für das hebräische chasaq, wenn von einem „verstockten Herzen“ (wajechaseq lev parˁo, Exodus 7,22) die Rede ist. Pharaos Herz war sklēros. Was Jeschua da alles gesagt hatte, sei böse und verbohrt, realitätsblind, fanatisch. Das ist nicht schwierig, keine schwierige Theologie, nein, das ist für „viele Schüler“ Jeschuas fanatisches Sektierergeschwätz!

2.2.2.3 Auf welche Weise spielt Johannes mit den Verben des „Sehens“?

Weiter stellt Little fest (106), dass es „in keiner anderen Version der Speisungserzählung eine so starke Konzentration von Verben gibt, die sich auf die Augen beziehen“:

Die Menge kommt zu Jesus, weil sie die Zeichen gesehen hat, die er getan hat. Als sie sich nähern, hebt Jesus seinen Blick und sieht die Menge auf sich zukommen. Ein Zusammenspiel von Hören und Kommen wurde bereits an anderer Stelle im Zusammenhang mit der Jüngerschaft festgestellt. Jetzt wird die gegenseitige Wahrnehmung durch drei Verben ausgedrückt: theōreō, theaomai und epainō tous ophthalmous.

Da das „Sehen“ bei Johannes „nicht eine bloße Antwort auf visuelle Reize ist“, sondern „oft eine vertrauensvolle Reaktion auf Jesu Taten impliziert“, weist auch dieser Begriff auf die zwiespältige Haltung der Volksmenge gegenüber Jesus hin. Bereits in Johannes 2,23 hatten viele an Jesu Namen geglaubt, aber Jesus hatte ihnen nicht getraut.

Little erwähnt am Rande, dass Jesus in der Rede vor seinem Tod (Johannes 16,16-19) „mit den Verben theōreō und oraō spielen“ wird; die Frage, wie er das tut, untersucht Ton Veerkamp <107> eindrücklich unter Rückbezug des vier Mal erwähnten „Augenblicks“, mikron, – gewöhnlich übersetzt mit „nur eine kleine Weile“ – auf die Vision von Gottes Barmherzigkeit gegenüber Israel in Jesaja 54,6-7.

Im selben Zusammenhang plädiert Veerkamp <108> dafür, auf den „Unterschied zwischen theōreite und opsesthe“ zu achten. Das erste Wort übersetzt er mit „ihr werdet in Betracht ziehen“ und nur das zweite mit „ihr werdet sehen“. Mit diesen Worten nimmt Johannes zweifelnde Schüler Jesu seiner Zeit ernst, die sich fragen:

Der Messias ist weggegangen, kommt der Messias noch, und wann? Johannes erklärt offenbar den Satz 14,20: „Noch ein wenig, und die Weltordnung wird mich nicht länger in Betracht ziehen, ihr aber zieht mich in Betracht, weil ich lebe und ihr leben werdet.“ Hier wird also das Gegenteil gesagt: „Ein wenig, und ihr zieht mich (wie die Weltordnung!) nicht in Betracht.“ Er … fängt mit einem Spruch an, den kein Mensch versteht.

In alten Zeiten wurde in der römisch-katholischen Liturgie am dritten Sonntag nach Ostern dieser Abschnitt gelesen, im Latein der Vulgata: modicum et iam non videbitis me et iterum modicum et videbitis: „Wenig, und ihr werdet mich nicht mehr sehen; wieder wenig, und ihr werdet mich sehen.“ Das ist Abrakadabra, und das liegt auch daran, dass die alten lateinischen Handschriften und auch Hieronymus hier schlecht übersetzt haben. Sie unterschlagen den Unterschied zwischen theōreite und opsesthe, zwischen „ihr werdet in Betracht ziehen“ und „ihr werdet sehen“.

Die ganze Zunft der Kommentatoren weiß natürlich Bescheid. Eine Kostprobe, Ulrich Wilckens zu 16,16ff.

Die Leser wissen natürlich beim ersten Mal, was mit der Aufeinanderfolge in „kurzem“ und „nochmals in kurzem“ gemeint ist: Auf Jesu Tod wird seine Auferstehung am dritten Tag (vgl. 1 Korinther 15,9) folgen …“ <109>

Johannes hätte hier, wie bei den Synoptikern, Jeschua sagen lassen können: „Der Messias wird ausgeliefert, gekreuzigt, er stirbt. Aber nach drei Tagen wird er von den Toten auferstehen.“ Das tut Johannes nicht. Ostern und der Glaube an Ostern löst das Problem der Zeit nicht. Johannes lässt vielmehr den Spruch Jeschuas dreimal hören.

Auf der Ebene der Erzählung wissen die Schüler natürlich nicht, was in den kommenden Stunden und Tagen geschehen wird. Sie rätseln über das Wort. Aber warum muss Johannes einen ratlosen, rastlos diskutierenden Schülerkreis vorführen? Offenbar ist auf der Ebene des Textes, ein bis zwei Generationen Jahre später, das Problem akut. Rom hat gesiegt; es scheint das ewige Leben zu haben, weit und breit kein Messias zu sehen.

Solche Differenzierungen würden nicht in die Sichtweise von Edmund Little hineinpassen. Er konzentriert sich weiterhin (107) auch bei der Untersuchung des „Sehens“ vorwiegend auf „die Ungewissheit des Glaubens der Menge, die bereits in den Verben ‚kommen‘ und ‚folgen‘ angedeutet wird“. Diese wird in seinen Augen durch „unverkennbare alttestamentliche Anklänge“ des Wortes theōreō bestätigt (108):

Als die Menge die Zeichen „sah“, wurde sie Zeuge der kraftvollen Taten eines starken Mannes, einer Josua- oder Simson-Figur [Josua 8,20; Richter 16,27], die zum Wohle Israels gegen einen Feind kämpfte. Wie die Männer im Feuerofen [Daniel 3,27] kann Jesus als einer gesehen werden, der von Gott in einer Demonstration göttlicher Macht bei der Auferstehung bewahrt wird. In seiner Kreuzigung und seinem Tod kann er mit dem leidenden Knecht der Psalmen [22,7-8; 31,11-12] identifiziert werden, einem Lamm Gottes, das von einigen Jüngern nach dem Wunder und von allen vor der Kreuzigung verlassen wurde. Von den Pharisäern und einem Teil der Menge wird Jesus als Sünder bezeichnet. Daraus folgt, dass auch die Menge implizit mit den feindlichen Männern von Ai oder den Philistern oder den Männern des babylonischen Hofes oder mit denen, die den leidenden Knecht verhöhnen, in Verbindung gebracht werden kann.

2.2.2.4 Jesu „Schauen“ der Volksmenge als Vision eines befreiten Israel?

Nach dem Verb theōreō in Johannes 6,2 betrachtet Little auch eingehend das Verb theaomai in 6,5. Recht überschwänglich beschreibt er mögliche Implikationen der Verwendung dieses Wortes (109):

Die Menge hat die Zeichen „gesehen“. Jesus blickt auf und „schaut“ die Menge. theaomai war zuvor im Prolog im Sinne von „die Herrlichkeit des fleischgewordenen Wortes schauen“ verwendet worden (1,14). Johannes der Täufer verwendet dasselbe Verb, um zu bezeugen, dass er den Geist wie eine Taube vom Himmel herabkommen sah (1,32). Es übersteigt die Vorstellungskraft, die Menge mit der Herrlichkeit Jesu und dem Geist zu identifizieren, aber es ist möglich, dass Johannes die Zeit vorwegnimmt, in der diese Menschen, wenn sie sich dafür entscheiden, am Leben des Vaters, des Sohnes und des Geistes teilhaben werden, wie es beim letzten Abendmahl verheißen wird (14,17-20). Das Thema der potenziellen Nachfolge, das bereits in den Verben „kommen“ und „folgen“ anklingt, wird weiter vertieft.

Zwar missfällt mir die Art und Weise, wie Little diese Vision der zukünftig auf Jesus vertrauenden Menschen allzu forsch mit (späteren) christlich-dogmatischen Vorstellungen der Dreieinigkeit und des letzten Abendmahls (das im Johannesevangelium gar nicht eingesetzt wird) verbindet, aber es mag durchaus sein, dass Johannes das Verb, das an das deutsche Wort „Theater“ erinnert, in diesem gehobenen Sinn einer Zukunftsvision verwendet, die sich ähnlich auch in Johannes 4,35 findet, wo die Schüler Jesu ihre Augen erheben und „die Felder schauen“ sollen, theasasthe tas choras, die bereit sind für die Ernte, wobei mit den chorai die „Länder“ der Welt gemeint sein mögen, in denen das zerstreute Israel auf Befreiung hofft.

Wo (110) das Verb theaomai im Alten Testament auftaucht, bezieht es sich in der Regel auf ein „königliches, priesterliches oder prophetisches Subjekt“; von diesen Anklängen her meint Little den Schluss ziehen zu können, dass „Jesus erneut als König, als Prophet wie Mose und nun als Hohepriester erscheint, der bereit ist, seinen Untertanen zu befehlen und ihnen den Willen Gottes auszulegen.“

Die von Little zitierte Stelle Judith 15,8 zeigt jedoch, wie kurzschlüssig ein solches Vorgehen ist. Dass der Hohepriester Jojakim anschaut, was Gott den Israeliten Gutes getan hatte, kann allein nicht belegen, dass Jesus im Johannesevangelium außer der königlichen und prophetischen auch hohepriesterliche Würde zugesprochen wird.

Gerade hier erweist sich auch Littles Beschreibung der Rolle Jesu im Sinn einer Befehlsgewalt über seine Untertanen als einseitig und letztlich unzutreffend. Denn das Gute, das Gott nach Judith 15,8 den Israeliten getan hatte, bestand ja in der Befreiung Israels von der Unterdrückung durch die Assyrer, und Judith selbst preist den NAMEN dieses Gottes mit den Worten (Judith 16,2): hoti theos syntribōn polemous kyrios, „denn der Herr ist ein Gott, der die Kriege zerschlägt!“ Wenn das als Echo aus den jüdischen Schriften im Johannesevangelium anklingt, dann ruft es in Erinnerung, dass Jesus seine Vollmacht als Verkörperung des befreienden NAMENS des Gottes Israels ausübt. Er kommt, um Israel zu befreien, sein neues Gebot der agapē zielt auf die Solidarität des freiwilligen Sklavendienstes füreinander, also auf eine Disziplin der Freiheit, nicht des Untertanengehorsams.

2.2.2.5 Das „Heben der Augen“: Jesus vom Alten Testament her verstehen!

Um das Volk, das zu ihm kommt, zu schauen (Johannes 6,5), hebt Jesus seine Augen auf. Dies tut Jesus noch zwei weitere Male (111): bei der Erweckung des Lazarus (11,41) hebt er sie „nach oben“, anō, zu Beginn des Gebets des Messias (17,1) „zum Himmel“, eis ton ouranon, so wie der Psalmbeter (121,1; 123,1) sich an Gott im Himmel wendet. Für Little ist wichtiger (110f.), dass Jesus bereits in 4,35 seine Jünger zum Heben ihrer Augen aufgefordert hat. Ihm zufolge (110f.) stellt „die Wiederholung dieser Geste vor dem Speisungswunder, als die Volksmenge zu ihm kommt, wieder die Menschen und das Ereignis in den Kontext der Jüngerschaft.“ Und indem Little die Stelle 17,1 am Ende der Abschiedsreden Jesu „beim Letzten Abendmahl vor der Kreuzigung“ verortet, knüpft er daran folgende Argumentation an:

Das Speisungswunder wird wiederum als Teil einer Kette von Ereignissen gesehen, die zum letzten Abendmahl führen und die Themen Jüngerschaft, Leben, Tod und Auferstehung entwickeln, Themen, die nicht zufällig das Thema der Rede Jesu nach dem Wunder sind.

Tatsächlich spielt aber die Einsetzung des Abendmahls, wie wir sie von Paulus und den synoptischen Evangelien kennen, bei der letzten Mahlzeit Jesu vor seinem Tod mit seinen Jüngern im Johannesevangelium überhaupt keine Rolle. Das weiß Little natürlich; stattdessen (Anm. 336) misst er der Speisung der Fünftausend „eucharistische Bedeutung“ zu, obwohl Jesus in Johannes 6,11 weder die Augen zum Himmel erhebt noch das Brot bricht. Dennoch ist für ihn Jesu Heben der Augen in 6,5 ein ausreichendes Signal, um das gesamte Speisungswunder im Sinne der Einsetzung des Abendmahls, wenn auch nur im Blick auf das Brot, zu interpretieren.

In der Septuaginta findet Little insgesamt

vier Verben, die das Heben der Augen ausdrücken: anablepō, analambanō, tithēmi, epairō. Die ersten drei verstärken in ihrer alttestamentlichen Verwendung die Anklänge an Exodus, Mose, Josua und Josef, die Überwindung eines Feindes und die Eroberung des Gelobten Landes. Augen können gehoben werden, um Ereignisse zu schauen, die sich für Israel sowohl zum Guten als auch zum Schlechten auswirken können.

Sicher ist nicht auszuschließen, dass Johannes in seinem Erzählen auch an solche Hintergründe denkt, etwa an Bileam, der (4. Mose 24,2) Israel sieht, wie es lagert nach seinen Stämmen, und es segnet, obwohl er es verfluchen soll.

Nach Little verheißt Bileam in 4. Mose 24,7 (nur in der griechischen Fassung der Septuaginta) „das Kommen eines großen Helden von den Zelten Jakobs und den Wohnungen Israels, der über viele Nationen herrschen wird“ und in 24,17 einen „Stern, der aus Jakob aufgehen wird“. Daraus zieht Little den Schluss (112), dass „Jesus als der Held erscheint, der Stern aus Jakob, der auf dem Berg zu einem neuen Israel spricht.“

Die Frage ist nun, ob Johannes die Bileamgeschichte möglicherweise in Erinnerung ruft, um von ihr her klarzumachen, dass es Jesus keinesfalls darum geht, Israel oder das jüdische Volk insgesamt zu verfluchen. Zu einem jüdisch-messianischen Johannes, wie Ton Veerkamp und ich ihn begreifen, würde das durchaus passen. Little dagegen scheint eine Auslegung des Alten Testaments auf Jesus Christus hin zu praktizieren, wie sie schon bald in der christlichen Kirche üblich wurde. Ihm geht es nicht mehr darum, auf welche Weise Jesus als Messias Israels die Befreiung seines Volkes inmitten der Völker zu bewirken sucht, sondern darum, dass sich alle Verheißungen des Alten Testaments auf Jesus als den Erlöser eines „neuen Israel“ beziehen, wobei diese Erlösung nichts mehr mit einer Befreiung aus Unterdrückung und Unrecht auf dieser Erde zu tun hat und dieses neue Israel nicht mehr das Judentum ist, das Jesus als den Messias abgelehnt hat, sondern die christliche Kirche, zu der fast nur noch Nichtjuden gehören.

Mehrere „lexikalische Parallelen“ zu Johannes 6,2.3.5.9 findet Little in 2. Samuel 13,34 und 18,24. Beide Male geht es dort um einen Wächter, der die Augen hebt, um die Überbringer der Nachricht vom Tod eines Davidssohnes, Amnon bzw. Absalom, zu erblicken. Ganz so weit her ist es allerdings nicht mit den Parallelen: Nur in 2. Samuel 13,34 ist einer der Wächter ein paidarion (wie der Junge in Johannes 6,9); an derselben Stelle kommt „viel Volk“ zu David, aber nicht ochlos polys, sondern laos polys. Und nur in 2. Samuel 18,24 „saß“ David zwischen den Toren, wie Jesus sich in Johannes 6,3 auf den Berg „setzte“, beide Male ekathēto.

Little zufolge „verstärken die Anklänge an diese alttestamentlichen Texte das Bild von Jesus als neuem davidischen König.“ Nach der Durchsicht weiterer Belege schreibt er zusammenfassend (113):

Die Augen zu erheben bedeutet, ein wichtiges Ereignis zu sehen. Die meisten Subjekte des Satzes sind Könige und Propheten, insbesondere David, was die Darstellung von Christus als König und Prophet durch Johannes noch verstärkt.

Dazu kann ich nur noch einmal sagen, dass Johannes Jesus zwar als König Israels darstellt, aber nicht ausdrücklich mit David in Verbindung bringt. Obwohl er den Bezug der Messiasverheißung auf David kennt, ist Jesus nach Johannes 7,42 ausdrücklich weder Davids Sohn noch stammt er aus der Davidsstadt Bethlehem.

Interessant ist das von Little angeführte Kapitel 2. Samuel 18 trotzdem für die Auslegung des Johannesevangeliums. Denn nach Ton Veerkamp <110> kann sie das merkwürdige Wettrennen zwischen Petrus und Johannes (20,4) zum Grab Jesu erklären:

Was bedeutet das Laufen der zwei Schüler und die Angabe, daß der „andere Schüler“ schneller rannte? Eine nette und lebhafte Schilderung der Ereignisse? Bei Johannes muss man nicht vorschnell auf nebensächliche Details zwecks gefälliger literarischer Ausschmückung schließen.

Es gibt im zweiten Buch Samuel eine merkwürdige Erzählung. Der Aufstand gegen David war niedergeschlagen worden, Absalom, Urheber des Aufstandes, war dabei umgekommen. Achimaaz, der Sohn des Priesters Zadok, wurde beim Heerführer Joab vorstellig; er möchte gern David das „Evangelium“ des Sieges bringen (ˀavaßera, euangeliō, „ich will verkünden“, 2 Samuel 18,19). Joab riet ihm dringend ab. Statt dessen schickte Joab den äthiopischen Söldner, er solle David die Botschaft bringen. Der Äthiopier lief, aber Achimaaz lief hinterher und schneller als er. Das „Evangelium“ des Sieges über Absalom war zwar wirklich „gute Nachricht“, aber nicht nur. Für David, dessen Königtum gerettet wurde, hat der Sieg einen fast unerträglichen Preis, den Tod des geliebten Sohnes: „Mein Sohn Absalom, mein Sohn Absalom. Was hätte ich gegeben, wenn ich an deiner Statt gestorben wäre, Absalom, mein Sohn, mein Sohn“, 2 Samuel 19,1. Das „Evangelium“ (beßora) war nicht nur „frohe Botschaft“; auch die beßora des leeren Grabes ist nicht nur eine „frohe Botschaft“.

Mit der im letzten Satz auf den Punkt gebrachten Einsicht wendet sich Veerkamp gegen eine verharmlosende Osterbotschaft, die den Tod und die Auferstehung Jesu im Sinne eines „alles halb so schlimm“ deutet. Wenn seine Auslegung des Johannesevangeliums zutrifft, dann muss Jesus sterben, weil kein auf Erden regierender Messias wirklich Befreiung, Recht und Frieden bringen kann. Dennoch versteht Johannes seinen Tod nicht als Begründung eines Erlösermythos, der den Gläubigen ewiges Leben im Jenseits verschafft. Vielmehr überwindet Jesus genau durch seinen Tod am römischen Kreuz die römische Weltordnung, indem er ihre abscheuliche Unmenschlichkeit bloßstellt und zugleich unter Beweis stellt, dass die agapē, die solidarische Treue des Gottes Israels, durch keine Macht der Welt getötet werden kann. Und Johannes hört nicht auf zu hoffen, dass die Schülerinnen und Schüler Jesu, indem sie Jesu Gebot des freiwilligen Sklavendienstes füreinander befolgen, das neue messianische Zeitalter anbrechen lassen.

Zurück zu Edmund Little. Er beschließt seine Untersuchung der verschiedenen Arten des Sehens, indem er das, was im Alten Testament mit erhobenen Augen beobachtet wird, auf Jesus bezieht (113):

Die Menschen, Gegenstände und Ereignisse, die von den erhobenen Augen beobachtet werden, lassen sich in verschiedene Gruppen einteilen. Sie können auf Gott selbst oder auf Götzen gerichtet sein. Sie blicken auf Menschen, die in einem wiederhergestellten Reich zum Heil kommen, oder sie sehen ein Heer, das in das Land einfällt. Sie können eine prophetische Vision von Erlösung und Wiederherstellung sehen. Mit den erhobenen Augen sind Themen der Wiederherstellung und der Besiegung von Feinden, des neuen Exodus, der Eroberung des Landes verbunden. Jesus selbst kann als derjenige gesehen werden, der seine Augen zu Gott erhebt. Oder aber er ist der Gott auf dem Berg, zu dem die anderen ihren Blick erheben. Indem er das Volk auf sich zukommen sieht, ist er ein anderer Mose, der das verheißene Land erblickt, ein anderer Jesaja, Sacharja oder Hesekiel, der das Volk willkommen heißt, das zu einem neuen, wiederhergestellten Berg Zion kommt. In Anlehnung an die makkabäischen Schriften sieht er einen „Feind“. Auch dies könnte auf die Menschenmenge zutreffen, die sich entscheiden muss, ob sie ihm oder dem „Fürsten dieser Welt“ folgen will.

Dem muss man nicht unbedingt widersprechen, obwohl weiterhin zu prüfen sein wird, in welcher Weise das „Heil“ oder ein „neuer Exodus“ zu verstehen sind und inwiefern bereits Johannes von Jesus als dem „Gott auf dem Berg“ geredet haben könnte.

2.3 Das Kaufen des Brotes

6,5 … und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben? 6 Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte. 7 Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder auch nur ein wenig bekomme.

Anders als in den Speisungserzählungen der Synoptiker richtet bei Johannes Jesus selbst die Frage an einen seiner Schüler, wo sie genug Brot für die Speisung der Volksmenge kaufen können, und zwar tut er dies völlig unvermittelt, ohne zuvor lange gepredigt zu haben oder dass vom Hunger der Menschen die Rede gewesen wäre.

2.3.1 Warum redet Jesus vom „Brot, damit diese zu essen haben“?

Edmund Little macht (115) auf „eine unbemerkte Redundanz in Jesu Frage an Philippus“ aufmerksam. Ist der Nebensatz hina phagōsin houtoi, „damit diese zu essen haben“, nicht überflüssig? „Warum sonst kauft man Brot, wenn nicht, um es zu essen?“ Die synoptischen Evangelien verzichten auf eine solche Tautologie.

Little verweist zur Erklärung dieser Doppelung darauf hin, dass die Form phagōsin des Verbs esthiō, „essen“ („dritte Person, Aorist Konjunktiv“) außer in diesem Vers nur noch ein einziges weiteres Mal im Johannesevangelium vorkommt, und zwar wieder „in einer Situation, die mit dem Passahfest zusammenhängt“, nämlich „als die Juden zu Pilatus kommen (18,28)“ und nicht in das Prätorium hineingehen, damit sie nicht unrein würden, sondern das Passahmahl essen könnten. Im einzelnen schreibt er erläuternd:

Sie [die Tautologie] betont entweder die Besonderheit der Nahrung oder den Akt des Essens oder beides. Dies bereitet den Leser auf die Rede vor, in der die besondere Natur des Brotes erläutert wird: Es ist das Fleisch Christi (6,51), sein Leben (6,35.54.57) und seine Worte (6,68). Der österliche Rahmen der Perikope erinnert auch an den Ausdruck „das Passah essen“, der in anderen Evangelien vorkommt [Matthäus 26,17; Markus 14,12.14; Lukas 22,11.15], aber nur einmal bei Johannes, als die Juden zu Pilatus kommen (18,28)…

Die tautologische Frage deutet also sowohl auf das Passahmahl als auch auf den Tod Jesu hin, des neuen Passahopfers, das die Israeliten vor dem Tod bewahren wird.

Abgesehen davon, ob die Übereinstimmung dieser Verbformen nicht vielleicht doch einem Zufall geschuldet ist, bleibt in Littles Argumentation wieder offen, was Johannes ganz konkret mit der Feier des Passah meint. Geht es ihm um die Einsetzung eines neuen Passahmahls im Sinne der christlichen Eucharistie, das Jesu Tod am Kreuz als Sühnetod für die Sünden der Menschen feiert? Oder ist das Passahfest im ganzen Johannesevangelium immer nur „nahe“, weil es erst gefeiert werden kann, wenn die Weltordnung überwunden und Israels Befreiung vollendet sein wird? Andere messianische Gruppen um Paulus, Markus, Matthäus und Lukas scheinen das Abendmahl zu feiern, um diese Befreiung rituell vorwegzunehmen (1. Korinther 11,26; Markus 14,25; Matthäus 26,29; Lukas 22,16.18.29-30). Johannes aber scheint misstrauisch gegenüber jeglichem Ritual zu sein, vielleicht weil er fürchtet, es könne im Sinne der zu seiner Zeit modischen Mysterienkulte missverstanden werden – dionysisch, gnostisch, jenseitsweltlich, heidnisch im Sinne der persönlichen Einverleibung göttlicher Kräfte. <111> Ton Veerkamp <112> bringt dieses Misstrauen folgendermaßen auf den Punkt:

Wie Johannes nicht ausdrücklich gegen die Taufpraxis der messianischen Gruppen polemisiert, so polemisiert er nicht offen gegen die Praxis, durch Brot und Wein des Messias zu gedenken „bis er kommt“. Aber er kommt ohne sie aus. Wir können höchstens vermuten, dass Johannes die Gefahr spürt, aus dieser Praxis könne religiöser Hokuspokus entstehen. Wenn „Sakrament“, dann bei ihm höchstens die Fußwaschung – das Sakrament der Solidarität.

Edmund Little dagegen weigert sich, den Verzicht des Johannes auf die ausdrückliche Erwähnung der Einsetzung des Abendmahls durch Jesus ernstzunehmen. Stattdessen behauptet er, dass „die Bedeutung des Essens des Brotes, um das ewige Leben zu erlangen, unermüdlich verfochten wird“. Als Begründung führt er zunächst an (115f.):

artos [Brot] kommt im Johannesevangelium vierundzwanzigmal vor. Einundzwanzig Mal davon in Kapitel 6. Das Verb esthiō [essen] kommt fünfzehn Mal vor, davon elf Mal in Kapitel 6. trōgō [kauen], ein noch eindringlicheres Verb des Essens, das im gesamten Neuen Testament nur sechs Mal vorkommt, erscheint fünf Mal bei Johannes. Von diesen fünf kommen vier in Kapitel 6 vor. Das Verb zaō [leben] kommt siebzehnmal vor, davon sechsmal in Kapitel 6. Das Substantiv zōē [Leben] kommt sechsunddreißigmal vor, davon elfmal in Kapitel 6. sarx [Fleisch] kommt dreizehnmal vor, davon siebenmal in Kapitel 6.

So wird aber noch nicht belegt, dass für Johannes der rituelle Verzehr von Abendmahlsbrot unverzichtbar ist, sondern lediglich die überragende Bedeutung der Brotmetapher im Zusammenhang mit dem Leben der kommenden Weltzeit und mit der provokativen Rede vom Essen oder Kauen des Fleisches des Messias.

Dann holt Little allerdings wieder sehr weit aus, um an Hand von Anklängen an alttestamentliche Textstellen die Bedeutung der Brotmetapher in seinem Sinn herauszuarbeiten.

2.3.1.1 Das Brot des Sündenfalls

Erstens weist Little (116) darauf hin, dass „sich von den sechzig Erwähnungen des Verbs ‚essen‘ im 1. Buch Mose zwanzig zwischen 1. Mose 2,16 und 3,22 finden“. Wie es in Johannes 6 um das Essen eines besonderen Brotes geht, so geht es dort um den „Verzehr einer verbotenen Frucht“, der zur Folge hat, dass

Adam und Eva … aus dem Paradies vertrieben werden und anschließend „im Schweiße ihres Angesichts“ Brot essen. Das ist die erste Erwähnung von Brot in der Heiligen Schrift (1. Mose 3,19)…

Das Wunder und die dazugehörige Rede [in Johannes 6] laufen parallel zu dieser anfänglichen Katastrophe und kehren sie um. Das Verbot, die Frucht zu essen, wird durch das Gebot, Brot zu essen, ersetzt. Der Verzehr der Frucht brachte den Tod. Der Verzehr des Brotes bringt Leben. In jeder Geschichte folgt auf den Ungehorsam ein Aufbruch. Adam und Eva essen die Frucht, „sterben“ und werden aus dem Paradies vertrieben. Die Jünger weigern sich, den Leib und das Blut zu essen, trennen sich von Jesus und haben somit kein Leben in sich (Johannes 6,53). Adam und Eva werden hinausgeworfen, damit sie nicht vom Baum des Lebens essen und ewig leben (1. Mose 3,22)…

Genügen aber solche formalen Entsprechungen bei doch erheblichen inhaltlichen Unterschieden, um nachzuweisen, was Little daraus folgert (117)?

Jesus ist also der neue Baum des Lebens, der der Menschheit die Unsterblichkeit verleiht, die ihr nach dem Sündenfall verwehrt wurde. Auch die Weisheit ist ein Baum des Lebens für diejenigen, die an ihr festhalten (Sprüche 3,18; vgl. Sprüche 11,30; Offenbarung 2,7). Das neue gelobte Land ist nichts anderes als ein wiederhergestelltes Paradies, in das der Herr seine Jünger erheben wird (Johannes 6,39.40.44).

Wieder setzt Little einfach voraus, dass es Johannes um Unsterblichkeit in einem jenseitigen Paradies geht, in das man durch die Auferstehung hineinkommt, und die ist an den neuen christlichen Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus gebunden. Ich dagegen nehme an, dass Johannes als jüdisch-messianischer Evangelist die Auferweckung der auf den Messias vertrauenden Menschen gut jüdisch gemäß Daniel 12,2 erwartet. Zwar mag es sein, dass er Jesus mit dem neuen Baum des Lebens identifiziert, aber dieses Leben ist das diesseitige Leben der kommenden Weltzeit, die durch das Aufsteigen des Messias zum VATER und die sich damit vollziehende Überwindung der Weltordnung anbrechen kann.

2.3.1.2 Das Brot der Weisheit

Zweitens vergleicht Little (117) die Weisheit als „ein anderes ungewöhnliches Lebensmittel im Alten Testament“, nach dem diejenigen, die von ihm essen oder trinken, immer mehr verlangen (Sirach 24,21), mit Jesus, der „die Weisheit darin übertrifft, dass er allen Durst und allen Hunger beenden wird (Johannes 6,35)“. Hesekiel (3,1.3) muss buchstäblich „die ihm von Gott gegebene Schriftrolle (und somit auch die darauf stehenden Worte) essen“, und von anderen Propheten heißt es, dass „Jesajas Mund von einem Seraph berührt worden war (Jesaja 6,5-7)“ und dass „Gott selbst Jeremia Worte in den Mund gelegt hatte (Jeremia 1,9)“.

Diese „alttestamentliche Logik und Bildwelt erhebt Jesus auf ein neues Niveau“, behauptet nun Little (117f.):

Jesus ist das fleischgewordene Wort Gottes, und deshalb kann er, wie das Wort und die Weisheit von einst, „gegessen“ werden. Das Konzept ist fest in der vertrauten alttestamentlichen Opfer-, Propheten- und Weisheitssymbolik verwurzelt. Das Brot ruft Anklänge an andere alttestamentliche Situationen hervor, um vertraute Themen zu verstärken. Gott schenkt König Salomo Weisheit und Größe des Herzens in einer solchen Fülle, dass sie mit dem Sand am Meeresufer verglichen werden kann, eine Weisheit, die sich vermehrt und vervielfältigt (1 Könige 2,35.46 LXX; 5,9 LXX). Jesus, als Weisheit, vermehrt und vervielfältigt die Nahrung der Weisheit. Er ist sowohl die Nahrung als auch der Ernährer. Von ihm und seiner Nahrung müssen seine Jünger essen.

Von der Brotmetapher her kann man eine solche Parallelisierung durchaus vertreten, allerdings nicht unbedingt, wie gesagt, bis zu dem Punkt, dass das Kauen von Jesu Fleisch als ritueller Vollzug des Abendmahls gedeutet werden muss.

Begreift man allerdings diese Metapher auf dem Hintergrund von Hesekiel 3, dann könnte Johannes damit auch verständlich zu machen versuchen, warum Jesus von seinen Mitjuden in Judäa nicht akzeptiert wird, denn Israel wird in diesem Kapitel (3,9) als „Haus des Widerspruchs“ bezeichnet.

2.3.1.3 Das Brot des Opfers

Da inzwischen hinreichend deutlich ist, dass Littles Auslegung von Johannes 6 auf ein rituelles Verständnis des Brotes im Sinne des christlichen Abendmahls hinausläuft, kann es nicht verwundern, dass er drittens die Brotmetapher auch von kultischen Texten des Alten Testaments her interpretiert (118):

Im alten Israel waren Brotlaibe zusammen mit dem Fleisch von Tieren Teil des kultischen Opfers, das Gott dargebracht wurde. Die Vorstellungen von Priestertum, Königtum und Opfer werden in Melchisedek, dem Priester des höchsten Gottes, verkörpert, der Abraham Brot und Wein darbringt (1. Mose 14,18). Bei der Weihe von Aaron und seinen Söhnen werden Brot und Fleisch gemeinsam als Brandopfer dargebracht (2. Mose 29,2.23). Aaron und seine Söhne sollen das Fleisch und das Brot essen, was den Laien verwehrt ist (2. Mose 29,32). Angesichts dieses kultischen Hintergrunds kann die Opfersprache der Rede nicht als ein mit dem Wunder unvereinbares Thema angesehen werden.

Ein solcher Zusammenhang kann hergestellt werden, wenn man das will, aber ob Johannes ihn im Sinn hatte, bleibt unbewiesen. Nirgends erwähnt er Melchisedek oder Aaron, und unter den vielfältigen Titeln, die Johannes dem Messias Jesus beilegt, fehlt der Titel des Priesters oder Hohenpriesters – vielleicht auch deswegen, weil er Jesus stattdessen als den neuen Tempel der messianischen Gemeinde versteht, in dem Jesus ganz Israel einschließlich Samarias und der Diaspora-Juden sammeln will.

Little dagegen erklärt vollmundig (118f.):

Der göttliche und königliche Status, der Jesus bereits zuerkannt wurde, und die implizierte Heiligkeit des Berges erlauben es uns, in dem Brot, das durch den paidarion gereicht wird, ein Echo auf das Schaubrot des Alten Testaments zu sehen. Gott befiehlt Mose, das Brot der Gegenwart immer vor sich zu haben (2. Mose 25,30). Zwölf Brote sollen in zwei Sechserreihen auf den goldenen Tisch gelegt werden, zusammen mit reinem Weihrauch. Sie sollen an jedem Sabbat geopfert werden. Die Söhne Israels sollen sie durch einen ewigen Bund zur Verfügung stellen (3. Mose 24,5-9). Saul hält Brot für ein angemessenes Geschenk für einen Mann Gottes (1. Samuel 9,7). Jesus nimmt das Brot und gibt es vermehrt an das Volk zurück. Die Gabe der Seinen an Gott und der Empfang der Gaben und der Gunst Gottes im Gegenzug erinnern an die alten Opfer und nehmen das kommende eucharistische Opfer vorweg.

Gegen eine Identifikation der Brote von Johannes 6 mit den Schaubroten von 3. Mose 24,5-9 spricht allerdings, dass letztere aus feinem Weizenmehl gebacken sind, während Johannes von Gerstenbroten spricht. Auch die Zahl der Brote stimmt nicht überein: im Haus Gottes liegen zwölf, der Junge, paidarion, bringt fünf.

Und selbst wenn Johannes mit der Brotmetapher priesterliche Assoziationen aufrufen sollte, bleibt die Frage, wie er diese versteht. Die Priesterschaft der Zeit Jesu beurteilt er äußerst kritisch: Sie haben den Tempel zu Jerusalem in ein heidnisches Kaufhaus verwandelt und kollaborieren mit Rom bis zu dem Punkt, dass sie keinen König außer dem Kaiser anerkennen und die Kreuzigung des Messias fordern. Begreift man den Namen Lazarus vom priesterlichen Namen Eleasar her, kann man diese Gestalt als Sinnbild eines unter der Führung der Priesterschaft bis zur Verwesung heruntergekommenen Israel verstehen – die allerdings dennoch Jesu Freund bleibt und deren Auferweckung vom Tod und Befreiung von der Last der unterdrückenden Weltordnung sein Herzensanliegen ist. Würde Little seine eigene Bemerkung über den „ewigen Bund“ mit Israel ernstnehmen, dann dürfte er jedenfalls nicht so leichthin „das kommende eucharistische Opfer“ als eine Aufhebung des alten Bundes mit Israel interpretieren.

2.3.1.4 Das Brot der königlichen Gastfreundschaft

Viertens folgt Jesus Little zufolge (119)

auch einer langen Tradition der Gastfreundschaft, die von den Propheten angemahnt wird. Jesaja spricht davon, das Brot mit den Hungrigen zu teilen und die Sehnsucht der Bedrängten zu stillen. Seine Sprache kommt dem Opfercharakter nahe, besonders im Hebräischen, wo der Prophet nicht davon spricht, Brot zu geben, sondern seine „Seele“ oder sein Leben für die Bedürftigen. Die Bilder von Licht und Finsternis passen gut zu Johannes‘ Vision von Christus als einem, der nicht von der Finsternis überwältigt wird (Jesaja 58,7-8.10, vgl. Johannes 1,5).

An dieser Stelle lässt sich besonders gut demonstrieren, welchen Unterschied es macht, Johannes von den jüdischen Schriften her zu interpretieren oder umgekehrt das Alte Testament auf das Neue hin auszulegen: Von Jesaja her verstanden, ist es das Herzensanliegen des johanneischen Jesus, dass das hungrige und elende Israel nach der Katastrophe des Judäischen Krieges auf Dauer von Unterdrückung und Hunger befreit wird. Wird dagegen die Aufforderung Gottes in Jesaja 58,10, dem Hungrigen seine Seele oder sein Leben, nefesch, zu geben, ganz im Sinne der späteren eucharistischen Feier des Opfertodes Jesu Christi begriffen, dann wird das antikultische Anliegen (Jesaja 58,3-6) des gesamten Kapitels Jesaja 58 in sein Gegenteil verkehrt; das Recht der Entrechteten und die Gerechtigkeit für die Hungrigen bleiben auf der Strecke.

Indem Little darauf hinweist, dass „die Geber und Empfänger von Gastfreundschaft im Alten Testament oft Könige und Patriarchen sind“, sieht er in Jesu Gabe der Brote außerdem eine Bestätigung (120) „seiner königlichen und göttlichen Würde. Als Spender von Licht und Brot ist er das Licht und das Brot des Lebens.“

2.3.2 Überprüfung einer Reihe von Anspielungen auf das Alte Testament

Unter der Überschrift „Jesu Wissen“ (120-27) geht Edmund Little auf verschiedene Punkte ein, die sich zunächst gar nicht auf dieses Thema beziehen.

2.3.2.1 Vom Unterschied der griechischen Wörter kreas und sarx, „Fleisch“

Den nächsten Abschnitt beginnt Little (120) mit der durch 5. Mose 8,9 und 12,15 belegten Aussage, dass „die Israeliten im Gelobten Land ohne Unterlass Brot und Fleisch essen würden“, woraus er kurzerhand den Schluss zieht:

Jesus begegnet auf dem Berg wohl den neuen Wüstenkindern, um sie in ein neues Gelobtes Land zu bringen, dessen Natur sie noch nicht verstehen. Wie einst Mose und Gott gibt er ihnen Brot und Fisch (das „Fleisch aus dem Meer“) zu essen (Johannes 6,12), das später mit seinem eigenen Fleisch identifiziert werden wird.

Dass dieser Schluss ein Kurzschluss ist, ergibt sich schon daraus, dass Little meint, den Fisch als das „Fleisch aus dem Meer“ verstehen zu dürfen, aber noch viel mehr aus einer anderen unzulässigen Identifizierung. Zwar merkt er selbst an (Anm. 354), dass in den von ihm zitierten Worten aus der Tora „das Wort für Fleisch kreas ist“ und nicht sarx wie im Johannesevangelium, aber er scheint dennoch beide Wörter für gleichbedeutend zu halten. Das ist aber ganz und gar nicht der Fall. Sie werden in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet.

Das Wort kreas ist das übliche Wort für das Fleisch von Tieren als Nahrungsmittel für Menschen, und zwar einschließlich der im Rahmen des Tempelkults verzehrten Opfertiere. Mehrfach wird es als Metapher für die Ausbeutung oder das Abschlachten von Menschen im Krieg gebraucht (5. Mose 32,42; Micha 3,3; Sacharja 11,16; Jeremia 37,16 LXX; Hesekiel 11,3.7.11; 39,17-18), einmal (5. Mose 28,53) bedeutet es Menschenfleisch, das während einer Hungersnot gegessen wird, und ebenfalls nur einmal (Hiob 10,11) meint derma kai kreas im Zusammenhang der Erschaffung des Menschen seine natürliche Bekleidung mit „Haut und Fleisch“.

Das Wort sarx dagegen bezeichnet in der Regel das Fleisch der als sterbliche Wesen geschaffenen Menschen und Tiere und dient häufig als Metapher für den Menschen, die Menschheit oder alle irdischen Lebewesen in ihrer Vergänglichkeit, die auf Atem, Geist, Inspiration Gottes (hebräisch ruach, griechisch pneuma) angewiesen sind, um leben zu können (1. Mose 6,3; Hiob 34,14-15; Weisheit 7,1; Jesaja 40,6; Hesekiel 37,6.8), oder auch für die Zusammengehörigkeit bestimmter Menschen auf Augenhöhe (1. Mose 2,23), insbesondere als stammesmäßig verbundener Gruppe (1. Mose 29,14; 37,27; 2. Samuel 5,1 und öfter). Zwar kann auch das Wort sarx menschliches Fleisch bedeuten, das gefressen wird (1. Mose 40,19; 3. Mose 26,29; 1. Samuel 17,44; 2. Könige 9,36; Psalm 26,2 LXX; Psalm 79,2; Prediger 4,5; Weisheit 12,5; Micha 3,3; Sacharja 11,9; Jeremia 19,9; Baruch 2,3; Daniel 7,5), aber nur an einer einzigen Stelle (Psalm 78,27) wird es auf tierisches Fleisch zur Ernährung der Menschen bezogen (die Wachteln der Wüstenwanderung) und nur einmal in der gesamten Tora auf das Fleisch eines Stieres, das aber nicht zum Verzehr als Opfer bestimmt ist.

Es liegt also ganz und gar nicht auf der Hand, dass die Versorgung der Menschen mit Brot und Fisch geradlinig auf ihre spirituelle Versorgung mit dem Fleisch Jesu im Abendmahlsritual hinausläuft.

2.3.2.2 Will Jesus „spirituellen Hunger“ als ein nicht vorhandenes Bedürfnis stillen?

Weiter (120) parallelisiert Little die Frage Jesu an Philippus „Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?“ mit „der von Mose an Gott gerichteten Frage“ (4. Mose 11,13):

Woher soll ich Fleisch nehmen, um es all diesem Volk zu geben? Sie weinen vor mir und sprechen: Gib uns Fleisch zu essen.

Little stellt aber eine „thematische Verschiebung“ fest. Anders als bei Mose, in den synoptischen Speisungsgeschichten oder bei der Hochzeit zu Kana hatte vor der Frage des johanneischen Jesus niemand über irgendeinen Mangel geklagt. Und nur hier „spricht Jesus von sich aus davon, Nahrung für die Menschen zu kaufen“. Daraus folgert Little:

Bei der Speisung dieser Menschenmenge vollbringt Jesus auf den ersten Blick ein Wunder der Verwöhnung und des Luxus, indem er ein nicht vorhandenes Bedürfnis stillt. Menschen, die noch nicht hungrig sind, werden großzügig gespeist, eine Situation, die noch skandalöser ist als in Kana. Johannes betont nicht das Mitleid Jesu, indem er sich der Menschen erbarmt.

Das Fehlen eines körperlichen Hungers deutet darauf hin, dass es sich bei dem Wunder um die Befriedigung eines spirituellen Hungers handelt. Die Opfer einer spirituellen Hungersnot klagen nicht, eine Tatsache, die den Propheten bekannt war.

Wieder verstehen sich diese Schlussfolgerungen Littles nicht von selbst. Dass Jesus im Johannesevangelium von sich aus das Problem der Ernährung Israels anspricht, kann auch darauf hindeuten, dass Johannes in der Zeit nach dem Judäischen Krieg die Situation der Hungersnot als eine Gegebenheit voraussetzt, die nur durch die Überwindung der römischen Weltordnung beendet werden kann. Diese wiederum ist Johannes zufolge nur möglich im Vertrauen auf den Messias Jesus. <113>

Zu Unrecht beruft sich Little (Anm. 362) auf die Propheten Amos und Jesaja, um zu belegen, dass Jesus mit seinem Speisungswunder einen „spirituellen Hunger“ befriedigen will. Zwar geht es in Amos 8,11 um einen Hunger „nach dem Wort des HERRN“, aber dieses Wort besteht aus den Tatworten bzw. Machttaten des befreienden Gottes Israels, die (Amos 8,4) der Unterdrückung der Armen und der Vernichtung der Elenden im Lande entgegenwirken und nicht in einem ritualistischen, verjenseitigten, spirituellen Sinn zu verstehen sind. Ebenso ist der Mangel des Volkes an Erkenntnis oder Wissen in Jesaja 5,13 so zu verstehen, dass sie „den HERRN“, also den befreienden NAMEN des Gottes Israels, „nicht kannten“, worauf ausdrücklich der griechische Text mit der Formulierung dia to mē eidenai autous ton kyrion, wörtlich: „wegen des Nichtkennens des HERRN“, hinweist. Zu beachten ist, dass die Jesaja-Stelle unmittelbar dem Weinberggleichnis 5,1-7 und der Klage über das Unrecht des Landraubs in Israel folgt. Beide Stellen behandeln also gar nicht das Thema, dass angeblich „Opfer eines spirituellen Hungers sich nicht beklagen“.

2.3.2.3 Das Wissen Jesu und die Weisheit Gottes

Die erwähnte Jesaja-Stelle könnte ein Fingerzeig sein, um zu begreifen, was Johannes mit seiner Formulierung meint, dass Jesus „wusste, was er tun wollte“. <114> Das Verb oida, „wissen, kennen“, bezieht sich nicht nur in den prophetischen Schriften, sondern auch bei Johannes durchgehend auf das Kennen des Gottes Israels und seiner Befreiungstaten. Darauf richtet sich seine Einsicht, von daher (121)

sieht Jesus voraus, dass die Menge kommen wird, um ihn zum König zu machen (6,15)…, kennt er die Motive der Menschen intuitiv (6,26-27) und erahnt ihre Reaktion auf seine Worte (6,61.64.71).

Little dagegen sieht in der Betonung des Wissens Jesu einen weiteren Beleg <115> dafür, dass Johannes

ihn erneut als Gott und heilige Weisheit darstellt, denn im Alten Testament ist eine solche Voraussicht und Einsicht ein Attribut Gottes, der die Irrwege der Menschen durchschaut (Sirach 42,18), und der heiligen Weisheit, die Zeichen und Wunder, den Ausgang von Jahreszeiten und Zeiten voraussieht (Weisheit 8,8).

Mit der Weisheit (122), die von Sirach (24,23) und Baruch (4,1-4) mit „dem Gesetz“ identifiziert wird, vergleicht Little Jesus vor allem unter Bezug auf Sprüche 9,1-6:

Sie lädt ihre Gäste ein, Brot und Wein von ihrem Tisch zu essen und zu trinken. Die Gäste werden als einfach und unverständig geschildert. Wie im 5. Buch Mose wird das Brot (und der Wein) Leben bringen…

In Kana hat Jesus bereits Wein ausgeschenkt. Bald wird er am See Genezareth Menschen Brot geben, die später als töricht und rebellisch dargestellt werden. Das „Leben“ wird in der Rede nach dem Wunder eng mit dem Brot, das er selbst ist, und mit den Worten, den Gesetzen, die er spricht, verbunden sein.

2.3.2.4 Vom Kaufen des Brotes mit oder ohne Geld im Alten Testament

Nun zum Wort agorasōmen, „kaufen“, in Johannes 6,5. Spannend finde ich Littles Hinweis (122) auf „eine prophetische und weisheitliche Stelle, in der Gott verkündet, dass die Nahrung, die er gibt, nicht gekauft werden kann. Das Volk soll auf Gott hören (Jesaja 55,1-2)“:

1 Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! 2 Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben.

Indem Little das Wort „agorasōmen als ironische Anspielung auf Jesajas Einladung“ versteht (122f.), wird in seinen Augen

die Bedeutung der Ereignisse nach dem Wunder klarer. Die wundersame Brotvermehrung steht für die reichliche spirituelle Nahrung, die Gott-Weisheit denen gibt, die im Glauben „kommen“. Die Menschenmenge sieht es nachher nur als kostenlose Mahlzeit. Mit der Auffassungsgabe der heiligen Weisheit versteht Jesus intuitiv ihre aphrosynē, ihre „geheimen Gedanken“, ignoriert die banale Frage („Rabbi, wann bist du hergekommen?“) und kommt direkt zur Sache, indem er ihre wahren Motive offenlegt (Johannes 6,26). <116> Sie suchen eine weitere Mahlzeit, nicht die Weisheit oder das Gesetz. Jesu Verwendung des Plurals sēmeia mit Bezug auf Johannes 6,2 deutet an, dass das Vermehrungswunder eines von mehreren Zeichen ist, die sie missverstanden haben. Die Menge kommt auf Jesus zu, um die Speise der heiligen Weisheit zu erhalten. Indem sie am Ende der Rede weggehen, entscheiden sich die meisten von ihnen für Frau Torheit, das dunkle Gegenstück der Weisheit (Sprüche 9,13).

Little ironische Interpretation führt ihn leider wieder auf Abwege. Dankbar bin ich ihm für den Hinweis, dass Jesus mit dem Wort agorasōmen recht deutlich Jesaja 55,1 zitiert, wo Gott die Hungernden dazu auffordert, ohne Geld zu kaufen, agorasate, und zu essen. Aber seine Annahme, dass Jesus mit dem, was man ohne Geld „kaufen“ kann, selbstverständlich spirituelle Nahrung meint, meint er nicht weiter belegen zu müssen.

Ton Veerkamp <117> erklärt das Wort agorasōmen sowohl von Jesaja 55,1ff. als auch von 1. Mose 42 her:

Der Realpolitiker [Philippus] sagt, zweihundert Denare würden nicht einmal ausreichen, genug Brot kaufen zu können. Man sollte den Text Jesaja 55,1ff. kennen, wenn man verstehen will, wie Jeschua Philippus „prüft“. Es heißt:

Oh, ihr Dürstenden alle, kommt zum Wasser!
Wer kein Geld hat, kommt und kauft, esst,
kommt und kauft, aber nicht für Geld,
nicht für den Preis von Wein und Milch.
Warum zahlt ihr Geld für Unbrot,
eure Mühe für das, was nicht sättigt?

Jeschua fragt: „Woher sollen wir Brot kaufen (agorazein, schavar)?“ Mit dieser Frage quält sich Jakob = Israel, als er hörte, dass es in Ägypten Getreide gibt. Er schickt seine Söhne, um es zu kaufen (schavar, agorazein), Genesis 42. Beide Stellen, Jesaja 55 und Genesis 42, klingen hier mit. Jesaja 55 spielt eine Rolle, wenn es in der Brotrede um die Frage geht, was wirkliches Brot (lechem ˀemeth) und nicht Unbrot (lo-lechem) ist. Mit den von den Realpolitikern als völlig unzureichend eingeschätzten Mitteln von fünf Broten und zwei Fischen für fünfmal tausend Menschen wird der Messias Israel ernähren.

… Der Messias ist der Ernährer Israels, und die Schüler können es nur sein, solange sie sich an diesen Messias halten. Erklärt wird das in der Brotrede (6,26ff.) und in der Rede, in der sich der Messias von den Schülern verabschiedet (15,1ff.).

Auch Veerkamps politische Auslegung des Johannesevangeliums versteht sich natürlich nicht von selbst und erfordert eingehende Prüfung. Immerhin liegt sie – im Gegensatz zur seit dem 2. Jahrhundert üblich gewordenen spiritualisierten und verjenseitigten Interpretation – klar auf einer Linie mit der auf die diesseitige Befreiung Israels von Unterdrückung und Unrecht ausgerichteten Zielsetzung der Propheten.

Wie dem auch sei – einig kann man mit Little darin sein, dass Johannes tatsächlich auf die Jesaja-Stelle 55,1ff. anspielt, und zwar (123) auch „in anderen Teilen des Johannesevangeliums“.

Das Zusammenspiel von „Hören“, „Folgen“ (griechisch) und „Kommen“ (hebräisch) findet seinen Widerhall in ähnlichen Mustern bei Johannes, die im Zusammenhang mit der „Volksmenge“ erörtert werden. Wie in den anderen zitierten Passagen ist das „Leben“ ein Thema der Jesaja-Verkündigung. Die Menschen sollen kommen, folgen und zuhören. Als Folge davon werden sie leben (Jesaja 55,3):

Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben!

Damit nicht genug – Little betrachtet Jesaja 55,1-3 sogar im Gesamtzusammenhang der beiden Kapitel 54-55:

Abgesehen von lexikalischen Parallelen werden auch andere Themen der Verkündigung Jesajas (54,1-55,13) von Johannes aufgegriffen. Gott wendet sich durch den Propheten an Jerusalem und das ganze Volk mit der Verheißung der Vergebung und Wiederherstellung. Gottes Liebe wird so unerschütterlich sein wie die Berge (54,5-6.10). Dann folgt die Verheißung eines neuen Jerusalems und von Lebensmitteln, die man umsonst kaufen kann (54,11-17; 55,1-2), darauf die Verheißung des Lebens und eines ewigen Bundes aufgrund seiner Liebe zu David (55,3). Ein Volk wird nach Jerusalem strömen (55,5). Dann kommt der Aufruf, den Herrn zu suchen (55,6), gefolgt von der Verheißung, dass das Wort, das aus dem Mund Gottes ausgeht, nicht leer zurückkehrt, wenn es nicht den Willen Gottes erfüllt und seinen Auftrag erfolgreich ausführt (Jes 55,11). Jesaja schließt mit der Prophezeiung, dass die Berge und Hügel in Jubelschreie ausbrechen werden. All dies wird ein ewiges, unauslöschliches Zeichen sein (Jes 55,13).

Dass Johannes das Kapitel Jesaja 54 im Hinterkopf hat, war oben bereits Thema im Abschnitt 1.2.1.3, in dem es um das Motiv der messianischen Hochzeit ging, und im Abschnitt 2.2.2.3 über den kleinen Augenblick des Verlassenseins aus Jesu Abschiedsreden. Welche Schlüsse zieht nun aber Little aus Jesaja 54-55 für seine Auslegung des Johannesevangeliums? Zunächst beschreibt er eine Reihe von Parallelen, die einigermaßen plausibel klingen (124):

Auch Jesus wendet sich an eine Menschenmenge, an ein Volk, auf einem Berg, der implizit als neuer Sinai-Zion bezeichnet wird. Er ist zu seinem Volk gekommen, um die Finsternis zu besiegen (Johannes 1,5) und um Zeichen zu geben, von denen das Speisungswunder eines ist. Wie wir oben gesehen haben, wird „Zeichen“ im Alten Testament mit Wort, Gebot, Bund und Königtum gleichgesetzt, Themen, die sich durch Jesajas Verkündigung an Israel und durch das Johannesevangelium ziehen.

Dann aber merkt man Little wieder an, dass er annimmt, der johanneische Jesus wolle doch auf etwas ganz anderes hinaus als Jesaja. „Jesaja fordert Israel auf, den Herrn zu suchen, ein Thema, das im Johannesevangelium eine große Rolle spielt“, und tatsächlich „suchen die Menschen Jesus und werden zurechtgewiesen, weil sie ihn aus den falschen Gründen suchen (Johannes 6,24.26)“. Aber aus welchen Gründen suchen die Menschen Gott bzw. Jesus? Im Alten Testament ist die Suche nach Gott oftmals identisch mit der Suche nach „seiner Gerechtigkeit“, und „die Folge davon, ihn nicht zu suchen, ist der Tod (Amos 5,4.6)“. Gerade Amos und die anderen Propheten Israels haben eine sehr klare Vorstellung von der Befreiung und der Gerechtigkeit, die Gott für Israel auf dieser Erde in der kommenden Weltzeit im Sinn hat. Little jedoch biegt fast unmerklich auf einen anderen Weg ab, indem er ohne Übergang von den Propheten auf weisheitliche Texte zu sprechen kommt:

Gott zu suchen heißt, die Weisheit zu suchen. Sie hilft dem, der sie sucht (Sirach 4,11). Man muss sie suchen und darf sie nicht loslassen (Sirach 6,27). Die Weisheit zu suchen heißt, das Gesetz Gottes zu suchen (Sirach 32,15; 39,1).5

Das muss nicht falsch sein, aber wir wissen bereits, dass Little dazu neigt, die biblische Weisheit zu spiritualisieren und nicht mehr von den befreienden Worttaten des Gottes Israels her zu verstehen.

Ähnlich geht Little (125) mit einer weiteren alttestamentlichen Parallele zum Kaufen des Brotes bei Johannes um:

Die Worte Jesu erinnern an eine Stelle aus dem 5. Buch Mose, wo Mose davon spricht, dass er von den Söhnen Esaus und Sihons Brot und Wasser kauft, damit die Kinder Israels durchziehen können. Johannes deutet an, dass es sich bei der Menge um Israeliten in der Wüste handelt, die Nahrung für ihre Reise suchen. Jesus ist Mose, der nach Vorräten für sein Volk sucht, um es in das gelobte Land zu bringen. Auch hier vereinen sich mosaische und weisheitliche Themen (5. Mose 2,6.28):

6 Speise sollt ihr für Geld von ihnen [den Söhnen Esaus] kaufen, damit ihr zu essen habt, auch Wasser sollt ihr für Geld von ihnen kaufen, damit ihr zu trinken habt.

28 Speise sollst du [Sihon] mir für Geld verkaufen, damit ich zu essen habe, und Wasser sollst du mir für Geld geben, damit ich zu trinken habe.

Wieder macht Little also auf einen Text der Tora aufmerksam, den Johannes möglicherweise tatsächlich ins Gedächtnis rufen wollte. Ihm zufolge ist die Nahrung, nach der Jesus sucht, geistliche Speise für eine Reise in das Gelobte Land des Himmels. Dieser auf das Jenseits gerichtete Blick ist jedoch meines Erachtens noch nicht die Sache des jüdischen Messianisten Johannes. Der neue Exodus des Messias vollzieht sich zwar, indem Jesus gekreuzigt wird und zum VATER aufsteigt, aber nicht, um dort mit denen, die an ihn glauben, nach ihrem Tod zu wohnen. Im Aufsteigen zum VATER übergibt der Messias vielmehr den befreienden Geist des Gottes Israels seinen Schülerinnen und Schülern (Johannes 19,30; 20,22), um sie dazu fähig zu machen, durch solidarische Liebe, agapē, die herrschende Weltordnung zu überwinden. Ein Gelobtes Land, getrennt von den Völkern, in dem die Tora Gottes zu verwirklichen wäre, kann es nicht mehr geben; stattdessen glaubt Johannes an die Überwindung des kosmos im Ganzen.

Für Little hingegen ist „die Verbindung des Lebens mit dem Brot und dem Wort Gottes“ in anderer Weise wesentlich. Da nach Johannes 1,1 Jesus „das Wort Gottes“ ist, führt (125f.) seine

Ablehnung zum Gericht und zum Tod (Johannes 12,47-48), der logischen Konsequenz des Versagens beim Eintritt in das neue gelobte Land, das Reich der Weisheit Gottes. Viele Jünger, die „gehört“ haben, was Jesus zu sagen hat, finden es schwierig, „zu hören“, und gehen deshalb weg (Johannes 6,60.66). Die von Amos verkündete Hungersnot (Amos 8,11) wird Wirklichkeit. Sie ist sowohl selbst auferlegt als auch eine Strafe Gottes.

Die Frage ist also: Hat Johannes wirklich im Sinn, den Menschen, allen voran den Juden, die nicht an Jesus glauben, den Zutritt zum Himmel zu versperren? Ist bereits sein Jesus der Begründer einer neuen Erlösungsreligion, die dem Judentum, das auf die diesseitige Befreiung Israels gehofft hatte, himmelweit überlegen ist?

Oder sind die harten Urteile Jesu im Johannesevangelium ursprünglich noch ganz auf der Linie der Propheten Israels zu verstehen, denen zufolge ein Israel, das nicht mehr hungert nach den befreienden Worttaten Gottes, sondern mit einer unterdrückerischen Weltordnung kollaboriert, dem Tode preisgegeben ist?

2.3.3 Woher kann man das Brot kaufen und in welchem Sinn muss man es kauen?

Edmund Little hatte bereits erwähnt (121), dass es Jesus in seiner Frage nach dem Kaufen des Brotes nicht – wie den Jüngern in Markus 6,37 oder Philippus in Johannes 6,7 – um die horrenden Kosten für so viele Menschen geht; er fragt vielmehr, pothen, „woher es gekauft werden kann“. Zuvor hatte er (126) das Wort

pothen schon im im Blick auf Kana und die Frage des Haushofmeisters nach der Herkunft des Weines erörtert (Johannes 2,9). Im Johannesevangelium erscheint das Wort in Zusammenhängen, die die Herkunft Jesu selbst oder mit ihm in Verbindung stehender Dinge betreffen. Alttestamentliche Assoziationen unterstreichen die Themen der Weisheit und des Königtums.

Letzteres belegt er zunächst lediglich mit Hiob 28,12.20 und Judith 12,3 sowie 2. Könige 6,27. Zusätzlich sieht er auch Josefs Frage an seine Brüder (1. Mose 42,7), woher sie kommen, um Getreide zu kaufen, als Hintergrund für Jesus Frage über „eine Gruppe kürzlich angekommener Leute“, wodurch „Anklänge an Josef verstärkt werden, die den königlichen Status Jesu hervorheben“. Das erscheint mir allerdings ziemlich weit hergeholt, zumal Josef nur „ironischerweise als König bezeichnet wird (1. Mose 37,8)“ und zwar „vom Pharao mit allen Vollmachten ausgestattet wird“, aber nicht wirklich König ist. Er verweist allerdings darauf (127), dass „die Samaritaner den Patriarchen als König anerkannten“.

Näher liegt die Parallele Psalm 121,1-2 mit der Bestätigung, dass in Israel Hilfe nur von JHWH, vom befreienden NAMEN des Gottes Israels, kommen kann:

1 Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? 2 Meine Hilfe kommt vom HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat.

Dazu schreibt Little schlussfolgernd (126):

Jesus ist ebenfalls auf einem Berg, hat seine Augen auf die Volksmenge gerichtet und fragt, wo man das Brot kaufen kann. Wie der Psalmist weiß er, dass Hilfe vom Herrn kommt, weil er selbst der Herr ist (Johannes 13,13).

Oberflächlich gesehen ist gegen diese Identifizierung nichts einzuwenden; Jesus bezeichnet sich tatsächlich als kyrios. Zwei Dinge sind dabei allerdings zu beachten: Erstens tut Jesus dies als die vollkommene Verkörperung des NAMENS Gottes, seines befreienden Wortes und Willens, indem er zugleich der Mensch Jesus ben Josef aus Nazareth bleibt. Zweitens ist er ein Herr, dessen Herrschaft im freiwilligen Sklavendienst für andere besteht (Johannes 13,14).

Zusammenfassend schreibt Little viel Zutreffendes über das Wörtlein pothen, „woher“ (127):

Der Verwalter weiß nicht, woher der Wein in Kana stammt. Jesus sagt Nikodemus, dass der Wind weht, wo er will, aber Nikodemus weiß nicht, woher er kommt und wohin er geht (3,8). Die Frau am Brunnen fragt, woher das Wasser kommen wird, von dem Jesus spricht (4,11). Der Leser weiß, dass die Quelle des Geistes, des Weins und des Wassers Jesus selbst ist. Philippus hätte inzwischen begreifen müssen, dass auch das Brot seinen Ursprung in Jesus haben wird, so wie Mose hätte begreifen müssen, dass das Fleisch seinen Ursprung in Gott haben würde. In Kana war die Herkunft des Weins in Frage gestellt worden. Hier wird der Ursprung des Brotes in Frage gestellt. Das Evangelium stellt ständig die Herkunft Jesu in Frage. So wie der Wein stillschweigend mit seinem Leben und seinem Blut identifiziert wird, so wird das Brot mit seinem Leib identifiziert. Sie zu essen und zu trinken bringt ewiges Leben.

Fast allen diesen Sätzen Littles kann ich zustimmen. Nur die letzten beiden laufen allzu rasch auf eine christliche Abendmahlsvorstellung hinaus, die noch nicht im Sinne des jüdischen Messianisten Johannes gewesen sein muss. Vom Wein als der Metapher für die messianische Hochzeit im Sinne des Anbruchs der kommenden Weltzeit des Friedens war bereits oben im Abschnitt 1.2.1.3 die Rede gewesen; insofern muss sich auch „ewiges Leben“ nicht auf ein jenseitiges Leben nach dem Tod im Himmel beziehen.

Dass die Metapher vom Kauen des Fleisches Jesu und vom Trinken seines Blutes auch anders als rituell begriffen werden kann, hat Ton Veerkamp <118> in seiner Auslegung der provokativen Jesusworte in Johannes 6,51-59 eindrucksvoll dargelegt:

6,51 „ICH BIN ES: das lebende Brot, das absteigt vom Himmel.
Wer von diesem Brot isst, lebt für die kommende Weltzeit.
Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch,
für das Leben unter der Weltordnung.“

6,52 Die Judäer stritten untereinander, sie sagten:
„Wie kann der uns sein Fleisch zu essen geben?“
6,53 Jeschua sagte also zu ihnen:
„Amen, amen, sage ich euch:
wenn ihr das Fleisch des bar enosch, des MENSCHEN, nicht esst,
und sein Blut nicht trinkt,
werdet ihr nicht selbst leben.
6,54 Wer mein Fleisch kaut und mein Blut trinkt,
erhält das Leben der kommenden Weltzeit,
und ich werde ihn aufstehen lassen am Tag der letzten Entscheidung.
6,55 Denn mein Fleisch ist wirklich Nahrung,
mein Blut wirklich Trank.
6,56 Wer mein Fleisch kaut und mein Blut trinkt,
bleibt mir fest verbunden, und ich mit ihm.
6,57 So wie der VATER, der Lebende, mich gesandt hat,
und so wie ich lebe durch den VATER,
wird der, der mich kaut, leben durch mich.
6,58 Dieser ist das Brot, das vom Himmel absteigt.
Nicht wie eure Väter aßen – sie starben.
Wer dieses Brot kaut, wird leben bis in die kommende Weltzeit.“

6,59 Das sagte er, lehrend in der Synagoge zu Kapernaum.

Jetzt wird Jeschua konkret. Der Messias ist das Brot und als lebensnotwendiges Brot führt er die irdisch-politische Existenz des Messias Jeschua ben Joseph, dessen Eltern die Leute ja kennen. Er führt diese politische, gefährdete und verwundbare Existenz. Fleisch nennt Johannes das Leben der Menschen unter der Weltordnung. Kurzformel für die Existenz des Messias ist: „Fleisch für das Leben der Welt.“ Welt lebt nicht; Menschen leben, Menschen in der Welt, das heißt, Menschen, lebend unter den Bedingungen einer real herrschenden Weltordnung. Menschsein ist immer in-der-Welt-sein, unter-der-Weltordnung-sein. Die Existenz des Messias ist Fleisch, ist in-der-Welt-sein, unter-der-Weltordnung- sein, und zwar für-die-Welt-sein, damit ihre Ordnung eine Ordnung des Lebens sein kann. Messianische Existenz ist politische Existenz, sonst ist sie gar nichts.

Einige kommen hier nicht mehr mit, andere sind unschlüssig, sind zerstritten (emachonto): „Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben?“ Johannes hätte hier eine Chance, zu erklären, was „Fleisch essen“ heißen könnte. …

Johannes setzt nicht nur unverdrossen fort, was er bisher gesagt hat, sondern er setzt noch einen darauf: Fleisch des Menschen, mein Fleisch, essen, ja, sein Blut, mein Blut, trinken. Was heißt hier essen (phagein)? Kauen (trōgein) sollt ihr sein Fleisch! Sein Blut trinken, dann kommt ihr lebend in die kommende Weltzeit: „Ich werde ihn auferstehen lassen am Entscheidungstag“, das vierte Mal. „Das ist erst Nahrung“, sagt Jeschua, das ist erst wirklich Essen und Trinken, das hält am Leben, nur das.

Dass hier „kauen“ statt „essen“ steht, ist also keineswegs eine „stilistische Variierung“, wie Wengst sagt. <119> Johannes steht hier nicht der Sinn nach Stilübungen. Hier macht unser Text eine folgenschwere Wende. Jetzt will er die Provokation. Wer so redet, will keine Verständigung. Er will Trennung, Schisma. Das ist die Sprache der Sekte.

Wir sind durch unsere Abendmahlsgottesdienste so abgestumpft, dass wir die Provokation erst gar nicht mehr spüren. Jeschua redet nicht von der Oblate oder von einem Becher Traubensaft, mit oder ohne Alkohol. Die Provokation ist wirklich beabsichtigt. Fleisch darf man in Israel essen, aber: „Fleisch, das in seiner Seele sein Blut hat, dürft ihr auf keinen Fall essen“, Genesis 9,4. Dieses sogenannte noachitische Verbot wird immer wieder eingeschärft: das Blut darf man nicht essen, man muss es wegfließen lassen, bevor man das Fleisch isst; es muss koscher sein. Menschenfleisch kauen und zugleich sein Blut trinken ist für jedes Kind Israels eine widerliche Übertretung des fundamentalen Gebots, das auf der unbedingten Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben basiert, Genesis 9,5f. Deswegen erklärt die Tora Blut zu einem unbedingten Tabu.

Sicher meint Johannes mit diesem Ausdruck Fleisch essen eine vollständige Identifikation mit der politischen Existenz Jeschuas, unbedingte Nachfolge auf dem Weg des Messias: „Wer mein Fleisch kaut, mein Blut trinkt, bleibt mir verbunden, und ich ihm.“ Aber indem er diesen Gedanken für die Judäer so abstoßend formuliert, will er offenbar gar nicht, dass sie einen Zugang zu diesem Messias finden. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes skandalös, und Johannes weiß es, V.61! Folgerichtig landet die Gruppe um Johannes in einem abgeschlossenen Raum, „Türen verschlossen aus Angst vor den Judäern“, 20,19.26.

Jeschua, der vom VATER Gesandte, lebt nur „durch den VATER“. Das heißt: er arbeitet nicht nur für die Sache des Gottes Israels, er ist vielmehr die Sache selber, das, und nur das, ist sein Leben. Und wer den Messias kaut, der lebt durch den Messias, denn er wird selber zur Sache Gottes, zur Sache des Messias. Er kann nichts anderes mehr tun.

Johannes fasst zusammen: „Der ist das Brot, das vom Himmel herunterkommende, nicht wie damals die Väter: sie aßen und starben. Wer dieses Brot kaut, lebt bis in die kommende Weltzeit.“ So „erhaben“ diese Theologie für manche auch sein mag, sie wirkt spalterisch und ist deswegen kritikwürdig. Die provokative, spalterische Lehre, die Jeschua in der Synagoge von Capernaum vortrug, und das war wohl auch die Lehre, die Johannes in der Synagoge seiner Stadt vortrug, spaltet seine Zuhörenden, sie spaltet die messianische Bewegung. Jedenfalls markiert dieser Satz eine Zäsur. Bis zu diesem Punkt im Text versammelte sich die messianische Gemeinde. Ab diesem Augenblick beginnt der Zerfall der Gemeinde. Das ist eine Tragödie für den, dessen politisches Programm die Sammlung Israels in einer Synagoge war (11,52).

Angesichts einer dermaßen provokativen Theologie der johanneischen Gruppe ist es allerdings kaum verwunderlich, dass es – nachdem sie sich später doch, wie Johannes 21 zeigt <120>, der größeren messianischen Gemeinde unter der Führung des Petrus anschloss – sehr rasch zu ihrer rituellen Umdeutung kam.

2.3.4 Parallelen zur Prüfung des murrenden Volkes Israel im Johannesevangelium

Zur „Prüfung“ des Philippus durch Jesus (127) weist Little darauf hin, dass das Wort peirazō, „prüfen, testen, versuchen“ (außer in 8,6 als Teil der später ergänzten Perikope von der Ehebrecherin) im Johannesevangelium nur an dieser einzigen Stelle 6,6 vorkommt. Auch dieses Motiv lässt Little zufolge sowohl „mosaische als auch weisheitliche Themen“ anklingen (127f.), „wenn Sirach [4,17] der heiligen Weisheit Tätigkeiten zuschreibt, die in den fünf Büchern Mose direkt Gott zugeordnet werden“.

Wozu prüft Gott sein Volk während der Wüstenwanderung? Nach Little (128)

sagt Mose den Israeliten paradoxerweise, dass sie den Herrn nicht fürchten sollen, weil Gott gekommen ist, um sie zu prüfen, damit sie ihn fürchten und nicht sündigen (2. Mose 20,20). Das Manna wird gegeben, um sie zu demütigen und zu prüfen, damit es ihnen am Ende gut tut (5. Mose 8,16) und um ihren Gehorsam gegenüber seinem Gesetz zu prüfen (2. Mose 16,4).

Nur am Rande (Anm. 385) erwähnt Little die noch wichtigere Stelle 5. Mose 4,34, in der ihm zufolge „die gesamte Exoduserfahrung als Prüfung Israels durch Gott“ verstanden wird. Außer Acht lässt er dabei, dass sich dort die Dankbarkeit Israels über die Barmherzigkeit und Bundestreue Gottes (5. Mose 4,31) ganz konkret im Erstaunen über das Experiment der Befreiung seines Volkes aus den Klauen eines Eroberervolkes ausdrückt, nämlich in der Frage,

4:34 ob je ein Gott versucht hat, hinzugehen und sich ein Volk mitten aus einem Volk herauszuholen durch Machtproben, durch Zeichen, durch Wunder, durch Krieg und mit starker Hand und ausgerecktem Arm und durch große Schrecken, wie das alles der HERR, euer Gott, für euch getan hat in Ägypten vor deinen Augen?

Nimmt man diese befreiende Absicht Gottes ernst als den Inbegriff des NAMENS, mit dem er sich immer und immer wieder den Israeliten offenbart, dann geht es in Gottes Prüfungen seines Volkes nicht ganz allgemein um den Gehorsam gegenüber der Allmacht Gottes, sondern um die Frage, ob Gottes Experiment gelingt, sein auserwähltes Volk nicht nur in die Freiheit zu führen, sondern diese Freiheit auch in seinem eigenen Gemeinwesen zu bewahren. In diesem Zusammenhang ist die Tora als eine Staatsverfassung der Freiheit und Gerechtigkeit, Autonomie und Egalität, zu verstehen; nur wenn sie im Sinne einer Disziplin der Freiheit befolgt wird, sind Unterdrückung und Ausbeutung im Volk Israel selbst ausgeschlossen.

Da Little diesen Hintergrund nicht beachtet, beurteilt er umgekehrt (128) jedes „‚Murren‘ oder ‚Meckern‘ (gongyzō und loidoreō) gegen Mose und Aaron“ als sündhafte „‚Prüfung‘ oder Beleidigung Gottes selbst“, wobei er sich auf 4. Mose 14,27.29 und 16,11 bezieht, und sieht nicht den Unterschied zwischen Reaktionen des Volkes, die die Befreiung als solche aufgeben und zu ägyptischen Verhältnissen zurückkehren wollen, und berechtigten Klagen zum Beispiel über ungenießbares oder fehlendes Wasser (2. Mose 15,24; 16,2-4; 17,2). <121>

Auf welche Weise finden sich nun nach Little diese alttestamentlichen Anklänge im Johannesevangelium wieder? „Indem Jesus Philippus auf die Probe stellt, übernimmt er die Rolle Gottes in der Wüste.“ Sein Wunder antwortet aber nicht auf ein Murren, sondern das „Wunder stellt die Volksmenge auf die Probe, deren Murren im Anschluss an das Zeichen und die Deutung durch Jesus entsteht (Johannes 6,41.43.61)“:

Die Prüfung, die er gibt, ist das Gebot, sein lebensspendendes Fleisch und Blut zu verzehren. Die Israeliten hatten davon gesprochen, in Ägypten oder in der Wüste zu sterben. Jesus stellt das Volk vor die Wahl zwischen dem Leben mit ihm oder dem Tod ohne ihn (Johannes 6,51.53-54). Das Vermehrungswunder war ein Gleichnis für diese Möglichkeit. Das Motiv des Volkes, Jesus aufzusuchen (6,26), ähnelt dem der Israeliten, die das Fleisch und das Brot Ägyptens den guten Dingen des Gelobten Landes vorzogen.

Allzu glatt versucht Little hier wieder bestimmte Deutungen alttestamentlicher Hintergründe auf seine christlich-rituelle Auslegung des johanneischen Speisungswunders hin zu beziehen. Das beginnt schon damit, dass Jesus ja gar nicht ausdrücklich die Volksmenge prüft, sondern seinen Schüler Philippus. Meines Erachtens zielt diese Prüfung auf die Frage, ob Philippus von den Schriften her weiß, woher Menschen, die auf den Gott Israels vertrauen, ohne Geld Brot kaufen können. Weiterhin liegt es nicht einfach auf der Hand, dass Jesus den Menschen gebietet, sein Fleisch und sein Blut in Form des Abendmahls zu verzehren (vgl. dazu das ausführliche Zitat aus Ton Veerkamps Auslegung am Ende des vorigen Abschnitts 2.3.3).

Schließlich stellt Little recht formal die Sehnsucht der Israeliten nach „dem Fleisch und dem Brot Ägyptens den guten Dingen des Gelobten Landes“ gegenüber, ohne diesen Gegensatz als ein Leben in der Versklavung gegenüber einem Leben in Freiheit zu begreifen. Nimmt man allerdings diesen Zusammenhang ernst, dann geht es auch im Johannesevangelium um die Alternative eines Lebens im Vertrauen auf den Messias Jesus, das zum Anbruch des Lebens der kommenden Weltzeit führt, oder eines Lebens ohne dieses Vertrauen, wobei alle Verhältnisse dieser Weltzeit unter der Weltordnung der Unterdrückung und Ausbeutung so bleiben, wie sie sind.

Little fährt fort, indem er überlegt, inwiefern die Volksmenge zur Zeit Jesu „dem Beispiel ihrer Vorfahren folgt, die Gott auf die Probe gestellt hatten“. Ihre „Bitte, Jesus möge ein anderes Zeichen geben“ (Johannes 6,30), entspricht ihm zufolge (129) dem Verlangen der Israeliten in der Wüste nach anderer Nahrung,

als sie des Mannas überdrüssig geworden waren (4. Mose 11,4.6). Wenn Jesus ihnen sagt, sie sollten nicht für das Brot arbeiten, das verdirbt, sondern für die wahre Nahrung, die zum ewigen Leben führt (Johannes 6,27), erinnert er an das Brot, das verdorben war (2. Mose 16,20), und an die Wachteln, die dem gierigen Volk, das sie aß, den Tod brachten (4. Mose 11,33-34).

Wieder dürfte eine ernst gemeinte Parallelisierung dieser Stellen nicht auf ein verjenseitigtes ewiges Leben bei Johannes hinauslaufen, da in der Tora tatsächlich irdische Nahrung gemeint ist, die denjenigen in ausreichender Menge zur Verfügung steht, die sich der toragemäßen Disziplin der Freiheit unterwerfen. Das verdorbene Brot von 2. Mose 16,20 entsprach einer verbotenen Vorratshaltung über die eigenen Bedürfnisse hinaus; die Wachteln von 4. Mose 11 standen für den Wunsch nach dem Luxus, der rückblickend in der ägyptischen Sklaverei verfügbar zu sein schien.

Ich hatte bereits erwähnt, dass Gott in der Tora manches Murren der Israeliten durchaus als berechtigte Klage akzeptiert und mit einer Erfüllung der entsprechenden Forderungen beantwortet. Little dagegen wiederholt nochmals seine pauschale Kritik an den Israeliten:

Indem sie sich bei Mose und Aaron beschwerten, beleidigten die Israeliten Gott selbst. Wenn die Menge Jesus prüft, prüft sie den Vater.

Diese pauschale Übertragung einer pauschal negativen Haltung gegenüber Gott auf Jesus nutzt Little sofort als Sprungbrett für weitere Argumente, die Jesu Identität mit Gott belegen sollen:

Sein Gang auf dem Meer zwischen Wunder und Rede und das göttliche egō eimi (Johannes 6,16-21) hatten die Gleichheit Jesu mit Gott bestätigt. Die Furcht der Jünger und die Anweisungen Jesu, sich nicht zu fürchten, erinnern an das Paradoxon „sich fürchten und doch nicht fürchten“, das Mose über Gott ausspricht (Johannes 6,20; 2. Mose 20,20). In der Rede setzt sich Jesus eindeutig mit Gott und nicht mit Mose gleich (Johannes 6,32). Später wiederholt Jesus, was der Prolog des Evangeliums verkündet hatte: ihn zu sehen heißt, den Vater zu sehen (Johannes 14,7.9).

Ich wiederhole, dass Jesus im Johannesevangelium als der Messias tatsächlich den befreienden NAMEN des Gottes Israels verkörpert, aber Johannes versteht ihn noch nicht wesenhaft als Gott wie in der christlichen Trinitätslehre. Wo Jesus da ist, wo er aktiv wird, da geschieht gleichsam der Gott Israels, seine Treue zu Israel, da wird sein Wille in die Tat umgesetzt, etwa (Johannes 4) im Gespräch Jesu mit der Samaritanerin, während dessen die Versöhnung zweier verfeindeter Volksgruppen geschieht, oder auch (6,20) im Zuspruch Jesu an seine Schüler, die ihn sehen, wie er auf dem tosenden Chaosmeer der römischen Weltordnung seinen Gang geht (siehe dazu meine Anm. 81).

Ob wirklich 2. Mose 20,20 als direkte Parallele hinter Johannes 6,20 anzunehmen ist, ist nicht sicher, da die Verben der Aufforderung, sich nicht zu fürchten, nicht übereinstimmen. Mose sagt: tharseite, wörtlich: „Seid getrost, guten Mutes!“ (dieses Wort kommt im Johannesevangelium nur in 16,33 vor), während Jesus in Johannes 6,20 die Worte spricht: mē phobeisthe, „fürchtet euch nicht!“

Über den Ausgang der Prüfung Israels in der Wüste schreibt Little:

Die mosaische Geschichte endet in einer Tragödie des Ungehorsams und der Verlassenheit (4. Mose 14:22-23):

22 Alle die Männer, die meine Herrlichkeit und meine Zeichen gesehen haben, die ich getan habe in Ägypten und in der Wüste, und mich nun zehnmal versucht und meiner Stimme nicht gehorcht haben, 23 von denen soll keiner das Land sehen, das ich ihren Vätern zu geben geschworen habe; auch keiner soll es sehen, der mich gelästert hat.

Auch das Speisungswunder endet übel. Abgesehen von einem Rest, der Jesus annimmt, sind die „Männer“ (andres) (Johannes 6,10), denen das Wunder zugute kommt, so undankbar wie die Menschen von einst und verlassen ihn, wie einst die Israeliten Gott verließen. Die Jünger hatten seine Herrlichkeit gesehen (1,14; 2,11) und Zeichen gesehen (6,2.26). Er hat sie auf die Probe gestellt; sie haben ihn mit ihrem Murren auf die Probe gestellt. Vielen von ihnen fällt es nun wie dem Pharao schwer, ihn zu hören (6,60). Sie werden das Leben nicht sehen (3,36), weil sie Jesus und den Vater gesehen und gehasst haben (Joh 15,24). Die Tragödie des Ungehorsams gegenüber Gott in der Wüste wird jetzt noch übertroffen von der Tragödie des Ungehorsams gegenüber Gottes Sohn.

Bei diesem Urteil Littles stolpere ich zunächst über seine wiederholte Verwendung des Wortes „Tragödie“. Ist dieses Wort nicht in biblischen Zusammenhängen fehl am Platz, da es für Verstrickungen in schicksalhafte Zwänge steht, gegen die sich ein tragischer Held der altgriechischen Tragödie beim besten Willen nicht wehren kann? Stattdessen nimmt Little sicher an, dass sowohl die Israeliten damals als auch die Volksmenge, die Männer, die Schüler zur Zeit Jesu durchaus anders gekonnt hätten und nicht ohne Schuld in das Unglück ihrer Gottverlassenheit geraten sind.

Auch das Wort „undankbar“ stößt mir unangenehm auf, und zwar weil ich mich frage, wofür Gott bzw. Jesus jeweils Dankbarkeit erwarten können. Beansprucht Gott Dankbarkeit einfach auf Grund seiner göttlichen Allmacht und weil alle Geschöpfe abhängig sind von ihrem Schöpfer? Darf in gleicher Weise Jesus Dankbarkeit beanspruchen, weil er der Sohn dieses allmächtigen Vaters ist?

Hinzu kommt ein Konkurrenzproblem: Immerhin bestreiten Juden den Anspruch Jesu, der Messias Gottes zu sein, geschweige denn der Sohn Gottes im christlichen Sinn. Christen dagegen behaupten das Gegenteil, und zwar seit dem 2. Jahrhundert häufig verbundenen Urteil, dass Juden, die nicht an Jesus glauben, aus dem Bund mit Gott verstoßen seien.

Das sind gute Gründe, um eindringlich zu fragen, ob und in welcher Weise es gerechtfertigt sein kann, solche Linien von den Mosegeschichten her zum Johannesevangelium zu ziehen, wie es Little tut.

In meinen Augen geht es im Ungehorsam der Israeliten, denen der Zugang zum Gelobten Land verweigert wird, um die Verweigerung des Vertrauens auf den befreienden Gott Israels, die sich zugleich im Verstoß gegen die Tora als einer Disziplin der Freiheit äußert. Viel geradliniger, als Little voraussetzt, bewegt sich der johanneische Jesus auf dieser Linie, indem er den NAMEN genau dieses befreienden Gottes verkörpert und sich mit Priestern und Zeloten, rabbinischen Juden und eigenen verprellten Schülern in oft sehr scharfer Weise auseinandersetzt, die ihm auf seinem Weg der Überwindung der herrschenden Weltordnung durch die freiwillige Selbsthingabe der agapē nicht zu folgen bereit sind.

2.3.5 Das Brot, das „zu wenig“ oder „genug“ ist, und seine Hintergründe im Alten Testament

6,7 Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder auch nur ein wenig bekomme.

Zu Philippus‘ Antwort auf Jesu Frage findet Little (130) eine erste Parallele in 4. Mose 11,22:

11,22 Kann man so viele Schafe und Rinder schlachten, dass es für sie genug sei? Oder kann man alle Fische des Meeres einfangen, dass es für sie genug sei?

Er weist auf „vier Worte aus diesem Abschnitt“ hin, die „sich später in der Erzählung des Johannes wiederfinden“: opsos, „Fisch“, thalassa, „Meer“, synagō, „versammeln“, und arkeō, „genügen“, wobei das eigentliche

lexikalische Bindeglied zwischen diesem Abschnitt und Philippus‘ Protest das Verb arkeō ist, das bei Johannes zweimal <122> und im Neuen Testament nur achtmal vorkommt. Wenn Philippus in der Person des Mose steht, steht Jesus wiederum in der Person Gottes, denn im 4. Buch Mose tadelt Gott Mose für seinen Mangel an Glauben (11,23).

Das Wort „arkeō ruft auch die Regeln für das Essen des Passahlamms in Erinnerung (2. Mose 12,4), in deren griechischer Version es auftaucht, zusammen mit den Wörtern hekastos, „jeder“, und arithmos, „Zahl“, das im Johannesevangelium (6,10) ausschließlich in der Speisungsgeschichte vorkommt:

12,4 Wenn aber in einem Hause für ein Lamm zu wenige sind, so nehme er’s mit seinem Nachbarn, der seinem Hause am nächsten wohnt, bis es so viele sind, dass sie das Lamm aufessen können.

Wörtlich heißt es im kompliziert konstruierten griechischen Text: kata arithmon psychōn hekastos to arkoun autō synarithmēsetai eis probaton, „nach der Zahl der Seelen, dass jeder für sich genug hat, soll er es auf das Lamm berechnen“.

Little sieht darin natürlich einen weiteren Beleg für „die kultische, opferbezogene Bedeutung des Brotes“. Mit gleicher Berechtigung könnte sich darin aber auch die Absicht des Johannes widerspiegeln, auf die Nähe eines neuen Passahfestes der Befreiung hinzuweisen, das der Messias Jesus mit seinem Aufsteigen zum VATER herbeiführen wird.

Weiter stößt Little auf eine „merkwürdige lexikalische Parallele zur Antwort des Philippus (Johannes 6,7) in einer Stelle, in der König David auf der Flucht vor Absalom von Ziba mit Erfrischungen empfangen wird (2. Samuel 16,1)“ (131):

16,1 Und als David ein wenig von der Höhe hinabgegangen war, siehe, da begegnete ihm Ziba, der Knecht Mefi-Boschets, mit einem Paar gesattelter Esel; darauf waren zweihundert Brote und hundert Rosinenkuchen und hundert frische Früchte und ein Schlauch Wein.

Hier tauchen drei sprachliche Anklänge an Johannes 6,7 bzw. 6,9 auf: brachy ti, „ein wenig“, paidarion, „Knecht, Knabe“, und diakosioi artoi, „zweihundert Brote“:

Der Jünger Philippus kann als ein Ziba der späteren Zeit gesehen werden, der seinen Herrn, einen David der späteren Zeit, über eine Situation informiert, die mit Brot zu tun hat. Das gemeinsame Vokabular ruft auf subtile und unterschwellige Weise genügend Anklänge hervor, um den Leser an den königlichen Status Jesu zu erinnern.

Außerdem macht Little auf weitere Hintergründe für das Wort brachy in den jüdischen Schriften aufmerksam:

brachy kommt siebzehnmal im Alten Testament vor, wenn es um das Schicksal Israels, seine Identität als Nation und seine Beziehung zu Gott geht. Jonatan probiert entgegen dem Gebot seines Vaters ein „wenig“ Honig und muss mit dem Tod rechnen (1. Samuel 14,29.43). Gott weist Mose an, das Volk in „kleinen“ Angelegenheiten zu richten (2. Mose 18,22). Das Volk Israel ist zahlenmäßig „klein“ (en arithmō brachei), wurde aber zu einer großen Nation (5. Mose 26,5). Später wird den Israeliten das Gegenteil angedroht. Einst so zahlreich wie die Sterne am Himmel, sollen sie nur noch „wenige“ sein, weil sie der Stimme des Herrn, ihres Gottes, nicht gehorcht haben (5. Mose 28,62). Die Relevanz dieser Aussage für das Wunder wird durch das Vorhandensein von arithmos in Johannes 6,10 noch verstärkt. brachy kommt auch in Situationen vor, in denen es um die heilbringende Kraft des Herrn für die menschliche Seele geht (Psalm 8,6; 94,17; 119,87). Es ist ein geeignetes Wort für eine Situation, die mit einer Menschenmenge beginnt und mit einer kleinen Zahl von Menschen endet, die Jesus annehmen.

Bis zu diesem Punkt kann ich Littles Argumentation folgen. Tatsächlich setzt sich Johannes ja mit der für ihn unerträglichen Situation auseinander, dass die Mehrzahl der Judäer und sogar der ursprünglichen Jünger Jesu nicht bereit ist, den Messias Jesus anzuerkennen.

Littles abschließende Schlussfolgerung geht aber wieder einen Schritt zu weit, indem sie das Wort brachy unvermittelt auf den Genuss einer „kleinen“ Hostie oder Oblate beim christlichen Abendmahl bezieht (132):

Annahme und Ablehnung erfolgen nach einem Wunder und nach einer Rede über das geistliche Leben und den Tod eines Volkes, dessen Heil in der Einnahme eines kleinen Brotes im Gehorsam gegenüber einem Gebot liegt.

Ein solches religiös-fundamentalistisches Verständnis der christlichen Eucharistie kann man Johannes nur unterstellen, wenn man außer Acht lässt, dass es ihm auf der Linie der biblischen Propheten um das reale diesseitige Leben der kommenden Weltzeit in Frieden und Gerechtigkeit für Israel inmitten der Völker geht, auch wenn sich von dieser Zielsetzung zunächst nur ein kleiner Rest Israels überzeugen lässt.

2.4 Die Versorgung mit Brot

6,8 Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus: 9 Es ist ein Knabe hier, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische. Aber was ist das für so viele?

Auffällig ist in den Augen von Edmund Little (133), dass

Philippus, der Jesus implizit als Propheten wie Mose verkündet hatte (Johannes 1,45), nun von Andreas angesprochen wird, der ihn als Messias und implizit als König verkündet hatte (1,41). Die Auflösung von Johannes 6,15 wird durch die dramatis personae am Anfang des Evangeliums vorweggenommen.

In der Tat gehören Andreas und Philippus eng zueinander, da sie (Anm. 397) wie Petrus aus Bethsaida stammen (1,44) und in 12,22 bei der Ankunft einiger Griechen nochmals gemeinsam auftreten. Aber es ist nicht Andreas, sondern Nathanael, der Jesus ausdrücklich als König von Israel bezeichnet (1,49). Dass Little den Versuch zelotisch gesinnter Anhänger, Jesus zum König zu machen (6,15), als „Auflösung“ einer bis dahin aufgebauten Spannung bezeichnet, finde ich auch etwas übertrieben; eher geht es an dieser Stelle im Johannesevangelium – wie an anderen auch (12,13-15; 18,33.36-37; 19,3.12-15.19-22) –, darum, in welcher Weise Jesus der König Israels ist. Ganz klar ist auch nicht, ob Andreas hier direkt Philippus anspricht, sondern vielleicht wendet er sich in ähnlicher Absicht an Jesus, um realpolitische Einwendungen gegen die Vorstellung zu erheben, der Messias könne mit geringen Mitteln das gesamte Volk Israel ernähren.

2.4.1 Der paidarion als „Diener“, „Junge“ oder „Sohn“ in den jüdischen Schriften

Nicht nur (133) „die Nennung der Namen von Andreas und Philippus“, sondern auch „der paidarion und die Gerstenbrote kommen nur bei Johannes vor“. Mit dem paidarion, der ins Deutsche häufig als „Diener“, hier jedoch als „Knabe“ übersetzt wird,

erinnert Johannes lautstark an Elisa, dessen Diener wie Philippus wissen will, wie er mit wenig Nahrung viele Menschen ernähren kann (2. Könige 4,43), woraufhin Elisa zwanzig Gerstenbrote multipliziert, um hundert Menschen zu speisen.

Etwas später gibt Little allerdings zu, dass Elisas Diener an der von ihm zitierten Stelle gar nicht mit paidarion, sondern leitourgos, bezeichnet wird. Auch ist die Rolle des Dieners dort eine andere: er bringt nicht das Brot, sondern hält es für zu wenig. Little übersieht, dass in der unmittelbar zuvor geschilderten Episode (2. Könige 4,38-41) mit dem „Tod im Topf“ dieser Diener zwei Mal als paidarion auftritt, im Vers 38 ohne Namensnennung, in der griechischen Version von Vers 41 mit der Erwähnung des Namens Gehasi: Giezi to paidarion. Offenbar nimmt Johannes bewusst den gesamten Abschnitt 2. Könige 4,38-44 aus den Vorderen Propheten als Hintergrund seiner Speisungsgeschichte in den Blick, um deutlich zu machen, dass es Jesus um die Bewältigung der katastrophalen Lage Israels nach dem Judäischen Krieg geht. Es herrscht „Hungersnot im Lande“ (2. Könige 4,38) wie damals zur Zeit des Elisa.

Darauf geht Little allerdings nicht ein; er nutzt die Betrachtung von Elisa und Jesus wieder einmal für eine unterschwellige Abwertung des Judentums gegenüber dem Christentum, indem er das Spiel spielt: „Wer hat den Größeren?“

Die Parallele zwischen Elisa und Jesus liegt auf der Hand. Sie sind beide „Nachfolger“ des Mose. Elisa folgt Elia, indem er das Wasser des Jordans teilt, so wie Mose das Wasser des Meeres teilte (2. Könige 2,8.14). Jesus übertrifft sie, indem er auf dem Wasser in Galiläa wandelt. Elisa und Jesus vollbringen Speisungswunder der Vermehrung, während Mose lediglich Gottes Vermittler bei der Erzeugung eines Überflusses an Nahrung ist. Elisa verspricht einen Überschuss an (Gersten-)Brot (2. Könige 4,43), der bei Jesu Wunder durch die Menge des übrig gebliebenen Gerstenbrots ergänzt wird (Johannes 6,12-13). Elisa wird „Mann Gottes“ genannt (2. Könige 4,42), ein Titel, den Jesus bei seiner Besteigung des Berges implizit erhielt. Bei beiden Wundern geht es um einen Diener und Gerstenbrote.

Dafür (134), dass Johannes in 6,9 nicht das Wort leitourgos, sondern das Wort paidarion verwendet, führt Little die „Doppelbedeutung von paidarion als Sohn und Diener“ ins Feld:

In der Geschichte von Elisa und der Frau von Schunem bezeichnet paidarion sowohl ihren Diener als auch ihren Sohn (2. Könige 4,24), den Elisa wieder zum Leben erweckt (2. Könige 4,30-37). Gehasi, Elisas Diener, spielt bei dieser „Auferweckung“ eine größere Rolle als bei Elisas Speisungswunder. Er vermittelt zwischen der Frau und seinem Herrn. Er streckt Elisas Stab über den jungen Mann aus und versucht, ihn aufzurichten (2. Könige 4,30-31). In einem parallelen Wunder erweckt Elia einen paidarion, den Sohn der Witwe (1. Könige 17,21-22). Sein Diener (ebenfalls paidarion) spielt eine Rolle bei der Beendigung der Dürre und der daraus resultierenden Hungersnot, als Elia ihn aussendet, um die Regenwolke zu sehen (1. Könige 18,43-44). Elisa öffnet seinem Diener die Augen, damit er eine spirituelle Realität sehen kann, die ihm sonst verborgen geblieben wäre (2. Könige 6,17).

Diese Beobachtungen bestätigen, dass Johannes seine Erzählung vor dem Hintergrund der gesamten Geschichte der Propheten Elia und Elisa verfasst hat. Wie diese Propheten vollzieht auch Jesus Heilungen und eine Totenerweckung.

Wenn Little die dem Diener Elisas geschenkte Vision in 2. Könige 6,17 als „spirituelle Realität“ bezeichnet und meint, dass auch Jesus „versucht, den Menschen die Augen zu öffnen, damit sie die geistige Realität jenseits des physischen Brotes sehen“, ist wieder Vorsicht geboten. Das Königebuch schildert eine Schau der himmlischen Macht des befreienden Gottes Israels, die der friedlichen Beendigung eines militärischen Konflikts zwischen Israel und den Aramäern vorausgeht; ebenso muss auch das Johannesevangelium nicht auf eine spirituelle Jenseitswirklichkeit hinauslaufen, die Little im Sinn hat. Das Johannesevangelium beschreibt ja nicht einmal himmlische Visionen oder übernatürliche Erscheinungen, abgesehen von den Engeln im Grab Jesu, die ihre Funktion als göttliche Boten jedoch nicht einmal ausüben (Johannes 20,11-14).

Weiterhin meint Little, dass Johannes mit dem Wort paidarion auch noch „viele andere alttestamentliche Episoden“ aufruft, „die die Identität Jesu hervorheben“:

Im Plural bezeichnet das Wort Soldaten und Diener im königlichen Dienst oder einen Kreis junger Männer im Umfeld von Königen und Machthabern. In einem Wunder der Großzügigkeit weist Boas seine „jungen Männer“ an, Ruth nicht zu behindern, wenn sie zum Trinken kommt, und unter den Garben zu lesen (Ruth 2,9.15.21). In der Einzahl bezeichnet es verschiedene wichtige Personen: Isaak (1. Mose 22,12), Pura, den Diener Gideons (Richter 7,10-11), Jeter, den Sohn Gideons (Richter 8,20), den Waffenträger des Königs Abimelech (Richter 9,54), den Diener des Boas, der Ruth speist (Ruth 2,5.6), einen jungen Propheten (2. Könige 9,4) und Diener des Nehemia (Nehemia 13,19). Der junge Mann im Speisungswunder kann also als Diener Jesu gesehen werden, der Patriarch, König, Prophet und Held Israels ist.

Schließlich „bezieht sich paidarion auch auf Könige, Helden und Propheten selbst (134f.):

Joseph (1. Mose 37,30; 42,22), Benjamin (1. Mose 43,8; 44,30.31), Simson (Richter 13,5.7.24), Salomo (1. Chronik 22,5), Josia (2. Chronik 34,3), Daniel und seine Gefährten (Daniel 1,10.13.15.17), Antiochus (1. Makkabäer 11,39.54) werden als paidarion bezeichnet. Das hebt das königliche, prophetische und heroische Bild Jesu nicht auf. Wenn der junge Mann selbst als eine dieser erhabenen Persönlichkeiten gesehen wird, ist Jesus noch erhabener. Er ist derjenige, dem Könige, Propheten und Patriarchen dienen. Ein solcher Mensch ist Gott selbst (Psalm 2,10-12). Der junge Mann wird somit zu einem subtilen Zeichen, das auf die Göttlichkeit Jesu als Wort und Weisheit hinweist.

Hier tut Little meines Erachtens wieder zu viel des in seinen Augen Guten, indem er alttestamentliche Stellen zu Hauf ansammelt, um sie auf die heidenchristliche Vorstellung von der Göttlichkeit Jesu Christi hin zu interpretieren. Jedenfalls dürfte es allzu weit hergeholt sein, den jungen Mann von Johannes 6,9 nun auch noch selbst als König, Prophet und Patriarchen zu interpretieren.

Zu Recht weist Little allerdings auf „lexikalische und situative Anklänge“ hin, die „die Verbindung zu Elia verstärken, der wie Josef seinen König vor einer drohenden Hungersnot warnt (1. Könige 17,1)“.

Die Schlüsselwörter, entweder direkt oder durch Synonyme, finden sich in Johannes 6 wieder. Die Hungersnot wird von Gott nur durch sein Wort gestoppt, das durch den Mund des Elias ausgesprochen wird (dia stomatos logou mou). Das Wort des Herrn kommt zu ihm ([1. Könige 17,2] egeneto rhēma kyriou) und befiehlt ihm, sich im Wadi Krit zu verstecken, wo die Raben ihm Brot und Fleisch bringen und der Bach Wasser spendet (1. Könige 17,6)…

Nachdem Elia den Sohn der Witwe zum Leben erweckt hat, verkündet sie ihn als „Mann Gottes“. Das Wort des Herrn in seinem Mund ist Wahrheit (1. Könige 17,24)…

Jesus, der fleischgewordene logos Gottes, versorgt sein Volk mit Brot, seinem Fleisch und seinem Wort, so wie er einst die Israeliten in der Wüste und Elia am Wadi gespeist hat. Die Wahrhaftigkeit seines Prophetentums, seines Brotes und seines Wortes wird in der Rede und an anderer Stelle (Johannes 6,14.32; 17,8) bekräftigt…

In der Übertragung der Anspielungen aus der Elia-Geschichte auf Jesus müsste jedoch ernst genommen werden, auf welche Weise Jesus als der logos, hebräisch davar, die befreienden Tatworte oder Machttaten des Gottes Israels in die Tat umsetzt und konkret „sein Volk mit Brot, seinem Fleisch und seinem Wort versorgt“. Davon war bereits oben im Abschnitt 2.3.3 die Rede gewesen.

2.4.2 Gerstenbrote – wichtig für die Ernährung Israels oder für rituelle Zwecke?

Auch die in Johannes 6,9 und 6,13 erwähnten Gerstenbrote rufen nach Little (135f.)

eine Reihe von Anklängen hervor, die für sich genommen nur schwach sind. In ihrer Gesamtheit erinnern sie an die heilige Geschichte Israels und verstärken vertraute Themen. Sie stellen Jesus in die Reihe der Patriarchen, Helden, Propheten und Könige, die er nachahmt und übertrifft. Sie helfen auch, ihn als das neue und letzte Passahopfer zu identifizieren.

Schauen wir, in welcher Weise Little diese Aussagen belegen wird. Zunächst verweist er auf „drei Hinweise auf Gerstenbrot“ im Alten Testament (136):

Elisa vervielfältigt zwanzig Gerstenbrote. Gideons Sieg über die Midianiter wird durch einen im Traum gesehenen Laib Gerstenbrot vorausgesagt (Richter 7,13). Hesekiel wird aufgefordert, die Belagerung Jerusalems nachzuahmen, indem er Weizen, Gerste, Bohnen, Linsen, Hirse und Dinkel nimmt. Er soll sie zu einem Gerstenbrot formen und es über menschlichem Kot backen (Hesekiel 4,12). Jesus wird über die Feinde der Sünde und des Todes triumphieren. Durch ihn wird die ganze Welt gerichtet werden.

Auf den ersten dieser Hinweise war ich bereits in den ersten Absätzen des vorigen Abschnitts 2.4.1 eingegangen. Tatsächlich lässt sich die Speisung der Fünftausend auf dem Hintergrund von 1. Könige 4,38-44 sehr gut im Sinne der Ernährung Israels nach der Katastrophe des Judäischen Krieges interpretieren.

Ob auch die anderen beiden Stellen im Richterbuch und bei Hesekiel zur Deutung der johanneischen Speisungsgeschichte beitragen, wird durch Littles sehr allgemeine Schlussfolgerung in den letzten beiden Sätzen dieses Zitats nicht wirklich belegt. Gerade in Johannes 6 geht es ja weder um politisch-militärische Feinde wie bei Gideon oder um ein Strafgericht über Israel wie bei Hesekiel, noch stehen in der Rede Jesu abstrakt verstandene „Feinde der Sünde und des Todes“ oder ein allgemeines Gericht Jesu über die ganze Welt zur Debatte.

Auch ein Streifzug Edmund Littles durch die Bibel auf der Suche nach dem „kleinen, aber bedeutenden Platz“ der Gerste „in der Geschichte Israels“ bringt kaum neue Erkenntnisse für das Verständnis von Johannes 6.

Im Blick auf das Gerstenmehl ist Little natürlich dessen „kultische oder sakrale Bedeutung“ wichtig, die durch einige Bibelstellen belegt wird. So war es etwa „Teil der Opfergabe, wenn ein Mann seine Frau der Untreue verdächtigte (4. Mose 5,15)“, was Little (Anm. 406) zu der Bemerkung veranlasst:

Ungehorsam und Abtrünnigkeit werden im Alten Testament oft als Ehebruch angesehen. In Anbetracht der späteren „Untreue“ der Menge ist es verlockend, in diesem Gerstenopfer eine Vorahnung ihrer „Scheidung“ von Jesus zu sehen.

Wesentlicher (137) als derart „schwache Anklänge“ ist für Little allerdings die „Aufwertung des Passahthemas“ durch die Thematik der Gerste:

Im Jerusalem des ersten Jahrhunderts war eine Gerstengarbe Teil des Passah-Rituals am zweiten Tag der ungesäuerten Brote. Die Gerstenbrote, die der paidarion in der Elisa-Geschichte bringt, <123> sind „Brot aus den Erstlingsfrüchten“ (2. Könige 4,42), das im 3. Buch Mose [23,9-14] im Zusammenhang mit dem Passahfest vorgeschrieben ist.

Da Johannes tatsächlich der Thematik eines neuen Passahfestes der Befreiung Israels große Bedeutung zumisst und ohnehin auf 2. Könige 4 Bezug nimmt, ist es nicht unmöglich, dass er auch auf die Rolle der Gerste im Zusammenhang mit Passah-Ritualen anspielen will.

Ausführlich geht Little schließlich auf die Zahl der Brote ein:

Die Tatsache, dass es fünf Brote sind, erinnert an David, der zu den Priestern <124> von Nob kommt und behauptet, in vertraulicher Mission für den König unterwegs zu sein (1. Samuel 21,3):

21,3 David sprach zu dem Priester Ahimelech: Der König hat mir eine Sache [wörtlich: rhēma, „ein Wort“] befohlen und sprach zu mir: Niemand darf auch nur das Geringste von der Sache wissen, in der ich dich gesandt habe und die ich dir befohlen habe. Darum hab ich meine Leute an den und den Ort beschieden.

Er bittet den Priester um fünf Brote (1. Samuel 21,4). Es folgt ein Gespräch über die rituelle Reinheit von Davids Soldaten, woraufhin die Priester ihm die geweihten Brote geben, die normalerweise nur ihnen vorbehalten sind [2. Mose 25,30; 3. Mose 24,5-9.]. Es gibt interessante Parallelen. David wird angeblich auf Befehl des Königs gesandt. Jesus wird von Gott gesandt, um seinen Willen zu tun, seine Gebote zu halten und andere dazu zu bewegen, das Gleiche zu tun. David erhält das Brot, um seine Männer zu ernähren. Jesus erhält das Brot, um die Menge und seine Jünger zu speisen. David bittet um fünf Brote für sich und seine paidaria (Soldaten). Jesus erhält fünf Brote von einem paidarion (Johannes 6,9). David spricht mit dem Priester über die rituelle Reinheit der Soldaten. Jesus bespricht die Bedeutung des Wunders mit den Brotessern. Es wird gegeben, damit sie das Leben des Vaters, die höchste Form der Reinheit, haben können. David kommt mit dem rhēma [„Wort“] des Königs. Jesus hat die rhēmata [„Worte“] des ewigen Lebens (Johannes 6,68).

Wieder ist hier die Nachtigall der ritualistischen Interessen Littles deutlich zu hören, will er doch die Gerstenbrote auf das christliche Abendmahl hin auslegen. Aber anders als alle Synoptiker (Markus 2,26; Matthäus 12,4; Lukas 6,4) bezieht sich Johannes gerade nicht ausdrücklich auf das Essen der Schaubrote durch David, und die Zahl fünf kann auch als eine Erinnerung an die fünf Bücher der Tora zu erklären sein. Zudem entsprechen die von Little beschriebenen Parallelen einander nicht in wirklich stimmiger Weise. Die Brote des paidarion in Johannes 6,9 sind keine Schaubrote, in der Synagoge von Kapernaum findet keine Diskussion über rituelle Reinheit statt. Sehr weit hergeholt ist schließlich der Versuch, das „Leben des Vaters“ als „die höchste Form der Reinheit“ zu verstehen, um unbedingt das Reinheitsthema in Johannes 6 unterzubringen.

Little treibt dieses Thema jedoch unermüdlich weiter voran (137f.):

Die Reinheit der Jünger ist ein wichtiges Thema bei Johannes. Einer von ihnen (Judas), der sich entscheidet, bei Jesus zu bleiben, nachdem die anderen weggegangen sind, wird ein Teufel genannt (Johannes 6,70), die ultimative Form der Unreinheit. Nach der Fußwaschung erklärt Jesus, dass nicht alle seine Jünger rein sind (Johannes 13,10-11)…, und zwar im Gegensatz zu den Soldaten Davids, die alle „rein“ sind (1. Samuel 21,6)…

Jesus sagt seinen Jüngern beim letzten Abendmahl, dass sie bereits rein sind aufgrund des Wortes, das er zu ihnen gesprochen hat (Johannes 15,3)…, was wiederum an das Bekenntnis des Petrus erinnert, dass Jesus die Worte des ewigen Lebens hat (Johannes 6,68).

Wie dünn Littles Argumentationsfaden in diesem Zusammenhang ist, wird wieder darin deutlich, dass er auch die Einschätzung des Judas als diabolos, „Teufel“, ritualistisch als „die ultimative Form der Unreinheit“ meint umdeuten zu müssen.

Tatsächlich spielt das Thema der rituellen Reinheit im Johannesevangelium nur ganz am Rande eine Rolle; nur in vier Situationen kommt das Wort katharos, „rein“, vor. In 2,6 werden Gefäße zur rituellen Reinigung erwähnt, in 3,25 ein Streit über die Reinigung, ohne auf deren Inhalt einzugehen. Die rituelle Reinheit der Soldaten Davids (1. Samuel 21,6, ausgedrückt mit dem Wort hagnizō, „heiligen“) hat jedenfalls nichts mit der Reinheit zu tun, um die es Jesus in Johannes 13,10-11 geht und die sich im freiwilligen Sklavendienst der agapē, der liebevollen Solidarität, füreinander vollzieht, was Jesus mit der Fußwaschung seiner Schüler beispielhaft vorlebt. Little betont ja sogar selber, dass Jesu Jünger auf Grund seines Wortes rein sind (Johannes 15,3) und nicht durch den Vollzug einer rituellen Reinigung.

2.4.3 Fische bei Johannes und im Buch Tobias und die Wachteln aus dem Meer

Zu den für die Ernährung Israels zur Verfügung stehenden Speisen gehören auch zwei Fische (Johannes 6,9). Fische werden in 6,11 verteilt (138), „aber sie erscheinen nicht unter den übrig gebliebenen Resten. In der Rede wird nur Brot erwähnt.“ Nach Little tauchen die Fische neben dem Brot in ähnlicher Weise auf wie bei „den Wundern von Elisa und Mose“, nämlich „paarweise“:

Elia vervielfältigt Öl und Mehl (1. Könige 17,8-16). Elisa nimmt Gerstenbrote und frische Ähren (2. Könige 4,42). Gott liefert durch Mose Manna und Wachteln „aus dem Meer“. Brot und Fisch setzen die „Paarung“ von Nahrung und mosaischem Status Jesu fort.

Die überraschende Verwendung des Wortes opsarion, „Zukost, Beilage“, für die Fische „an Stelle von ichthys, das in allen anderen Berichten über das Wunder vorkommt“, geht nach Little (139) auf die einzige Stelle in der Septuaginta zurück, die das Wort enthält, nämlich Tobias 2,2 (in der Langversion – die Kurzversion verwendet das Wort opsa, „gekochte Speise“, von der opsarion die Verkleinerungsform darstellt):

Der gütige Tobias hat einen Tisch mit vielen Fischen [opsaria pleiona] vor sich stehen. Er schickt seinen Sohn [paidion] aus, um einen armen Juden zu finden, der das Mahl mit ihm teilt …

opsarion identifiziert Jesus daher als einen Tobias der späteren Zeit, der den Armen unter seinen Brüdern helfen will, indem er viele Fische produziert, um eine große Menge zu ernähren. Im Buch Tobias sind die Juden Exilanten in einem fremden Land. Zur Zeit Jesu waren sie von einer fremden Macht besetzt. Die Verbindung zwischen Tobias‘ Wohltat und dem Wunder Jesu wird durch das Auftauchen von paidion bei Tobias und seiner Verkleinerungsform paidarion bei Johannes noch verstärkt. Wenn das Gerstenbrot tatsächlich die Nahrung der Armen war, gibt es einen doppelten Grund, die (spirituelle) Armut der Menschen am Seeufer anzunehmen.

Spannend finde ich an diesen Ausführungen Littles, dass ihm die politische, wirtschaftliche und soziale Lage der Juden zur Zeit Jesu offenbar sehr bewusst ist. Dann würde das Buch Tobias ebenso wie die Geschichten von der Hungersnot zur Zeit des Elisa den Eindruck bestätigen, dass es Johannes um die physische Ernährung Israels geht, die letzten Endes erst dann gesichert ist, wenn die Weltmacht überwunden ist, die Israel in die Verbannung geführt hat bzw. immer noch fortwährend unterdrückt. Um so irritierender wirkt es, wenn Little ausgerechnet eine solche Parallele aus den jüdischen Schriften, die sich auf soziale, physische Armut bezieht, auf geistliche, spirituelle Armut hin umzudeuten versucht.

Die einzige Stelle in der Tora, an der das Wort opsos, „Fische“, vorkommt, nimmt Little als eine „weitere starke mosaische Anspielung“ in Augenschein.

Im Bericht über das Wachtelwunder im 4. Buch Mose beklagt sich das Volk, das von der Gier übermannt wird, immer unzufrieden ist und schon vom Manna genug hat, über den Mangel an Nahrung. „Wer wird uns Fleisch zu essen geben?“ (4. Mose 11,4). Auf die Erwähnung von „Fleisch“ folgt unmittelbar die Sehnsucht nach Fisch, den sie in Ägypten umsonst bekommen hatten (4. Mose 11,5). Die Liste der Speisen, die sie danach aufzählen, besteht ausschließlich aus Obst und Gemüse. Fisch zählt also zu Fleisch. Mose nimmt in seinem Protest an Gott das Thema Fisch wieder auf. Statt von ichthys spricht er von opsos und beklagt sich, dass alle Fische des Meeres nicht ausreichen würden, um sein Volk zu ernähren (4. Mose 11,22). Wie Philippus (Johannes 6,7) verwendet auch Mose das Verb arkeō, um seine Skepsis auszudrücken. In seiner Antwort an Mose weist Gott ihn zurecht, indem er dasselbe Verb ironisch verdreht, indem er von der Hinlänglichkeit seiner Hand und der Hinlänglichkeit seines Wortes spricht (4. Mose 11,23):

Ist denn die Hand des HERRN zu kurz [wörtlich: ouk exarkesei, „genügt nicht“]? Aber du sollst jetzt sehen, ob sich mein Wort an dir erfüllt oder nicht.

Dieser Hintergrund veranlasst Little zu folgenden Schlussfolgerungen für die Auslegung der johanneischen Speisungsgeschichte (140):

Das opsarion bei Johannes erinnert an Mose und das anschließende Wunder Gottes. In der Wüste waren die Wachteln „aus dem Meer“ das geeignete „Fleisch“. Der Psalmist erinnert an die Speisung der Israeliten in der Wüste und besingt, dass Gott Fleisch regnen lässt wie Staub und geflügelte Vögel wie den Sand des Meeres (Psalm 78,27), wobei Fleisch mit sarx wiedergegeben wird, dem Wort, das Jesus in dem Befehl, sein Fleisch zu essen, verwendet (Johannes 6,53.54.55.56). Am See Genezareth ist das geeignete Fleisch Fisch. Gott handelt auf den Hilferuf des Mose. Die Brotvermehrung Jesu ist seine Antwort auf die Skepsis des Philippus. Der fleischgewordene logos zeigt die Hinlänglichkeit seiner eigenen Hand und seines Wortes. Er sättigt sein Volk (zumindest vorläufig) mit nur fünf Broten und zwei kümmerlichen Fischen, die vermutlich aus dem viel kleineren See Genezareth stammen. Wieder wird Jesus als jemand gesehen, der aus eigener Kraft das Vorhandene vervielfältigt. Mose, der treue Untergebene, beklagt und ärgert sich. Jesus, weil er der Herr ist, kann aus eigener Initiative ruhig und entschlossen handeln, wie es sich für einen gehört, der auf dem Thron des Berges sitzt.

Indem Little aus der Sicht des Christentums die Rolle Jesu gegenüber Mose triumphal überhöht, ist ein Zungenschlag der Herablassung gegenüber dem Judentum unüberhörbar. Da Jesus sich als die Verkörperung des befreienden NAMENS des Gottes Israels begreift, vollbringt er seine Zeichen jedoch gar nicht aus eigener Kraft. Zu fragen ist auch, ob die Fische von Johannes 6 wirklich mit den Wachteln aus 4. Mose 11 zu parallelisieren sind, denn diese führen ja dort zum Tod. Oder werden aus genau diesem Grund die Fische im weiteren Verlauf von Johannes 6 nicht mehr erwähnt?

Eine Stelle aus der „syrischen Apokalypse des Baruch [2. Baruch 29,4]“, derzufolge „der Leviathan aus dem Meer kommt, um (zusammen mit Behemoth) als Nahrung für alle zu dienen, die die eschatologischen Ereignisse überleben“, verwirft Little als Parallele für Johannes 6, da ja kein „großer Fisch zur Speisung des Volkes zerstückelt“ wurde.

2.4.4 Der Lagerplatz im Gras für 5000 Mann

6,10 Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich etwa fünftausend Männer.

Jesu Anweisung (140) an die Menschen, sich zu „lagern“, anapesein, interpretiert Edmund Little im Sinne einer Vorwegnahme des letzten Abendmahls und der Kreuzigung Jesu, weil diese Vokabel nur hier und in Johannes 13,12.25 und 21,20 vorkommt. In seinen Augen (Anm. 423) unterstreicht das „die Plausibilität“ seiner Annahme, dass Jesu Brotrede, „insbesondere das Essen von Fleisch und das Trinken von Blut, als Einsetzungsgeschichte“ zu verstehen ist. Es bleibt aber die Frage, ob der Zusammenhang wirklich in dieser Weise zu deuten ist. Warum sollte Johannes, wenn ihm der rituelle Verzehr von Brot und Wein beim Abendmahl so wichtig wäre, wie es Little annimmt, die Einsetzung beider Elemente in derart verschlüsselter Form an zwei verschiedenen Stellen seines Evangeliums verstecken, statt auf die ihm vermutlich bekannten überlieferten Einsetzungsworte anderer messianischer Gruppen zurückzugreifen?

2.4.4.1 Jesus als der Hirtenkönig und Psalm 23

In der Lagerung der Menschen bzw. Männer auf dem Gras sieht Little (140f.) „deutliche Anklänge an den 23. Psalm und an König David, dem der Psalm zugeschrieben wird“, wenngleich der topos chloēs, der „grüne Ort am Wasser der Ruhe“, nicht buchstäblich mit dem „vielen Gras an dem Ort“, chortos polys en tō topō, übereinstimmt, auf dem sich „die Menschen an den Wassern des Sees“ niederlassen (141). <125> Immerhin wird Jesus in Johannes 10,11 als „der gute Hirte“ auftreten, und bereits in Johannes 6 „bereitet Jesus ein Mahl zu und speist das Volk, indem er die Rolle Gottes im Psalm [23,5] übernimmt“:

23,5 Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde [im griechischen Text wörtlich: ex enantias tōn thlibontōn, „gegenüber denen, die mich bedrücken“].

Little schließt daran die Überlegung an:

Es ist die Ironie des Johannes, dass Jesus anschließend von dem Verhalten der Menschen, die er gespeist hat, bedrängt und beunruhigt wird. Sie wandeln in den Schatten des Todes (Psalm 23,4), sind sich aber ihrer eigenen Notlage nicht bewusst. Jesus, der sich dessen bewusst ist, bietet ihnen eine Mahlzeit an, das lebensspendende Brot, das sie vom Tod erlösen wird. Auch Judas, der dem Herrn „gefolgt“ ist und mit ihm gegessen hat, bricht in der Nacht auf, um ihn zu verraten (Johannes 13,30). Anklänge an den Psalm finden sich auch in dem Gang auf dem Wasser. Es ist dunkel (Johannes 6,17), und die Jünger erschrecken, anders als der Psalmist, und werden von dem Herrn beruhigt (Johannes 6,20 vgl. Psalm 23,4):

6:20 Er aber spricht zu ihnen: Ich bin‘s [egō eimi]; fürchtet euch nicht!

Jesus spielt auf den göttlichen Namen an, erinnert sie aber auch daran, dass der Herr mit ihnen ist, wie er mit dem Psalmisten war.

Von Johannes 10 her ist klar, dass das Motiv des guten Hirten eine wichtige Rolle für den Evangelisten spielt. Und die Thematik von Licht und Finsternis zieht sich durch das gesamte Evangelium hindurch. Ob sich allerdings der „Schatten des Todes“, skia thanatou, aus Psalm 23,4 als unmittelbare Parallele der „Nacht“, nyx, in der sich Judas aufmacht, um Jesus zu verraten (Johannes 13,30), und der „Finsternis“, skotia, auf dem Meer von Johannes 6,17 erweisen lässt, lasse ich dahingestellt sein, ebenso wie die weitere Annahme Littles (142), dass in Johannes 6,10 auf dem Umweg über Psalm 23 auch „Anklänge an Gottes Worte bei Jesaja“ festzustellen sind:

Die in der Finsternis sind, sollen hervortreten. Sie sollen entlang der Wege weiden. Die kahlen Höhen werden ihre Weide sein, wo sie weder hungern noch dürsten werden (Jesaja 49,9-11). Jesus speist die Menge auf einem Berg. Wer zu ihm kommt, wird weder hungern noch dürsten (Joh 6,35).

2.4.4.2 Gras als Metapher von Schöpfung und Sündenfall oder für die Hoffnung auf Gerechtigkeit

Das „viele Gras“, chortos polys, am Ufer des Sees von Tiberias lässt in den Augen von Edmund Little auch andere alttestamentliche Stellen anklingen (142), zunächst die Erzählungen von Schöpfung und Sündenfall:

Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Vegetation und der großen Zahl von Menschen (ochlos polys), die sich auf ihr versammelt haben. Anklänge an die Schöpfungserzählung werden nun durch das Gras verstärkt, das zu den ersten Dingen gehört, die nach der Erde und den Meeren (1. Mose 1,11-12) geschaffen wurden, um den Menschen Nahrung zu geben (1. Mose 1,29)…

Nach dem Verzehr der verbotenen Frucht wird der Boden verflucht. Die Nahrung, die der Mensch einst mühelos beschaffen konnte, muss nun mühsam gewonnen werden. Der Mensch wird nun das Gras auf dem Feld essen (1. Mose 3,18) …

Diese Zusammenhänge scheinen mir sehr weit hergeholt, zumal das Gras in Johannes 6,10 definitiv nicht als Nahrung dient. Little benutzt diese Parallelen einmal mehr zu dem Zweck, die Bedeutung alttestamentlicher Stellen so weit zu dehnen, bis sie sich auf einen christlich-spirituellen Sinn hin auslegen lassen:

Jesus, der neue Brotbaum des Lebens, macht den Sündenfall von Adam und Eva rückgängig, an den der chortos erinnert. In einer neuen Schöpfung, mit neuer Nahrung, wird das Todesurteil aufgehoben.

Wir kennen Littles Nachtigall inzwischen gut genug, um zu wissen, was er mit „neuer Nahrung“ meint, nämlich das Brot des Abendmahls, durch das demjenigen, der es im Glauben an Jesus Christus zu sich nimmt, das ewige Leben nach dem Tod im Himmel zugesichert ist. Als jüdisch-messianischer Evangelist, der dem rituellen Vollzug des Abendmahls in seiner Schrift keinen ausdrücklichen Platz zubilligt, hat Johannes solche alttestamentlichen Parallelen sicher nicht im Hinterkopf.

Interessanter sind andere „Stellen des Alten Testaments“, auf die Little hinweist (142f.), wo

das Bild des Grases verwendet wird, um sowohl das Gedeihen der Menschheit als auch ihre Vergänglichkeit zu lehren und um an wichtige Ereignisse in der Geschichte Israels zu erinnern. Die Übeltäter verwelken wie das Gras auf dem Feld (Psalm 37,2). Alles Fleisch ist Gras, und seine Schönheit ist wie die Blume auf dem Feld, die verwelkt (Jesaja 40,6-7). Wie die Menschenmenge ist auch die Menschheit mit dem Problem ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert. In einem messianischen Psalm, der Salomo gewidmet ist, heißt es, dass der gerechte König eine Fülle von Getreide bringen wird, das auf den Gipfeln der Berge wogt, und die Menschen werden blühen wie das Gras auf dem Feld (Psalm 72,16):

Voll stehe das Getreide im Land bis oben auf den Bergen; wie am Libanon rausche seine Frucht. In den Städten sollen sie grünen wie das Gras auf Erden.

Diese Parallelen können mit Recht als Hintergrund der Botschaft des Johannesevangeliums gehört werden, wobei es aber nicht einfach ganz allgemein-menschlich um das Problem der Vergänglichkeit und Sterblichkeit der Menschheit geht. Überall richtet sich die Hoffnung der Psalmisten und des Propheten konkret auf das befreiende und Recht schaffende Wirken Gottes für sein Volk Israel, sei es in Psalm 37,11:

die Elenden werden das Land erben und ihre Freude haben an großem Frieden,

oder in der Verkündigung Deuterojesajas 41,14.17:

Fürchte dich nicht, du Würmlein Jakob, du armer Haufe Israel. Ich helfe dir, spricht der HERR, und dein Erlöser ist der Heilige Israels. … Die Elenden und Armen suchen Wasser und es ist nichts da, ihre Zunge verdorrt vor Durst. Aber ich, der HERR, will sie erhören; ich, der Gott Israels, will sie nicht verlassen,

und erst recht im Psalm vom messianischen König 72,1-4:

Gott, gib dein Recht dem König und deine Gerechtigkeit dem Königssohn, dass er dein Volk richte in Gerechtigkeit und deine Elenden nach dem Recht. Lass die Berge Frieden bringen für das Volk und die Hügel Gerechtigkeit. Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen.

Insofern stellt Littles spiritualisierende Interpretation der genannten Stellen wieder eine unzulässige Umdeutung ihrer konkret diesseitigen Hoffnungen dar (143):

Jesus, der König auf diesem Berg, bringt einer großen Menschenmenge, die auf reichlich vorhandenem Gras sitzt, eine Fülle von Brot. Ihr eigenes spirituelles Aufblühen wird von ihrer Reaktion auf Jesus abhängen. Die Lehre des Mose wird mit dem Regen, dem Tau, dem sanften Regen auf zartes Gras und den Schauern auf das Grün verglichen, niphetos epi chorton (5. Mose 32,2).

Um spirituelles Aufblühen geht es im Johannesevangeliums nur dann, wenn sich die Menschen im Vertrauen auf Jesus vom Geist der Treue des Gottes Israels zur Befolgung des Gebots der agapē, des solidarischen Daseins füreinander, inspirieren lassen, und zwar in einer Haltung der tätigen Erwartung des Anbrechens der kommenden Weltzeit von Recht und Frieden für Israel inmitten der Völker auf der Erde unter dem Himmel Gottes. Es geht nicht um Spiritualität im Sinne eines privaten christlichen Seelenheils oder eines ewigen Lebens im Himmel. Das gilt auch für die Abschiedsrede des Mose, deren Anfang Little zitiert und in der es an zentraler Stelle heißt (5. Mose 32,36):

der HERR wird seinem Volk Recht schaffen, und über seine Knechte wird er sich erbarmen.

2.4.4.3 Das Wort arithmos, „Zahl“, als Anspielung auf den „Rest“ Israels und ein neues Passahfest

Auch (143) mit dem Wort arithmos, „Zahl“, das im Johannesevangelium nur in 6,10 vorkommt, und zwar „für die Zahl der bei der Speisung anwesenden Menschen“, verbindet Edmund Little weitreichende Überlegungen. Da Lukas das Wort „im Zusammenhang mit Judas verwendet, ‚einem aus der Zahl der Zwölf‘, der hinausgeht, um Jesus zu verraten (Lukas 22,3)“, meint Little das „gleiche Motiv des Verrats“ auch bei Johannes „im Hinblick auf das spätere Verhalten der Menge“ wahrnehmen zu können. Ansonsten hat arithmos im Neuen Testament häufig

eine eschatologische und soteriologische Bedeutung, wie sein Auftreten in der Apostelgeschichte und in der Offenbarung zur Bezeichnung derer, die glauben, bezeugt. Vier der fünf Vorkommen in der Apostelgeschichte betreffen die große Zahl derer, die sich dem Herrn zuwenden. Eine lexikalische Übereinstimmung mit Johannes besteht in den fünftausend Menschen, die das Wort des Herrn hören und glauben (Apostelgeschichte 4,4), und in der Zunahme des Wortes des Herrn, der Vermehrung der Jünger und der großen Menge bekehrter Priester in Jerusalem (6,7). arithmos bezeichnet in der Apostelgeschichte auch die Anhänger eines falschen Messias (5,36). Bei Johannes unterstellt die Menge Jesus eine falsche Art von Messianität (Johannes 6,15).

Hier laufen Littles Untersuchungen wieder auf weit hergeholte Parallelen hinaus. Ob allein die Verwendung eines Allerweltswortes wie „Zahl“ dazu ausreicht, um die Darstellung des falschen Messias Theudas durch Lukas mit den verfehlten Erwartungen an Jesus als eines zelotisch agierenden Königs in Verbindung zu bringen, stelle ich sehr in Frage.

In der Offenbarung kommt das Wort arithmos 9mal vor, nach Little ebenfalls mit zweideutigem Sinn (143f.): „Es bezeichnet die Geretteten und die Engelscharen, die Verdammten und die Legionen des Verderbens mit dem Tier.“ Besonders geht Little auf „weitere lexikalische Parallelen zu den Speisungswundern“ ein, wobei die Worte chiliades chiliadōn, „vieltausendmal tausend“, in Offenbarung 5,11 meines Erachtens nicht wirklich mit pentachilioi, „fünftausend“, in Johannes 6,10 übereinstimmen und auch die von ihm angenommene „Identifizierung von ‚Zahl‘ und ‚Tausenden‘ mit den Stämmen Israels“ in Offenbarung 7,4 mich nicht wirklich überzeugt:

Und ich hörte die Zahl derer, die versiegelt wurden: hundertvierundvierzigtausend, die versiegelt waren aus allen Stämmen Israels… <126>

In Littles Augen greifen sowohl Johannes als auch „der Autor der Offenbarung auf eine alttestamentliche Tradition zurück, die von Paulus verwendet wird, der frei aus Jesaja 10,22-23 zitiert (Römer 9,27):

Jesaja aber ruft aus über Israel (Jesaja 10,22): „Wenn auch die Zahl der Israeliten wäre wie der Sand am Meer, so wird doch nur der Rest gerettet werden“.

Zur weiteren Verwendung im Alten Testament schreibt Little (144):

Das Wort wird häufig in Volkszählungslisten der Stämme verwendet, wie in den ersten drei Kapiteln des 4. Buchs Mose. Es steht auch in engem Zusammenhang mit kultischen Opfern, die in den Vorschriften von 4. Mose 29,18-37 eine wichtige Rolle spielen. Das Thema Jesajas, das von Paulus wieder aufgegriffen wird, wird von Mose mit Nachdruck verkündet. Durch Gottes Segen wird Israel zahlenmäßig groß sein. Zur Strafe werden sie zu wenigen werden, weil sie der Stimme Gottes nicht gehorcht haben (5. Mose 4,27; 28,62):

28,62 Und nur wenige werden übrig bleiben von euch, die ihr zuvor zahlreich gewesen seid wie die Sterne am Himmel, weil du nicht gehorcht hast der Stimme des HERRN, deines Gottes.

Dieser Gedanke scheint sich tatsächlich durch das Johannesevangelium hindurchzuziehen, da der Evangelist ja von Anfang an beklagt (1,11), dass Jesus von den idioi, also den ihm Eigenen, seinem eigenen Volk, nicht aufgenommen wurde, wobei er sofort im Anschluss (1,12) von denjenigen spricht, die das dennoch tun.

In diesem Zusammenhang ist es aber von außerordentlicher Bedeutung, Johannes auf der Linie der Tora und der Propheten zu verstehen und aus der Vorstellung des „Restes“ nicht eine Theologie der vollkommenen Verwerfung Israels samt seiner Enterbung zugunsten eines neuen Heilsvolkes der Christen zu konstruieren.

Genau das tut aber Edmund Little, indem er sich den in seinen Augen „aufschlussreichsten lexikalischen Parallelen“ für das Wort arithmos in zwei Passagen im 2. Buch Mose zuwendet,

die sich auf das Passahlamm (12,4) [vgl. dazu den Abschnitt 2.3.5] und das Manna in der Wüste beziehen, das das Volk entsprechend der Anzahl der Personen im Zelt nach dem Wort des Herrn sammeln soll (16,16):

Das ist‘s aber, was der HERR geboten hat: Ein jeder sammle, soviel er zum Essen braucht, einen Krug voll für jeden nach der Zahl der Leute in seinem Zelte.

Auf die Bedeutung des Verbs „sammeln“ wird weiter unten eingegangen. In Kombination mit anderen Worten erinnert es an Josef, der das Getreide in großer Menge sammelte, bis er aufhörte, es zu zählen (1. Mose 41,49):

So schüttete Josef das Getreide auf, über die Maßen viel wie Sand am Meer, sodass er aufhörte zu zählen; denn man konnte es nicht zählen.

Daraus meint Little folgende Schlüsse ziehen zu dürfen (145):

Die Anklänge an das Alte Testament, die durch „Zahl“ hervorgerufen werden, bestätigen die Volksmenge als ein neues Israel, das im Begriff ist, ein neues Passahfest vor einem neuen Exodus zu feiern. Ob sie zu den Geretteten oder zu den Verdammten gehören werden, hängt von ihrer eigenen Entscheidung ab.

Deutlicher kann es ein Christ kaum formulieren, dass er das Alte Testament und das jüdische Passahfest für überholt hält. Dass auch der neue Exodus nichts mehr mit einer Befreiung aus politischer und sozialer Versklavung zu tun hat, geht aus dem spirituell-jenseitsweltlich formulierten Gegensatz zwischen „den Geretteten“ und „den Verdammten“ hervor.

Was wäre aber, wenn Johannes als jüdisch-messianischer Evangelist zwar einen neuen Exodus vor Augen hat, aber im Sinne einer Überwindung der Pax Romana als eines neuen weltweit herrschenden Sklavenhauses? Dann hat er noch kein christliches Osterfest im Sinn, um die Erlösung der Seelen derer zu feiern, die an die Auferstehung Jesu Christi glauben, sondern ein neues Passahfest der Befreiung Israels inmitten der Völker, das mit dem Anbruch der kommenden Weltzeit des Friedens gefeiert werden kann.

2.4.5 Muss das Brot der Speisung als der Brotleib Jesu ungebrochen bleiben?

6,11 Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, so viel sie wollten.

Zur Austeilung der Brote bei der Speisung (145) weist Little zunächst darauf hin, dass

nur bei Johannes Jesus das Brot direkt an die Menschen austeilt, in den anderen Berichten verteilen die Jünger das Brot. Für Johannes ist Jesus als Sohn des Vaters die letzte Quelle aller Nahrung.

Außerordentlich wesentlich ist für ihn, „was nicht in dem Vers steht“:

Nur Johannes erwähnt das Brechen des Brotes nicht. „Fest“ und „Passah“ sowie Jesu „Heben der Augen“ hatten den Bibelabschnitt bereits in den Strom der Ereignisse gestellt, die zu seiner Passion führen. Jesus stirbt, als die Passahlämmer im Tempel geschlachtet werden. Als Passahlamm des neuen Exodus können die Gebeine Jesu nicht gebrochen werden (Johannes 19,36; 2. Mose 12,46). Auch sein Brotleib muss unversehrt bleiben. <127> Johannes nimmt hier die Rede vorweg, in der das Brot als das Fleisch Jesu erscheinen wird. Wiederum wird das kultische Opfermotiv mit seinen eucharistischen Implikationen leise, aber deutlich angedeutet. Die bundestheologische Bedeutung des „Zeichens“ wird nun stärker.

Nun ist es immer schwierig, mit Schlüssen e silentio, also aus dem Stillschweigen von Textquellen zu arbeiten. Auf den ersten Blick ist Littles Argumentation bestechend; die von ihm erwähnten Stellen scheinen einander zu bestätigen, tatsächlich fällt auf, dass Johannes auf das rituelle Brotbrechen des Paulus und der anderen Evangelisten verzichtet.

Möglich ist aber auch, dass Johannes zwar Jesus als das Passahlamm einer neuen Befreiung Israels darstellen will, dessen Knochen nicht zerbrochen werden dürfen, dass er aber den Ritus des Brotbrechens einfach deswegen weglässt, weil er die Austeilung des Brotes gar nicht als Einsetzung einer rituellen Mahlzeit versteht, sondern als das Zeichen der Ernährung Israels, die mit der Überwindung der Weltordnung in der kommenden Weltzeit endlich im Überfluss gewährleistet sein wird. Dafür spricht, dass an den drei Stellen Johannes 19,24.36 und 21,11 jeweils ausdrücklich die Unversehrtheit des Gewandes und des Leibes Jesu sowie des Fischernetzes betont wird, während in 6,11 eine solche Hervorhebung fehlt.

2.4.5.1 Warum bezeichnet Johannes Jesus nicht wörtlich als Gottes „Lamm“, probaton, sondern als amnos, rachel, „Mutterschaf“?

Eine weitere Beobachtung Littles verdient eine differenzierte Würdigung (146):

Johannes beschränkt die Opferbedeutung des Wunders nicht auf das Passahlamm. Wenn Johannes der Täufer Jesus als „Lamm Gottes“ verkündet (Johannes 1,29.35), schreibt ihm der Evangelist den Ausdruck ide ho amnos tou theou zu, eine lexikalische Veränderung gegenüber probaton, das normalerweise das Passahlamm charakterisiert. amnos führt das Thema des leidenden Gottesknechts aus Jesaja 53,7 ein, wo die beiden Wörter parallel erscheinen:

52,7 Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm [probaton], das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf [amnos], das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.

So zutreffend und aufschlussreich Littles Hinweise zu den Vokabeln probaton und amnos auch sind: Seinem Versuch, sie vorwegnehmend argumentativ zur Bestätigung der von ihm angenommenen „Opferbedeutung des Wunders“ der Speisung einzusetzen, muss von vornherein widersprochen werden, denn diese „Opferbedeutung“ hatte er ja lediglich aus seiner Einschätzung des ungebrochenen Brotes erschlossen.

Indem Little jedoch auf die Verwendung des Wortes amnos statt probaton in Johannes 1,29.35 aufmerksam macht, durch das die prophetische Stelle Jesaja 53,7 in Erinnerung gerufen wird, können auch andere Deutungsmöglichkeiten, als sie Little vorschweben, in den Blick kommen, wie zum Beispiel diejenige von Ton Veerkamp, <128> die er zur Auslegung von Johannes 1,29 vorträgt:

Am folgenden Tag sah er Jeschua auf ihn zukommen und sagt:
„Siehe: das Mutterschaf, das von GOTT kommt
und die Verirrung der Weltordnung aufhebt.“

Weil und indem Jeschua [Jesus] auf ihn zukommt, kann Jochanan [Johannes] sagen: „Siehe, das Mutterschaf (rachel, amnos) von Gott her, das die Verirrung der Weltordnung aufhebt.“ Hier verknüpft Jochanan zwei entscheidende Stellen aus den Propheten und aus der Tora. In Jesaja 53,7.12 hören wir:

Er ließ sich treiben, er, er beugte sich, öffnete nicht seinen Mund.
Wie ein Lamm, zur Schlachtbank geführt,
wie ein Mutterschaf (rachel, amnos), verstummt vor seinen Scherern,
öffnete nicht seinen Mund.

Er, Verirrungen der vielen trug er,
unsere Abtrünnigkeiten trafen ihn.

Die zweite Stelle ist aus Leviticus 16,21f.:

Und Aaron drücke seine beiden Hände
auf den Kopf des lebenden Bocks,
er bekenne über ihm alle Verbrechen der Söhne Israels,
all ihre Abtrünnigkeiten, all ihre Verirrungen,
er gebe sie auf den Kopf des Bocks,
er schicke ihn weg durch die Hand eines Mannes in die Wüste.
Der Bock trägt mit sich alle Verbrechen weg (naßaˀ) ins Land der Abtrennung.
Er schicke den Bock weg,
in die Wüste …

Beide Stellen werden in diesem Agnus Dei [Lamm Gottes] miteinander verbunden. Es geht um einen definitiven jom kippur [Versöhnungstag]. Der Messias ist das Mutterschaf von Jesaja 53 und als Bock von Leviticus 16 trägt er die Verirrungen der Weltordnung weg, hebt sie auf: das bedeutet jenes hebräische naßaˀ, das fast immer durch das griechische airein übersetzt wird. <129> Der Messias trägt nicht nur passiv die Verirrungen, sondern er hebt aktiv die Verirrungen einer ganzen Weltordnung auf. Johannes ändert die Dimensionen; es geht nicht um die „Verirrungen der Söhne Israels“, sondern um die „Verirrungen der Weltordnung, kosmos“.

2.4.5.2 Wie deutet Johannes Jesu Tod von der Bindung Isaaks (1. Mose 22) her?

Zurück zu Littles ganz anderer Auslegung von Johannes 6,11. Seine Interpretation des Brotes im Sinne eines rituellen Opfers versucht er durch eine weitere alttestamentliche Assoziation zu belegen, nämlich

Abrahams gehorsame Opferung von Isaak. Wie das Speisungswunder findet sie auf einem Berg statt. Gott prüft Abraham (1. Mose 22,1), Jesus prüft Philippus (Johannes 6,6). In jeder Geschichte gibt es einen paidarion: Isaak (1. Mose 22,5-12) und den namenlosen Knaben in Galiläa (Johannes 6,9). Isaak, das vorgesehene Opfer, fragt, wo das Lamm für die Opferung ist (1. Mose 22,7). Jesus, das künftige Opfer auf Golgatha, fragt, wo sie das Brot kaufen sollen, das später mit seinem Fleisch identifiziert werden wird (Johannes 6,5). Dieses „Echo“ eines potentiellen Menschenopfers im Alten Testament in Verbindung mit den bereits entdeckten (und noch zu entdeckenden) kultischen und opferbezogenen Anklängen bereitet den Weg für die Opfersprache der Brotrede und für die Kreuzigung selbst. Jesus tritt an die Stelle von Brot und Tieren als freiwilliges Opfer, das von Gott bereitgestellt wird, der einst den Widder für Abraham bereitstellte (1. Mose 22,13). Das in der Vergangenheit von Gott abgelehnte Menschenopfer ist jetzt annehmbar. <130> Jesus, der Gott ist, kehrt als Opfer zum Vater zurück.

Sehr überzeugend finde ich die von Little genannten Anklänge in 1. Mose 22 nicht. Das Zitat aus 1. Chronik 29,14, das er zum letzten Satz dieser Ausführungen am Rande anführt (Anm. 444), gibt allerdings zu denken. David sagt dort über seine Bemühungen, Gott einen kostbaren Tempel zu bauen:

Denn was bin ich? Was ist mein Volk, dass wir freiwillig so viel zu geben vermochten? Von dir ist alles gekommen, und von deiner Hand haben wir dir‘s gegeben.

Auf der Linie dieser Überzeugung kann auch Jesus als der Messias Israels das Opfer seines Lebens als Rückgabe des ihm von Gott geschenkten Lebens an Gott verstanden haben. Aber die Frage bleibt, ob von 1. Mose 22 her tatsächlich das Brot der Speisung der Fünftausend als rituell zu verzehrendes Opfer zu verstehen ist, um Anteil am ewigen Leben im Himmel zu haben.

Ton Veerkamp <131> ist ebenfalls davon überzeugt, dass die Botschaft des Johannes nur von 1. Mose 22 her zu begreifen ist. In seiner Auslegung von Johannes 3,16, wo das Wort agapan, „lieben, solidarisch sein“, zum ersten Mal im Evangelium vorkommt, entfaltet er jedoch keine christliche Sühnopfer- und Abendmahlsdogmatik, sondern eine jüdisch-messianische Befreiungstheologie:

Wie kann ein Gott „lieben“, wenn er seinen Sohn – seinen Einzigen, monogenēs – so zum Spielball römischer Soldateska werden lässt? Denn Jeschua [Jesus] erfährt an Leib und Seele, was das Volk im und nach dem judäischen Krieg erfahren muss. Israel fragt sich in jener katastrophalen Zeit der messianischen Kriege gegen Rom zwischen 66 und 135 u.Z., ob und wie sein Gott, der Gott der Befreiungen aus jedem Sklavenhaus, mit Israel noch solidarisch ist. Hier hören wir zum ersten Mal das Verb agapan. Es wird fast immer mit „lieben“ übersetzt; wir ziehen die Übersetzung „solidarisch sein mit“ vor und haben das früher, in der Auslegung des ersten Johannesbriefes, begründet. <132> Die Frage ist also: Wie kann Israels Gott mit Israel solidarisch sein? Johannes antwortet mit drei Sätzen [Johannes 3,16]:

(1) Denn so hat sich Gott solidarisch mit der Welt gezeigt,

(2) dass er den SOHN, den Einziggezeugten, gab,

(3) damit jeder, der ihm vertraut, nicht zugrunde geht,
sondern Leben in der kommenden Weltzeit erhält.

(1) Es geht im ersten Satz um den materiellen und sozialen Lebensraum der Menschen. Die Tora erzählt, wie Israel zum erstgeborenen aller Völker wird, wie es aus dem Sklavenhaus befreit wird und die Disziplin der Freiheit in der Wüste lernen musste, damit es im Land der Freiheit das Leben der befreiten Sklaven führen kann.

Diese Erzählung ist nicht möglich ohne die Schöpfungserzählung. Ohne diese ist die Toraerzählung frommer Unsinn. Die Welt, der Lebensraum für die Menschen, wird nur durch die Tora (Wort Gottes) zum Werk Gottes, denn nur die Tora ordnet den Lebensraum. Ein Grieche würde den geordneten Lebensraum kosmos nennen. Genau diese Toraordnung des Lebensraumes der Menschen in Judäa gibt es nicht mehr und kann es unter den weltweiten Ordnungen Roms auch nicht mehr geben. Hier wird „Welt“ als „herrschende Weltordnung“ zu einer negativen Vorstellung. Durch das mandatum novum, das neue Gebot der Solidarität (13,34), wird die Welt so geordnet, dass Gott mit ihr solidarisch sein kann.

Die Ambiguität, die in der Vokabel Welt steckt, fordert genaue Differenzierung beim Übersetzen und Auslegen. Wenn es um den vom Wort Gottes zu ordnenden Lebensraum geht, schreiben wir Welt. Geht es um jene herrschende, menschenfeindliche Ordnung Roms, schreiben wir Weltordnung.

Das ist die Sicht des Johannes. Man kann Rom gegenüber anderer Ansicht sein; wir versuchen, die Sicht des Johannes verständlich zu machen – und zwar politisch! Solidarisch ist der Gott Israels mit der Welt, indem er sie von der Ordnung, die auf ihr lastet, befreit. Wie übt der Gott Israels seine Solidarität mit der Welt als Lebensraum für die Menschen aus?

(2) Johannes bietet im zweiten Satz wiederum einen Midrasch, den über die „Bindung Isaaks, des Einzigen“, Genesis 22. <133> Dort wird von Abraham gefordert, seinen Sohn, „seinen Einzigen“, als Opfer zu erheben. Dann sagte der Bote des NAMENS zu Abraham, Genesis 22,11ff.:

Der Bote des NAMENS rief ihm vom Himmel her zu.
Abraham sagte: „Hier, ich!“
Er sagte:
„Schicke deine Hand nicht aus gegen den Knaben,
tue ihm gar nichts;
jetzt erkenne ich:
du hast Ehrfurcht vor Gott,
denn du hast mir deinen Sohn, deinen Einzigen, nicht vorenthalten.“
Abraham hob seine Augen,
er sah, wie ein Widder sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen hat.
Abraham ging, nahm den Widder,
erhob ihn als Hebeopfer statt seines Sohnes.

Mit dem Wort monogenēs, jachid, ruft Johannes diese Schriftstelle auf. Christen denken dabei immer an das Trinitätsdogma, Jeschua als der ewige Sohn des VATERS, genitum non factum, „gezeugt, nicht gemacht“. Nein; hier ist der SOHN nicht die Gestalt von Daniel 7, sondern die Repräsentation Isaaks. Auf diesen Sohn hatte Abraham ein Leben lang gewartet; er ist seine Zukunft. Der Gott Abrahams muss Abraham in einer boshaft-drastischen Weise klar machen, dass dieser Isaak nicht der Sohn Abrahams, sondern der Sohn seines Gottes ist, des VATERS von Israel, dem Volk, das dazu bestimmt ist, Erstgeborenes unter den Völkern zu sein. Bleibt Isaak nicht am Leben, hat Abraham keine Zukunft. Er muss am Leben bleiben, aber nur als Gottes Sohn.

Johannes stellt hier Jeschua vor als die Repräsentation Isaaks. Wie damals Isaak ist jetzt Jeschua die Zukunft. Im hebräischen Text steht, dass Abraham seinen Sohn „erheben“ muss als Hebeopfer (haˁala le-ˁola). So weit kam es nicht; die Bindung Isaaks wird gelöst, die Schlachtung Isaaks unterbunden, weil Abraham nachweislich seinen Sohn nicht mehr als seine eigene, partikulare Zukunft sieht, sondern als die Zukunft „Gottes“ anerkennt. Die Solidarität Gottes mit Abraham zeigte sich damals in der Verhinderung der Opferung Isaaks. Bei Johannes muss der Gott Israels etwas tun, was von Abraham nie verlangt wurde. Hier wird Jeschua/Isaak erhöht, blutig. Hier geht der Gott Israels den ganzen blutigen Weg mit der Welt der Menschen, weil es keinen anderen Weg gibt, um mit ihnen solidarisch zu sein.

Johannes verfremdet die Erzählung von der Bindung Isaaks. Führt die Zukunft Abrahams über die Lösung der Bindung Isaaks, so führt hier die Zukunft über die Schlachtung des Messias, so brutal muss man das Wort edōken, „hingegeben“, deuten. „Gott“ geht den ganzen blutigen Weg nach unten, weil die Weltordnung den Gott sozusagen zwingt, seinen Einzigen töten zu lassen.

(3) Mit „damit“ (hina) fängt der dritte Satz an. Der Sinn ist, dass jeder, der vertraut, das Leben der kommenden Weltzeit erhält. Isaak, also Israel, hat Zukunft. Der kleine Vers Johannes 3,16 ist nichts anderes als der Versuch, mit der Niederlage Jeschuas im Jahr 30 und der Katastrophe für das ganze Volk im Jahr 70 fertig zu werden. Er will daran festhalten, dass die Ordnung der Welt keine Ordnung des Todes, sondern eine Ordnung des Lebens sein soll, sein kann, sein wird, sein muss. Mit der Schlachtung des Messias enden alle Hoffnungen, innerhalb der geltenden Ordnung einen Ort und somit eine Zukunft für Israel zu finden. Leben ist nur in der kommenden Weltzeit möglich. Vertrauen haben (pisteuein) trotz und wegen (!) der Schlachtung des Messias ist die Bedingung.

War schon Genesis 22 eine Zumutung für alle Hörerinnen und Hörer des Wortes, so ist Johannes 3,16 erst recht unerträglich. Die zentrale politische These des Johannesevangeliums ist: nur durch die Niederlage dieses Einzigen ist Befreiung der Welt von der Ordnung, die auf ihr lastet, möglich. Diese These steht senkrecht auf allem, was als politische Strategie denkbar war – und ist. Die Strategie des Johannes ist Weltrevolution, auch wenn sie nicht auf der Tagesordnung steht. Genau das ist das Unpolitische an ihm, und genau das verleitet die Generationen nach ihm zur Verinnerlichung, zur Spiritualisierung, zur Entpolitisierung seines Messianismus.

Weltrevolution ist freilich nicht Weltverdammung. Johannes ist Kind seiner Zeit; er kennt die Weltverdammung der Gnosis. Weltverdammung wird hier zurückgewiesen. Wir haben es hier mit einem anti-gnostischen Text zu tun. Die Welt sei nicht zu richten, sondern zu befreien von der Weltordnung.

Jeschua endet mit einer Erläuterung des Gerichtsverfahrens. Gemeint ist natürlich das Gerichtsverfahren aus der Vision Daniels: „Das Gericht setzt sich, Bücher werden geöffnet.“ Wer kein Vertrauen darin hat, dass mit der Schlachtung des Messias alle Weltordnungsillusionen ein Ende finden, der ist gerichtet, das heißt, er ist zum Tode verurteilt, weil er an den Ordnungen des Todes festhält. Der Gegensatz ist das Vertrauen im NAMEN. Der NAME ist der „Gott“ Israels, und „der wie ein Mensch“ ist „der wie Gott“, der „Menschensohn“ ist der „Gottessohn“. Dieser Mensch ist in seinem ganzen Leben, in allem, was er tut und sagt und erleiden muss, „wie Gott“, wie der Gott Israels, der Befreier aus dem Sklavenhaus. Nur so kommt ein Ende an den Ordnungen Roms, an der Weltordnung des Todes. Wie steht auf einem anderen Blatt, es ist das zentrale Rätsel unseres Textes.

Es liegt auf der Hand, in welchem Ausmaß sich eine solche politische Lektüre des Johannesevangeliums von der seit dem 2. Jahrhundert üblich gewordenen christlich-dogmatischen Auslegung unterscheidet. Um ihre Hintergründe deutlich zu machen, habe ich mir erlaubt, Ton Veerkamp so ausführlich zu zitieren. Er legt die jüdischen Schriften nicht auf Christus hin aus, um christliche Dogmatik zu belegen, sondern fragt vom TeNaK her, wie Johannes als jüdisch-messianischer Evangelist seine Botschaft vom Messias Israels verstanden haben könnte.

2.4.6 Ein besonderes Wort für die Sättigung: empiplēmi, „gefüllt werden“

Schon bei der Speisung Israels zur Zeit des Propheten Elisa war es um das Thema Essen und Übrigbleiben gegangen (2. Könige 4,43-44). In Johannes 6,12-13 ist davon folgendermaßen die Rede:

6,12 Als sie aber satt [wörtlich: eneplēsthēsan, „gefüllt“] waren, spricht er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt. 13 Da sammelten sie und füllten zwölf Körbe mit Brocken von den fünf Gerstenbroten, die denen übrig blieben, die gespeist worden waren.

Diese Verse behandelt Edmund Little so ausführlich, dass ich ganze vier Abschnitte (2.4.6 bis 2.4.9 mit Unterpunkten) benötige, um angemessen auf sie einzugehen.

Zunächst fragt Little (147): Warum verwendet Johannes als einziger Evangelist das Wort empiplēmi, „gefüllt werden“, an Stelle von chortaxō, „sich satt essen“, wie die anderen Evangelisten? Seine Antwort ist:

Das Verb wird gewählt, um das Ergebnis des Wunders vorauszuahnen. In der von Johannes verwendeten Form der dritten Person Plural, Aorist Passiv, kommt es im Alten Testament nur viermal vor (Nehemia 9,25; Hiob 20,11; Psalm 78,29; Hosea 13,6), wobei alle, außer Hiob, die Sünden Israels in der Wüste betreffen. Bei ihrer Rückkehr aus dem Exil bekennen die Israeliten ihre Schuld und sprechen davon, dass ihre Vorfahren sich satt gegessen und dann das Gesetz hinter sich gelassen haben (Nehemia 9,26). Der Psalmist beklagt, dass sie sich satt gegessen und dann weiter gesündigt haben (Psalm 78,29.32). Hosea spricht davon, dass Israel Gott vergisst, wenn es sich satt gegessen hat (Hosea 13,6). …

Das Verb in der hier verwendeten Form erinnert an die Untreue Israels und bestätigt die Wankelmütigkeit der Menge.

Nun taucht das Verb empiplēmi in anderen Formen noch viel öfter in den jüdischen Schriften auf, dabei „spiegelt es, vor allem im 5. Buch Mose, das Thema des Gelobten Landes wider und ist Teil des Spruchs ‚essen und satt werden‘“:

Im verheißenen Land wird Israel essen, satt werden und den Herrn lobpreisen (5. Mose 8,10; 12,15).

Unmittelbar nach dem jüdischen Glaubensbekenntnis „Höre, Israel“ in 5. Mose 6,4-9 taucht das Wort empiplēmi sogar zwei Mal im Zusammenhang mit dem Gelobten Land auf, verbunden mit einer Ermahnung, den aus der Versklavung befreienden NAMEN des Gottes Israels nicht zu vergessen:

6,10 Wenn dich nun der HERR, dein Gott, in das Land bringen wird, von dem er deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen hat, es dir zu geben – große und schöne Städte, die du nicht gebaut hast, 11 und Häuser voller Güter, die du nicht gefüllt hast [has ouk eneplēsas], und ausgehauene Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast –, und wenn du nun isst und satt wirst [phagōn kai emplēstheis], 12 so hüte dich, dass du nicht den HERRN vergisst, der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt hat…

Little betont allerdings in diesem Zusammenhang nicht die Freiheit, die Israel erfahren darf und die es aufs Spiel setzt, wenn es die Tora als Disziplin der Freiheit nicht befolgt, sondern spricht in allgemeiner Form davon (147f.),

dass das Sattessen und das Halten der Gebote eng miteinander verbunden sind. Die Verweigerung des Gehorsams Gottes Gebote, Gesetze und Sitten zu befolgen, bringt den Fluch mit sich, dass man isst und nicht satt wird (2. Mose 26,14.26).

So verstanden, stehen die jüdischen Schriften nicht als befreiende Impulse im Hintergrund des Johannesevangeliums, die in Jesus als dem Messias Israels und der Verkörperung des NAMENS unter den Bedingungen neuer weltweiter Versklavung zur Erfüllung gelangen, sondern das jüdische Gesetz selbst muss als letztlich erdrückend empfunden werden, da man es beim besten Willen nicht erfüllen kann.

Little betrachtet noch eine Menge anderer alttestamentlicher Stellen (148), in denen das Wort empiplēmi vorkommt, zum Beispiel Ruth 2,14.18, wo Ruth „auf Boas‘ Einladung hin isst, bis sie satt ist und wie die Menschenmenge bei Johannes noch etwas übrig hat“. Dadurch wird Little zufolge „das Thema der Abstammung Davids fortgesetzt, das bereits mit den Gerstenbroten begonnen wurde“, was ich wiederum als zu weit hergeholt betrachte. Nicht jede Erwähnung eines bei Johannes vorkommenden Wortes im Alten Testament muss der Evangelist tatsächlich im Hinterkopf gehabt haben.

Besonders betont Little auch hier wieder einen seiner Lieblingsgedanken, indem er Aussagen der Weisheit Sirachs auf Jesus und seine Identität mit Gott bezieht:

Brot ist nicht die einzige Substanz, mit der Gott sein Volk füllt. Die Themen Weisheit und Gesetz verschmelzen in einer Reihe von Texten erneut. Wer den Herrn fürchtet und sein Wohlgefallen sucht und ihn liebt, wird mit dem Gesetz erfüllt werden (Sirach 2,16). Wer das Gesetz sucht, wird mit ihm erfüllt werden (Sirach 32,15). Bei der Schöpfung erfüllte Gott die Menschen mit Wissen und Einsicht und zeigte ihnen Gut und Böse (Sirach 17,7). Die Weisheit selbst ruft diejenigen, die sie begehren, damit sie sich an ihren Erzeugnissen satt essen (Sirach 24,19).

Jesus, als Gott-Weisheit, füllt sein Volk mit guten Dingen, einem Vorgeschmack auf das gelobte Land des Königreichs. Sie essen, werden satt und vergessen ihn dann, wie das alte Israel.

Man kann Jesus, indem er sein Publikum mit dem Vorgeschmack der kommenden Weltzeit erfüllt, als Gottes Weisheit begreifen. Aber die allzu forsche Identifikation Jesu mit Gott, ohne zu bedenken, dass es hier um den Gott Israels geht, dessen Ehre darin besteht, „das alte Israel“ zu befreien, scheint darauf hinzudeuten, dass Little mit dem „gelobten Land des Königreichs“ nicht mehr das meint, worauf Israels Propheten und noch der jüdisch-messianische Evangelist Johannes gehofft haben.

2.4.7 Das Einsammeln des Brotes und die Sammlung Israels aus den Völkern

Zu Recht sieht Little (149) im „Einsammeln des Brotes“ in Johannes 6,12-13 „etwas Tieferes als das bloße Aufräumen nach einer Mahlzeit.“ Zwar ist vom Sammeln der Reste auch in den anderen Evangelien die Rede, aber (148)

Johannes ist der einzige Bericht, in dem Jesus das Einsammeln der Reste befiehlt, und der einzige Bericht, in dem die Jünger das Einsammeln übernehmen.

Während bei Markus, Matthäus und Lukas die übrigen Brocken „aufgehoben“ werden (ēran in Markus 6,43; 8,8; Matthäus 14,20; 15,37, ērthē in Lukas 9,17), verwendet Johannes das Wort synagō, das nicht nur das Sammeln von Gegenständen, sondern auch die Versammlung von Menschen bezeichnet, und das im Johannesevangelium auch noch an anderen Stellen vorkommt.

Nach seinem Gespräch mit der Samaritanerin am Jakobsbrunnen hatte Jesus seine Schüler über das Werk des Messias unterwiesen (Johannes 4,34-38) und in diesem Zusammenhang auf die Metapher des Einbringens der Ernte zurückgegriffen. Little zufolge klingt in dieser Ernte „im Zusammenhang mit der Erlösung und dem Leben (4,36)“ bereits ein Thema der Brotrede nach dem Speisungswunder an: „Der Schnitter sammelt Früchte für das ewige Leben“. Kann es aber sein, dass die Jünger tatsächlich von Jesus aufgefordert werden, die Seelen von Menschen für das Leben nach ihrem Tod einzusammeln? Sie werden ja (4,38) von Jesus zur Erntearbeit aufgefordert.

Besser (149) wird der „eschatologische Sinn“ des Sammelns durch zwei Stellen in Johannes 11 verdeutlicht:

Die Hohenpriester und die Pharisäer „versammeln sich“ [synēgagon] im Rat (11,47). Kaiphas, der unwissentlich als Prophet spricht, sagt, es sei gut, dass ein Mensch für das Volk stirbt. Der Evangelist fügt die Bemerkung hinzu, dass der Tod Jesu die verstreuten Kinder Gottes zu einer Einheit versammeln würde [synagagē] (11,52).

Von dieser Stelle her ist in der Passage Johannes 4,34-38 das Wort chōras (4,35) nicht mit „Felder“, sondern mit „Länder“ zu übersetzen. Es geht also nicht um das Ernten erlöster Seelen auf den herbstlichen Feldern des Menschenlebens, sondern um die Sammlung der Kinder Israels aus den Ländern, in die sie vertrieben wurden. Ton Veerkamp <134> verweist zum Verständnis auf prophetische Hintergründe:

Im Buch Jeremia heißt es, 16,14f.:

Deswegen:
da kommen die Tage,
Verlautbarung des NAMENS,
da sagen sie nicht:
„Es lebe der NAME,
der die Kinder Israels hinaufbrachte
aus dem Land Ägypten“,
vielmehr:
„So wahr der NAME lebt,
der die Kinder hinaufbrachte aus dem Nordland [Babel],
aus allen Ländern (ˀarazoth, chōrai),
in die er sie hineingejagt hatte,
sie zurückkehren zu lassen zum Boden,
den er unseren Vätern gab.“

Die Schüler müssen ihre Augen erheben, sie müssen die Länder der Welt sehen, die chōrai, ˀarazoth, in die Israel verjagt wurde. Diese Länder sind reif für die Ernte, reif dafür, das ganze zerstreute Israel zurückkehren zu lassen. Das ist der eine Bezug. Der andere ist das Wallfahrtslied: „Als der NAME kehren ließ, Wiederkehr nach Zion“, Psalm 126:

Als der NAME kehren ließ, Wiederkehr nach Zion,
ist es uns wie im Traum,
ja, voll des Lachens unser Mund,
voll des Jubelns unsere Zunge.
Ja, da wird man unter den Volksmächten sagen:
„Großes hat der NAME an diesen getan.“
Großes hat er an uns getan,
Freude ist uns geworden.
Lasse, Ewiger, uns kehren,
wie die Wasserläufe im Negev.
Die säen in Tränen, jubeln beim Ernten,
wer ging, ging weinend aus, trug Samenlast,
wer kommt, kommt jubelnd zurück, bringt Garben ein.

Solche Bezüge sind nötig, um die politische Belehrung Jeschuas [Jesu] verstehen zu können. Bei Johannes ist Jeschua der, der Israel neu stiftet, wie im Buch Jeremia die Rückkehr aus Babel die Stelle der Befreiung aus Ägypten einnehmen soll. Solche „neuen Bünde“ gab und gibt es immer wieder. …

[D]ie Arbeit, die der Gott Israels, der VATER, Jeschua aufgetragen hat, [ist] die „Zusammenführung Israels in eins“, 11,52. Johannes sieht die Arbeit als eine Arbeit der Ernte. Ernte ist die abschließende Aktion der Jahresarbeit. Diese Zeit ist gekommen, und diejenigen, die diese Arbeit tun, sammeln die Früchte. Hier gibt Johannes die Bildrede auf und spricht von „Frucht für das Leben in der kommenden Weltzeit“. Die kommende Weltzeit ist jene Weltordnung, in der ganz Israel bei sich sein kann.

Erneut erhebt sich also die Frage, ob der eschatologische Blick des Johannes in die Endzeit sich auf die Befreiung Israels inmitten der Völker in einem Diesseits der Zukunft oder auf die Erlösung der Christen im jenseitigen Himmel bezieht. Die Verse Johannes 4,34-38 mag man dabei noch sehr einfach in ein spirituell-christliches Setting einbauen können, aber in 11,50-52 ist nur schwer wegzuinterpretieren, dass es ausdrücklich um Jesu Tod „für das Volk“, hyper tou laou, geht und darum, „die Gottgeborenen der Diaspora in eins zu versammeln“, ta tekna tou theou ta dieskorpismena synagagē eis hen. Das hat natürlich schon seit dem 2. Jahrhundert die entstehende christliche Kirche nicht daran gehindert, genau dies zu unternehmen. Insofern vertritt Little keine Außenseiterposition, sondern bewegt sich durchaus im Mainstream der bis heute vorherrschenden Auslegung des Johannesevangeliums. <135>

Spannend ist nun aber (151), in welchem Ausmaß Little selber biblische Stellen heranzieht, die von der Sammlung Israels aus den Völkern handeln. Er beginnt mit dem 5. Buch Mose, in dem

ein Grundton der Wiederherstellung anklingt, der in Johannes 11,52 aufgegriffen wird. Gott wird sein zerstreutes Volk aus allen Völkern sammeln (5. Mose 30,3):

30,3 … der HERR, dein Gott, [wird] deine Gefangenschaft wenden und sich deiner erbarmen und wird dich wieder sammeln [synaxei] aus allen Völkern, unter die dich der HERR, dein Gott, verstreut hat [dieskorpisen].

Weiter beschäftigt sich Little ausführlich mit prophetischen Stellen, vor allem, aber nicht nur aus dem Jesaja-Buch:

Das Thema der Sammlung Israels gibt dem „Aufräumen“ nach dem Wunder seine größte alttestamentliche Bedeutung. Die Propheten geben ihm noch mehr Ausdruck. Jesaja spricht davon, dass Gott ein Zeichen für die Völker setzt und die Ausgestoßenen Israels versammelt (Jesaja 11,12; 27,12; 56,8). Einige Passagen sind für die johanneischen Themen von besonderer Bedeutung. Der Herr wird seine Herde wie ein Hirte weiden und die Lämmer in seine Arme schließen (Jesaja 40,11, vgl. Johannes 10,11f; 21,15). In seinem Jubel über die Auferstehung Jerusalems spricht Jesaja davon, dass das Geringe größer wird (Jesaja 60,22):

60,22 Aus dem Kleinsten sollen tausend werden und aus dem Geringsten ein mächtiges Volk. Ich, der HERR, will es zu seiner Zeit eilends ausrichten [im griechischen Text wörtlich: synaxō autous, „ich werde sie sammeln“].

Die Ernte im wiederhergestellten Jerusalem wird von denen, die sie einbringen, gegessen und getrunken werden (Jesaja 62,9). Der Herr kommt, um alle Völker und Sprachen zu sammeln, und sie werden kommen und seine Herrlichkeit sehen (Jesaja 66,18; vgl. Johannes 1,14; 2,11):

66,18 Ich kenne ihre Werke und ihre Gedanken und komme, um alle Völker und Zungen zu versammeln [synagagein], dass sie kommen und meine Herrlichkeit sehen.

Jeremia, Hesekiel und Baruch führen das Thema der Wiederherstellung, Sammlung und Rückkehr fort. Die Völker werden sich zu Jerusalem, dem Thron Gottes, versammeln (Jeremia 3,17). An mehreren Stellen wird das Thema von Gott als Hirte, der seine Herde weidet, weitergeführt (Jeremia 38,10 LXX; Micha 2,12). In Hesekiels Vision weidet Gott sein Volk auf den Bergen Israels (Hesekiel 34,13):

34:13 Ich will sie aus den Völkern [ek tōn ethnōn] herausführen und aus den Ländern [apo tōn chōrōn] sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und wo immer sie wohnen im Lande.

Der letzte Vers belegt übrigens neben der von Veerkamp zitierten Stelle Jeremia 16,15, dass mit den chorai in Johannes 4,35 die „Länder“ zu verstehen sind, aus denen Israel gesammelt wird, und nicht „Felder“ im Rahmen einer von der konkreten Israel-Thematik abgelösten abstrakten Ernte-Metapher.

Edmund Little bliebe sich selber allerdings nicht treu, wenn er seine so zutreffend geschilderten Hintergründe der johanneischen Sammlung Israels in den jüdischen Schriften nicht letztendlich doch christlich umdeuten würde (151f.):

Die Speisung des Volkes rekapituliert die Speisungswunder der Vergangenheit und etabliert Jesus als König, Hirte und Ernährer Israels, in dem sich die Prophezeiungen der Wiederkunft teilweise erfüllen. Die Brotrede hebt die Erfüllung solcher Prophezeiungen auf eine höhere Ebene. Jesus organisiert nicht die Rückkehr eines Volkes an einen bestimmten Ort in Israel. Er wird sie am letzten Tag in die einzige Heimat, das einzige Land von Bedeutung erheben: das Leben in und mit Gott, in und durch Jesus selbst.

In einer Hinsicht hat Little Recht: Der johanneische Jesus organisiert nicht die Rückkehr der Nation nach Israel und will auch kein König nach Art der Hasmonäer oder Zeloten werden. Es ist eine zentrale Einsicht aller jüdischen Messianisten, die auf Jesus als den Messias Israels glauben, dass unter den römischen Bedingungen der weltweiten Sklaverei ein Leben nach der Tora getrennt von den Völkern nicht mehr möglich ist. <136>

Aber die entscheidende Frage ist, ob Jesus deswegen wirklich die jüdischen Prophezeiungen insofern auf eine „höhere Ebene“ erhebt, als er ihre Erfüllung ins Jenseits verschiebt. Damit wird zugleich impliziert, dass nur derjenige in den Himmel kommt, der an Jesus glaubt. Und da die meisten Juden das nicht tun, werden sie in die Hölle verdammt.

Was wäre aber, wenn der johanneische Jesus von den jüdischen Prophezeiungen her tatsächlich die römische Weltordnung einem radikalen Gericht unterzieht und den Fürsten dieser Welt, den Kaiser, für abgesetzt erklärt? Das mag illusorisch klingen, aber der Messias kann genau dieses unmögliche Wunder, auf das alle seine Zeichen hindeuten, im Sinn gehabt haben: agapē – also Liebe im Sinne einer Solidarität des freiwilligen Sklavendienstes füreinander – ist dazu im Stande, jede Ausbeutung und Unterdrückung – durch welches politische, religiöse oder weltanschauliche System auch immer – bloßzustellen, zu ächten und zu überwinden.

2.4.8 Brot, das nicht verderben soll, und Menschen, denen das Verderben droht

Auch (152) der Ausdruck hina mē ti apolētai in Johannes 6,12 hat nach Edmund Little eine doppelte Bedeutung: „Wie das Sammeln von Brot zu einem Sammeln von Menschen wird, so impliziert auch der ‚Verlust‘ von Brot den Untergang von Menschen“.

Was mit apollymi genau gemeint ist, ist gar nicht so einfach zu bestimmen. Little macht auf die „Vielfalt der Bedeutung des Verbs“ aufmerksam, die sich in „unterschiedlichen Übersetzungen“ widerspiegelt; ich nenne nur: „damit nichts umkommt“ in der Lutherübersetzung, „damit nichts verdirbt“ in der katholischen Einheitsübersetzung und „damit nichts verloren geht“ in der Zürcher Bibel. Little erwähnt noch die New International Version mit der Übersetzung „that nothing gets wasted“, „dass nichts verschwendet wird“.

Bereits in 3,16 war das Wort im Johannesevangelium zum ersten Mal verwendet worden, um, wie Little meint, „das ‚Verlieren‘ oder ‚Vergehen‘ eines menschlichen Wesens im Gegensatz zum Leben in Jesus“ auszudrücken:

3,16 Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden [mē apolētai], sondern das ewige Leben haben.

Wie Ton Veerkamp diesen Vers auslegt, davon war oben im Abschnitt 2.4.5.2 ausführlich die Rede gewesen. Edmund Little legt ihn im Zusammenklang mit Johannes 12,6 auf seine eigene Weise aus:

Das Brot ist in Menschen verwandelt worden. In der Rede wird das Brot in das Fleisch Christi verwandelt, das die Menschen essen müssen, um ewiges Leben zu haben. Das Brot des Fleisches Christi steht im Gegensatz zur Nahrung, die verdirbt (Johannes 6,27):

6,27 Müht euch nicht um Speise, die vergänglich ist, sondern um Speise, die da bleibt zum ewigen Leben…

Indem Jesus in Johannes 6,39 „unpräzise“ davon spricht, „dass er nicht alles verliert, was ihm vom Vater gegeben wurde, und dass er es am letzten Tag auferweckt“ (153), sind „die Esser des Brotes und das Brot, das gegessen wird, wieder miteinander verschmolzen“.

In Jesu „Rede über den Guten Hirten“ findet Little sogar zwei Anklänge an Johannes 6,12, außer apollymi auch das an die übrige Brocken, perisseusanta klasmata, erinnernde Wort perisson:

10,10 Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen [apolesē, „zu zerstören, verderben“]. Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und volle Genüge [perisson, wörtlich: „übermäßig“].

Überhaupt zieht sich nach Little (Anm. 466)

das Thema der Verdammnis im Gegensatz zum Leben mit Christus durch das ganze Evangelium. Jesus wird seinen Schafen das ewige Leben geben. Sie werden niemals verderben (Johannes 10,28). Wer sein Leben liebt, wird es verlieren, und wer sein Leben in der Welt hasst, wird es zum ewigen Leben bewahren (12,25). Jesus hütet seine Herde im Namen des Vaters. Niemand ist verloren, außer dem Sohn des Verderbens (17,12), was wiederum in 18,9 zitiert wird.

Von (153) diesen „früheren und späteren Äußerungen“ her beurteilt Little „das Speisungswunder als ein Zeichen von großer Komplexität“. Er bringt es in einen Zusammenhang mit der Versorgung des Volkes Israel mit „leiblichem Essen und Trinken … auf ihrer Reise in das gelobte Land“:

Der Volksmenge in Galiläa wird Brot gegeben, das eingesammelt werden muss, damit es nicht verdirbt. „Sammeln“ bezieht sich meistens und „verderben“ immer auf lebendige, insbesondere menschliche Wesen. Im Exodusbericht wird das Manna von Maden befallen und verdorben, als das Volk Mose nicht gehorcht (2. Mose 16,20). Die Wachteln im 4. Buch Mose verderben nicht, aber die Menschen, die sie essen, sterben zur Strafe für ihre Gier (4. Mose 11,33). Jesu Hinweis auf Verderben oder Verlust ist ein Echo auf das verderbliche Brot in der Wüste, aber es gibt keine lexikalische Parallelität, die die Verbindung verstärkt. Ein genauerer Blick auf das Verb im Alten Testament könnte bei der Auslegung helfen.

Auch dort wird es für Menschen verwendet.

Wieder ist die Frage zu stellen, ob Johannes tatsächlich alle Bibelstellen im Hinterkopf hatte, in denen das Wort auftaucht. Little findet es „in Abrahams heiklen Verhandlungen mit Gott über die Anzahl der Gerechten, die benötigt werden, um eine Stadt vor der Zerstörung zu retten“ (1. Mose 18,24-32). Vor allem aber wird es (154) im 3. Buch Mose als Strafandrohung für kultische und andere Vergehen verwendet und im 4. und 5. Buch Mose für „die Vernichtung feindlicher Nationen durch Gott oder die Vernichtung Israels selbst als Strafe für Ungehorsam“. Daraus zieht Little einmal mehr weitreichende Schlüsse:

Die Verwendung dieses Verbs erfüllt denselben Zweck wie „zählen“ und „sammeln“: Es erhebt das Wunder der Speisung zu einem nationalen und eschatologischen Ereignis, das an die Befreiung Israels aus Ägypten, den Empfang des Gesetzes und den Einzug in das verheißene Land erinnert.

Bis zu diesem Punkt kann ich mit Little mitgehen. Tatsächlich geht es dem johanneischen Jesus um die erneute Befreiung Israels aus einem neuen Ägypten, nämlich der weltweiten Versklavung unter der römischen Weltordnung, um deren Überwindung durch das neue Gebot der agapē, in dem die befreienden Impulse der Tora auf den freiwilligen Sklavendienst füreinander hin konzentriert werden, und um die tätige Erwartung der kommenden Weltzeit von Gerechtigkeit und Frieden.

Little dagegen verfolgt wieder andere Wege, indem er unvermittelt behauptet:

Das Wunder rekapituliert diese Geschichte und übertrifft sie.

Eine wirkliche Begründung dafür bleibt er jedoch schuldig. Nichts von seinen folgenden erläuternden Sätzen leitet er von den zuvor aufgeführten Belegen im Alten Testament her ab. Stattdessen entwickelt er unverdrossen, als ob sie sich wie von selbst aus dem bisher Gesagten ergeben würde, seine eucharistische Theologie der rituellen Identität des Brotes der Speisung zunächst mit dem Volk und dann vor allem mit dem Leib und dem Leben Christi:

Das Brot wird mit dem Volk identifiziert, als Vorspiel für seine spätere Identifizierung mit Christus, dem Brot des Lebens. Das Angleichungsmotiv der Brotrede wird durch das Wunder vorweggenommen. Das Volk wird mit dem Brot, das es gegessen hat, identifiziert, denn das Brot ist, wie die Rede deutlich macht, der Leib und das Leben Christi. Weiterentwickelt wird dieses Thema der organischen Einheit später in den Bildern vom Weinstock und den Reben und im Hohepriesterlichen Gebet, dass die Jünger mit Jesus und dem Vater eins sein mögen, wie Vater und Sohn eins sind (Johannes 17,21).

Erst an dieser Stelle reicht Little so etwas wie einen argumentativen Beleg für seine Behauptungen nach:

Das Konzept der organischen Einheit ist nicht neu. Bei der Schöpfung sollen Adam und Eva ein Fleisch werden (1. Mose 2,24) (155):

… und sie werden sein ein Fleisch [… kai esontai hoi dyo eis sarka mian].

Das Essen des Fleisches Jesu bedeutet eine noch innigere Verbindung mit Gott durch Jesus.

Sehr unwahrscheinlich ist es jedoch in meinen Augen, allein auf Grund der Vokabel sarx, „Fleisch“, eine solche Parallelität der geschlechtlichen Vereinigung von Mann und Frau mit einem angeblich rituellen Verzehr des Fleisches Jesu vorauszusetzen.

Edmund Little beschließt die Untersuchung des Wortes apollymi mit dem Fazit:

Das Brot der mosaischen Sage war Nahrung für die Reise ins Gelobte Land. Das Brot am Galiläischen Meer ist eine Speise, die den Eintritt in das Gelobte Land Christi ermöglicht, der Weisheit, König, Leben und Gott ist. Die Bedingung für den Eintritt ist der Gehorsam gegenüber dem Gesetz Christi. Wer sich weigert, sein Brot zu „essen“, wird von der Quelle des Lebens abgeschnitten. Wie die Rebe, die keine Frucht bringt, wird er „gesammelt“ und ins Feuer geworfen (Johannes 15,6).

Auf diese Weise versucht Little, ein traditionelles Verständnis des christlichen Abendmahls auf alttestamentlichen Voraussetzungen aufzubauen. Aber das kann nicht gelingen. Die Vorstellung vom Gelobten Land verschiebt er von diesseitiger Befreiung und Gerechtigkeit zum jenseitigen Himmel. Den Gehorsam gegenüber dem jüdischen Gesetz ersetzt er durch Jesu angebliches Gesetz, „sein Brot zu ‚essen‘“, wobei er weder die Tora angemessen im Sinne einer Disziplin der Freiheit begreift noch Jesu Neuausrichtung der jüdischen Tora auf das zentrale Gebot der agapē als einer Solidarität des freiwilligen Sklavendienstes füreinander. So wie er es formuliert, muss man annehmen, dass jeder Mensch, der das christliche Abendmahl verschmäht, dem Tode verfallen ist, und zwar im Sinne des ewigen Feuers der Gottesferne und Verdammnis.

Tatsächlich kann Johannes von den jüdischen Schriften her meinen, dass unter den neuen Bedingungen der weltweit herrschenden römischen Weltordnung das Gelobte Land diesseitiger Befreiung nur noch durch das radikale Vertrauen auf den Messias Jesus, der am Kreuz der Römer starb, erreicht werden kann. Was in diesem Zusammenhang das Kauen des Fleisches des Messias bedeutet, ist oben in einem ausführlichen Zitat von Ton Veerkamp am Ende des Abschnitts 2.3.3 erläutert worden. Auch innerhalb einer solchen Auslegung kann davon die Rede sein, sich selbst von der Quelle des Lebens abzuschneiden. Das gilt dann aber nicht für Menschen, die sich einem bestimmten Ritual oder Glaubensbekenntnis verweigern, sondern die ohne Liebe ein unsolidarisches Leben führen.

2.4.9 Der Überfluss des Übrigen

Einen wichtigen Unterschied (155) entdeckt Edmund Little zwischen dem „Speisungswunder Jesu“ und dem Manna-Wunder im „mosaischen Modell“:

Den Israeliten in der Wüste wurde eine bestimmte Ökonomie auferlegt. Diejenigen, die mehr gesammelt hatten, hatten nicht zu viel, und diejenigen, die weniger gesammelt hatten, hatten nicht zu wenig. …

Diejenigen, die Mose nicht gehorchen und für den nächsten Tag sammeln, stellen fest, dass die Nahrung von Maden befallen ist (2. Mose 16,20). Wenn sie am sechsten Tag die doppelte Menge sammeln, um für den Sabbat vorzusorgen, bleibt das Brot gut (2. Mose 16,24). Das steht im Gegensatz zu dem Wunder in Galiläa, wo absichtlich ein Überangebot erzeugt wird (Johannes 6,13):

6,13 Da sammelten sie und füllten zwölf Körbe mit Brocken von den fünf Gerstenbroten, die denen übrig blieben, die gespeist worden waren.

Little überlegt nun, ob dieses Überangebot auch bei Johannes mit dem Vorrat für einen Sabbat zu tun haben könnte, und denkt daran, dass

Johannes der einzige Evangelist ist, der den gekreuzigten Herrn mit einem besonderen Sabbat in Verbindung bringt (19,31), ebenso wie er der einzige Evangelist ist, der das Vermehrungswunder mit dem Passahfest verbindet. Die Anklänge sind zu schwach, um eine klare Botschaft zu vermitteln, aber nicht so schwach, um völlig ignoriert zu werden. Es lässt sich zumindest vermuten, dass die mögliche Verbindung dieses Passahwunders mit dem Sabbat das Passah und den Sabbat des Todes des Herrn vorwegnimmt.

2.4.9.1 Opferreste, die verbrannt werden müssen, und das Lamm Gottes ohne zu verbrennende Reste

Deutlichere Parallelen findet Little auf den ersten Blick im „Vermehrungswunder des Elisa“ (156) in 2. Könige 4,43-44 und im „Wunder der Großzügigkeit“ von Ruth 2,14. Aber dort steht ein anderes Wort für „übrigbleiben“ als in Johannes 6,12-13:

kataleipō und perisseuō haben jedoch unterschiedliche Schwerpunkte. kataleipō, das im Alten Testament fast dreihundertmal vorkommt, bedeutet „übrigbeiben“ im Sinne von etwas, das von der Hauptmenge abweicht, ein Rest, der entsorgt, vernichtet und manchmal verzehrt wird. Wenn es auf Menschen angewandt wird, bezeichnet es diejenigen, die nach einer Schlacht oder einem Massaker übrig geblieben sind, wie nach der Durchquerung des Schilfmeers, als vom Heer des Pharao nicht ein einziger übrig blieb (2. Mose 14,28). perisseuō kommt nur neunmal vor, mit der Bedeutung von Vermehrung und Überfluss, die sich auch im Neuen Testament findet. Alle Evangelisten, mit Ausnahme von Markus, verwenden es im Zusammenhang mit dem Speisungswunder.

Warum verwendet Johannes nicht dieses Wort kataleipō, so fragt Little, da es doch „in der Speisungserzählung des Exodus vorkommt, wenn Mose dem Volk verbietet, mehr Manna zu nehmen, als es braucht (2. Mose 16,17-18), und wenn es ihnen erlaubt wird, vor dem Sabbat zusätzliche Mengen zu sammeln (2. Mose 16,23)“?

Auf der Suche nach einer Erklärung dafür betrachtet Little (156f.) die strengen „kultischen Vorschriften“ der jüdischen Tora „für die Beseitigung von Überresten“ des Passahlamms oder „anderer Arten von Opfern“:

Es war verboten, bis zum Morgen Reste übrig zu lassen. <137> Alles, was übrig blieb, musste verbrannt werden (2. Mose 12,10). … Kein Knochen des Passahlammes soll zerbrochen werden, und keiner soll bis zum Morgen übrigbleiben (4. Mose 9,12). Die kultischen Vorschriften für andere Opferarten sahen ebenfalls strenge Regeln für die Beseitigung von Überresten vor. Fleisch und Brot, die vom Weiheopfer der Priester übrig bleiben, müssen verbrannt und dürfen nicht gegessen werden, weil sie heilig sind (2. Mose 29,34). Mit diesem einen Verb könnte Johannes durchaus das mosaische Speisungswunder heraufbeschworen und Jesus noch stärker als einen zweiten Mose, einen zweiten Elisa und als Passahlamm etabliert haben.

Noch immer ist also nicht erklärt, warum Johannes auf das Verb kataleipō verzichtet, obwohl Little zufolge die „Opferbedeutung des Brotes“ auf der Hand liegt. Das begründet er mit dem Wort „bebrōkosin, dem Partizip Perfekt von bibrōskō“, für diejenigen, die „gespeist“ worden waren, das im Neuen Testament nur an dieser einzigen Stelle in Johannes 6,13 vorkommt, im Alten Testament aber häufig „im Zusammenhang mit dem Verzehr des Fleisches eines Opfertieres“ verwendet wird:

Der Verzehr des Brotes durch die Menge in Galiläa nimmt den Charakter eines Opfermahls an, eine Vorausdeutung der Rede, die ihrerseits wohl sowohl als Vorausdeutung als auch als Kommentar zur Eucharistie dient.

In dieser Argumentation unterschlägt Little allerdings, dass das Wort bibrōskō in mindestens der Hälfte aller alttestamentlichen Belegstellen auch die neutrale Bedeutung von „essen“ außerhalb des Opferkultes haben kann.

Nun endlich kommt Little auf die Besonderheit des übrig gebliebenen Brotes in Johannes 6,12-13 zurück. Hier (157f.)

im Vermehrungswunder sind die Reste nicht nur erlaubt, sondern werden sogar hervorgehoben. Das Brot in den zwölf Körben ist so reichlich wie der Wein von Kana, die Quellen lebendigen Wassers und der Fischfang. perisseuō ersetzt kataleipō, weil das Brot, wie das Leben, das es bringt, unerschöpflich und unvergänglich ist (Johannes 10,10):

10,10 Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen. Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben [zōēn echōsin] und volle Genüge [perisson echōsin].

Und nun trumpft Little mit einer bestechend plausiblen Erklärung für das Problem auf, dass beim Speisungswunder Brot im Übermaß übrig bleiben darf, während die Reste des Passahlamms verbrannt werden müssen (158):

Das neue Lamm Gottes hat keine Reste, die verbrannt werden müssen. In seiner ständigen Selbsthingabe als Weisheit, Wort und Eucharistie ist Jesus die unerschöpfliche Quelle des Lebens und von allem, was gut ist. Johannes weicht bewusst von alttestamentlichen Vorbildern ab, um den Unterschied zwischen Jesus und seinen Vorgängern zu unterstreichen.

Kann es also sein, dass Little doch Recht hat mit seiner eucharistischen Opfertheologie?

Schaut man allerdings genauer hin, dann fällt diese Argumentation doch wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Es ist schon sehr konstruiert, die Brote, von denen ganze zwölf Körbe mit Brocken übrig bleiben, mit dem Brotleib Jesu Christi zu vergleichen, der keine Reste hinterlässt. Oder anders herum gedacht: Würde Johannes dermaßen ritualistisch denken, wie Little es voraussetzt, dann müsste er doch wissen, dass die Reste vom Passahlamm oder von anderen Opfern nicht verbrannt wurden, weil sie aus reinem Abfall bestanden; gerade das, was noch hätte gegessen werden können, wurde verbrannt, die Knochen wurden nicht einmal zerbrochen. Littles Beweisführung geht also bereits unterschwellig von dem Vorbehalt aus, den er belegen möchte, dass nämlich Johannes bewusst vom Alten Testament abweicht, weil Jesus das, was das Alte Testament zu bieten hat, himmelweit übertrifft.

2.4.9.2 Die Speisung Restisraels mit zwölf Körben und der „Tag eins“ einer neuen Schöpfung

Abgesehen davon gibt es andere Möglichkeiten, das Übrigbleiben der Brocken in so großem Maß zu erklären, dass man zwölf Körbe davon füllen konnte. Die Zahl Zwölf, auf die Little überhaupt nicht eingeht, mag dabei eine entscheidende Rolle spielen, worauf Ton Veerkamp <138> hinweist:

Genau zwölf Körbe mit Brotbrocken sind es, die übrigbleiben. Auf alle Fälle bedeutet zwölf Israel, jenes Restisrael der zwölf Schüler Jeschuas. Das Verb perisseuein (übrigbleiben) kommt vom Adjektiv perissos und das steht wiederum für jether, „Rest“. Johannes verwendet ein Wort, das in der Erzählung über das Manna in Exodus 16 fehlt; dort haben wir pleonazein, „Überschuss haben“. Der Messias produziert keinen Überschuss, sondern er ernährt den Rest Israels, jenen Rest, der bei den Propheten immer der Ausgangspunkt für einen Neuanfang war. <139> Es geht um Rest-Israel.

Auch diese Argumentation enthält eine Unsicherheit, denn Veerkamp geht nur auf den Unterschied zwischen perisseuō und pleonazō ein, und scheint ersteres als gleichbedeutend mit dem Wort kataleipō zu betrachten, wie es von Little oben erklärt wurde. An der einzigen Stelle der jüdischen Schriften, wo perisseuō in Parallele zum hebräischen Text vorkommt, nämlich in 1. Samuel 2,36, steht es allerdings tatsächlich für das hebräische Wort jathar, „übrig bleiben“, und zwar bezogen auf die Nachkommen des Priesters Eli.

Behält man die zwölf Stämme Israels im Blick, die mit den Resten der fünf Brote – die auf die in ihrer befreienden Bedeutung nicht überholte Tora hinweisen mögen – gespeist werden, dann geht es in dem Wort perisseuō jedenfalls nicht um einen Überschuss des religiösen Luxus, sondern um das, was Israel braucht, und das entspricht genau dem Sinn der Manna-Erzählung im 16. Kapitel des 2. Buch Mose.

In diesem Zusammenhang mag auch die oben erwähnte Überlegung von Little, ob das übriggebliebene Brot einen Vorrat für den Sabbat darstellen könnte, neu in den Blick kommen: Immerhin spielt der Sabbat im Johannesevangelium mehrfach eine ganz spezielle Rolle. Seine Heilung am Sabbat begründet Jesus (5,17) damit, dass er wie der Gott Israels als der von ihm gesandte Messias noch immer Werke vollbringen muss; das heißt: der Tag, an dem Gott von seinen Werken ruhen könnte, ist noch nicht angebrochen. <140>

Am Ende seines Evangeliums bezeichnet Johannes zwei Mal (20,1.19) den Tag der Auferweckung Jesu mit einer sonderbaren Formulierung: tē de mia tōn sabbatōn und opsias tē hēmera ekeinē tē mia sabbatōn, „am (Tag) eins der Sabbate“ bzw. „am Abend jenes Tages eins (der) Sabbate“. Deutsche Bibelübersetzungen sprechen hier in der Regel unpräzise vom „ersten Tag der Woche“; dabei sollte die Verwendung der Kardinalzahl mia, „eins“, statt der Ordinalzahl protē hēmera, „erster Tag“, darauf aufmerksam machen, dass Johannes hier den „Tag eins“ einer neuen Schöpfung beschreiben will, <141> der durch das Aufsteigen des getöteten Messias zum VATER anbrechen kann. Es ist nicht unmöglich, dass Johannes mit den bei der Speisung der Fünftausend übriggebliebenen zwölf Körben auf den baldigen Anbruch dieses neuen Sabbat anspielt, der zugleich als die Feier eines neuen Passah der Befreiung Israels oder der messianischen Hochzeit oder des ewigen Lebens der kommenden Weltzeit verstanden werden kann.

2.4.9.3 Präzedenzfälle im Alten Testament für Menschen, die gefressen werden

Zurück zu Littles Interpretation von Johannes 6,12-13. Er trägt aus zahlreichen Belegstellen in den jüdischen Schriften noch eine ganze Menge mehr an herausforderndem Material zusammen, das seine Position zu untermauern scheint, es gehe im Speisungswunder und in der anschließenden Brotrede um die Einsetzung erst des einen und dann sogar beider Elemente des christlichen Abendmahls (158):

Solche Anklänge an die Opfersprache bereiten den Weg für Jesu radikalste Abkehr vom alttestamentlichen Gesetz: das Gebot, sein Fleisch und Blut zu essen und zu trinken (Johannes 6,53.54.56). Jünger und Leser finden es „hart“ zu hören (6,60), aber Jesus macht lediglich explizit, was in dem Vermehrungswunder implizit war. Die Idee erscheint zunächst neu und für die Zuhörer Jesu abstoßend. Dennoch gibt es im Alten Testament einen Präzedenzfall für das „Essen“ von Menschen, ihrem Fleisch und ihrem Blut. Der Verzehr von Blut war verboten, weil es das Leben des Tierfleisches enthält (5. Mose 12,23; 3. Mose 17,14). Die Strafe für den Verzehr von Blut war, vom Volk ausgestoßen zu werden (3. Mose 7,27; 17,10.14). Das Leben im Blut macht die Sühne wirksam (3. Mose 17,11). Indem Jesus seinen Jüngern befiehlt, sein Fleisch (sarx) zu essen (Johannes 6,53.54.56), spielt er eindeutig auf das levitische Verbot an (3. Mose 17,11.14), und missachtet es auf skandalöse Weise.

Am Ende des Abschnitts 2.3.3 hatte ich bereits Ton Veerkamps Auslegung zitiert, derzufolge „mit diesem Ausdruck Fleisch essen eine vollständige Identifikation mit der politischen Existenz Jeschuas [Jesu], unbedingte Nachfolge auf dem Weg des Messias“ gemeint ist. In seinen Augen lässt Johannes sich zu derart provokativen Äußerungen hinreißen, weil die Gruppe, der er angehört, in ihrer sektenhaften Radikalität jede Anstrengung für müßig hält, um von Gegnern oder gar von skeptischen Anhängern in ihren Anliegen verstanden zu werden.

In diesem Punkt bin ich allerdings mit Veerkamp nicht ganz einverstanden. Ich sehe auch, dass Johannes mit einer provokativen Sprache oft sogar absichtlich zu Missverständnissen Anlass gibt. Aber Provokation um der Provokation willen ist nirgends seine Sache. So wird etwa der Sinn der provokativen Aussage über das Abreißen und Aufrichten des Tempels in drei Tagen (Johannes 2,18-22) zumindest den Schülern Jesu später klar, und die Skepsis des Schülers Thomas wird von Jesus mehrfach respektvoll aufgenommen und beantwortet (14,5; 20,24-28). Daher sollten auch die schockierenden Äußerungen zum Kauen des Fleisches und Trinken des Blutes des Messias nicht als bloße Provokation in einer Situation verstanden werden, in der man jede Diskussion mit Gegnern oder Skeptikern für aussichtslos hält.

Ich selber habe andernorts versucht, den Sinn der Äußerungen des johanneischen Jesus als polemisch-ironische Übertreibung ritueller Abendmahlspraktiken anderer messianischer Gemeinden zu begreifen: <142>

Kann es sein, dass Johannes in Kenntnis von kannibalischen Praktiken die ihm ebenfalls bekannten Riten anderer messianischer Gemeinden provokativ übertreibt, gerade um dem Missverständnis entgegenzuwirken, es handle sich dabei um Mysterienkulte? Schleudert er ihnen die Frage entgegen, ob sie tatsächlich den Messias essen wollen, so wie die Heiden in ihren abscheulichen Ritualen? Ihr esst das Brot des Lebens, trinkt das Blut des Bundes? Dann esst tatsächlich sein Fleisch, trinkt tatsächlich sein Blut, Jesus wird ja ermordet, geschlachtet am römischen Kreuz, verraten und ausgeliefert von Menschen aus seinem eigenen Volk. Wer ihm nachfolgt, läuft Gefahr, dasselbe Schicksal zu erleiden! Wollt ihr tatsächlich eins sein mit diesem Fleisch, mit diesem blutigen Ende am Kreuz?

In dieser Interpretation sehe ich mich bestätigt durch Edmund Littles Hinweise (158f.) auf weitere

alttestamentliche Texte, in denen das Essen von Fleisch und das Trinken von Blut ein Akt menschlicher und göttlicher Rache ist. <143> Der Psalmist spricht von Übeltätern, die Gottes Volk auffressen, als würden sie Brot essen (Psalm 14,4; 53,4). Dieses Bild schafft einen Präzedenzfall dafür, dass Jesus das Brot mit seinem Leib und später mit seinem Blut identifiziert. Diejenigen, deren Fleisch und Blut gegessen wurde, waren Opfer ihrer Feinde. Auch Jesus ist ein Opfer seiner Verfolger, „gefressen“ von seinem eigenen Volk, den Herrschern Israels.

Tatsächlich mögen solche Texte der jüdischen Schriften im Hintergrund der provokativen Äußerungen Jesu stehen, zumal im Johannesevangelium häufig davon die Rede ist, dass seine judäischen Gegner ihn töten wollen (Johannes 5,18; 7,1.19.20.25; 8,37.40; 11,53). Außer Acht lässt Little allerdings, dass Johannes die Ioudaioi, „Judäer“ oder „Juden“, insofern als Gegner betrachtet, als sie mit dem eigentlichen Feind des Volkes Israel, der römischen Weltordnung, in verwerflicher Weise kollaborieren, bis dahin, dass (Johannes 19,15) die Priesterschaft den Kaiser Roms als einzigen König Israels anerkennt und sich diejenigen, die den Messias Jesus töten wollen (8,44), diesem Kaiser – der doch Israels Widersacher, diabolos, hebräisch satan, ein Menschenschlächter und Betrüger ist – wie einem ihr Handeln bestimmenden Vater unterwerfen.

2.4.9.4 Jesu Tod am Kreuz als bewusst auf sich genommenes Sühneopfer, um die Verirrung der Weltordnung aufzuheben

Aus einer von fremden Mächten aufgezwungenen Opferrolle wird aber (159), so schlussfolgert Little, indem Jesus seinen Tod am Kreuz bewusst auf sich nimmt, ein Opfer in dem anderem Sinn eines Sühneopfers:

Dass er sich im Gehorsam Gott unterwirft, erinnert an die Gelegenheiten im Alten Testament, bei denen Gott sein Volk zur Strafe „verzehrt“. <144> Die sühnende Funktion des Blutes in den alten Opfern, die „Befreiung“ vom Tod durch das Blut des Passahlammes, ist nun die Funktion seines eigenen Sühneopfers.

Diese beiden Gedanken müssen in ihrer Bedeutung sorgfältig bedacht werden.

Tatsächlich erklärt Jesus in Johannes 10,17-18 ausdrücklich, dass niemand sein Leben, seine Seele, tēn psychēn mou, von ihm wegnimmt, sondern er setzt sie von sich aus ein, was Ton Veerkamp <145> auf folgende Weise kommentiert:

Die einzige und eigentliche Aufgabe seiner Seele, seine Lebensaufgabe, ist es, die Seele, das Leben, für die Schafe einzusetzen. Der Tod des Messias als die extremste Form seines Seeleneinsatzes (die Seele wegheben, airein) geschieht nicht, weil die, die ihn töten, dazu die Vollmacht (exousia) hätten, sondern weil er selbst – und ungehindert durch andere – diesen Weg ging, er setzt die Seele von sich selbst ein. Dazu hat er die Vollmacht, damit ist er beauftragt, und zwar so, dass er diesen Auftrag von sich selbst annimmt. Sein Lebensweg ist die Folge des Auftrags, den der Gott Israels ihm gab; der Auftrag, seine Lebensaufgabe, seine Seele, anzunehmen, ist seine Entscheidung. Der Zweck dieser Argumentation ist es, den Menschen klarzumachen, dass die Ermordung des Messias kein Zeichen seiner politischen Schwäche war, sondern dass er diesen Weg von sich selbst aus geht. Dazu hat er die Vollmacht.

Nach Ton Veerkamp (siehe nochmals seine Auslegung von Johannes 6,51-58, die ich in Abschnitt 2.3.3 ausführlich zitiert habe) ist es genau diese Entscheidung des Messias, bewusst sein Leben am römischen Kreuz der Schande hinzugeben, die Jesus mit seinen Worten vom Kauen seines Fleisches und Trinken seines Blutes in ihrer dem menschlichen Selbsterhaltungstrieb unerträglichen Grausamkeit und Grässlichkeit vor Augen führt.

Ich denke immer noch nicht, dass Johannes mit diesen Worten den rituellen Genuss von Fleisch und Blut Jesu in Form des Abendmahls fordert, dazu spricht er wörtlich genommen zu abstoßend vom Fleischfressen und Blutsaufen. Aber gerade in dieser provozierenden Zuspitzung mag Johannes klarzumachen versuchen, welche Herausforderung es für den heiligen, befreienden NAMEN des Gottes Israels bedeutet, die Verirrung der gesamten Weltordnung zu tragen, aufzuheben, zu überwinden (vgl. Johannes 1,29). Seine Solidarität mit dem unter der Weltordnung als einem neuen Ägypten versklavten Israel geht soweit, dass er sich selbst in dem Messias, der seinen NAMEN verkörpert, aufs Spiel setzt, bis zur Hingabe seines Lebens. <146> Insofern halte ich es nicht einmal für ganz ausgeschlossen, dass Johannes mit dem Blut des Messias auch auf die sühnende Kraft des im Opferblut enthaltenen Lebens (3. Mose 17,11) anspielt. Aber der jüdisch-messianisch denkende Evangelist Johannes kann damit nicht die Vorstellung verbunden haben, wortwörtlich in rituellem Sinn das Blut des Messias zu trinken.

Edmund Little ist stattdessen davon überzeugt, dass der johanneische Jesus genau in diesem Sinne der Vorschrift eines neuen christlichen Abendmahlsritus ganz bewusst entscheidende Verbote und Gebote der Tora aufhebt bzw. umkehrt und sie gerade dadurch zur eigentlichen Erfüllung bringt:

Die Umkehrung der alttestamentlichen Verbote ist ein Skandal <147>, und der Skandal ist ein wesentlicher Bestandteil des Zeichens. Seine Jünger sollen seinen Leib essen und sein Blut trinken, und zwar aus demselben Grund, aus dem das Trinken von Tierblut verboten war. Sein Blut ist das Leben. Seinen Leib nicht zu essen und sein Blut nicht zu trinken, würde den Esser des Lebens Jesu berauben. Der Verzehr des Fleisches eines israelitischen Mitbürgers, einst das Zeichen der Strafe Gottes für Untreue, ist nun ein Zeichen der Gemeinschaft in der Einheit des Lebens Gottes geworden. Während der Verzehr von Blut einst eine Person aus der Gemeinschaft ausschloss, wird das Trinken des Blutes Jesu die Gläubigen am Leben des Vaters und damit am Leben der anderen teilhaben lassen. Ein Akt der Rache wird zu einem Akt der Liebe. Die Vernichtung eines Opfers führt zu neuem Leben für andere.

Unterschwellig enthalten diese Sätze wieder den Ton der Überlegenheit des Christentums über das Judentum. Dem strafenden Gott des Alten Testaments, der den „Verzehr des Fleisches eines israelitischen Mitbürgers“ als „Akt der Rache“ einsetzt, stellt Jesus das Trinken seines Blutes als einen „Akt der Liebe“ gegenüber.

Unverstanden bleibt dabei letztlich, was Littles letzter von mir zitierter Satz meint. Inwiefern kann die „Vernichtung eines Opfers zu neuem Leben für andere“ führen? Ton Veerkamp erläutert das, <148> indem er zum Verständnis des in der Regel mit „Sünde“ übersetzten biblischen Wortes hamartia betont, dass „hamartia nicht eine individuelle moralische Fehlleistung (Sünde)“ ist,

sondern das, was eine ganze Gesellschaft in die Verirrung führt. Wenn man das berücksichtigt, kann man auch die Opfertexte des Buches Leviticus verstehen; wenn man etwas tut, was die Gesellschaft beschädigt, kaputt macht, kann man dem nur gerecht werden, indem man Dinge, Tiere vernichtet. Das Wort „Sünde“ ist viel zu religiös, um die schriftgemäße Dimension von chatath/hamartia zum Ausdruck bringen zu können.

Genauer wird Veerkamp <149> in seiner Auslegung des Satzes Jesu in Johannes 20,23:

Wenn ihr irgendwelchen die Verirrungen vergebt,
mögen sie ihnen vergeben werden.

Was geschieht, wenn Verirrungen aufgehoben werden? In den ersten Kapiteln des Buches Leviticus wird über Verirrungen gesprochen. Der, der in die Irre gegangen ist, muss ein Opfer darbringen, er muss etwas vernichten, ein Handvoll Mehl verbrennen oder ein Tier schlachten. Er zeigt drastisch, dass durch seine Verirrungen etwas kaputtgegangen ist. Wenn er dieses Bewusstsein – mit einem drastischen Opfer – zeigt, wird die Verirrung bedeckt, und sie kann nicht länger ihre gesellschaftszerstörende Wirkung entfalten. Die Menschen können also wieder das tun, was ihre eigentliche Bestimmung von ihnen verlangt.

Das hebräische Verb chataˀ bedeutet so etwas wie „ein Ziel verfehlen“. „Vergeben“ bedeutet dann „wieder auf das ursprüngliche Ziel orientieren“. Wie gesagt, diese Neuorientierung kommt in der Schrift nur von Gott. … In der Tat: Verirrungen kann man nicht dadurch aus der Welt schaffen, indem man sie „vergibt“. Die ursprüngliche Bestimmung der Menschen wird wiederhergestellt, indem Gott, von dem diese Bestimmung kommt, sie wieder zur Bestimmung der Menschen macht. In der Vollmacht „Gottes“ kann das der Messias, und in der Vollmacht des Messias können es die vom Messias inspirierten Schüler. Anders gesagt: Nur wenn ein Mensch Gott und seine gesellschaftliche Ordnung – die Tora – wieder als sein alleiniges Ziel annimmt, „ist ihm vergeben worden“ (nisslach lo, aphethēsetai autō). Diese Vollmacht erteilt der Messias durch seine Inspiration der Heiligung den Schülern.

Von diesem „Sündenverständnis“ her muss man sich klarmachen, was die „Vernichtung eines Opfers“ wie des Messias Jesus in den Augen des Johannes bedeutet: Indem er sein Leben hingibt, haftet er stellvertretend für die Verirrung der gesamten Weltordnung und hebt sie auf, so dass die Tora, die Wegweisung des NAMENS, als Disziplin der Freiheit in Form des neuen Gebotes der agapē, Solidarität, weltweit die kommende Weltzeit des Friedens anbrechen lassen kann.

2.4.9.5 Stellt Christi neues Opfer eine Umkehrung des alten Bundes, der alten Rituale, des ganzen Alten Testamentes dar?

Wieder zurück zu Little. Von seiner ritualistischen Interpretation her (159) zieht er auch weitreichende Folgerungen für den Bund Gottes mit Israel:

Als Mose am Sinai den Bund mit Gott ratifiziert, besprengt er das Volk mit Opferblut, dem Blut des Bundes, gemäß den gesprochenen Worten (2. Mose 24,8). Die enge Verbindung von Zeichen und Bund wurde bereits erwähnt. Dieses Zeichen in Galiläa hat auch eine Bedeutung für den Bund. Ein neues Opfer wird sich für sein Volk darbringen, damit es zu Gott kommen kann.

Was ich bereits im Kapitel 2.2.1, insbesondere in Abschnitt 2.2.1.3 und Abschnitt 2.2.1.6, zum Thema des Bundes ausgeführt habe, will ich nicht wiederholen. Hier nur einige Bemerkungen zum letzten Satz, der in seiner unscharfen Ausdrucksweise verräterisch ist: Welches Volk hat Little hier im Blick? Das Volk Israel, das ohne Jesus als neues Opfer nicht mehr zu Gott kommen kann? Oder ein neues Volk, das sich Jesus an Stelle der Juden erwählt, weil sie sich gegen ihn entscheiden? Versteht man Jesus als ein Opfer im jüdisch-messianischen Sinn, den ich eben zu entfalten versucht habe, dann geht es nicht um ein zu-Gott-Kommen des Volkes Israel in einem spirituellen Sinn, sondern um die Aufhebung der Verirrung der Weltordnung, damit ein neues messianisches Zeitalter für Israel inmitten der Völker beginnen kann.

Zum Stichwort „neues Opfer“ erwähnt Little am Rande <150> „in Bezug auf den Menschensohn in Johannes 6,53…, dass Johannes, wann immer er den Titel ‚Menschensohn‘ verwendet, auf die Selbsthingabe am Kreuz und die damit verbundene Herrlichkeit verweist.“ Richtig ist, dass Johannes die Vorstellung vom Menschensohn aus Daniel 7, der als der menschlich Herrschende die Herrschaft der menschlichen Bestien ablöst, in dieser Weise aufgreift. Aber man begreift Jesus als den Menschensohn nicht wirklich, wenn man übersieht, dass er nach Daniel 7,18 auf „immer und ewig“ mit dem Volk „der Heiligen des Höchsten“, also Israel, verbunden sein wird. Und dass die Herrlichkeit bzw. Ehre, doxa, hebräisch kavod, des Gottes Israels als die Befreiung Israels zu verstehen ist, hatte ich bereits im Abschnitt 1.4.4 ausgeführt.

Little aber reiht unermüdlich weitere alttestamentliche Stellen aneinander, um zu belegen, für wie überholt er das Alte Testament einschätzt (159f.):

Eine weitere Umkehrung des alttestamentlichen Gedankens ist in Bezug auf das Passahfest festzustellen. Das Blut des Passahlammes hielt den Tod von den Türen der Israeliten fern. Im Jerusalem des ersten Jahrhunderts wurde das Blut an den Fuß des Altars gegossen, ebenso wie das Blut der Sündopfer. Das Blut Jesu, das sein Leben ist, verwandelt ein äußeres Ritual in eine innere Erfahrung. Durch die Vereinigung mit ihm und mit seinem Opfertod werden die Sünden vergeben und der Tod überwunden. In ihm werden die alten Riten wirksam, übertroffen und schließlich abgeschafft.

Hier singt klar und deutlich die Nachtigall der christlichen Überlegenheit über das Judentum. Bei genauem Hinschauen zeigen sich zwei nicht ganz stimmige Details.

Erstens begreift Little die Bewahrung der Erstgeburt Israels vor dem Tod durch das Blut des Passahlamms nicht im Rahmen des übergreifenden Geschehen der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei. Würde er das tun, dann könnte er möglicherweise wahrnehmen, dass Johannes zufolge auch Jesu Opfertod einer äußeren Erfahrung im Sinne der Befreiung von der weltweiten Sklaverei der römischen Weltordnung den Weg bahnen soll.

Zweitens argumentiert Little widersprüchlich im Blick auf Rituale. Einerseits soll Jesu Blut „ein äußeres Ritual in eine innere Erfahrung“ verwandeln. Andererseits zielt Littles gesamte Beweisführung auf das christliche Abendmahl als von Jesus verpflichtend eingeführtes Ritual des Essens und Trinkens seines Fleisches und Blutes. Insofern scheint das Christentum ein äußeres Opferritual genau in dem historischen Augenblick zum Dogma zu erheben, in dem das Judentum auf Grund der Zerstörung des Tempels gezwungen ist, sämtliche äußeren Opferrituale auf unbestimmte Zeit auszusetzen.

In einer Anmerkung (Anm. 497) zum vorletzten Satz des letzten Zitats bringt Little nebenbei noch ein weiteres Argument gegen eine nicht auf das Abendmahl bezogene Deutung von Johannes 6:

Die geballte Wirkung der kultischen und opferbezogenen Anklänge in der Vermehrungserzählung und -rede macht es schwierig, Dunn <151> zuzustimmen, dass „Essen“ und „Trinken“ einfach eine anschauliche Metapher für das Kommen zu und den Glauben an Jesus oder für das Annehmen seiner wahren Menschlichkeit ist. Das wahre Menschsein eines Menschen wird nicht dadurch entdeckt, dass man ihn isst, selbst wenn das Essen nur bildlich gemeint ist. Es ist kein Argument gegen den Doketismus.

Nun mag Dunn die genannten Metaphern nicht konkret genug auf den von römischen Soldaten gefolterten und blutig zerfleischten Körper Jesu und auf seine ganz bestimmte Mission bezogen haben, mit der ihn der Gott Israels in die Weltordnung sandte, um sie zu überwinden. Aber die Richtung seiner Deutung stimmt insofern, als niemand darum herumkommt, das Essen und Trinken von Fleisch und Blut Jesu metaphorisch zu verstehen. Auch Little kann es ja nicht wörtlich meinen. Und die Metapher des Kauens oder Fressens in Verbindung mit dem Wort sarx, „Fleisch“, weist sehr deutlich auf das hin, was in den jüdischen Schriften die Verletzlichkeit und Sterblichkeit der menschlichen Existenz ausmacht – und kann daher auch als Argument gegen ein doketisches Verständnis Jesu dienen, als ob der johanneische Jesus in der Herrlichkeit oder Ehre seines Aufsteigens zum VATER nicht wirklich ein von der römischen Soldateska geschundenes Kind Israels gewesen wäre.

In seinem Streifzug durch die Bibel stößt Little (160) auch in den Erzählungen von König David auf die Umkehrung eines alttestamentlichen Beispiels durch Jesus:

König David weigerte sich trotz seines Durstes, das Wasser zu trinken, das ihm seine drei Kämpfer gebracht hatten, weil sie ihr Leben riskiert hatten, um es aus einem Brunnen im Feindesland zu schöpfen. Ein solches Wasser zu trinken, so David, hieße, das Blut der Männer zu trinken, die es gebracht hatten (2. Samuel 23,17; 1. Chronik 11,19; 4. Makkabäer 3,15). Jesus ist, in einer weiteren Umkehrung des alttestamentlichen Beispiels, ein König, der sein Blut denen anbietet, die nach Erlösung dürsten. Der König, der das Blut seiner Untertanen verweigert, wird durch einen König ersetzt, der sein Blut seinen Untertanen anbietet. Der Gott, der sich weigerte, das Fleisch von Stieren zu essen und das Blut von Böcken zu trinken (Psalm 50,13), gibt nun sein eigenes Blut zu trinken.

Wieder meint Little, dass der johanneische Jesus bewusst auf alttestamentliche Beispiele zurückgreift, um sie umzukehren, und ich frage mich, ob Johannes prinzipiell so gedacht haben kann, wenn er doch den Messias Jesus als die Verkörperung des Gottes Israels betrachtet und nicht als einen mit Gott identischen Menschen, der das Bild des alttestamentlichen Gottes entscheidend verändert.

Dafür, dass Johannes wirklich die hier angeführten Stellen aus dem davidischen Heldenepos kritisch in den Blick genommen haben könnte, spricht allenfalls, dass er ohnehin gegenüber David eine große Zurückhaltung an den Tag legt.

Was den Psalmvers betrifft, lässt Little außer Acht, dass er eine opferkritische Haltung widerspiegelt, die sich auch bei den meisten Propheten (außer Hesekiel) findet. Eine Bezugnahme auf diesen Vers könnte gegebenenfalls also genau so gut darauf hindeuten, dass Johannes seine Äußerungen über das Fleischessen und Bluttrinken gerade nicht in kultischem Sinn versteht, sondern ganz im Gegenteil in ironischer Übersteigerung als Kritik an einer Ritualisierung der Nachfolge des gekreuzigten Messias.

2.4.9.6 Die übrigen Brocken, klasmata, und Hesekiels falsche Propheten

Weiter erwähnt Little (160) „die Brocken oder Stücke, die übrig bleiben“. Einige Stellen im Alten Testament, wo das Wort klasma „im Sinne eines Nahrungsstücks“ vorkommt (3. Mose 2,6; 6,14; 1. Samuel 30,12), versteht er so, dass die „kultischen und königlichen Assoziationen des Brotes dadurch verstärkt werden“. Bei Hesekiel findet er in den Worten drakos krithōn und klasmatōn artou, „Handvoll Gerste“ und „Stück Brot“ deutliche lexikalische Anklänge an Johannes 6,13:

Von größerer Bedeutung für die Speisung in Galiläa ist eine Passage aus Hesekiel, in der „Gott die falschen Propheten Israels verurteilt, die sein Volk für eine Handvoll Gerste und ein Stück Brot entweiht haben, indem sie Menschen getötet haben, die nicht sterben sollten, und Menschen am Leben erhalten haben, die nicht leben sollten“ (Hesekiel 13,19).

Er sieht dieses Wort (161) auch von der Situation her als Parallele zur johanneischen Speisungsgeschichte:

Jesus ist ein wahrer Prophet, der, nachdem er das Volk Gottes mit Gerstenbrot und Fisch gespeist hat, denen, die es verdienen, die Chance auf ewiges Leben gibt, und denen, die sterben wollen, die Möglichkeit, ihn abzulehnen. Es ist angemessen, dass es in der Didaché als Bezeichnung für das Brot der Eucharistie auftaucht (Didache 9,3).

Bezeichnend finde ich, dass Little das Wort klasma nur sehr zurückhaltend in eine Beziehung zum Abendmahl bringen kann. Auch in den anderen Evangelien taucht es nur in Verbindung mit den Speisungsgeschichten auf (Markus 6,43; 8,8.19.20; Matthäus 14,20; Lukas 9,17), nirgends bei der Einsetzung des Abendmahls.

Hätte Johannes tatsächlich an Hesekiel 13,19 erinnern wollen, wäre meines Erachtens zu erwarten gewesen, dass er auch den Bissen Brot, den er im Zusammenhang mit dem Verrat des Judas erwähnt, mit klasma bezeichnet; dort nimmt er aber stattdessen das Wort psōmion, das an die Gastfreundschaft von Ruth 2,14 erinnert, die Judas mit Füßen tritt (Johannes 13,18 unter Rückgriff auf Psalm 41,10).

Ausgeschlossen ist die Hesekielstelle als Hintergrund von Johannes 6,13 trotzdem nicht, zumal Jesus unmittelbar darauf (6,14) als der wahre Prophet, der in die Welt kommen soll, erkannt wird. Sie enthält aber weder einen Beleg für eine rituelle Deutung der Brotstücke noch für ein spirituell-jenseitiges Verständnis des ewigen Lebens, was Little auch hier wieder voraussetzt.

2.4.9.7 Die Körbe der Befreiung Israels und ihre Füllung zur Ernährung Israels

Schließlich fragt Little (161) nach den alttestamentlichen Parallelen des Wortes kophinos, „Korb“, das im Neuen Testament nur in allen Geschichten von der Speisung der Fünftausend vorkommt (während Markus und Matthäus bei der Speisung der Viertausend für „Korb“ das Wort spyris verwenden):

Im Alten Testament kommt es nur zweimal vor. Gideon bereitet nach seinem Gespräch mit dem Engel ungesäuerte Kuchen und Fleisch zu, die er in einen Korb legt. Der Umgang des Engels mit dieser Speise kündigt Gideons Mission an, Israel von den Midianitern zu befreien (Richter 6,19). Durch den Psalmisten wird gesagt, dass Gott Israel aus dem Korb [der Sklaverei in Ägypten] befreit hat (Psalm 81,6-7).

Mit diesen beiden Belegen macht Little tatsächlich auf wesentliche Hintergründe der johanneischen Botschaft aufmerksam:

Die Themen der Befreiung Israels durch Mose und Gideon und der Sieg über die Feinde Israels stehen im Einklang mit anderen Anklängen, die bereits in der Erzählung zu finden sind.

Aber natürlich nimmt Little solche Anklänge nicht zum Anlass, um darüber nachzudenken, ob nicht auch das Johannesevangelium auf eine politische Befreiung Israels aus der weltweiten Sklaverei des römischen Imperiums ausgerichtet sein könnte. Stattdessen spiritualisiert er wie gewohnt kurzerhand die Befreiungsthematik, da er ja Sünde sicher nicht als Fehlorientierung der Gesellschaftsordnung versteht, sondern auf persönliches moralisches Fehlverhalten reduziert:

Jesus wird außerdem als derjenige gesehen, der Israel aus der Sklaverei der Sünde und des Todes befreit, ein Thema des Diskurses.

Interessant finde ich Littles folgende Bemerkung:

Es ist bezeichnend, dass das Wort spyris, das keinen Bezug zum Alten Testament hat, in der zweiten Fassung des Wunders bei Matthäus und Markus verwendet wird, von der allgemein angenommen wird, dass sie sich an die Heiden richtet, für die die Geschichte Israels weniger attraktiv ist.

Bezeichnend finde ich in diesem Zusammenhang zwei andere Gesichtspunkte:

Erstens, dass Little das Fehlen der Geschichte von der Speisung der Viertausend im Johannesevangelium nicht weiter kommentiert, denn dieses Fehlen belegt deutlich, dass Johannes seine Botschaft viel weniger als Markus oder Matthäus auf Heiden ausrichtet, sondern zentral auf die Sammlung Israels einschließlich Samarias und der jüdischen Diaspora und allenfalls „einiger Griechen“ (Johannes 12,20).

Zweitens ist es ausgesprochen seltsam, dass Little auch hier immer noch mit keinem Wort auf die Anzahl der Körbe eingeht, die – wie oben im Abschnitt 2.4.9.2 beschrieben – eindeutig mit der Ernährung der zwölf Stämme Israels zu tun haben muss. Ebenso durchgehend vermeidet es Little, der doch sonst auf jede einzelne Vokabel des Textes akribisch eingeht, die Zahl der fünf Brote oder der fünftausend Männer symbolisch auf die Tora oder auf Israel als das Volk der Tora zu beziehen.

Zuletzt beschäftigt sich Little mit dem Wort gemizō, „füllen“:

Das Füllen der Körbe mit den Brocken weckt deutliche Anklänge. Das Verb kommt im Neuen Testament nur hier <152> und im Wunder von Kana vor, als Jesus den Dienern befiehlt, die Krüge mit Wasser zu füllen (Johannes 2,7), was ein weiterer Hinweis darauf ist, dass die beiden Wunder in der Vorstellung des Johannes miteinander verbunden sind. Die Worte Marias an die Diener in Kana tragen dazu bei, Jesus mit Josef zu identifizieren. Eine der drei Stellen, an denen das Verb im Alten Testament vorkommt <153>, zeigt, wie der Pharao Josef anweist, seinen Brüdern zu sagen, sie sollten ihre Tiere „füllen“, d. h. beladen, und nach Kanaan zurückkehren, damit sie zurückkehren und sich vom Fett des Landes ernähren könnten (1. Mose 45,18).

Außerordentlich wichtig ist für Little hier noch einmal die Zusammenordnung der Kanaerzählung und der Speisungsgeschichte, da sie in seinen Augen mit dem Bezug auf Wein und Brot den Ersatz der im Johannesevangelium fehlenden Einsetzung des Abendmahls darstellen. Dass Johannes dort vom Füllen der Krüge spricht, um einem Volk Israel, das auf seinen Messias hört, die Feier der messianischen Hochzeit zu ermöglichen, und hier vom Füllen der zwölf Körbe, um das Volk Israel zu ernähren, kann aber auch einfach bestätigen, wie sehr es Johannes eben um Israel geht und nicht um die Einsetzung eines neuen Rituals.

Auch der Bezug auf Josef unterstreicht nochmals buchstäblich das Thema der Ernährung Israels, ebenso wie ein abschließender Verweis Littles auf Psalm 72,16, in dem zwar nicht das Wort gemizō verwendet wird, wohl aber im hebräischen Text von der „Fülle des Getreides“, pissath-bar, die Rede ist (161f.):

Die Fülle des Brotes erinnert an den messianischen Psalm, der Salomo, dem Sohn Davids, gewidmet ist und in dem das Kommen des messianischen Königs durch die Fülle des Getreides überall, besonders auf den Berggipfeln, angekündigt wird, wenn die Menschen aus den Städten wie das Gras auf dem Feld aufblühen werden (Psalm 72,16).

Little mag durchaus zu Recht Anklänge dieses Psalms im Hintergrund der Speisungsszene bei Johannes hören, was auch schon oben im Abschnitt 2.4.4.2 angesprochen worden ist (162):

Nun speist Jesus durch die Vermehrung der Brote auf einem Berg eine Vielzahl von Menschen, die auf reichlich vorhandenem Gras liegen. Seine Identität als König könnte kaum deutlicher sein. Die Menge reagiert entsprechend.

Wenn also alles, was Little bisher gesagt hat, darauf hinauslaufen soll, dass Jesus der König von Israel ist, bleibt zu klären, in welcher Weise er das ist. Die Klärung dieser Frage hat sich Little für das letzte Kapitel seiner Arbeit vorgenommen.

2.5 Ein König nicht von dieser Welt

Dem letzten Kapitel im zweiten Teil seines Buches gibt Edmund Little eine Überschrift, die auf Johannes 18,36 zurückgeht. Er versteht Jesus als einen „König nicht von dieser Welt“, ouk ek tou kosmou toutou. Im Zuge der Auslegung der letzten Verse der johanneischen Speisungsgeschichte wird also vor allem diese Frage zu klären sein: Was meint Johannes mit einem solchen Königtum?

6,14 Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll. 15 Da Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er allein.

2.5.1. Wer will Jesus aus welchen Gründen gegen seinen Willen zum König machen?

Little formuliert zu Beginn von Kapitel 5 (163) nicht ganz exakt, wenn er schreibt, dass „nur im Bericht des Johannes die Volksmenge Jesus als Prophet und König anerkennt“ <154> (meine Hervorhebung). Tatsächlich war nur ganz am Anfang der Speisungsgeschichte (6,3.5) vom ochlos, der „Volksmenge“, die Rede gewesen, hier spricht Johannes von den „Menschen“, anthrōpoi. Durch seine oft unbestimmten oder wechselnden Bezeichnungen der jeweiligen Akteure lässt Johannes häufig offen, welche gesellschaftlichen Gruppen er in einer bestimmten Situation im Blick hat.

Hier kann aus dem Zusammenhang erschlossen werden, dass es zelotisch gesinnte Juden sind, die Jesus gegen seinen Willen zum König ausrufen wollen. Sie meinen es gut, sie haben die Überwindung der römischen Weltordnung im Sinn. Wie sich einst die Makkabäer gegen die hellenistischen Seleukiden durchsetzten, wollen sie unter Jesu Führung die Römer und ihre judäischen Kollaborateure aus Jerusalem vertreiben und Jesus auf den Thron setzen.

So sieht das Johannes gemäß der Auslegung von Ton Veerkamp: <155>

Die Menschen sehen, was hier geschieht. Keine Zauberei, sondern ein Zeichen. Sie deuten das Zeichen richtig: dieser hier sei „der Prophet, der in (besser vielleicht gegen!) die Weltordnung kommt“. … Ein Prophet, der den Leuten „Brot“ geben wird, das endgültig sättigt, der Messias.

Was liegt den Leuten näher, als Jeschua [Jesus] zu zwingen („rauben“, steht hier wortwörtlich), als König die politische Verantwortung zu übernehmen. Elisa setzte Könige ein (und in blutiger Weise ab), weil das zu seinem Auftrag gehört. Aber niemals war in Israel der Prophet selber König. Jeschua handelt also, wie ein Prophet in Israel handeln muss. „Er wich aus, zum Berg hin, er allein.“ …

Jedenfalls wird hier mit einer Art von Messianismus abgerechnet, die sich vom politischen Ziel einer von Rom unabhängigen Monarchie leiten lässt. Eine unabhängige Monarchie ist es unter den Königen aus dem Haus des Judas Makkabäus gewesen. Sie konnte nichts anderes werden als ein Königreich wie alle anderen auch. Solange sich am Zustand der Weltordnung als solcher nichts wirklich ändert, konnte man realpolitisch auch gar nichts anderes erwarten als königliches business as usual. Das Katastrophenjahrhundert 63 v.u.Z. (Einnahme Jerusalems durch die Römer unter Pompeius) bis 70 u.Z. (Zerstörung der Stadt durch die Römer unter Titus) muss immer die notwendige Folge einer Politik sein, die die Menschen von Johannes 6,14 vom Messias erwarten: ein König und alles wird gut. Nichts wurde gut, auch mit einem König Jeschua würde nichts gut geworden sein.

Das ist Ton Veerkamps Antwort auf die von Edmund Little gestellte Frage (163), warum Jesus davor „erschrickt“, zum König gemacht zu werden, wenn doch sein „königlicher und prophetischer Status in der gesamten Erzählung angedeutet“ wird und er sich „bei seinem Einzug in Jerusalem vor seiner Passion von der Menge zum König“ ausrufen lässt (Johannes 12,12-15). Little selbst gibt darauf eine andere Antwort:

Das Volk, das zur Torheit neigt, weil es später dem spirituellen Tod zugeneigt sein wird, hält ihn für einen König dieser Welt, der ihnen Brot geben wird. Sie haben das Zeichen missverstanden und beeilen sich, ihn zu ergreifen (harpazō), ein Verb, das später verwendet wird, um den Wolf zu bezeichnen, der die Schafe raubt (Johannes 10,12), oder den Versuch, seine Jünger aus seinen und seines Vaters Händen zu reißen (10,28.29). Die Menge entreißt Jesus seiner Bestimmung und erfüllt damit ihr Potential als feindliche Macht. <156>

Das heißt, Little versteht Jesus in einem spirituellen, geistlichen Sinn als den König der jenseitigen Welt Gottes, der vom Himmel her in der Einheit mit Gott, dem Vater, seine Herrschaft über alle Menschen ausübt. Von daher wäre in seinen Augen jeder Versuch, Jesus als einen König zu begreifen, der Israels Befreiung und Ernährung in einer kommenden Weltzeit im Diesseits herbeiführen will, ein Missverständnis.

2.5.2 Ein König gemäß der Tora ist kein König, „wie ihn alle Völker haben“

Zwar wird Jesus auch Veerkamp zufolge von denjenigen missverstanden, die Jesus hier zum König machen wollen, aber dieses Missverständnis bezieht sich nicht auf den Gegensatz zwischen einem diesseitigen und einem jenseitigen Königtum. Der jüdisch denkende Messianist Johannes hält fest an der Vorstellung eines toragemäßen Königs, der sich radikal von einem König unterscheidet, wie ihn alle Völker haben, und die Ton Veerkamp <157> folgendermaßen beschreibt:

In der Tora kommt der König Israels nur an einer Stelle vor, Deuteronomium 17,13ff. Ein König muss nicht sein, erst recht nicht ein König „wie bei allen Völkern“ (ke-khol ha-gojim). Wenn die Menschen Israels aber unbedingt einen König wollen, dann sollen sie auf alle Fälle einen „König aus der Mitte der Brüder“ nehmen.

Die weitere Einschränkung eines eventuellen Königtums ist erstens: nicht zu viele Pferde = Rüstung, Kavallerie; zweitens: nicht zu viele Frauen = Bündnisse mit auswärtigen Mächten (vgl. 1 Könige 11,1ff.); drittens: nicht zu viel Silber und Gold = Ausbeutung der Untertanen. Nach der Tora ist die Aufgabe eines Königs, sich eine Abschrift der Tora – der Verfassung der Freiheit und des Rechtes – zu besorgen und auf dem Thron „darin zu lesen alle Tage seines Lebens“. Einen solchen König hat es noch nie gegeben.

Das führt uns wieder zum Psalm 72:

Gott, gib dein Recht dem König, deine Wahrheit dem Königssohn,
dass er dein Volk nach Wahrheit beurteilt, deine Unterdrückten nach Recht.
Die Berge tragen dem Volk Frieden zu, die Hügel Gerechtigkeit.
Er schaffe den Unterdrückten des Volkes Recht,
er befreie die Bedürftigen,
er zermalme den Ausbeuter.

Die Kernaufgabe jedes Königs, also jedes Staates, jeder Regierung, ist nach diesem Text die Wahrheit und das Recht. Und zwar das Recht für den Erniedrigten und Bedürftigen (ˁanaw, evjon). Das Maß, mit dem man den König, den Staat, die Regierung misst, ist das, was in der Schrift zedaqa heißt, Wahrheit, Bewährung. Wahrheit hat in der Schrift das Recht als seinen wahren Inhalt. Der Zaddik ist ein Wahrhaftiger und so ein Gerechter. Das Recht bewahrheitet sich erst an dem, was mit den Erniedrigten und Armen eines Volkes geschieht.

Das ist Königtum, und dieses Königtum meint Jeschua. Er, der Messias, ist der Königsohn, für den der Psalmist hier betet. Jeschua als der messianische König unterscheidet sich auf der ganzen Linie und in seinem Wesen vom Königtum nach dieser Weltordnung, basileia tou kosmou toutou. Das Königtum Jeschuas ist eine radikale Alternative, aber es ist nichts Jenseitiges, rein Geistiges oder Innerliches. Es ist ein radikal diesseitiges, irdisches Königtum.

Mit der Tora hat sich Israel von der Normalität der altorientalischen Unterdrückung und Ausbeutung, von der „Produktion“ von ˁanawim we-evjonim, von Unterdrückten und Bedürftigen, verabschiedet, „es sollen unter euch keine Bedürftigen sein“, Deuteronomium 15,4. Jeschua knüpft mit seiner Antwort nur an der geheiligten Tradition der Torarepublik der alten Judäer an. Jeschua will kein unerhört Neues; er will ein Königtum nach der Tora. Da es, wie gesagt, ein solches Königtum noch nie gegeben hat, will Jeschua unerhört Neues. Gerade das Traditionelle ist das Novum!

Was diejenigen, die Jesus nach der Speisung zum König machen wollen, nicht begreifen, ist die Einschätzung des johanneischen Jesus, dass unter den Bedingungen der weltweiten Versklavung unter der römischen Weltordnung kein solches Königtum nach der Tora in einem einzelnen Land wie Israel mehr möglich ist. Stattdessen versteht er es als seine durch den Gott Israels veranlasste Mission, sich selbst als den König Israels durch diese mörderische Weltordnung hinrichten zu lassen und sie dadurch als das, was sie ist, bloßzustellen und ihr jegliche Legitimation zu entziehen. So verrückt es klingt – er glaubt sogar fest daran, dass Jesu neues Gebot der agapē, einer liebevollen Solidarität des frewilligen Sklavendienstes füreinander, im Stande sein wird, die Weltordnung zu überwinden und die von den Propheten Israels erhoffte neue Weltzeit von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden anbrechen zu lassen.

Interessant ist, dass auch Little selbst auf alttestamentliche Stellen eingeht, die in der Tora oder von der Tora her Kritik an der Einsetzung eines Königs üben. Er verweist (164) auf

mindestens zwei Episoden aus dem Alten Testament, in denen fehlgeleitete Menschen versuchen, einen Mann zum König zu machen. Die Männer Israels bitten Gideon, über sie zu herrschen und eine Erbmonarchie zu errichten, weil er sie von den Midianitern gerettet hatte (Richter 8,22). Ihr Anliegen ist nachvollziehbar, aber Gideon verhält sich angemessen und sagt ihnen, dass Gott ihr Herr sein muss (Richter 8,23). Später wird Abimelech, einer der Söhne Gideons, von den Menschen in Sichem zum König ausgerufen (Richter 9,6), was Jotham dazu veranlasst, sich auf den Berg Gerizim zu stellen und von den Bäumen zu erzählen, die einen König wollten und den Dornbusch wählten (Richter 9,7-15). Die Ältesten Israels bitten den Propheten Samuel, ihnen einen König zu geben. Ihr Motiv ist bedauerlich: Sie wollen wie andere Völker sein und verleugnen damit die Einzigartigkeit ihres Gottes und ihrer Bestimmung (1. Samuel 8,5). So wie die Klagen gegen Aaron und Mose als Klagen gegen Gott gewertet wurden (2. Mose 16,8), so weist der Herr selbst Samuel darauf hin, dass das Volk, wenn es einen König verlangt, ihn und nicht Samuel ablehnt (1. Samuel 8,7-8).

Für Little ergeben sich aus dieser Kritik jedoch – anders als für Veerkamp – grundsätzliche Vorbehalte gegenüber jeder Art politischer Hoffnungen überhaupt:

Die Monarchie entstand im Ungehorsam und blieb unrühmlich bestehen. Saul erwies sich als untreu. Salomo nahm sich fremde Frauen und Götter (1. Könige 11,1-8). In der Folgezeit taten fast alle Monarchen Israels und Judas, was in den Augen des Herrn böse ist. Beide Königreiche fielen. Jesus zögert, solchen Vorgängern zu folgen oder sich von einer Menge krönen zu lassen, die sich mehr für Brot als für das Heil interessiert. Er ist König, weil er von Gott gesandt wurde.

Diese Interpretation basiert auf einem grundlegenden Missverständnis dessen, worauf die gesamte jüdische Bibel hinausläuft. In den Augen des Gottes Israel ist es nicht grundsätzlich böse, „sich mehr für Brot als für das Heil“ zu interessieren, als ob die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten oder aus der Verbannung in Babylon oder die physische Ernährung Israels während seiner Wüstenwanderung minderwertige Ziele gegenüber der Sorge um das Heil der Seele gewesen wären.

Geht man hinter das Wort „Heil“ auf seinen griechischen oder hebräischen Ursprung zurück und begreift sōtēria bzw. jɘschuˁa als die „Befreiung“ durch den heiligen NAMEN des Gottes Israels, dann sind die Taten der Könige Israels und Judas deswegen böse, weil sie nicht dem toragemäßen Königtum entsprechen, nämlich wenn sie nicht gemäß Psalm 72,4 „den Elenden im Volk Recht schaffen und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen“. Genau als dieser toragemäße König im Sinne von Psalm 72 ist Jesus von Gott gesandt, das ist die Auffassung des jüdisch-messianischen Evangelisten Johannes.

Auch die Königskritik von 1. Samuel 8 interpretiert Little nicht auf der Linie eines toragemäßen, sondern eines spirituellen Königtums (164f.):

Die Volksmenge schaut nicht auf den, der ihn gesandt hat, sondern auf Jesus selbst. Sie wiederholen den Fehler der Ältesten, die sich an Samuel wandten, indem sie für sich selbst einen König wählten. Ihr „Ergreifen“ Jesu kommt einer Verleugnung der Souveränität Gottes gleich, denn, in einer weiteren Wendung johanneischer Ironie, haben sie den richtigen König aus den falschen Gründen gewählt. Hinter ihrem scheinbaren Glauben verbirgt sich Unglaube. Hätte Jesus das irdische Königtum zu ihren Bedingungen angenommen, hätte er einen weiteren Zyklus von Ereignissen in Gang gesetzt, die bereits zum Untergang von König und Nation geführt haben. Sein Königtum muss einen anderen Weg gehen.

Mit den von Little kursiv gesetzten Worten „für sich selbst“, die übrigens ihm zufolge (Anm. 511) in dieser Betonung nicht einmal im hebräischen Text von 1. Samuel 8,18, sondern nur in der Version der Septuaginta stehen, verschiebt er die Aussageabsicht des Samueltextes: „Die LXX unterstreicht die Hybris des Volkes, das einen König für sich selbst wollte, anstatt einen von Gott vorherbestimmten Führer zu wählen“. Von dem so konstruierten Gegensatz her zieht er eine Linie zu Jesus, den die Volksmenge als einen König „für sich selbst“ will, zur Befriedigung ihrer eigenen irdisch-materiellen Interessen, statt an ihn als den von Gott gesandten Himmelskönig zu glauben, der ihnen geistliche Nahrung gibt.

Nun geht es aber in 1. Samuel 8 gar nicht zentral um diesen Gegensatz „für sich selbst“ versus „von Gott vorherbestimmt“ und erst recht nicht um einen Gegensatz zwischen einem diesseitigen oder jenseitigen Königtum, sondern um das zweifach (1. Samuel 8,5.20) in der Wendung ke khol ha-gojim angesprochene Problem, dass die Ältesten Israels einen König „wie alle Völker“ haben wollen. Auch Jesus hätte, wenn er von den Zeloten auf den Thron gesetzt worden wäre, unter den Bedingungen des Hellenismus und der römischen Oberherrschaft niemand anders als ein solcher König sein können. In dieser Beziehung stimmt auch Littles Einschätzung, dass auch Jesus als zelotischer König den Untergang des Tempels und der Nation als Folge eines dem Judäischen Krieg vergleichbaren Aufstandes nicht hätte anwenden können. Formal ist insofern sogar Littles Satz richtig: „sie haben den richtigen König aus den falschen Gründen gewählt“, aber die falschen Gründe beziehen sich auf eine verfehlte Politik mit verheerenden Folgen und nicht auf den Abschied von jeglicher politischen Perspektive überhaupt zugunsten einer spirituell-jenseitigen Erlösungsreligion.

Nach Little beschreitet Jesus aber den letzteren Weg, was er seltsam martialisch begründet (165):

In der Vergangenheit wurde von den Königen des Ostens erwartet, dass sie sich einer Prüfung unterziehen, in der Regel einem militärischen Unternehmen, um ihre Eignung für den Thron zu beweisen. Saul wurde zum König gesalbt, um das Volk zu richten und Israel von seinen Feinden zu befreien (1. Samuel 10,1). Er besiegt die Ammoniter (1. Samuel 11,1-11). David besiegt Goliath (1. Samuel 17,40-54). Jesus muss den Tod selbst besiegen, damit die Menschen das ewige Leben haben.

Die Argumentation enthält unterschwellig wieder christliche Vorbehalte gegenüber der jüdisch-nationalen Kriegführung gegen andere Völker, die durch Jesu geistliche Kriegführung gegen die überweltliche Macht des Todes abgelöst wird. Ich bezweifle, dass schon der jüdisch-messianische Evangelist Johannes so gedacht hat. Den Zelotismus verurteilt er nicht wegen dessen Ziels der Überwindung der römischen Weltordnung, sondern aus seiner Einsicht heraus, dass ein militärisch überlegenes weltweites System der Gewalt nicht durch den Einsatz gleicher, militärischer Mittel in die Kniee gezwungen werden kann. Er ist davon überzeugt, dass der messianische König nur durch seine Niederlage, durch die Hingabe seines Lebens am römischen Kreuz, die Macht des Imperiums unterwandern kann. Kein Messianismus kann triumphal auf militärische Weise siegen. Nur die agapē ist stark genug, um die Weltordnung zu überwinden. Aber er denkt diesseitig, nicht jenseitig, und vor allem nicht antijüdisch.

2.5.3 Widersteht Jesus in Johannes 6,15 der Versuchung durch den Teufel?

Spannend finde ich die Erwägung Edmund Littles, <158> Jesu Rückzug von den Leuten, die ihn zum König machen wollen, könnte auf die matthäische bzw. lukanische Versuchungsgeschichte anspielen (163f.):

Jesus, als heilige Weisheit, erkennt die fehlgeleitete Absicht der Menge. Er gibt keinen Hinweis auf seine Unentschlossenheit, bevor er sich auf seinen Berg [Thron] zurückzieht, aber dies könnte eine johanneische Version der Versuchungsgeschichten bei Matthäus und Lukas sein (Matthäus 4,1-11; Lukas 4,1-13). Die Vermehrung von Broten, wie die Verwandlung von Steinen in Brot, hätte Anhänger des Typus ansprechen können, denen der Sinn nach „Brot und Spielen“ eines Nero oder Caligula steht. Würde er der Menge erlauben, ihn zum König zu machen, gäbe er dem Angebot des Teufels nach, alle irdischen Reiche zu besitzen. Weit davon entfernt, den Fürsten dieser Welt zu besiegen, wäre Jesus ein Anwärter auf seinen Thron.

Gegen die Interpretation von Johannes 6,15 als einer Version der Versuchungsgeschichte spricht jedoch, dass es nicht der diabolos selber ist, der Jesus hier die Königreiche der Welt anbietet, obwohl der durchaus im Johannesevangelium vorkommt, nämlich in der Person des römischen Kaisers. <159> Vielmehr sind es judäische Menschen, die auf dem Wege des zelotischen Kampfes sich eben gegen die von diesem diabolos, also Widersacher des Gottes Israels, geführte Weltordnung auflehnen wollen, wenn auch in einer Form, die nach der Einschätzung des Johannes in einer Katastrophe enden muss, wie sie später im Judäischen Krieg tatsächlich eingetreten ist.

2.5.4 Ist Jesus der flüchtende König und Gott? Ist er Mose, allein auf dem Berg?

Unter der Überschrift (165) „Der flüchtende König“ befasst sich Little mit dem Rückzug Jesu, den Johannes mit dem Wort anachōreō, „entweichen, fliehen“, bezeichnet, das

im Alten Testament zwölfmal vorkommt (im Vergleich zu den zweihundertfünfundneunzig Vorkommen von pheugō), in der Regel im Zusammenhang mit einer Flucht vor dem Tod oder der Gefangenschaft durch einen Feind. Das Verb knüpft an die mosaischen und königlichen Themen an, die mit Jesus verbunden sind.

Aus den von ihm angeführten Belegstellen (2. Mose 2,15; 4. Mose 16,24; 1. Samuel 19,10; Jeremia 4,29; Hosea 12,13; 2. Makkabäer 5,27; 10,13) meint Little schließen zu können, dass das Verb „auf einen Propheten-König-Patriarchen hindeutet, der wie Mose und David vor Feinden flieht, die seinen Untergang herbeiführen könnten.“ Abgesehen davon, dass das andere Verb pheugō ebenfalls im Zusammenhang mit Patriarchen und Königen verwendet wird, ist keine der dort angesprochenen Situationen auch nur annähernd vergleichbar mit dem Rückzug Jesu aus dem Zugriff von Gefolgsleuten, die ihn zu zelotischem Handeln als messianischer König nötigen wollen.

Eine „Parallele der Situation“ sieht Little „in Johannes 10,12, wo der Tagelöhner vor dem kommenden Wolf flieht“, dort allerdings mit pheugō ausgedrückt:

Der Hirtenkönig nimmt nun Zuflucht vor einer wolfsähnlichen Herde. Der Status der Volksmenge und des Opfers wird bestätigt. Der Schluss von Kapitel 6 ist eine Parallele zu dieser Szene zwischen Jesus und dem Volk und kehrt sie um. Dem falschen Bekenntnis des Glaubens an Jesus durch die Volksmenge, das auf einer Fehleinschätzung seiner Identität beruht, steht das wahre Glaubensbekenntnis des Petrus gegenüber, das auf ihrer richtigen Erkenntnis beruht. Erschrocken über das geplante Vorhaben der Menge, flieht Jesus vor ihr (Johannes 6,15). Viele Jünger ziehen sich später von Jesus zurück, erschrocken über seine Worte (6,66).

Edmund Little liebt es, solche einander entgegenlaufende Entsprechungen aufzuspüren, auch wenn diese nicht immer präzise zusammenpassen. Wenn man will, mag man die von ihm genannten Szenen in dieser Weise einander zuordnen.

Was Little außerdem liebt, sind Anhäufungen verschiedener Interpretationen zur selben Bibelstelle. Die Verwendung des Wortes monos, „allein“, in Johannes 6,15 beschreibt er unter der Überschrift „Der flüchtende Gott“ auch als nochmaligen Hinweis auf die Göttlichkeit und den Opfertod Jesu (166):

Jesus geht „allein“ weg. Er hatte bereits von der Herrlichkeit gesprochen, die von Gott „allein“ kommt [Johannes 5,44], und spricht später von dem einzigen wahren Gott, der Jesus gesandt hat (17,3). Es gibt also Hinweise auf die Göttlichkeit in seiner einsamen Flucht auf den Berg. monos enthält auch Andeutungen auf seine Passion und seinen Tod. Wenn er „emporgehoben“ wird, wird der, der ihn gesandt hat, ihn nicht allein lassen (8,29). Wenn ein Weizenkorn fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht (12,24). Wenn seine „Zeit“ gekommen ist, werden sich alle zerstreuen und ihn allein lassen, aber er wird nicht allein sein, denn der Vater ist bei ihm (16,32). Dieses eine Wort setzt die Themen der Göttlichkeit und des Opfertodes Jesu fort.

Little ist natürlich nicht im Unrecht, wenn er auf die „Einzigartigkeit Gottes“ hinweist, die auch „im Alten Testament ständig bekräftigt“ wird. Aber nicht jede biblische Verwendung des Wortes monos bezieht sich auf Gott. Und bei genauerer Durchsicht der alttestamentlichen Belegstellen hätte Little auffallen können, dass Johannes sehr offensichtlich auf den Gottesberg anspielt, auf dem Mose „allein“ sich dem Gott Israels nahen darf (2. Mose 24,1-2):

24,1 Und zu Mose sprach er: Steig herauf zum HERRN, du und Aaron, Nadab und Abihu und siebzig von den Ältesten Israels, und betet an von ferne. 2 Aber Mose allein nahe sich zum HERRN und lasse jene sich nicht nahen, und das Volk komme auch nicht mit ihm herauf.

Von daher ist gar nicht so sicher, ob Littles Charakterisierung Jesu als eines flüchtenden Königs oder gar Gottes hier überhaupt in vollem Ausmaß zutrifft. Schon zuvor hatte er die Formulierung verwendet (163), dass Jesus sich „auf seinen Berg [Thron]“ zurückzieht. Aber Johannes als jüdisch-messianischer Evangelist mag doch zurückhaltender in seiner Identifikation Jesu mit Gott selbst sein, als es der christliche Exeget Edmund Little wahrhaben will.

Ton Veerkamp <160> versteht den Rückzug Jesu eis to oros, „auf den Berg hin“, von dem her, was geschieht, als Mose sich allein auf den Berg zurückzieht:

„Er wich aus, zum Berg hin, er allein.“ Also drei Dinge geschehen.

„Er wich aus (anachōrēsen)“, er war zwar ein Anachoret, aber kein frommer Einsiedler. Er geht nicht auf den Berg, „um zu beten“, wie es bei den Synoptikern heißt. Der Messias ist ein König, wie wir in Kapitel 12 hören werden, aber eben nicht ein König unter – und nach! – den herrschenden Verhältnissen. Sein Ausweichen war eine politische Aktion.

„Er allein“, monos, heißt es dann. Wir hatten den Messias als Propheten, als Elia. Hier haben wir den Messias als Mosche. Jetzt wissen wir, um welchen Berg es sich handelt, warum hier ein bestimmter Artikel steht: „Zu dem Berg hin (eis to oros)“, heißt es. Der Berg von Vers 6,3 war auch dort schon bekannt. Der Messias besteigt den Berg allein. Er ist Mosche, Exodus 24,2.

Was tut Israel, wenn Mosche allein auf dem Berg ist? Israel wirft sich vor das goldene Kalb hin. Was tut die messianische Gemeinde, wenn Jeschua allein auf dem Berg ist? Sie müht sich ab, vergebens, sieht kein Land. Die andere Seite des Schilfmeers, des Jordans ist unerreichbar.

Mit der letzteren Überlegung schlägt Veerkamp eine nachvollziehbare Erklärung für die sich unmittelbar anschließende Szene von der Überquerung des aufgewühlten Meeres von Tiberias durch die Jünger Jesu vor, für deren Deutung ich auf meine Anm. 81 verweise. Ich wiederhole nur, dass Jesus sich dort tatsächlich vor seinen Jüngern als die Verkörperung des Gottes Israels offenbart, indem er die Worte egō eimi; mē phobeisthe, „ICH BIN ES, ICH WERDE DASEIN, fürchtet euch nicht“, aus­spricht.

Edmund Littles abschließende Worte in seinem Kapitel über den König, der nicht von dieser Welt ist, haben allerdings kaum im Blick, dass Jesus diesen befreienden NAMEN und keinen anderen Gott verkörpert (166):

Die Perikope begann mit Jesus, der als göttlicher König auf dem Berg thronte. Sie endet mit demselben König auf der Flucht vor denen, die ihn in einen falschen König und einen falschen Gott verwandeln wollten. Der Rest des Kapitels ist eine Darlegung des wahren, selbstaufopfernden Charakters seines Königtums und des falschen Charakters der Erwartungen des Volkes. Die Opfersprache der Rede verkündet, dass der König sterben muss und seine Jünger an diesem Tod teilhaben müssen, wenn sie das Leben haben wollen. Bezeichnenderweise findet die letzte und folgenreiche Verkündigung des Königtums Jesu am Kreuz statt (Johannes 19,19).

Richtig daran ist, dass Johannes diejenigen scharf kritisiert, die aus Jesus einen zelotisch kämpfenden König nach Art dieser Weltordnung machen wollen, während er die Lebenshingabe des Königs von Israel am römischen Kreuz als die Voraussetzung für die Überwindung eben dieser Weltordnung betrachtet. Anders als Johannes hat Little jedoch nicht das Leben der kommenden Weltzeit auf dieser Erde unter dem Himmel im Blick. Und es ist nicht auszuschließen, dass Little genau diesen diesseitig für die Befreiung und das Recht Israels wirkenden Gott aus seiner christlichen Sicht als „einen falschen Gott“ hinter sich lassen will.

2.6 Eine Art von Fazit

An den Schluss seiner zweiten Dissertation stellt Edmund Little (167) ein Nachwort, in dem er nochmals einige seiner Ausführungen in einer Art Fazit zusammenfasst. Zunächst sieht er allgemein seine Schlussfolgerung bestätigt, dass Marie-Émile Boismard gegen Rudolf Bultmann mit seiner Auffassung Recht behält, dass das johanneische Vermehrungswunder „in der alttestamentlichen Tradition verwurzelt“ ist. Mehr als allgemeine Einflüsse „hellenistischer Tendenzen“ auf „das jüdische Denken“ gesteht er Bultmann nicht zu. Darin stimme ich ihm uneingeschränkt zu.

2.6.1 Zur Anspielung auf die jüdischen Schriften durch lexikalische Verschiebung

Dankbar bin ich Little für eine Unzahl von Hinweisen auf Belegstellen in den jüdischen Heiligen Schriften, die zum besseren Verständnis des Johannesevangeliums dienen können. Zum Teil handelt es sich um Stellen, die auch Ton Veerkamp aufgespürt hat, wenngleich beide Exegeten sie innerhalb verschiedener Bezugsrahmen interpretieren, aber es gibt auch Parallelen, für die mir erst Little die Augen geöffnet hat. Insbesondere macht er (168) auf eine Vorgehensweise des Johannes aufmerksam, die er „lexikalische Verschiebung“ nennt und die er im Nachwort folgendermaßen beschreibt:

Ein unerwartetes oder ungewöhnliches Wort ersetzt ein gebräuchlicheres oder zu einem vorgegebenen Thema passendes Wort: amnos anstelle von probaton (Johannes 1,36); anerchomai anstelle von anabainō (6,3); paidarion anstelle von leitourgos (6,9); opsarion anstelle von ichthys; perisseuō anstelle von kataleipō. Eine solche Verschiebung hat letztlich zur Folge, dass die Anklänge an das Alte Testament erweitert und verstärkt werden.

2.6.2 Warum Jesus bei Johannes der König Israels ist, aber kein neuer David

Im einzelnen sieht Little (167) „Boismards Ansichten über den johanneischen Jesus auf unerwartete Weise bestätigt“:

Durch geschickte Verwendung von Vokabular und Formulierungen stellt Johannes Jesus tatsächlich als eine königliche, weise und prophetische Gestalt dar, als einen weiteren Moses, als Inbegriff der heiligen Weisheit. Jesus ist nicht nur König, sondern es gibt auch Anklänge im Text, die ihn mit David und Josef in Verbindung bringen und damit die von Boismard vorgeschlagene Verbindung zwischen dem Evangelium und den „zwei Messiassen“ der rabbinischen und Qumran-Tradition bestätigen: dem Sohn Josefs und dem Sohn Davids [Boismard 1988, 37].

Wie bereits in Abschnitt 1.3.2.6 und Abschnitt 2.1.6 begründet, stimme ich Little, was diese konkrete Zuspitzung der Vorstellung vom davidischen König Israels im Johannesevangelium betrifft, nicht zu. Zwar sieht ihn Johannes durchgehend als den König Israels, eine ausdrückliche Identifikation mit David vermeidet er jedoch ebenso durchgehend, wahrscheinlich um Jesus nicht mit militanten Zeloten in Verbindung zu bringen, die sich gern auf davidisch-messianische Vorstellungen beriefen.

Nach Ton Veerkamp <161> ist bei Johannes (gemäß 4,43-44) Jesu Vaterstadt weder Nazareth noch die Davidsstadt Bethlehem, sondern „Jerusalem, der Ort dessen, den Jeschua VATER nennt“. Anders als Matthäus und Lukas, die „in ihren Herkunftserzählungen (Matthäus bzw. Lukas 1-2)“ voraussetzen, dass der Messias „aus der Stadt Davids“ kommt und „das Königtum Davids erneuern“ wird, ist Jesus „bei Johannes ein priesterlich-prophetischer Messias, deswegen muss er aus Jerusalem kommen.“

Näher äußert sich Veerkamp <162> zu dieser Frage in seiner Auslegung von Johannes 7,40-42, wo die Judäer ausdrücklich um die davidische Herkunft des Messias streiten:

7,40 Von den Leuten, die diese Reden hörten, sagten manche:
„Dieser ist wirklich der Prophet!“
7,41 Andere sagten:
„Dieser ist der Messias!“
Noch andere sagten:
„Nein! kommt der Messias etwa aus Galiläa?
7,42 Sagt die Schrift nicht:
Aus dem Samen Davids,
aus Bethlehem, aus Davids Dorf, kommt der Messias?“

Der Messias komme aus Bethlehem, sagt der Prophet Micha:

Und du, Bethlehem Ephrata,
zu klein, um zu einem unter den Tausenden in Juda zu werden,
aus dir kommt jemand hervor,
der Israel regieren wird.
Seine Herkunft ist wie aus den Tagen der Vorzeit (5,1).

Der Messias wird wie David aus diesem Ort kommen, wird also die Rolle eines David spielen. Gerade dieses Gerücht um den Messias bekämpft Johannes. „David“ ist ein neues Königreich für Israel, und ein solches davidisches Messiasprojekt war in Jerusalem im Jahr 70 in einem katastrophalen Massaker geendet. Weiter erwähnt er David in seinem Evangelium mit keiner Silbe. Der Messias ist der leibliche Sohn Josephs – Jeschua ben Joseph – und eben nicht der Sohn Davids. Wenn überhaupt, ist er „Sohn Gottes“, einer wie Gott. Blaues davidisches Blut hat er bei Johannes nicht. Die Leute waren gespalten. Manche meinten, die Werke seien das messianische Kriterium, andere, die richtige Herkunft müsse dazukommen. Die Sache bleibt für die Menge unentschieden, die Spaltung bleibt.

2.6.3 Jesu Göttlichkeit nach Johannes ist noch nicht diejenige der späteren Konzilien

Zurück zu Littles Fazit seiner Auslegung der johanneischen Speisungsgeschichte (167):

Wir stellen fest, dass mosaische und weisheitliche Themen geschickt vermischt und verschmolzen werden, so dass Jesus manchmal als neuer Mose erscheint, der mit den widerspenstigen Israeliten fertig wird, oder als Weisheit, die sich mit den Toren auseinandersetzt. Jesus wird auch mit anderen Förderern und Verteidigern Israels in Verbindung gebracht, wie Elia, Elisa, Boas, Gideon und Tobias. Alle diese Identitäten werden in einer größeren zusammengefasst. Der johanneische Jesus ist auch Gott, der verheißene Hirte und Herr Israels, der in einer Beziehung zum Vater steht, die zu definieren die Beratungen mehrerer ökumenischer Konzilien erfordert. Er unterscheidet sich von seinem göttlichen Elternteil, ist ihm aber gleich.

Mit den letzten Sätzen gesteht Little meines Erachtens ein, dass die Göttlichkeit Jesu und seine Beziehung zum Gott Israels als seinem VATER erst viel später in den christlichen Konzilien in einer Art und Weise geklärt werden wird, von der Little bereits im Johannesevangelium meint ausgehen zu können.

2.6.4 Spiegelt sich im Versagen der Volksmenge das Versagen des Judentums?

Das Fazit, das Little im Blick auf die „Volksmenge“ zieht, läuft darauf hinaus, dass ihr Verhalten, nämlich Jesus zum König machen zu wollen, letzten Endes nichts anderes widerspiegelt als das Versagen des gesamten Volkes Israel und seiner Könige:

Wichtig für das Verständnis der Perikope ist auch die Identität der Volksmenge, die nach alttestamentlichem Verständnis Kräfte zum Guten oder zum Schlechten darstellen kann. … Die Bedeutung des katastrophalen Triumphs Jesu, der sich in Gefahr sah, zum König ausgerufen zu werden, lässt sich am besten im Lichte ähnlicher alttestamentlicher Ereignisse und in den Ursprüngen der israelitischen Monarchie selbst verstehen. Gott hatte dem Volk durch Mose und die Propheten die Wahl zwischen Leben oder Tod, zwischen Besitz oder Enteignung des gelobten Landes angeboten, je nachdem, ob es den Geboten Gottes treu blieb. Die davidischen Könige erhielten ihren Thron unter der Bedingung des Gehorsams. Das Alte Testament ist eine Geschichte ihres Versagens, das Jesus durch seinen eigenen Gehorsam rückgängig macht und aufhebt. Dies impliziert auch die Umkehrung des Sündenfalls. Das Brot des Lebens, das Jesus anbietet, tritt an die Stelle des Baumes des Lebens in der Genesis. Sein Gehorsam gegenüber dem Vater ist die Antwort auf den Ungehorsam von Adam und Eva.

Wieder enthält diese Darstellung viel Richtiges. Aber sie impliziert auch einen grundfalschen Zungenschlag, nämlich als ob die Ziele von Freiheit und Recht für Israel und die Überwindung des physischen Hungers in einer diesseitigen Zukunft überholt sind und durch Jesus als das spirituelle Brot des Lebens ersetzt werden müssen.

2.6.5 Umkehrung alttestamentlicher Themen, vor allem im Blick auf Kult und Opfer

Little (168) liest die Speisungsgeschichte nicht nur „als eigenständige, unabhängige Erzählung“, sondern er will „die darin enthaltenen Anspielungen und Anklänge … im Lichte der nachfolgenden Ereignisse und Reden“ begreifen – und zwar letzten Endes in einem kultischen, opferbezogenen Sinn:

Die Opfersprache der Rede, die sich auf das Fleisch und Blut Jesu bezieht, ist nicht abwegig, entwickelt das alttestamentliche Kult- und Opfervokabular logisch weiter, das sich in der Vermehrungserzählung findet. Das Vokabular der Wundererzählung enthält klare Hinweise darauf, dass es die Passion und den Tod Jesu als das neue und endgültige Passahopfer und den leidenden Gottesknecht vorwegnimmt.

Bis dahin kann ich Little einigermaßen folgen. Aber dann entfaltet er das Fazit seiner Lieblingsidee der Umkehrung alttestamentlicher Ideen, die im Johannesevangelium in seinen Augen vollzogen wird, wozu ich weiterhin meine Zweifel anmelde:

Johannes ist im Alten Testament verwurzelt, aber die Kraft und Komplexität seines Werkes liegt in seiner bewussten Umkehrung der Themen. Die Herrlichkeit Gottes war vor Mose verborgen, wird aber durch Jesus offenbart (Johannes 1,14; 2,11).

Wie bereits oben im Abschnitt 1.4.4 ausgeführt, war auch in den jüdischen Schriften die Herrlichkeit bzw. Ehre Gottes nicht überall vor den Menschen, nicht einmal vor Mose, verborgen.

Jesus ist der Prophet, wie ihn Mose im 5. Buch Mose voraussah. Er ist auch König. Anstatt sich von der Menge inthronisieren zu lassen, zieht er sich von ihr zurück. Er ist das Passahlamm, aber im Gegensatz zum Tier des Exodus nimmt er die Sünde weg.

In Abschnitt 2.4.5.1 wurde geklärt, dass es auch in der Tora einen Sündenbock gibt, der Verfehlungen des Volkes wegträgt; Johannes bringt (1,29) diese Vorstellung mit dem Mutterschaf von Jesaja 53,7 und vielleicht auch mit dem Passahlamm von 2. Mose 12 zusammen.

Als Mensch ist er, anders als Isaak, für Gott akzeptabel als jemand, der sich selbst als Opfer darbringt.

Im Abschnitt 2.4.5.2 war erläutert worden, inwiefern die Solidarität Gottes mit Israel damals in der Verhinderung der Opferung Isaaks zum Ausdruck kommen musste und unter den Bedingungen der römischen Weltordnung ganz anders in der Erhöhung Jesu zum Opfer am römischen Kreuz.

Er ist ein Opfer, aber entgegen dem antiken Verbot soll sein Blut getrunken werden. Auch wenn man die sinngemäße Auslegung dieses Gebots akzeptiert, wonach sein Leib und sein Blut das Brot und der Wein sind, die von der heiligen Weisheit dargebracht werden, macht die kultische und opferbezogene Sprache des Wunders und der Rede das Gebot zu mehr als einem rein bildlichen Mittel. Nur eine sakramentale Auslegung wird ihm voll gerecht.

Johannes verstand dieses Fleischessen und Bluttrinken aber sicher noch nicht im Sinne des katholischen oder evangelischen Ritus. Allenfalls setzt Jesus in seinem Evangelium die Fußwaschung des freiwilligen Sklavendienstes füreinander als Sakrament der Solidarität ein. Denn als das Mutterschaf, das die Verirrung der Weltordnung aufhebt und wegträgt, ist er der Befreier der Welt, führt er ein neues Passah herauf.

2.6.6 Jenseitige Eschatologie des Seelenheils oder tätige Erwartung einer neuen Weltzeit des Friedens?

Im letzten Absatz seines Buches (168f.) wird noch einmal abschließend deutlich, dass Edmund Little die auf ein befreites Leben in Gerechtigkeit und Frieden auf dieser Erde gerichteten Hoffnungen des Volkes Israel durch eine Eschatologie des Jenseits ersetzt:

Das Vermehrungswunder ist eine Szene innerhalb des größeren Themas des Evangeliums, in dem Gott durch Jesus erneut für die Seele Israels kämpft. Das Volk hat die Wahl zwischen Weisheit und Torheit, zwischen Licht und Finsternis, verkörpert durch den Fürsten dieser Welt, der als Gegenspieler Jesu bedrohlich auftaucht. Die Nacht und die irrenden Menschen agieren als Agenten der Finsternis. Es geht jetzt nicht um die Befreiung aus Ägypten, den Besitz eines anderen Gelobten Landes oder den Verbleib in Israel. Ein nationales Thema ist zu einem eschatologischen Drama erhoben worden. Jesus bietet die Wahl zwischen dem ewigen Leben mit dem Vater durch ihn selbst oder dem Tod in der Trennung von beiden. Die anschließende Rede ist eine Ausarbeitung dieses Themas, für das das Wunder als Prolog dient.

Hier spricht Little so deutlich wie nie zuvor aus, dass ihm an politischer Befreiung nicht gelegen ist. Ihm ist nicht einmal ansatzweise bewusst, dass Johannes als jüdischer Messianist die weltweite Versklavung unter der römischen Weltordnung als ein neues Ägypten empfunden haben muss. Tatsächlich kann es unter diesen Bedingungen nicht mehr um „den Besitz eines anderen Gelobten Landes“ gehen oder um die Herstellung eines neuen zelotischen Königtums in Judäa nach Art der Makkabäer oder Hasmonäer. Dennoch heißt Eschatologie jüdisch-messianisch nicht Flucht in den Himmel, sondern Anbruch der neuen Weltzeit auf Erden. Nach Johannes kann diese nur dadurch herbeigeführt werden, ja, sie ist bereits angebrochen, und zwar dadurch, dass der Messias in seinem Tod am Kreuz und seinem Aufsteigen zum VATER den Geist der Treue Gottes seinen Schülerinnen und Schüler übergibt (19,30; 20,17.22), um sie in der Praxis der agapē, Solidarität, zur Überwindung der Weltordnung zu unterweisen.

Zwei Stichworte in Littles letzten Ausführungen sind verräterisch: „national“ und „Seele Israels“. Sie markieren deutlich, welche Nachtigall ihm zufolge im Johannesevangelium ihre Stimme erhebt – ein am Seelenheil aller Menschen interessiertes Christentum, das sich einem in partikularer, nationaler Enge befangenen Judentum mit irdisch-materiellen Zukunftshoffnungen geistlich überlegen fühlt.

Indem Little von einem „nationalen Thema“ redet, das „zu einem eschatologischen Drama erhoben wurde“, missversteht er grundlegend das Vertrauen auf den befreienden NAMEN des Gottes Israels als einen abzuweisenden Nationalismus. Es stimmt schon, auch Israel ist – wie jeder Staat der Welt – nicht gegen das Virus des Nationalismus immun. Aber nach der Tora beruht die Erwählung Israels nicht auf Erwägungen nationaler Größe (vgl. 5. Mose 7,7-8), sondern auf dem Willen des NAMENS, seine Tora der Freiheit und Gerechtigkeit in einem Volk Wirklichkeit werden zu lassen, durch das letzten Endes alle Völker der Erde gesegnet werden sollen (vgl. 1. Mose 12,2; Jesaja 56,7; Jeremia 4,2; Hesekiel 37,27-28). Und obwohl Johannes keine Heidenmission im selben Ausmaß wie Paulus oder Lukas und Matthäus ins Auge fasst, sondern die Sammlung ganz Israels in der messianischen Gemeinde, ist er doch der Überzeugung, dass Israel nur leben kann, wenn die Weltordnung insgesamt überwunden wird – durch die Hingabe des Messias Jesus und sein neues Gebot der agapē.

Littles Formulierung, dass Jesus „für die Seele Israels“ kämpft, hört sich zunächst gut an. Aber wenn er damit das Seelenheil jedes einzelnen Juden meint, läuft sie auf ein antijüdisches Szenario hinaus: Die Seele jedes Juden, der nicht an Jesus glaubt, wäre dann auf ewig verloren, vom ewigen Leben ausgeschlossen. Ich weigere mich anzunehmen, dass schon der Evangelist Johannes den Kampf Jesu um das Leben Israels in einer solchen auf ein religiöses Glaubensbekenntnis verengten Weise verstanden hat. Nein, Jesus kämpft durch die Hingabe seines Lebens insofern für sein Volk (Johannes 11,52), als er für das neue Israel der messianischen Gemeinde inmitten der Völker eine Perspektive des Lebens der kommenden Weltzeit eröffnet. Denn die menschenverachtende Weltordnung ist grundlegend überwunden, seitdem sie den Messias Israels getötet hat, und wer auf diesen Messias vertraut, darf das Zeitalter des Friedens als Teil dieser messianischen Gemeinde tätig erwarten.

Anmerkungen

<01> Esther Kobel, Dining with John. Communal Meals and Identity Formation in the Fourth Gospel and its Historical and Cultural Context, Leiden: Brill 2011. Unter dem Titel Jesu Fleisch kauen – wie beim Gott Dionysos? habe ich das Buch kritisch kommentiert.

<02> Edmund Little, Echoes of the Old Testament in the Wine of Cana in Galilee (John 2: 1-11) and the Multiplication of the Loaves and Fish (John 6: 1-15). Towards an Appreciation, Paris: J. Gabalda, 1998. Alle im folgenden Text in runden Klammern (…) angegebenen Seitenzahlen oder Verweise auf Anmerkungen ohne weiteren Hinweis beziehen sich auf die jeweils folgenden Zitate (von mir ins Deutsche übersetzt) aus diesem Buch. Sind solche Zitate als eigener Absatz eingerückt, werden sie blau hervorgehoben. Eckig eingeklammerte Zahlen im Fließtext […] verweisen auf Seitenzahlen von zitierten Werken anderer Autoren. Griechische oder hebräische Wörter gebe ich mit einer einfachen deutschen Umschrift wieder.

<03> Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung, ist im Internet offen zugänglich. Zitate aus diesem Werk erhalten eine rote Hervorhebung und werden durch einen Link zum jeweiligen Abschnitt in der Internetpublikation belegt (mit der Angabe des jeweiligen Absatzes, wobei der gesamte dem Abschnitt vorangestellte Bibeltext als 1. Absatz gezählt wird). Zusätzlich wird auf eine der folgenden ursprünglichen Quellen hingewiesen, auf Grund derer das Gesamtwerk zusammengestellt ist: Veerkamp 2006 = Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, I. Teil: Johannes 1,1-10,21, in: Texte & Kontexte 109-111, 2006, Veerkamp 2007 = Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, II. Teil: Johannes 10,22-21,25, in: Texte & Kontexte 113-115, 2007, und Veerkamp 2015 = Ton Veerkamp, Das Evangelium nach Johannes. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen, 2., grundlegend überarbeitete Auflage, in: Texte und Kontexte Sonderheft Nr. 3 (2015).

<04> Das ist insofern gerechtfertigt, als Johannes mit Sicherheit auf die Septuaginta zurückgegriffen hat; offen bleibt dabei, wie geläufig dem Juden Johannes der hebräische Text des TeNaK war (so die Bezeichnung der jüdischen Bibel mit den Anfangsbuchstaben ihrer drei Teile: Thora = Wegweisung, 5. Bücher Mose, Neviim = Propheten und Khetuvim = Schriften) und welche Schlüsse zum Verständnis seines Textes daraus zu ziehen wären.

<05> Little verweist dazu (Anm. 1) auf Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1950, 83 und 165, und erwähnt, dass nach Charles Kingsley Barrett, The Gospel according to St John, 2. Auflage, London: SPCK 1978, 3, „für viele Jahre die vorherrschende kritische Meinung vertreten wurde, dass Johannes das ‚Evangelium der Hellenisten‘ war.“

<06> Dazu verweist Little (Anm. 2) auf die Bemerkung von Marie-Émile Boismard, Moïse ou Jésus: Essai de christologie johannique, Leuven: University Press 1988, xv, „dass seine Auffassungen den entgegengesetzen Pol zu denjenigen Bultmanns darstellen“.

<07> In Anm. 3 deutet Little bereits an, auf welche Weise er im Anschluss an Boismard begründen wird, dass Jesus Mose absolut überlegen ist: „Für Boismard ist Jesus als die Weisheit eine harmonische Variation des grundlegenden mosaischen Themas. Jesus kann die gleiche Rolle wie Mose erfüllen, und zwar in viel besserer Weise, denn er ist die fleischgewordene Weisheit Gottes [Boismard 1988, 75].

<08> Um die Josefssohnschaft Jesu zu unterstreichen, weist Little (Anm. 4) darauf hin, dass nach Boismard „für die Samaritaner zwei Gestalten des Alten Testaments alle anderen übertreffen: Mose, der Prophet, und Josef, der König“ [Boismard 1988, 34-41, 71].

<09> Vgl. den Gottesdienst Josef, Herodes und Rahel vom 28. Dezember 2014 in der evangelischen Pauluskirche Gießen.

<10> Darauf weist Little (Anm. 10) unter Bezug auf folgende Bücher hin: Edwin D. Freed, Old Testament Quotations in the Gospel of John (Supp. to New Testament, xi) Leiden: Brill 1965, und Günter Reim, Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums, Cambridge: University Press 1974.

<11> Raymond E. Brown, ‚The Mother of Jesus in the Fourth Gospel‘, L‘Évangile de Jean, Hrsg. M. de Jonge, Leuven: University Press 1977, 309.

<12> So Ton Veerkamp, Das andere Zeichen in Kana, Galiläa: Dein Sohn lebt, 4,43-54, Abs. 2 (Veerkamp 2006, 90).

Das Wort „VATER“ oder auch „NAME“ in Großbuchstaben weist in meinem Text darauf hin, dass die Bezeichnung pater für Gott als VATER Jesu die Art und Weise ist, wie Johannes den befreienden NAMEN des Gottes Israels, JHWH, der wegen seiner Unverfügbarkeit nicht ausgesprochen werden durfte, in seinem Evangelium aufgreift.

<13> So erwähnt Little (Anm. 32) den evangelischen Theologen Martin Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, 2. Auflage, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1933, 98, der „das Wunder als unpassend für das evangelische Ethos erachtet. … Ein Gemeindemitglied des Autors fasste das Wunder einmal so zusammen: ‚Es war nichts mehr zu trinken da, und Jesus zauberte noch mehr herbei‘.“

<14> Raymond E. Brown, The Gospel according to John, The Anchor Bible, 1. Band, New York: Doubleday 1966, 194, und Rudolf Schnackenburg, Das erste Wunder Jesu (John 1,1-11), Freiburg: Herder 1951, 8-9.

<15> Nach Ton Veerkamp, Das andere Zeichen in Galiläa: Dein Sohn lebt, 4,43-54, Abs. 13 (Veerkamp 2006, 93), bildet das zweite Zeichen in Kana den Endpunkt des offenbaren Wirkens des Messias Jesus, das mit dem prinzipiellen Zeichen der messianischen Hochzeit zu Kana begonnen hat und dem in den Kapiteln 5 bis 12 sein subversives Wirken in der Verborgenheit als der durch die Mehrzahl der Judäer abgelehnte Messias folgt:

Die erste Wegstrecke führte Jeschua [Jesus] nach Kana in Galiläa, 1,43ff. Dann führt der Weg ein zweites Mal, über Jerusalem, das Land Judäa, den Jordan und über Samaria zurück nach Kana in Galiläa. Dort geschieht das andere Zeichen. Der ganze Lebensweg Jeschuas, aus Galiläa (1,43) nach Galiläa (21,1ff.), ist in diesem Abschnitt 2,1 bis 4,54 konzentriert. Es sind die Wege zum ersten und zum zweiten Zeichen in Kana. Ein drittes Mal wird der Weg vom Land Judäa nach Galiläa führen, 5,1-7,1. Zuletzt finden wir Jeschua in Galiläa; 21,1ff. erzählt aber den letzten Gang Jeschuas von Jerusalem nach Galiläa nicht: er ist, oder geschieht in Galiläa, als „der Herr“ (21,7). Alle Zeichen, die in Israel, Judäa, Jerusalem und in Galiläa geschehen, können und müssen auf die zwei Zeichen 2,1ff. und 4,46ff. zurückgeführt werden. Mit diesen zwei Zeichen, der messianischen Hochzeit und der Belebung des Sohnes, ist das Fundament für das Kommende gelegt. Hier – und so – wurde der Messias „offenbar“.

Nach dem Abschied des Messias in den Kapiteln 13 bis 20, der im andauernden Aufsteigen des Messias zum VATER gipfelt, zeigt Jesus sich (Kapitel 21) noch ein drittes Mal öffentlich vor sieben seiner Schüler (vgl. Am See von Tiberias, 21,1-25, Veerkamp 2007, 128-132). Damit macht Johannes deutlich, wie die Gruppe um Johannes sich aus der Isolation hinter verschlossenen Türen aus Angst vor den Judäern befreit und der größeren messianischen Bewegung unter der Führung des Petrus anschließt, um sich zur Nachfolge Jesu in der Praxis der Solidarität gemäß dem Beispiel der Fußwaschung gürten zu lassen.

<16> So in seiner Auslegung zu Johannes 6,39, Kein Hunger mehr, kein Durst mehr. Der entscheidende Tag, 6,30-40, Abs. 16-18 (Veerkamp 2006, 118):

Der Ausdruck eschatē hēmera bedeutet wörtlich „letzter Tag“ oder, in gehobener Sprache, „jüngster Tag“. Nur war die Vorstellung eines „letzten Tages“, nach dem kein weiterer Tag mehr kommt, bei den Judäern jener Tage unmöglich. Ewigkeit als Gegensatz zur befristeten Zeit (Tage) ist eine christliche, keine jüdische Vorstellung.

Im Koran ist jener Tag, der bei Johannes „letzter Tag“ heißt, der Tag des Gerichtes. In fast jeder der 114 Suren des Korans kommt dieser Tag vor. Danach beginnt eine neue Zeit, in der jene Probleme definitiv gelöst worden sind, die unser Leben bestimmen und belasten.

Im TeNaK ist dieser Ausdruck bekannt: be-ˀacharith ha-jamim, „in der Späte der Tage“, übersetzt Martin Buber, die Griechen übersetzen ep‘ eschatō(n) tōn hēmerōn bzw. en tais eschatais hēmerais. … Einen absolut letzten Tag kennt der TeNaK nicht. Aber er kennt sehr wohl Tage, an denen sich Entscheidendes ereignen wird, zum Guten (Deuteronomium 4,30) oder zum Bösen (Ezechiel 38,16).

Vgl. auch Veerkamps Anm. 226 zur Übersetzung von Johannes 6,39 (Veerkamp 2015, 52):

In einer fernen Zukunft geschieht Entscheidendes. Das verbindet sich bei Johannes mit dem Ausdruck jom JHWH, „der Tag des NAMENS“, 20mal bei den Propheten und genauso oft in verwandten Ausdrücken wie „Tag des flammenden Zorns“ (Jesaja 13,13). An jenem Tag ereignet sich das entscheidende Eingreifen des Gottes Israels, meistens in der Form einer Gerichtsverhandlung (gegen die Völker, gegen Babel, gegen das abtrünnige Israel). An jenem Tag geht es um Leben oder Tod. Zukunft und Entscheidung verbinden sich in eschatē hēmera, „Tag der definitiven Entscheidung“, der Tag, an dem endgültig entschieden wird, wer aufsteht zum Leben der kommenden Weltzeit und wer nicht. Auf der neuen Erde unter dem neuen Himmel wird es weiterhin Tage geben. Es geht also nicht um einen „letzten“ Tag. Deswegen „Tag der endgültigen Entscheidung“.

<17> Diese Gedanken basieren auf Ton Veerkamp, Messianische Hochzeit, 2,1-11 (Veerkamp 2006, 44-49).

<18> Esther Kobel, Dining with John, 287ff. Vgl. dazu meine Kommentierung Jesu Fleisch kauen entsprechend der Theophagie des Gottes Dionysos?

<19> Vgl. in der eben genannten Buchbesprechung Ironische Anspielungen eines jüdischen Messianisten auf heidnische Mysterien und Übertreibt Johannes rituelle Abendmahlspraktiken in polemisch-ironischer Absicht?

<20> Dazu verweist Little (Anm. 99) auf Marcus Jastrow, Hebrew and Babylonian Traditions, London: T. Fisher Unwin 1914, 187, der als Beispiele die Bibelstellen 4. Mose 15,5.7.10; 28,7-8.14 aufführt.

<21> Dazu verweist Little (Anm. 104) auf Gregory Dix, The Shape of the Liturgy, 2. Auflage, London: Dacre Press 1975, der zur Begründung u. a. Lukas 7,34 heranzieht. Little fügt ergänzend hinzu:

In Ländern wie Palästina, in denen die Weinrebe gedeiht …, mag edler Wein selten und teuer sein, aber einfacher Wein ist reichlich vorhanden und billig.

<22> Messianische Hochzeit, 2,1-11, Abs. 14 (Veerkamp 2006, 47).

<23> In seiner Auslegung von Johannes 10,16, Die Deutung des Gleichnisses, 10,7-18, Abs. 24 (Veerkamp 2006, 159):

In V.16 scheint der Text den Faden zu verlieren, den er erst in V.17 wieder aufnimmt. Offenbar scheint er einem drohenden Missverständnis vorbeugen zu wollen. Die Menschen, die diese Worte hören, könnten der Auffassung sein, sie, die messianischen Judäer, seien die Schafe, sie allein. Es gibt aber auch andere, für die das gleiche Engagement gilt. Nach zweitausend Jahren kann das Christentum hier nichts anderes als „Heidenmission“ denken. Johannes sagt bloß, es gehe nicht nur um die Schafe dieses Hofes, nicht nur um die Judäer Jerusalems, es gebe andere Kinder Israels, etwa die Frau aus Samaria, auch die, die im ganzen Römischen Reich weit zerstreut leben. Zu ihnen gehören sicher auch die nicht-jüdischen Sympathisanten des (hellenistischen) Judentums, die „Griechen“ aus Johannes 12,20ff. Sie alle will der Messias vereinen: sie alle sollen werden „eine Herde, ein Hirte“. Unter denen, die „nicht von diesem Hof sind“, mögen Angehörige anderer Völker (Gojim) sein. Sie aber werden zu Israel gehören – und nicht umgekehrt Israel zu einem völlig neuen Gottesvolk, etwa der christlichen Kirche! Der EINE, der NAME, ist der Hirte Israels, Psalm 23,1; 80,2; Ezechiel 34,13f. usw.

Dazu ergänzt der Autor in Anm. 331 (Veerkamp 2006, 159, Anm. 36):

Wir können auch an unsere Auslegung von Johannes 2,6 denken. Dort standen bei der Hochzeitsfeier in Kana sechs steinerne Wasserkrüge. „Das halbe Israel“, haben wir gesagt. Meint Johannes hier, 10,16, die andere Hälfte?

Vgl. außerdem die Auslegung von Johannes 4, Die Frau am Jakobsbrunnen, 4,1-42 (Veerkamp 2006, 74-90).

<24> Boismard 1988, 60-61, sowie Marie-Émile Boismard und Arnaud Lamouille, L‘Évangile de Jean, Synopse des quatre évangiles, vier Bände, Band III, Paris: Cerf 1977, 104.

<25> Vgl. meine Zusammenfassung des Buches von Ton Veerkamp, Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung © Institut für Kritische Theologie Berlin e. V. nach der in Berlin erschienenen Ausgabe © Argument Verlag 2013 (weitere Zitierungen leite ich mit dem Kürzel Veerkamp 2013 ein) in den Abschnitten Die Struktur der Großen Erzählung und Die Sprache der Großen Erzählung.

<26> Jetzt ist meine Seele erschüttert, 12,27-33, Abs. 5-7 (Veerkamp 2007, 33).

<27> Messianische Hochzeit, 2,1-11, Abs. 8-9 (Veerkamp 2006, 46).

<28> Vgl. Veerkamp 2013 im Abschnitt 4. Buch Mose – Numeri, Abs. 9 zum Konflikt 6 (Kapitel 20):

Als das Volk erneut „einen Rechtsstreit“ gegen Mose führt, weil es kein Wasser gibt, gebietet der NAME Mose und Aaron, dem Volk Wasser zu geben. Aber da Mose dem Volk nicht gibt, „was es braucht und worauf es ein Recht hat, 20.12f“, und „das Volk als Gegner, Rebellen (morim)“ bezeichnet, darf er „dieses Volk nicht in das Land führen“.

<29> Vgl. Ton Veerkamp, Messianische Hochzeit, 2,1-11, Abs. 12 (Veerkamp 2006, 46-47):

Die Mutter Jeschuas, die sich das zentrale Problem des Hochzeitsfestes zu eigen gemacht hat, wendet sich an die Diensthabenden. Ihre Handlung interpretiert die Frage: „Was ist zwischen mir und dir?“ nicht als eine rhetorische, sondern als eine wirkliche Frage. Was habe ich, der Messias, mit diesem Israel zu tun? Sie beantwortet diese implizite Frage mit einer Aktion; sie sagt zu den Diensthabenden, sie sollen tun, was Jeschua ihnen sagen wird. Mit einem solchen Israel hat er allerdings etwas zu tun.

<30> Max Thurian, Marie mère du Seigneur figure de L‘Église, Presses des Taizé 1962, 201.

<31> Vgl. dazu die Frage, ob das Johannesevangelium ursprünglich eher auf ein jüdisch-messianisches oder heidenchristliches Publikum ausgerichtet war. Adele Reinhartz, Cast Out of the Covenant: Jews and Anti-Judaism in the Gospel of John (Lanham: Lexington Books-Fortress Academic, 2018), vertritt im Rahmen ihrer „Hineinführungstheorie“ („propulsion theory“) die letztere Auffassung. Dem habe ich in meiner Besprechung ihres Buches in folgenden Abschnitten widersprochen: Belege für heidnische Außenseiter als das Publikum des Johannesevangeliums und War die Heidenmission ein ursprüngliches Ziel des Johannes?

<32> Übersetzung von Johannes 1,14 und Anm. 53 (Veerkamp 2015, 11 und 10):

1,14 Das Wort geschieht als Fleisch,
hat sein Zelt bei uns,
wir schauen seine Ehre,
eine Ehre als die eines Einziggezeugten beim VATER,
erfüllt von solidarischer Treue.

Charis kai alētheia, hebräisch chessed we-ˀemeth. Diese Wortverbindung ist klassisch, vor allem in den Psalmen. Buber übersetzt hier mit: „Huld und Treue“. Weil gegen Huld einiges einzuwenden ist (gerade wegen der von Buber intendierten feudalen Beziehung zwischen Lehnsherrn und Vasall), schreiben wir „Solidarität/solidarisch.“ Das Wort charis kommt bei Johannes nur viermal vor, außer in diesem Vers noch in 1,16 (2x) und 1,17. Obwohl charis normalerweise für das hebräische chen, „Gunst“, oder traditionell „Gnade“, gebraucht wird, und die LXX chessed meistens mit eleēmosynē übersetzt, legt der gedankliche Zusammenhang der Vorrede nahe, dass in 1,14 chessed we-ˀemeth im Hintergrund steht.

<33> Übersetzung von Johannes 1,17 und Anm. 57 (Veerkamp 2015, 13 und 12):

1,17 Was als die Tora durch Mosche gegeben wurde,
das geschah als die Solidarität und die Treue
durch Jeschua Messias.

[Das griechische Wort] hoti wird zwar von keiner Handschrift, aber in alten und neuen Übersetzungen oft weggelassen. Ich lese hier zwei Wörter ho ti und schlage „was“ (statt „denn“) vor; die Tora ist und bleibt die Grundlage. Spätere Generationen haben hier einen Gegensatz gesehen: „Durch Mosche wurde die Tora gegeben, aber durch Jeschua geschah die Solidarität und die Treue.“ Durch den Messias Jeschua wurde die eine Geschichte („geschah!“) neu. Die Gabe der Tora war die „Solidarität und Treue“ Gottes durch Mosche, jetzt geschieht die gleiche „Solidarität und Treue“ neu durch Jeschua Messias, was sich im „neuen Gebot“ äußert, 13,34. Dennoch redet Johannes nicht von nomos kainos, „neuer Tora“, sondern von entolē kainē, „neuem Gebot“. Es gibt im Johannesevangelium einen unübersehbaren Gegensatz zwischen den Leuten um Johannes und dem rabbinischen Judentum, das in Mosche seinen einzigen Lehrer sieht; alle Rabbinen sind nur Schüler des Mosche (9,28). Johannes cum suis sind dagegen auch Schüler Jeschuas. Aber nirgendwo schreibt Johannes, dass Jeschua sich von Mosche trennt, im Gegenteil: „Wenn ihr (Rabbinen) Mosche vertraut, dann vertraut auch mir; denn über mich hat jener geschrieben“ (5,42).

<34> Aus Ton Veerkamps Scholion 5, Christozentrismus und Enterbung des Judentums zitiere ich dazu nur den Schlussabsatz 10 (Veerkamp 2006, 108):

Natürlich hat Mosche nicht über Jeschua Messias geschrieben; insofern bleiben auch wir „historische Kritiker“. Jeschua ist und bleibt aber nur von Mosche her verständlich – und eben nicht umgekehrt. Wenn Johannes das gemeint haben soll, wäre der Satz richtig, Mosche habe über Jeschua geschrieben.

<35> Das Wort und die menschliche Wirklichkeit, 1,14 (Veerkamp 2006, 22):

Monogenēs steht für das hebräische jachid. In der Septuaginta bedeutet es in sechs von zehn Fällen „einziges Kind“ (z.B. die Tochter Jeftahs, Richter 11,34). In zwei Fällen, Psalm 22,20 und 35,17, bedeutet es „die einzige Seele“. Psalm 25,16 hat es für „einsam“ – wie ein Mensch ohne Geschwister. Im apokryphen Buch Weisheit Salomos ist „einzigartig“ eine angemessene Übersetzung: „Einzigartig ist die Inspiration der Weisheit“, 7,22. Bei Johannes kommt es fünfmal vor (inkl. 1 Johannes 4,9); bei Lukas bedeutet es dreimal „einziges Kind“, in Hebräer 11,17 das „einzige Kind“ Abrahams, Isaak. Johannes überträgt den theologischen Gebrauch von „einzig“ (jachid) in der Erzählung von Isaak als „einziger Sohn“ und somit als die einzige Zukunft Abrahams auf den Messias Jeschua. Er ist der neue Isaak, er eröffnet die Zukunft des neuen Israels.

Dazu Veerkamp weiter in der Auslegung zu Johannes 3,16, „dass er [der NAME] den SOHN, den Einziggezeugten, gab“, „Du bist der Lehrer Israels, und das verstehst du nicht?“, 2,23-3,21, Abs. 38-42 (Veerkamp 2006, 60-61):

Johannes bietet im zweiten Satz wiederum einen Midrasch, den über die „Bindung Isaaks, des Einzigen“, Genesis 22. Dort wird von Abraham gefordert, seinen Sohn, „seinen Einzigen“, als Opfer zu erheben. Dann sagte der Bote des NAMENS zu Abraham, Genesis 22,11ff.:

Der Bote des NAMENS rief ihm vom Himmel her zu.
Abraham sagte: „Hier, ich!“
Er sagte:
„Schicke deine Hand nicht aus gegen den Knaben,
tue ihm gar nichts;
jetzt erkenne ich:
du hast Ehrfurcht vor Gott,
denn du hast mir deinen Sohn, deinen Einzigen, nicht vorenthalten.“
Abraham hob seine Augen,
er sah, wie ein Widder sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen hat.
Abraham ging, nahm den Widder,
erhob ihn als Hebeopfer statt seines Sohnes.

Mit dem Wort monogenēs, jachid, ruft Johannes diese Schriftstelle auf. Christen denken dabei immer an das Trinitätsdogma, Jeschua als der ewige Sohn des VATERS, genitum non factum, „gezeugt, nicht gemacht“. Nein; hier ist der SOHN nicht die Gestalt von Daniel 7, sondern die Repräsentation Isaaks. Auf diesen Sohn hatte Abraham ein Leben lang gewartet; er ist seine Zukunft. Der Gott Abrahams muss Abraham in einer boshaft-drastischen Weise klar machen, dass dieser Isaak nicht der Sohn Abrahams, sondern der Sohn seines Gottes ist, des VATERS von Israel, dem Volk, das dazu bestimmt ist, Erstgeborenes unter den Völkern zu sein. Bleibt Isaak nicht am Leben, hat Abraham keine Zukunft. Er muss am Leben bleiben, aber nur als Gottes Sohn.

Johannes stellt hier Jeschua vor als die Repräsentation Isaaks. Wie damals Isaak ist jetzt Jeschua die Zukunft. Im hebräischen Text steht, dass Abraham seinen Sohn „erheben“ muss als Hebeopfer (haˁala le-ˁola). So weit kam es nicht; die Bindung Isaaks wird gelöst, die Schlachtung Isaaks unterbunden, weil Abraham nachweislich seinen Sohn nicht mehr als seine eigene, partikulare Zukunft sieht, sondern als die Zukunft „Gottes“ anerkennt. Die Solidarität Gottes mit Abraham zeigte sich damals in der Verhinderung der Opferung Isaaks. Bei Johannes muss der Gott Israels etwas tun, was von Abraham nie verlangt wurde. Hier wird Jeschua/Isaak erhöht, blutig. Hier geht der Gott Israels den ganzen blutigen Weg mit der Welt der Menschen, weil es keinen anderen Weg gibt, um mit ihnen solidarisch zu sein.

Johannes verfremdet die Erzählung von der Bindung Isaaks. Führt die Zukunft Abrahams über die Lösung der Bindung Isaaks, so führt hier die Zukunft über die Schlachtung des Messias, so brutal muss man das Wort edōken, „hingegeben“, deuten. „Gott“ geht den ganzen blutigen Weg nach unten, weil die Weltordnung den Gott sozusagen zwingt, seinen Einzigen töten zu lassen.

<36> Anm. 51 zur Auslegung von Johannes 1,14, „wir schauen seine Ehre“ (Veerkamp 2015, 10):

Doxa ist hebräisch kavod und bedeutet wortwörtlich „Wucht“ (von kaved, „schwer sein“). Nach Buber übersetzen wir mit „Ehre“ und nicht mit „Herrlichkeit“. Das Wort ist nicht zu „ver-herr-lichen“, sondern ihm gebührt Ehre auf Grund dessen, was es für Israel tut.

<37> Little verweist dazu (Anm. 129) auf Irenäus, Adversus Haereses 3, 11,5.

<38> Vgl. Ton Veerkamps Auslegung von Johannes 19,25-27, Zweite Szene: Mutter und Sohn, 19,25-27, Abs. 4-8 (Veerkamp 2007, 102-03):

Der Schüler, dem Jeschua freundschaftlich verbunden war, ist der Schüler, der sich an die Brust Jeschuas lehnte, 13,25, der am offenen Grab sah und vertraute, 20,8, der den Herrn erkannte, 21,7, der bleibt, bis der Messias kommt, 21,22, und er könnte auch identisch mit dem „anderen Schüler“ gewesen sein, der im Gerichtshof des Hannas war, 18,16.

Die Mutter des Messias vermittelt zwischen den Hochzeitsgästen (Israel) und Jeschua. Dort ging es um den fehlenden Wein, um das, was die Hochzeit zur messianischen Hochzeit machen sollte. Die Mutter Jeschuas hat bei Johannes keinen eigenen Namen; wir hören bei ihm nie, dass sie Maria(m) heißt. Das muss eine Bedeutung haben, denn der Name des Vaters Jeschuas wird von Johannes angegeben (1,45; 6,42). Die Mutter des Messias hatte Jeschua dazu gebracht, zum ersten Mal seine Ehre öffentlich zu zeigen, und zwar, indem sie den „Diensthabenden“ (diakonoi) sagt, sie sollen tun, was Jeschua ihnen sagen wird. Sie ist also die Mahnende, die immer die messianische Gemeinde dazu anhalten soll, das zu tun – und nur das –, was Jeschua sagt.

Die Mutter des Messias soll den „geliebten“ Schüler Jeschuas als Sohn annehmen, dieser jene als Mutter. Auch der Name des geliebten Schülers wird nicht erwähnt. Beide Namenlosen, die Mutter des Messias und der geliebte Schüler, sind buchstäblich Prototypen. Die Mutter repräsentiert die messianische Gemeinde als solche, der geliebte Schüler den Schüler (und die Schülerin) als solche(n).

Die Mutter des Messias, die messianische Gemeinde, ist die Mahnende: „Was er euch sagen wird, das sollt ihr tun!“ Als Mahnende ist sie die autoritative Instanz dem Schüler gegenüber. Der Schüler muss sie, die Gemeinde, als Mutter, eben als jene autoritative Instanz, annehmen. Die beiden anderen Frauen dienen hier als Testamentzeugen: Es handelt sich also um die letzte Verfügung des Messias.

„Ab dieser Stunde nahm der Schüler sie zu eigen, eis ta idia.“ Das bedeutet wohl kaum so etwas wie „mit nach Hause“, und es bedeutet erst recht nicht die leibliche Versorgung der alten und schutzlosen Mutter. Das wäre frommer Kitsch. Der Verfasser des Prologs sagt: „In das ihm Eigene (ta idia) kommt es [das Wort], aber die Eigenen (hai idioi) nehmen es nicht an.“ Die Eigenen sind die Kinder Israels, die Judäer, aber sie haben das Wort nicht angenommen, 1,11. Diese Menschen sind das, was das eigentliche Milieu des Wortes ausmacht, eben das Eigene. Dieses Eigene ist ab jetzt der Ort, wo sich Israel um den Messias sammeln wird, die messianische Gemeinde. Sie, das neue messianische Israel: Mutter des Messias!

<39> Andreas Bedenbender hat in seinen Büchern Frohe Botschaft am Abgrund. Das Markusevangelium und der Jüdische Krieg, Leipzig 2013, und Der gescheiterte Messias, Leipzig 2019, das Markusevangelium als einen Ausdruck der Verstörung über die Katastrophe des Judäischen Krieges ausgelegt.

<40> Ton Veerkamp, Der vierte Tag. Der MENSCH, 1,43-51, Abs. 10-13 (Veerkamp 2006, 41-42):

„Als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen“, sagt Jeschua. Die Phantasie geht dann mit vielen Auslegenden durch, Jeschua habe gesehen, was ein normaler Mensch nicht sehen konnte, irgend etwas, was Nathanael heimlich unter jenem Feigenbaum trieb, eine kleine Demonstration „übernatürlichen Wissens“ [Charles K. Barrett, Das Evangelium nach Johannes (KEK), Göttingen 1990, 208]; ein gewisser Blank meint, die Begegnung mit Jesus mache den Menschen betroffen, indem sie diesem auch die Wahrheit über sich selbst enthülle [Siehe Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10 (ThKNT), Stuttgart 2000, 94]. Nein, die angebliche Verblüffung Nathanaels über parapsychologische Fähigkeiten Jeschuas enthüllt die Ahnungslosigkeit der Exegeten. Jeschua antwortet nicht direkt auf die Frage, er verkündigt vielmehr seine Vision: „Friede für Israel“. Im Goldenen Zeitalter Israels, als König Salomo noch ein tadelloser Mann war, hieß es, 1 Könige 5,4f.:

Friede war mit ihm [Salomo] von allen Seiten ringsum.
Und Juda und Israel siedelten in Sicherheit,
jedermann unter seinem Weinstock, unter seinem Feigenbaum,
von Dan bis nach Beerscheba,
alle Tage Salomos.

Diese Vision hatte auch der Verfasser des ersten Buches der Makkabäer; während der Regierung des Fürsten Simon Makkabäus saß „jedermann unter dem Weinstock und unter seinem Feigenbaum“ (14,12). Diese Vision war in der makkabäischen Zeit lebendig. Jeschua nennt Nathanael „einen Israeliten ohne Tücke“. Was das heißt, erklärt Jeschua mit seiner Sicht, dass Nathanael „unter dem Feigenbaum war“. Ein Israelit ohne Tücke ist ein Israelit, der nur eins will: Friede für Israel. Dasein unter dem Feigenbaum ist die Friedensvision des Messias und die Herzensangelegenheit Nathanaels. [Eine Zurechtweisung an die Adresse des Markus bzw. Matthäus, die Jeschua den Feigenbaum verfluchen lassen (Markus 11,12f. par.)? Lukas hat diesen Passus wohl mit Absicht weggelassen. Zum Bild Feigenbaum vgl. Micha 4,4 und Sacharja 3,10.] Nathanael begreift sofort, was Jeschua ihm sagt. Jeschua, der Lehrer, sei „wie Gott“ und „König über Israel“, wie Salomo ben David und Simon, der Bruder des Judas Makkabäus. Das ist kein formelhaftes Bekenntnis, sondern eine inhaltliche Aussage über Jeschua.

Jeschua ahnt das Missverständnis, Nathanael denke, mit ihm, Jeschua, kämen die großen alten Tage Israels wieder. Er sagt zu ihm: „Weil ich gesagt habe, dass ich dich unter dem Feigenbaum sehe, vertraust du. Größeres als das wirst du sehen.“ Nathanael vertraut darauf, dass er „unter dem Feigenbaum“ sein wird, dass er Frieden erleben wird, und Frieden ist mehr als die Abwesenheit offenen Krieges, Frieden ist Sicherheit, und die ist unter Königen wie Salomo oder Simon nicht wirklich zu haben. Das plastische Bild für das Leben in Sicherheit ist Sitzen unter dem Weinstock und unter dem Feigenbaum. Aber diese Sehnsucht ist nicht genug. Es gibt ein Problem der Weltordnung, das durch diesen Frieden nicht gelöst wird. Zwischen der Vision der Belebung und Vereinigung Israels Ezechiel 37 und den Blueprint für den Wiederaufbau Israels Ezechiel 40-48 steht der Text über Gog aus Magog. Dieser kommt „gegen ein Land von Bauern, auszuplündern Leute, die in Sicherheit siedeln. Alle siedeln sie ohne Mauern, weder Riegel noch Türen haben sie“ (Ezechiel 38,11). Solange es Gog aus Magog gibt, solange gibt es keine wahre Sicherheit. Was ist größer als Frieden für Israel? Eine Weltordnung des Friedens.

<41> Martin Hengel, ‚The Interpretation of the Wine Miracle at Cana: John 2,1-11‘, The Glory of Christ in the New Testament, Hrsg. L. D. Hurst und N. T. Wright, Oxford: Clarendon: 1987, 84-112, hier 100.

<42> Ton Veerkamp will den Ausdruck ek metrou in Anm. 149 zu Johannes 3,34 allerdings mit „nach dem Maß“ übersetzen:

Metron, hebräisch ˀefa, „inhaltliches Maß, Scheffel, Gefäß, Maß“; der Bezug könnte Sacharja 5,6 sein. Dort geht um das Maß (Scheffel) der Bosheit Israels, das es ins Exil führt, in das Land Schinar; dort lässt sich die Inspiration des NAMENS nieder: „Siehe die da ausfahren in das Land des Nordens, sie lassen ruhen meine Inspiration im Land des Nordens“ (6,8), am Ort der Verschleppung Israels. Die Inspiration wird nicht länger durch das „Maß der Bosheit“, sondern von der Inspiration bestimmt, die durch den Gott Israels und den Messias gegeben wird. Johannes geht davon aus, dass seine Zuhörer die Bezugsstelle Sacharja 5,1ff. kennen.

Dieser Zusammenhang ist nicht auszuschließen; der bestimmte Artikel, den Veerkamp in seiner Übersetzung verwendet, steht allerdings nicht im griechischen Original.

<43> Erwin Ramsdell Goodenough, Jewish Symbols in the Greco-Roman Period, 13 Bände, Bollingen series XXXVII, New York: Pantheon 1953-68, hier 6. Band, 25, 42 und 195.

<44> Ton Veerkamp, Der zweite Tag. Einer wie Gott, 1,29-34, Abs. 24-26 (Veerkamp 2006, 36):

Der Messias Jeschua wird „mit Inspiration der Heiligung“ (und mit Feuer, fügen einige Handschriften hinzu) taufen. Auch das verstehen wir nur, wenn wir die Schrift Israels befragen. Es heißt: „Ihr sollt heilig werden, denn heilig bin ich, der NAME, euer Gott“, Leviticus 19,2. Im dritten Teil des dritten Buches der Tora, wajiqraˀ (Leviticus), der in Kapitel 18 beginnt, wird der Gott Israels einmal „der Heilige“ (qadosch) genannt und siebenmal aktiv-kausativ: „Der heilig macht“ (meqadisch). In Leviticus 20,7f. hören wir:

Heiligt euch und werdet zu Heiligen,
denn ICH BIN ES, der NAME, euer Gott.
Ihr sollt meine Gesetze wahren, sie tun,
ICH BIN ES, der NAME, der euch heilig macht.

Dieses aktive „heiligen“ ist das, was mit „Inspiration der Heiligung“ gemeint ist. Für Israel war es die Befähigung, die Tora leben zu können. Die Frage ist, ob Johannes die gleiche Tora meint. Keine Frage ist, ob Johannes den gleichen Gott und die gleiche Inspiration meint, die die Propheten Israels antrieb. Für ihn ist maßgeblich, was in der Vokabel Gott an gesellschaftlicher Vision steckt. Der Inhalt der Vision Jochanans ist die bleibende Inspiration vom Himmel, also vom NAMEN, her. Sie ist für immer mit Jeschua verbunden.

<45> Übersetzung von Johannes 1,29 und Anm. 73 zur Stelle (Veerkamp 2015, 16). Die genannte Anmerkung fährt fort mit folgendem Text aus Ton Veerkamp, Das Evangelium nach Johannes in kolometrischer Übersetzung, in: Texte und Kontexte 106/107 (2005), 18, Anm. 7:

Johannes kombiniert dieses Bild vom „leidenden Knecht Gottes“ mit dem Bild des „Sündenbocks“, jener Bock, auf dessen Kopf der Hohepriester am Jom Kippur seine Hände stemmt und ihm so die Fehlentwicklung des ganzen Volkes überträgt: „der Bock trägt (naßaˀ, lēmpsetai) all ihre Verfehlungen“, Leviticus 16,22. Die LXX wählt für dieses stellvertretende Tragen immer das Verb lambanein; airein finden wir nur in 1 Samuel 15,25; 25,28, wie Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10 (ThKNT), Stuttgart 2000, z.St., zeigt. Ein Mensch – Samuel, David – möge den Fehler oder die Abtrünnigkeit eines anderen Menschen – Saul, Abigail – „ertragen“ und so, wie die LXX interpretiert, „wegnehmen“. Airein bedeutet „wegtragen, aufheben“, also: „weg-“ oder „abschaffen“. Hier möge geschehen, was Saul von Samuel erbittet: „Hebe doch meine Verirrung auf, kehre mit mir um, dass ich mich vor dem NAMEN verneige.“ Jeschua hebt die Verirrungen Israels auf, damit es umkehrt und sich vor dem NAMEN verneigt. … Wir werden die Wortgruppe hamartia, hamartanein, hamartōlos mit Wörtern vom Stamm „irr-“ übersetzen. Denn hamartia ist nicht eine individuelle moralische Fehlleistung (Sünde), sondern das, was eine ganze Gesellschaft in die Verirrung führt. Wenn man das berücksichtigt, kann man auch die Opfertexte des Buches Leviticus verstehen; wenn man etwas tut, was die Gesellschaft beschädigt, kaputt macht, kann man dem nur gerecht werden, indem man Dinge, Tiere vernichtet. Das Wort „Sünde“ ist viel zu religiös, um die schriftgemäße Dimension von chatath/hamartia zum Ausdruck bringen zu können.

<46> Vgl. dazu meine Zusammenfassung des entsprechenden Abschnitts aus Veerkamp 2013: Hebräerbrief.

<47> Ton Veerkamp, Ein Lehrstück, 2,13-22, Abs. 3-6 (Veerkamp 2006, 51-52):

Jeschua steigt auf nach Jerusalem. Denn das Pascha muss am Ort, den sich der NAME erwählt hat, gefeiert werden. Pascha ist im Johannesevangelium immer „nahe“. Jeschua macht dort eine Entdeckung, die ihm jede Befreiungsfeier unmöglich macht: er findet (!) im Heiligtum die, die es zu einer Krämerstätte machen.

Das Heiligtum war ein Markt für den überregionalen Austausch von Waren nach den Prinzipien einer Geldökonomie. Diese Funktion hatte es schon in der vorhellenistischen Zeit, aber im Hellenismus entwickelte sich das Heiligtum schnell zum Markt für Güter und Dienstleistungen und hatte außerdem die Funktion eines Finanzinstitutes (2 Makkabäer 3,10f.). Auf solchen Märkten gab es seit der hellenistischen Antike bis in die frühmoderne Zeit Geldwechsler. Für die Existenz solcher Märkte im Bereich des Hauses Gottes gibt es außerhalb der Evangelien keine historischen Belege. Die Stadt selber freilich kannte solche Märkte. Händler kauften und verkauften, und da jeder kleine Potentat in der Region (etwa Herodes Antipas) zumindest ein eingeschränktes Münzrecht hatte, war eine Reihe von Währungen in Umlauf. Auch wenn die Geldwechsler nur für das Einziehen der Hebe für das Heiligtum (meistens „Tempelsteuer“ genannt) zuständig waren, sieht Johannes sie als Krämer, wie jene, die mit Opfertieren handelten.

Für Johannes scheint der letzte Satz des Buches Sacharja den Ausschlag zu geben. „Es wird kein Krämer sein im Haus des NAMENS der Heerscharen an diesem Tag.“ Ein Zustand, nach dem sich das fromme Israel sehnt. Der Kaufmannsstand galt in Israel und überhaupt in der Vormoderne als etwas Abartiges, berufsmäßige Händler werden „Kanaaniter“ genannt. [Von Kramhandel (kapelikon) um des Gelderwerbs (chrēmatistikē) willen hält z.B. Aristoteles gar nichts (Pol. 1257b).] Zumindest am Schabbat duldete Nehemia keine Krämer in der Stadt (Nehemia 13,15-22). Jerusalem war in den Augen der Evangelisten eine hellenistische Stadt, eine „Krämerstadt“ (emporion), wie die Propheten die phönizische Handelsmetropole Tyrus nannten, ihre Handelspartner wurden folgerichtig emporioi, „Krämer“, genannt (Jesaja 23,17; Ezechiel 27,15). Das muss ein Ende haben. Jeschua macht damit ein Ende.

Auffällig ist die Gewalt, die Jeschua hier anwendet; einer wie Gandhi war er bei Johannes nicht. Auf Unvoreingenommene macht das keinen guten Eindruck; sie können sich dem Eindruck nicht entziehen, dass hier ein fundamentalistischer Eiferer am Werke ist. Dieser Eindruck ist falsch. Vielmehr stellen alle Evangelisten Jeschua ganz in die Tradition der makkabäischen Revolution. Dass sie diesen Jeschua den militärischen Zelotismus ablehnen lassen (Johannes 10,8ff.; 18,11; Matthäus 26,52), hat mit einem dogmatischen Pazifismus nichts, mit einer realistischen Einschätzung des militärischen Kräfteverhältnisses alles zu tun. Aber die Schüler erinnern sich daran, dass Jeschua ein Zelot war: „Der Eifer (zēlos) um dein Haus frisst mich“, sagt der Psalm, und wir denken an Elia, der bekannte: „Geeifert, habe ich, geeifert (zēlōn ezēlōka) für den NAMEN, den Gott der Ordnungen“, 1 Könige 19,10. Jeschua war nach Johannes ein Zelot, aber ein richtiger, kein Rambo vom Schlage der Leute, die während des zelotischen Regimes in Jerusalem (68-70) jenes blutige Chaos anrichteten, das in die unvorstellbare Katastrophe des Jahres 70 führte. Was hier geschieht, ist eine Art von Chanukka, die Reinigung des Hauses Gottes. Hier wird das negative Moment der Chanukka, die Säuberung, erwähnt, in 10,22ff. das positive.

<48> Weder – noch, Inspiration und Treue, 4,20-24, Abs. 4-5.7.9-10 (Veerkamp 2006, 83-84).

<49> Messianische Hochzeit, 2,1-11, Abs. 15-17 (Veerkamp 2006, 47-48):

Und nun hat der architriklinos seinen Auftritt. Das Wort ist einmalig, es kommt weder in den griechischen Fassungen der Schrift, noch im nicht-biblischen griechischen Schrifttum vor. Ein Erzähler, erst recht ein Erzähler vom Rang des Johannes, hat seine Gründe, wenn er eine Figur einführt und sie mit einem völlig ungewöhnlichen Wort bezeichnet. Alles Mögliche wird bemüht, um die Sache aufzuklären. Bultmann hat „Tafelmeister“, Barrett hat „Toastmaster“, Wengst hat „Speisemeister“.

Wengst wäre in der Lage gewesen, diese Peinlichkeit zu vermeiden. Er verweist selbst für den Wortteil triklinos auf die Stelle der Mischna: „Rabbi Jakob sagt: Diese Welt gleicht einer Vorhalle zur zukünftigen Welt: rüste dich in der Vorhalle, damit du in den Palast (triklinos, traqlin auf Mischnahebräisch) eintreten kannst“ (Mischna Avot 4,16). Das Wort erklärt den Ort Hochzeit, das Haus des Bräutigams. Die Figur muss also mehr bedeuten als eine Nebenfigur. Der architriklinos ist auf alle Fälle der Vertraute des Bräutigams, wie sich zeigen wird. Der Bräutigam kann, wenn wir die Hochzeit nach Jesaja 62,4f. deuten, keinen anderen repräsentieren als den Gott Israels.

Der architriklinos weiß nichts, die Wissenden sind die Diensthabenden, die diakonoi. Die Diensthabenden haben keinen direkten Zutritt zum Bräutigam. Die diakonoi wissen, der architriklinos ist der, der nicht weiß, was die diakonoi wissen; von dort muss das Rätsel, vor das uns diese Gestalt stellt, gelöst werden. Bislang hatten wir nur die zweimalige Versicherung des Täufers: „Auch ich hatte kein Wissen von ihm“ (1,31.33, kai egō ouk ēdein auton). Vom architriklinos wird gesagt: „Er wusste nicht.“ So wie der Täufer nicht wusste, dass Jeschua ben Joseph aus Nazareth der Messias war, so wusste der architriklinos nicht, woher der Wein, das effektive Zeichen der messianischen Zeit, stammt. Wer ist der Vertraute oder „Freund des Bräutigams“? Warten wir bis 3,29!

<50> Der Täufer und der Messias, 3,22-30, Abs. 1 und 16-23 (Veerkamp 2015, 29, und Veerkamp 2006, 68-69):

Wir werden in dieser zweiten Hochzeitserzählung im Johannesevangelium auf die Erzählung der Hochzeit zu Kana zurückverwiesen. Der Freund des Bräutigams ist der hestēkōs, der Beisteher. Zu Recht verweisen Barrett, Bultmann, Wengst u.a. auf die Funktion des Freundes als (orientalischer) Trauzeuge.

Mit dieser Erzählung erhält das Hauptzeichen in Kana seine eigentliche Dimension. Der Bräutigam ist der messianische König, die Braut ist Israel. Matthäus verwendet das Bild der messianischen Hochzeit in der Erzählung von den zehn Mädchen, Matthäus 25,1-13. Jochanan ist der wichtigste aller Hochzeitsgäste, er ist der architriklinos aus Johannes 2,1ff.: „Auch ich wusste nichts von ihm“, sagte Jochanan, 1,34, genauso, wie der architriklinos nicht wusste, wo der Wein herkam (2,9). Jetzt weiß der Freund. Denn er hört die Stimme des Bräutigams.

Wir kennen die „Stimme des Bräutigams“ aus der Schrift sehr gut. Dreimal lässt Jeremia diese Stimme wie einen finsteren Refrain hören, einmal wie eine Freudenbotschaft. In Jeremia 7,34 (vgl. 16,9 und 25,10) hören wir:

Ich will verabschieden aus den Städten Judas, aus den Straßen Jerusalems,
Stimme der Wonne und Stimme der Freude,
Stimme des Bräutigams und Stimme der Braut,
denn zu einer Einöde wird das Land.

Aber in 33,10f. heißt es:

So hat der NAME gesagt:
Ja, gehört wird wieder in diesem Ort,
wovon ihr sagt: verödet ist er,
ohne Mensch, ohne Vieh,
und von den Städten Judas, von den Straßen Jerusalems:
verwüstet, kein Mensch, kein Bewohner, kein Vieh,
Stimme der Wonne, Stimme der Freude,
Stimme des Bräutigams, Stimme der Braut,
Stimme derer, die sagen:
Dankt dem NAMEN der Ordnungen,
denn gut ist der NAME,
in Weltzeit seine Solidarität … [= Psalm 136]

Um die „erfüllte Freude“ geht es, die endgültige messianische Wende für eine Stadt, wo nur die Stimme des Krieges gehört wird und die in den Tagen dieses Johannes verwüstet ist. In den Tagen der messianischen Hochzeit tritt der Prophet – Jeremia, Jochanan – zurück. Der Messias, der Bräutigam, soll zunehmen, wogegen dieser geringer werden soll. Gegen diesen Hintergrund will Johannes den Prozess der wachsenden messianischen Gemeinde und die schrumpfenden Gruppen der Täuferschüler gedeutet sehen.

So hat sich das Rätsel, das uns Johannes mit der Figur des architriklinos aufgibt, gelöst. Der „Nichtwissende“, Vertrauter oder Freund des Bräutigams, ist jener Jochanan, den wir „den Täufer“ nennen. Bei Johannes ist er Jochanan der Zeuge.

<51> Little geht in seinem Verweis auf die Offenbarung allerdings nicht darauf ein, dass die dort beschriebene messianische Hochzeit nicht im Himmel stattfindet, sondern auf der erneuerten Erde. Das neue Jerusalem kommt nämlich (Offenbarung 21,2) „von Gott aus dem Himmel herab, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.“ Und auch dort ist Jesus als das Lamm nicht einfach identisch mit dem himmlischen Bräutigam, denn die messianische Hochzeit wird mit den Worten beschrieben (Offenbarung 21,3-4):

Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

<52> Jean-Pierre Charlier, Le signe de Cana, études religieuses No 740, La Pensée Catholique: Brussels-Paris 1959, 64.

<53> Ein Nachwort, 1,15-18, Abs. 4-10 (Veerkamp 2006, 24-25).

<54> Siehe Gerhard Jankowski, Die große Hoffnung. Paulus an die Römer. Eine Auslegung, Berlin 1998, 165-170.

<55> Das Wort „geledigt“ verwendet Gerhard Jankowski, a.a.O., 152f. als Übersetzung für das Wort katērgētai in Römer 7,2. denn gemäß der Tora ist eine Witwe durch den Tod ihres Ehemannes wieder zur Ledigen geworden.

<56> Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium, I. Teil, Freiburg, Basel, Wien: Herder 1965, 343-44.

<57> Little verweist darauf (Anm. 166), dass Schnackenburg dazu 1. Mose 49,11-12; Amos 9,13; Joel 4,18; Jesaja 29,17; Jeremia 31,5; 1. Henoch 10,19; 2. Baruch 29,5 zitiert.

<58> Oscar Cullmann, Les sacrements dans l‘évangile Johannique, Études d‘Histoire et de Philosophie religieuse No 42, Paris: University of Strasbourg, Presses Universitaires de France 1959, 8.

<59> Dazu beruft sich Little (Anm. 191) auf John M. Dillon, ‚Dionysus‘, The Anchor Bible Dictionary, 6 Bände, Band 2, New York: Doubleday 1992, 201.

<60> Vgl. dazu meine Kommentierung des Buches von Esther Kobel, Dining with John, in den Abschnitten Ist Jesus ein sterblich-unsterblicher Super-Dionysos oder der jüdische Messias? und Jesus ist Gottes Sohn, aber jüdisch verstanden, nicht heidnisch-dionysisch.

<61> Vgl. meine Buchbesprechung Befreiung für ganz Israel durch den Messias Jesus.

<62> Die folgenden Aussagen stammen Little zufolge (Anm. 195) „aus persönlicher Kommunikation mit Frère Viviano. Er weist auch auf mögliche Anspielungen auf Asklepios und Osiris im Johannesevangelium hin.“

<63>Siehe dazu Ton Veerkamps Scholion 5, Christozentrismus und Enterbung des Judentums, aus dem ich in Anm. 34 bereits den Schlussabsatz 10 zitiert habe. Zum jetzigen Zusammenhang passt Absatz 9 (Veerkamp 2006, 108):

Die Messianisten wollten mit ihrer Lektüre ausschließen, dass dieser Messias ein hellenistischer Heiland war. Für sie war er ein Kind Israels. Der Nachweis der Messianität Jeschuas konnte nur mit der Schrift Israels geführt werden. Aus der messianischen Lektüre der Großen Erzählung ist nun doch eine andere ideologische Formation entstanden, die sich durchweg von ihrem Ursprung eben dieser Großen Erzählung entfernte und sie in ihre eigene Ideologie auflöste, in das Christentum.

Vgl. dazu weiter in Veerkamp 2013 im Abschnitt Von den Pastoralbriefen bis zu Justin und Ignatius, Abs. 5:

Mit dem Bischof Ignatius von Antiochien beginnt die Tendenz, (351) nicht mehr „das Evangelium von der Schrift her“ zu lesen, sondern „die Schrift wird nur noch verständlich, wenn sie auf das Evangelium hin verkündigt wird.“ (352) „Nach Ignatius schließen sich Joudaismos (jüdische Lebensführung) und Christianismos (christliche Lebensführung) aus.“

<64> Vgl. dazu meine Anm. 31.

<65> Little verweist dazu (Anm. 199) auf Lukas 4,14.22.37; 8,25; 9,43; 11,27; 13,17; 19,48.

<66> Messianische Hochzeit, 2,1-11, Abs. 10 (Veerkamp 2006, 46).

<67> Vgl. Ton Veerkamp, Aufstieg nach Jerusalem, 7,1-10 (Veerkamp 2006, 128-30).

<68> Messianische Hochzeit, 2,1-11, Abs. 18-20 (Veerkamp 2006, 48).

<69> Die geschlossenen Türen, 20,19-23, Abs. 1 und 11-16 (Veerkamp 2015, 149. und Veerkamp 2007, 123-25).

<70> Ton Veerkamp interpretiert 2. Mose 33,18-23 in seinem Buch Die Welt anders, 149-50, auf ungewöhnliche Weise. Dazu Veerkamp 2013, 2. Buch Mose – Exodus, Abs. 7:

Indem der NAME mit dem Volk weiterzieht, (149) aber sich nicht „von Angesicht zu Angesicht“ sehen lässt, sondern nur „in Seinem Hinter­her“, zeigt sich, dass man nur im Nachhinein erkennen kann, ob wirklich der NAME sich in einer bestimmten Situation durchgesetzt hat. „Eine Vergangenheit wie die deutsche aus den Jahren 1933-1945“ oder wie der Irrweg des Goldenen Kalbes in Israel (150) „wird nicht ungeschehen gemacht, an sie muss immer wieder erinnert werden, aber sie kann Sprungbrett zu einem Neuanfang werden.“

<71> Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Mit Bildern von Marc Chagall, Gütersloh 2007, 832.

<72> Dazu zitiert Little den Beitrag ‚Glory‘ von Gwynne Henton Davies in The Interpreter‘s Dictionary of the Bible 2, 401. Die Abkürzung „P“ bezieht sich auf eine von biblischen Exegeten in den ersten vier Büchern Mose erschlossene schriftliche Quelle, die Priesterschrift.

<73> Messianische Gemeinde, 2,12, Abs. 1 und 3 (Veerkamp 2015, 23, und Veerkamp 2006, 49).

<74> Vgl. dazu Der verborgene Messias, 5,1-12,50 (Veerkamp 2006, 95).

<75> Zur Frage, was „Welt“ im Johannesevangelium bedeutet, markieren die Titel zweier Bücher entgegengesetzte Positionen: Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung, und Adele Reinhartz, The Word in the World. Vgl zu letzterem Buch meine Kommentierung Jenseitskosmologie oder Überwindung der Weltordnung? Den „Fürsten dieser Welt“ hat Ton Veerkamp mit dem römischen Kaiser identifiziert, Der Diabolos ist nicht der Teufel, 8,37-47, Abs. 12-14 (Veerkamp 2006, 146-47):

Hier geht es um einen mächtigen Gegner, der eben nicht von Gott gesandt ist, also um einen mächtigen irdischen Gegner. Dieser Gegner hat „Begierden“ (epithymiai). Sie sind sachlich identisch mit der Begierde – Raffgier ist besser – der Weltordnung (epitymia tou kosmou, 1 Johannes 2,16f.). Johannes 8,44 und 1 Johannes 2,16f. sind die einzigen Stellen im johanneischen Schrifttum, wo das Wort für Raffgier auftaucht, ausgerechnet in Verbindung mit diabolos. Der Satan ist ein irdischer Satan, er ist die Weltordnung, er ist Rom.

Eindeutig wird das alles, als die führenden Priester in der Szene vor dem Prätorium dem Pilatus versicherten: „Wir haben keinen König, es sei denn Caesar!“ Sie erklären, wo ihre eindeutige politische Loyalität liegt, wer ihr „Gott“ sei. Denn die Funktionsvokabel „Gott“ bezeichnet die Konvergenz aller irdischen Loyalitäten. Für die führenden Priester liegt der Konvergenzpunkt in Cäsar. Diese Stelle 19,15 erklärt unsere Stelle 8,44 – und umgekehrt. Jeschua wirft seinen Gegnern vor, sie machen die Politik Roms, Rom sei ihr Gott und ihr Vater. Sie lassen sich in ihrem politischen Handeln von den Interessen der herrschenden Weltordnung bestimmen, ihr gelte ihre Solidarität. Deswegen können sie mit dem Messias nicht solidarisch sein („lieben“ – agapan).

Alle können wissen, dass dieser Satan, dieser diabolos, ein Menschenmörder ist, nach dem Massaker, das die Römer nach der Zerstörung Jerusalems anrichteten. In diesem Satan steckt keine Treue, er redet „Lug und Trug“ (pseudos), „prinzipiell (ap‘ archēs)“. Wer mit Rom Politik macht, ist „ein Betrüger (pseustēs) wie sein Vater“.

<76> Little ergänzt (Anm. 221) zu J. Duncan M. Derrett, ‚Water into Wine‘, Biblische Zeitschrift 7-8 (1963-64), 80-89:

Sein unschätzbarer Beitrag zu den Kana-Studien besteht darin, dass er auf die strengen Regeln hinweist, die für Hochzeitsfeiern zur Zeit Jesu galten.

<77> Auf diese Frage kommt Ton Veerkamp in seiner Auslegung Ein Begräbnismahl, 11,55-12,11, Abs. 14-15 (Veerkamp 2007, 27) zu sprechen:

Ein weiteres Detail wird von Johannes [gegenüber Lukas 7,36ff.] geändert. Entrüstet sind bei Matthäus und Markus die Zwölf bzw. nicht näher bezeichnete „einige“. Entrüstet ist bei Johannes nur der Dieb und Kassenwart Judas. Bei den Synoptikern ist das nicht verwunderlich, spielen doch bei ihnen die Bedürftigen, ptōchoi, ˀevjonim eine zentrale Rolle; bei Johannes glänzen diese durch ihre völlige Abwesenheit. Die Bedürftigen dienen hier als heuchlerischer Vorwand eines räuberischen Kassenwarts, der einer entgangenen Beute nachtrauert. Johannes sieht ihn als Verräter und Dieb, weil er das Königtum Jeschuas, vor allem, weil er ein Königtum, das „nicht nach der herrschenden Weltordnung“ funktioniert, ablehnt und sich an der messianischen Bewegung bereichert.

In 13,29 ist Judas sozusagen der Armenfürsorger vom Dienst. Johannes beschäftigt sich vor allem mit großer Politik. Die soziale Frage sei eine ewige Frage, sagt Johannes, hier aber stehe zunächst die politische Frage im Vordergrund. Deswegen zitiert er Deuteronomium 15 (insbesondere V.11). In diesem großen Toratext geht es um „Soziales“, Schuldenerlass, Vermögensverteilung. Eine Gesellschaft, die auf Egalität aller Familien des Volkes beruht und beruhen will, muss solches tun. Hier aber, bei Johannes, geht es um die politische Linie eines Königtums für ganz Israel. Kurz vor der direkten Konfrontation des Messias mit dem Repräsentanten der Weltordnung (18,33ff.) muss Sozialpolitik zurückstehen. Wer wie Johannes die Armen nur in Zusammenhang mit dem Verräter (12,5.8; 13,29) und sonst gar nicht auftreten lässt, will über Jeschua aus Nazareth völlig anders erzählen. Das kann als politische Kritik der Gruppe um Johannes an den messianischen Gemeinden aus den orientalischen Judäern verstanden werden. Durch die vorrangige Sorge um die Armen würden diese die große politische Linie verlieren, die Politik der Großen Alternative.

<78> Messianische Hochzeit, 2,1-11, Abs. 3 (Veerkamp 2006, 44-45):

Das Kana aus Josua 19,28 ist ein nördlicher Grenzort des Stammgebietes Ascher. Ascher liegt an der nördlichen Peripherie, Kana ist in dieser Peripherie wiederum Peripherie. Der dritte Tag von Johannes 2,1, der Tag der messianischen Hochzeit, findet in der Peripherie der Peripherie statt. Wie Nazareth hat auch Kana keine Befreiungsvergangenheit; mit den großen Ereignissen im Leben Israels hatte es nicht zu tun. Es ist also ein Ort am Rande, wo „nichts los“ war. Die anderen Evangelisten kennen Kana nicht. Kana ist ein theologischer, kein geographischer Ort, so wie der Stern von Bethlehem bei Matthäus kein astronomisches, sondern ein theologisches Objekt ist. Kana ist der Ort für den „Anfang der Zeichen“ und der Ort für das andere (zweite) Zeichen, 4,46. Hier zeigt das politische Programm des Johannes erste Konturen: die Bestimmung Israels, die messianische Hochzeit, geschieht in der Peripherie, und zwar an einem Ort, an den noch niemand gedacht hatte. Das Zentrum (Jerusalem, das politische Establishment Judäas) wird die Perspektive aus der Peripherie zurückweisen.

<79> Dazu Little (Anm. 230):

rhēma (Johannes 3,34; 5,47; 6,63.68; 8,20.47; 10,21; 12,47.48; 14,10; 15,7; 17,8) und logos Johannes 1,1.14; 2,22; 4,37.39.41.50; 5,24.38; 6,60; 7,36.40; 8,31.37.43.51.52.55; 10,19.35; 12,38.48; 14,23.24; 15,3.20.25; 17,6.14.17.20; 18,9.32; 19,8.13; 21,23) tauchen 12- bzw. 40mal im Johannesevangelium auf, normalerweise im Zusammenhang mit dem Hören und Halten des von Jesus gesprochenen Wortes Gottes.

<80> Little bezieht sich fälschlich auf Vers 7.

<81> Vgl. Ton Veerkamp, lCH WERDE DASEIN, 6,16-25, Abs. 4-8 (Veerkamp 2006, 113-14):

Die Schüler befinden sich in einer Lage, die aussichtsloser war als die, in die Israel während der Abwesenheit Mosches geraten war. Sie sind in jenem Zustand, in dem die Erde war, bevor das erste Wort erklang und das erste Licht erschien. Dieser See ist ihnen zu jenem thehom von Genesis 1,2 geworden, einem brodelnden Chaos, aufgepeitscht durch den Sturm. Auf diesem See, durch dieses Chaos, ging Jeschua seinen Gang. Die Halakha des Messias findet nur durch dieses brodelnde Chaos der herrschenden Weltordnung (kosmos) statt, in der Nähe ihres Bootes. Er beruhigt sie nicht, er sagt vielmehr: „ICH WERDE DASEIN, habt keine Angst.“

Matthäus, Markus und Johannes erzählen in der für sie jeweils typischen Weise. Aber alle drei haben das unbändige Meer, d.h. die völlig chaotischen politischen Zustände nach der Zerstörung Jerusalems im Blick. Sie beobachten die ganz und gar verunsicherten messianischen Gemeinden; bei Matthäus und Markus unterschätzt Simon Petrus die Lage, er zeigt sich ihr nicht gewachsen. „Wenig vertrauensvoll“ heißt das, oligopistos. Bei Johannes spielt Simon Petrus ebenfalls eine wichtige Rolle. Bevor Johannes ihn ins Spiel bringt, muss aber noch vieles klargestellt werden, bis Simon Petrus in 6,69 sagen kann: „DU BIST ES!“

Matthäus und Markus lassen Jeschua das Meer beruhigen: „Ducke dich“, sagt er, und damit zeigt sich, was Schöpfung immer heißt: das stets drohende Chaos nicht zum Zuge kommen lassen. Für Johannes ist das offenbar zu blauäugig. Es wird nicht hell, der Wind legt sich nicht, und das Meer tobt wie gehabt. Es herrschen römische Verhältnisse und daran wird sich sobald wenig ändern.

Die Schüler sind fünfundzwanzig oder dreißig Stadien – sechs Kilometer – vorangekommen, kein Land zu sehen. Aber sie beobachten, wie auf diesem tosenden Chaosmeer der Messias Jeschua „seinen Gang geht“. Das macht ihnen Angst. Nicht, weil sie glauben, er wäre ein Gespenst, ein phantasma, wie Markus und Matthäus sagen; Johannes vermeidet das Wort. Angst macht ihnen die Vorstellung, dass der Messias „seinen Gang geht“, ohne dass sich an den äußeren Umständen etwas ändert.

Jeschua sagt: „ICH WERDE DASEIN, habt keine Angst.“ Was auch immer geschieht, das, was in Exodus 3,14 zu Mosche gesagt wurde, bleibt. Der NAME lautet: „ICH WERDE DASEIN!“ Deswegen ist die Angst zwar verständlich, aber unbegründet. Sie wollten ihn ins Boot nehmen, aber erzählt wird nicht, dass Jeschua zu ihnen ins Boot stieg. Trotzdem kommen sie sofort und genau dort ans Land, wohin sie wollten, ohne den Messias!

<82> Auch wir kommen mit dir, 21,1-14, Abs. 19 (Veerkamp 2007, 131-32):

Das Ganze scheint eine Aktualisierung von Johannes 6,5-24 zu sein. Zwischen der Erzählung der Ernährung Israels, 6,5ff., und der Erzählung über das messianische Mahl gibt es die Verbindung der strukturellen Transformation. Das Brot und die Beilage, die mit dem seltenen Wort opsarion angedeutet wird, das nur bei Johannes und nicht in der griechischen Fassung der Schrift vorkommt, verbinden beide Stellen Johannes 6 und Johannes 21. Damals gab es nur zwei Fische, „Was ist das schon für so viele“, fragt Andreas. Hier hätte Andreas, falls er zugegen gewesen wäre, keinen Anlass zu einer solchen Frage gehabt: Sieben Schüler, 153 Fische! Das ist der Kontrast zwischen beiden Erzählungen. Dort, in Johannes 6, trat der Überfluss erst im Nachhinein zutage (zwölf Körbe rnit den Brocken der fünf Gerstenbrote), hier herrscht Überfluss von Anfang an. Dort, in 6,11, spricht Jeschua das traditionelle Dankgebet der Juden: „Gesegnet seiest Du, unser Gott, König der Welt, der du das Brot aus der Erde hervorsprießen lässt.“ Hier teilt er ohne dieses Gebet aus, weil er selber vom Gott Israels zum „König der Welt“ und zum „Brot des Lebens“ gemacht worden ist.

<83> Er erwähnt (Anm. 264)

die Stellen 2. Mose 19,3.20; 24,9.15.18; 32,30; 34,2.3.4; 5. Mose 5,5; 9,9; 10,1.3. katabainō wird verwendet für Moses Abstieg vom Berg (2. Mose 19,10.14.21.24.25; 32,1.7.15.34; 34,29; 5. Mose 9,12.15; 10,5) und Gottes Abstieg auf ihn (2. Mose 19,11.18.20; 24,16; 34,5).

<84> Außer in Johannes 6,3 kommt anerchomai nur im Galaterbrief vor (Anm. 265):

Paulus geht hinauf nach Jerusalem (Galater 1,17.18)… In Galater 2,1-2 greift er auf anabainō zurück, um erneut eine Reise nach Jerusalem zu bezeichnen.

<85> In Matthäus 15,29 wird dagegen, so Little (Anm. 268), „das übliche Verb mit klareren mosaischen Anklängen verwendet“.

<86> Vielleicht ist Little zunächst nicht auf Matthäus 5,1 aufmerksam geworden, weil dort statt kathēmai das Wort kathizō steht. Dass beide Verben gleichbedeutend sind, wie zum Beispiel die Verse Johannes 12,14 und 15 zeigen, muss ihm aber auch geläufig sein, da er ja in Anm. 273 Matthäus 5,1 dann doch erwähnt.

<87> Little verweist (Anm. 278) auf Johannes 1,51; 3,13.14, 5,27; 6,27.53.62; 8,28; 9,35; 12,23.34; 13,31.

<88> Vgl. dazu Ton Veerkamp, Scholion 9: Der Friede unter den messianischen Gemeinden, Abs. 6-9 (Veerkamp 2007, 104):

Die Hauptschüler Jeschuas, die Zwölf, kommen in allen Evangelien nicht besonders gut weg. Sie haben die messianische Bewegung in eine Sackgasse geführt, mit der Folge, dass sie nach 70 völlig orientierungslos war. Die Gemeinden, die aus der Tätigkeit des Paulus hervorgegangen sind, mögen in einer anderen Lage verkehrt haben, für die messianischen Gemeinden im syrisch-palästinischen Raum war die Lage trostlos. Die Gemeinden, die sich in irgendeiner Weise hervortaten, indem sie Familienmitglieder des Messias in ihren Reihen hatten, wurden durch die Worte Jeschuas, wie sie Markus überlieferte und Lukas und Matthäus übernahmen, in die Schranken gewiesen.

Lukas versuchte sie im zweiten Teil seiner Erzählung, der „Apostelgeschichte“, zusammenzuführen. Zwischen Himmelfahrt und Pfingsten hielten sie, so will seine Erzählung, alle durch, „einmütig (homothymadon) im Gebet“, die Zwölf „mit den Frauen und Maria, Jeschuas Mutter, und seinen Brüdern“, Apostelgeschichte 1,14, alles Andeutungen der verschiedenen messianischen Gruppen. Offenbar war Lukas der Ansicht, dass das Sektierertum für den Messianismus politisch katastrophal war und dass alle diese sich streitenden Gemeinden sich in Erwartung der Inspiration des Messias gefälligst zusammenzuraufen hatten. Deswegen erfand er als Ergebnis dieses sich Zusammenraufens die Vorstellung einer einheitlichen (urchristlichen) „Urgemeinde“.

Eine solche Urgemeinde hat es nie gegeben. Es gab Kerne in Jerusalem und in Galiläa. Und die Gemeinden haben sich eher auseinander als aufeinander zu bewegt. Die Vorstellung, alle Völker müssen radikale toratreue Judäer werden, wie sie Matthäus vorschwebt, musste für Johannes, wohl auch für Markus und erst recht für Paulus völlig abwegig gewesen sein. Es gab viele Urgemeinden und die um Johannes war eine von ihnen. Ein Vorstadium eines einheitlichen Christentums ist allenfalls bei Lukas zu erkennen.

Johannes war von diesem Einheitsstreben noch weit entfernt. Erst spät muss die Gruppe um Johannes zur Einsicht gekommen sein, dass sie nur eine politische Chance hat, wenn sie sich der Führung des Petrus unterwirft, das heißt, sich den anderen Gemeinden aus dem syrisch-palästinischen Raum anschließt (Johannes 21).

<89> Es wird nur einmal in 4. Mose 20,20 für das mächtige Kriegsvolk Edoms verwendet.

<90> Im Übrigen formuliert Little auch insofern ungenau, als nach 2. Mose 2,12 nicht „er“, also Mose, Gott auf dem Gottesberg dienen wird, sondern das gesamte Volk wird dies tun.

<91> Vgl. Ton Veerkamp, Zweiter Teil: Der verborgene Messias, 5,1-12,50, Abs. 2 (Veerkamp 2006, 95):

Auch hier gibt es Zeichen, auch hier treten sie paarweise auf: Die Heilung des Gelähmten und die Ernährung Israels (5 und 6) sowie das Öffnen der Augen und die Belebung Israels (9 und 11). Die Zeichen sind die Werke, mit denen Jeschua das Werk Gottes vollendet. Und die Werke sind die Zeichen und Machterweise (ˀothoth, mofthim).

<92> Das andere Zeichen in Kana, Galiläa: Dein Sohn lebt, 4,43-54, Abs. 7 und 9 (Veerkamp 2006, 91 und 92).

<93> Sehen und vertrauen, 20,24-29, Abs. 8-9 (Veerkamp 2007, 126):

Das letzte Wort Jeschuas ist zunächst: „Glücklich die, die nicht sahen und vertrauten.“ Diese Worte richten sich über den Kopf des Thomas hinweg an die Generation, die nach den Augenzeugen kommt. Der Augenzeuge war der Verfasser des Evangeliums, 19,35: „Der gesehen hat – nämlich das Blut und das Wasser aus der Brust Jeschuas – hat es bezeugt … damit auch ihr vertraut.“ Dieser ist „der andere Schüler, der als erster zum Grab gekommen war und sah und vertraute“ 20,8. Es sind die Schüler und Maria aus Magdala. Alle anderen haben nicht gesehen.

Jeschuas Worte an die Adresse des Thomas bedeutet keine Abqualifizierung derjenigen, die „sahen und vertrauten“. Auch Thomas gehört jetzt zu den Zeugen, die gesehen haben und vertrauten. Jeschuas Worte gelten der Generation der Messianisten, die nach dem Judäischen Krieg nichts mehr gesehen haben und dennoch vertrauten. Der Tod ist das letzte Wort, weil ohne diesen Tod, diesen Weggang des Messias, nichts mehr weitergehen kann. Der tote, vom Tode aufsteigende (Präsens!) Messias ist dominus ac deus. Genau das ist nicht zu sehen. Dem muss man vertrauen.

<94> Das andere Zeichen in Kana, Galiläa: Dein Sohn lebt, 4,43-54, Abs. 11-12 (Veerkamp 2006, 92.)

<95> Seine Bemerkung (Anm. 293), dass „Johannes keinen Bericht über die Verklärung hat, weil sein ganzes Evangelium den verklärten Christus zeigt“, kann jedenfalls nicht begründen, dass Johannes das ewige Leben als jenseitiges Leben nach dem Tod versteht. Zwar lässt Johannes den Messias Jesus tatsächlich am konsequentesten als die Verkörperung des Gottes Israels auftreten, indem er den NAMEN der Selbstoffenbarung Gottes (2. Mose 3,14) egō eimi, „ICH BIN ES“, ausspricht; damit ist aber nicht automatisch eine Verjenseitigung der Vorstellung von der Befreiung Israels in der kommenden Weltzeit verbunden.

<96> Vgl. meine Ausführungen im Kapitel 5. Anspielungen auf das Abendmahl im Johannesevangelium meiner Buchbesprechung zur Esther Kobel, Dining with John.

<97> Dazu verweist Little (Anm. 295) noch auf eine ganze Reihe weiterer Bibelstellen:

Josus 4,6-7; 1. Samuel 14,10; 2. Könige 19,29; 2. Makkabäer 15,35; Psalm 78,43; 86,17; 104,27 LXX; 135,9; Jesaja 13,2f; Jeremia 10,2; 51,12.27; Baruch 2,11; Daniel 6,28.

<98> Der erste Einwand: Wir wissen nicht, wo du hingehst, 14,1-7, Abs. 5 (Veerkamp 2007, 47).

<99> In seiner Auslegung von Johannes 14,4-7, Der erste Einwand: Wir wissen nicht, wo du hingehst, 14,1-7, Abs. 1 und 9-18 (Veerkamp 2015, 109, und Veerkamp 2007, 47-49), wo Jesus die Frage des Thomas nach dem Weg, den Jesus gehen wird, beantwortet, macht Ton Veerkamp noch deutlicher, was Johannes mit Jesu Aufsteigen zum VATER meint:

14,4 „Wohin ich gehe – ihr wisst den Weg.“
14,5 Thomas sagt zu ihm:
„HERR, wir wissen nicht, wo du hingehst.
Wie können wir dann den Weg wissen?“
14,6 Jeschua sagt zu ihm:
„ICH BIN ES: der Weg und die Treue und das Leben.
Niemand kommt zum VATER, es sei denn durch mich!
14,7 Wenn ihr mich erkannt habt,
dann werdet ihr auch meinen VATER erkennen.
Und ab jetzt erkennt ihr ihn und habt ihn gesehen!“

Was kommt, ist die Inspiration der Heiligung. Kommen kann sie nur, wenn der Messias geht: „Wohin ich gehe: Ihr wisst den Weg.“ Er wird vom Thomas umgehend eines Besseren belehrt. „Wir wissen ja nicht, wo du hingehst, wie können wir denn den Weg wissen?“ Thomas, konzentriert auf die realen politischen Machtverhältnisse, bezweifelt, dass es eine messianische Strategie geben kann. Er sagte: „Gehen auch wir mit ihm, damit wir mit ihm sterben“, 11,16. Also nicht, wie Simon: „Kämpfen wir“. Die Antwort Jeschuas überzeugt Thomas nicht: „Wenn ich mich von der Zukunft des Messias nicht leibhaftig überzeugen kann, werde ich mich darauf nicht einlassen“, sagt Thomas, wie man 20,25 umschreiben kann. Die überlieferten Worte taugen nicht für ein Psychogramm des historischen Thomas, reichen aber aus für die politische Haltung, die er hier repräsentieren muss: Unter römischen Verhältnissen gibt es nirgendwo eine Perspektive.

Jeschua antwortet mit einem Spruch, der zu den meist zitierten des Johannesevangeliums gehört. In der traditionellen Übersetzung: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Mit diesem Spruch wird der Absolutheitsanspruch des Christentums gerechtfertigt.

Wir haben anders übersetzt: „ICH BIN ES, der Weg und die Treue und das Leben.“ Diese Übersetzung sagt erstens, dass die Aussage kein Urteilssatz ist: „Ich bin der Weg …“ Das Subjekt des Satzes ist der Messias. Die Definition des Messias „der vom VATER [NAMEN] Geschickte“.

Die Definition Mosches war ebenfalls der Gesandte des NAMENS: ˀEhje schickt mich, der NAME schickt mich, Exodus 3,14. Aber die Einheit des gesandten Messias mit dem Sendenden, der NAME/VATER hat für Johannes eine andere Qualität. Mosche hat über Weg und Leben geredet. In Deuteronomium 30,15-16 heißt es:

Siehe:
Ich habe dir heute vorgegeben:
das Leben und das Gute,
den Tod und das Böse.
Wie ich heute dir gebiete,
den NAMEN, deinen Gott, zu lieben,
auf seinem Weg zu gehen,
zu wahren die Gebote, die Gesetze, die Rechtsverordnungen,
und du wirst leben,
du wirst viele werden,
der NAME, dein Gott, wird dich segnen,
im Lande, wohin du kommst, es zu erben.

Hier stehen „Weg“ und „Leben“ in einer eindeutigen Beziehung zum „NAMEN“. Im Lied „Lauschet ihr Himmel“ heißt es vom Gott Israels, Deuteronomium 32,4:

Der Fels, vollkommen sein Werk,
all seine Wege sind gerecht,
Gottheit der Treue, ohne Betrug.
Ein Wahrer ist er, geradeaus.

Der Gott Israels ist „Weg, Treue und Leben“ für Israel. Jeschua ist für Israel der Weg Gottes, er verkörpert die Treue Gottes und ist somit das Leben für Israel. Wie der NAME geschah, indem er Mosche schickte – und Mosche ist die Tora –, so geschieht der NAME heute durch den Messias Jeschua, 1,17. Mosche verkündete den Weg, die Treue und das Leben, das Gott für Israel ist. Jeschua ist jetzt die einzige Gestalt des Weges Gottes, der Treue Gottes und des Lebens, das Gott verheißt.

Hier ist ein Gegensatz, aber das Christentum hat daraus einen antagonistischen Widerspruch gemacht: Mosche oder Jeschua. Der Widerspruch ist kein absoluter, sondern ein bedingter. Es sind die neuen Verhältnisse, die die alten Verhältnisse außer Kraft setzen und neue Fragen stellen. Sie verlangen eine neue Antwort: das ist die Grundauffassung aller messianischen Gruppen aller Richtungen. Ohne diese neue Antwort komme niemand zum VATER.

„Zum VATER kommen“ heißt: Auf seinen Wegen gehen, nach seinen Geboten handeln. Unter den neuen Bedingungen heißt es: Auf den Wegen des Messias gehen, nach seinem neuen Gebot handeln. Wer diese neue Antwort, den Messias, diesen Messias, kennt, erkennt Gott. „Ab jetzt erkennt ihr ihn, und ihr habt ihn gesehen.“ Hier scheint ein Widerspruch zu sein: „Niemand hat je Gott gesehen“, sagt Johannes 1,18 (1 Johannes 4,12) in der Nachfolge des Wortes Exodus 33,20: „Nicht sieht mich der Mensch und lebt.“ Das bleibt für ihn unangefochten und unbestreitbar. Und jetzt auf einmal: „Ihr habt ihn gesehen!“

<100> Vgl. dazu Ton Veerkamp, Macht ihn los und lasst ihn gehen, 11,38-45, insbesondere Abs. 13 und 12 (Veerkamp 2007, 19-20).

<101> In seiner Auslegung von Johannes 6,15, Das Zeichen der Ernährung Israels. Ein Missverständnis, 6,5-15, Abs. 15 (Veerkamp 2006, 112):

Jedenfalls wird hier mit einer Art von Messianismus abgerechnet, die sich vom politischen Ziel einer von Rom unabhängigen Monarchie leiten lässt. Eine unabhängige Monarchie ist es unter den Königen aus dem Haus des Judas Makkabäus gewesen. Sie konnte nichts anderes werden als ein Königreich wie alle anderen auch. Solange sich am Zustand der Weltordnung als solcher nichts wirklich ändert, konnte man realpolitisch auch gar nichts anderes erwarten als königliches business as usual. Das Katastrophenjahrhundert 63 v.u.Z. (Einnahme Jerusalems durch die Römer unter Pompeius) bis 70 u.Z. (Zerstörung der Stadt durch die Römer unter Titus) muss immer die notwendige Folge einer Politik sein, die die Menschen von Johannes 6,14 vom Messias erwarten: ein König und alles wird gut. Nichts wurde gut, auch mit einem König Jeschua würde nichts gut geworden sein.

<102> Vgl. Ton Veerkamp, Was ist schon Treue? 18,28b-38a, Abs. 11-35 (Veerkamp 2007, 87-90).

<103> Der messianische König, 12,12-19, Abs. 15 (Veerkamp 2007, 29-30):

Mitten im Tumult beim Einzug der Pilger in der Woche vor Pascha „findet Jeschua ein Eselchen“. Bei den Synoptikern wird der Esel sozusagen vorab „bestellt“, damit ein königlicher Einzug stattfinden kann. Hier gibt Jeschua eine Andeutung, die offenbar von niemandem begriffen wird. Bejubelt wurde von der Menge der, der Lazarus erweckt hat und deswegen König sein soll. Diese Reaktion ist keine andere als die nach der Ernährung der Fünftausend, 6,15. Tatsächlich bejubelt die Menge den messianischen König, aber keinen zelotischen König, den sie eigentlich will. Deswegen „erfindet“ Jeschua das Eselchen. Für Wengst war „dieser König kein ‚hoher Herr‘ …, sondern kommt in Niedrigkeit“ [Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. 2. Teilband: Kapitel 11-21 (ThKNT), Stuttgart 2001, 55]. Die Gefahr solcher Bemerkungen ist, dass der Messias ein netter, bescheidener König ist. Der Fehler liegt bei den meisten Kommentaren, dass sie den Schriftbeweis, den Johannes bringt, nicht ernst nehmen und ihn den heutigen Lesenden nicht erklären. So lernen diese nicht, Johannes „von der Schrift her“ zu lesen.

Das Zitat stammt aus dem ersten der drei „Lastworte“, die dem Buch Sacharja angefügt sind. Sacharja 9,1-9 beschreibt vermutlich die Eroberung der Ostküste des Mittelmeeres von Tyrus bis Ekron (vom Libanon bis zur ägyptischen Grenze) durch Alexander, den Mazedonier. Das alles geschieht sozusagen „unter der Regie“ des Gottes Israels: „Der NAME hat ein Auge auf die Menschheit und auf alle Stämme Israels“, 9,1. Dann folgt das Fragment, aus dem das Zitat Johannes 12,15 stammt, Sacharja 9,9ff.:

Juble laut, Tochter Zion,
blase die Trompete, Tochter Jerusalems,
Dein König kommt zu dir,
ein Wahrer, ein Befreier ist er,
ein Erniedrigter, reitet auf einem Esel,
auf einem Füllen, dem Kind der Eselin.
Er rottet Streitwagen aus Ephraim aus, Kavallerie aus Jerusalem,
ausgerottet wird der Kriegsbogen:
Frieden wird er den Völkern zusprechen,
seine Regierung dauerhaft, vom Meer zum Meer,
vom großen Strom bis an die Ränder der Erde.

Im Buch Sacharja bringt der messianische König den Frieden in die Stadt. Wir wissen nicht genau, auf welche Situation dieser Text zielte. Jedenfalls beendet der König den Krieg zwischen Ephraim und Jerusalem, das große Thema des Gespräches zwischen dem Messias und der Samaritanischen am Jakobsbrunnen. Der König von Sacharja 9 mag Alexander gewesen sein. Die Menschen neigen dazu, solche großen Könige wie Kyros, den Perser, oder Alexander, den Mazedonier, für Messias zu halten.

Johannes hat genug von solchen großen Messiassen. Diese Ernüchterung ist ein durchgehender Zug in den messianischen Gruppen. Wenn König, dann einer auf einem Eselchen. Keine großen Könige mehr. Die Bedingung für den Frieden zwischen Ephraim Samaria und Jerusalem/Judäa ist der Weltfriede für die Völker. Genau das ist es, was die Menge will, ohne wirklich zu wissen, dass sie es will. Sie weiß nicht, dass der Weltfriede nichts ist als die andere Seite der Belebung Lazarus‘/Israels. Sie weiß es nicht und die Schüler wissen es auch nicht. Erst später werden sie es wissen, werden sie „die Schriften“ verstehen, auch die Schriftstelle Sacharja 9,9ff. Die „Erfindung“ Jeschuas, eine Erfindung der ganzen messianischen Bewegung – das Eselchen (onarion) – ist die Frucht des Studiums der Schrift in den messianischen Gemeinden.

<104> Vgl. Ton Veerkamp, Simons Nachfolge. Jeschua vor dem Großpriester, 18,15-28a, Abs. 17 (Veerkamp 2007, 87), und Freund des Cäsars, 19,12-13, Abs. 3-4 (Veerkamp 2007, 95).

<105> Vgl. Ton Veerkamp, Dritte Szene: Das Ziel ist erreicht, 19,28-30, Abs. 16-18 (Veerkamp 2007, 107-08), und Die geschlossenen Türen, 20,19-23, Abs. 6-10 (Veerkamp 2007, 123).

<106> Eine böse Rede, 6,60-66, Abs. 2 (Veerkamp 2006, 123).

<107> Ich zitiere aus dem Abschnitt Die Stunde der Frau, 16,16-24 über die Diskussion der Schüler Jesu in Johannes 16,16-19 nur die darauf folgenden Absätze, die sich auf die Verse 20-22 beziehen (Veerkamp 2007, 69-70):

Auf der Ebene der Erzählung wissen die Schüler natürlich nicht, was in den kommenden Stunden und Tagen geschehen wird. Sie rätseln über das Wort. Aber warum muss Johannes einen ratlosen, rastlos diskutierenden Schülerkreis vorführen? Offenbar ist auf der Ebene des Textes, ein bis zwei Generationen Jahre später, das Problem akut. Rom hat gesiegt; es scheint das ewige Leben zu haben, weit und breit kein Messias zu sehen.

Es hieß nach dem Disput über den Abriss des Heiligtums in 2,22: „Als er nun von den Toten aufgerichtet wurde, gedachten die Schüler dessen, was er gesagt hatte, sie vertrauten der Schrift und dem Wort, das Jeschua gesagt hatte“, und, am offenen Grab: „Freilich hatten sie noch kein Wissen von der Schriftstelle, nach der er von den Toten aufstehen müsse“, 20,9. Das heißt: die Unfähigkeit, das Wort „Ein wenig usw.“ zu verstehen, hat mit mangelndem Schriftverständnis zu tun (vgl. 12,16)!

Bei Lukas muss Jeschua den Emmausschülern die Schriften erklären, „beginnend bei Mosche und bei allen Propheten übersetzt er ihnen, was in den Schriften über ihn [geschrieben worden] ist“, 24,27. Johannes lässt Jeschua mit einer allgemeinen Ankündigung antworten, dass sich der Schmerz in Freude verwandeln wird.

Es scheint nun, dass Jeschua ein nettes Beispiel anführt: Eine Frau hat große Schmerzen bei der Geburt ihres Kindes; wenn es dann da ist, vergisst sie ihren Schmerz. …

Jeschua antwortet vielmehr mit einem Midrasch des Liedes „Juble, Unfruchtbare (rani ˁaqara), Jesaja 54,1-17. In V.7f. heißt es:

Einen kleinen Augenblick (chronon mikron, regaˁ qaton) habe ich dich verlassen,
mit großem Erbarmen dich zurückgeholt;
Mit einer Flut an Wut verbarg ich mein Antlitz
einen Augenblick vor dir,
mit weltzeitlanger Zuneigung habe ich mich deiner erbarmt:
hat dein Auslöser, der NAME gesagt.

Und das Lied hat so angefangen, 54,1f.:

Juble, Unfruchtbare, die du nicht geboren hast,
breche in Jubel aus, jauchze, die du nicht kreiste,
mehr sind die Söhne der Verödeten
als die Söhne der Baalsfrau,
hat der EWIGE gesagt.

Die Gruppe versteht die Schrift nicht, deswegen können sie Johannes/Jeschua nicht verstehen. Was nach der Niederlage gegen Rom und der Zerstörung des Ortes mit Israel geschieht, geschieht nicht das erste Mal. Das mikron von 16,16 ist der kleine Augenblick von Jesaja 54,7f. Die Geburt des Kindes der Schmerzensfrau, die ihren Schmerz in Freude verwandelt, ist die Wiederkehr Israels aus der Verödung der Verschleppung Babels.

<108> Die Stunde der Frau, 16,16-24, Abs. 2-7 (Veerkamp 2007, 69).

<109> Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes (NTD Band 4), Göttingen 2000, 254.

<110> Das Grab, 20,1-10, Abs. 20-21 (Veerkamp 2007, 117).

<111> Vgl. dazu meine Kommentierung des Buches von Esther Kobel, Dining with John. Communal Meals and Identity Formation in the Fourth Gospel and its Historical and Cultural Context (Leiden: Brill 2011), unter dem Titel Jesu Fleisch kauen – wie beim Gott Dionysos?, insbesondere Abschnitt 7.3 Übertreibt Johannes rituelle Abendmahlspraktiken in polemisch-ironischer Absicht?

<112> Scholion 6: Zur klerikal-sakramentalen Deutung der Brotrede, vor allem 6,52-59, Abs. 5 (Veerkamp 2006, 126).

<113> Ton Veerkamp leitet seine Auslegung des Abschnitts Das Zeichen der Ernährung Israels. Ein Missverständnis, 6,5-15 mit folgender Überlegung ein (Abs. 2, Veerkamp 2006, 110):

„Jeschua erhob seine Augen.“ So beginnt das große Gebet des Messias, Johannes 17,1, aber dort heißt es: „zum Himmel“. Hier bleibt sein Blick auf die Erde gerichtet, „er schaut, dass eine große Menge von Leuten auf ihn zukommt“. In der Katastrophenzeit der Periode um das Jahr 70 verhungert Israel, und die Führung der Messianisten sieht keinen Ausweg, ja behindert mit „realpolitischen“ Argumenten das Werk des Messias.

Vgl. dazu weitere von ihm zitierte Ausführungen im Abschnitt 2.3.2.4.

<114> Little nennt (Anm. 363) weitere „Demonstrationen der Einsicht und des Vorauswissens Jesu (Johannes 1,48; 2,25; 4,18.39; 13,1.11.27.28; 16,19.30; 18,4; 21,18-19)“.

<115> Vgl. dazu Abschnitt 1.3.2.1, Abschnitt 1.3.2.11 und Abschnitt 2.3.1.2.

<116> Zu Recht wendet sich Little (Anm. 367) gegen „Kommentatoren (z. B. Bultmann S. 161), die von einer Diskontinuität zwischen Vers 25 und Vers 26 sprechen“ und „wie die Menge einen Punkt übersehen haben. Der Herr antwortet nicht auf die höfliche Frage, sondern auf das versteckte Motiv. Das ist gute Psychologie und gute literarische Technik.“

<117> Das Zeichen der Ernährung Israels. Ein Missverständnis, 6,5-15, Abs. 6-8 (Veerkamp 2006, 111).

<118> Murren. Brot des Lebens, Fleischessen, 6,41-51, Abs. 1 und 14 und Der Streit unter den Judäern, 6,52-59, Abs. 1-8 (Veerkamp 2015, 55, und Veerkamp 2006, 121-23).

<119> Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10 (ThKNT), Stuttgart 2000, 253.

<120> Vgl. Ton Veerkamps Anm. 567 zum Kapitel Johannes 21 (Veerkamp 2015, 150).

<121> Vgl. Veerkamp 2013 in den Abschnitten 2. Buch Mose – Exodus, Abs. 2-3, und 4. Buch Mose – Numeri, Konflikt 1, 6 und 7.

<122> Little findet es (Anm. 392)

typisch für die konsequente Charakterisierung des Johannes, dass das zweite und einzige weitere Vorkommen des Wortes in seinem Evangelium ebenfalls Philippus in den Mund gelegt wird:

14,8 Spricht zu ihm Philippus: Herr, zeige uns den Vater, und es genügt uns.

<123> Hier unterläuft Little das Versehen, dass er auch in der Elisa-Geschichte dem paidarion die Rolle zuschreibt, das Brot zu bringen.

<124> Little spricht teils von einem Priester, teils von Priestern. Im Bibeltext ist nur von einem Priester von Nob die Rede.

<125> Little merkt an (Anm. 425), dass sich Markus „enger an den Psalm hält“; bei ihm (Markus 6,39) lagern sich die Leute „auf das grüne Gras“, epi tō chlōrō chortō. „Er identifiziert Jesus ausdrücklich als Hirten (Markus 6,34).“

<126> Dazu verweist Little (Anm. 433) auf Jesu Äußerung in seiner Brotrede, „dass er das Siegel des Vaters offenbart hat (Johannes 6,27)“. Ich vermag nicht zu beurteilen, ob hier wirklich ein Zusammenhang besteht und worauf er hinauslaufen könnte.

<127> Little erwähnt dazu (Anm. 439) den Hinweis von B. W. Longenecker, ‚The Unbroken Messiah: a Johannine Feature and its Social Functions‘, NTS 41 (1995), 433, „dass auch sein Gewand unzerteilt bleiben muss (Johannes 19,24) und das Netz unversehrt (Johannes 21,11).“

<128> Der zweite Tag. Einer wie Gott, 1,29-34, Abs. 1 und 3-7 (Veerkamp 2015, 17, und Veerkamp 2006, 31-32).

<129> Veerkamp ergänzt dazu (Anm. 80):

In der griechischen Version von Jesaja 53,12 steht nicht das Verb airein sondern anapherein. Jedoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass Johannes bei airōn an das naßaˀ von 53,12 denkt, so wie amnos bei ihm zweifellos für rachel, „Mutterschaf“, aus Jesaja 53,7 steht. In Leviticus 16,21 wird „Tragen der Verbrechen“ mit lēmpsetai, dem Futur von „annehmen“, übersetzt.

<130> Die Assoziation von 1. Mose 22 verdankt Little C. T. Ruddick Jr, ‚Feeding and Sacrifice, The Old Testament Background of the Fourth Gospel‘, ExpTimes 79 (1967-68), 340-41. Er zitiert ihn wie folgt (Anm. 443):

Ruddick argumentiert, dass die Bedeutung von Abrahams Opfer für das Passahfest, seine Beziehung zur Passion Jesu und zu den eucharistischen Mahlzeiten für die alte Kirche offensichtlich war. „Die Speisung ist nicht einfach eine ‚Wundergeschichte‘: Sie blickt voraus auf Jesu Hingabe seines eigenen Leibes am Kreuz und im Opfermahl der Eucharistie und auch zurück auf Abrahams Akt des vollkommenen Gehorsams in seiner Bereitschaft, seinen einzigen Sohn zu opfern“ (Ruddick, 341).

<131> „Du bist der Lehrer Israels, und das verstehst du nicht?“, 2,23-3,21, Abs. 32-46 (Veerkamp 2006, 59-62).

<132> Ton Veerkamp, Weltordnung und Solidarität oder Dekonstruktion christlicher Theologie. Auslegung und Kommentar (= Texte & Kontexte 71/72 (1996)), 35ff.

<133> Dazu weiter Veerkamp (Anm. 133):

In der Auslegung des ersten Johannesbriefes wurde nachgewiesen, dass das Wort monogenēs den Zusammenhang mit Genesis 22 zwingend voraussetzt, ebd., 97. Das Wort kennen wir in der griechischen Fassung der Schrift „der Siebzig“ (LXX) als ein Wort für „einziges Kind“, das Kind Jeftahs (Richter 11,34) bzw. Raguëls und Tobits (Tobit 3,15; 6,14; 8,17). Im Buch Weisheit Salomos bedeutet das Wort einzigartig. Drei Stellen in den Psalmen haben jachid; dort bedeutet es einzig (22,20; 35,17) oder einsam (25,16). Das Wort monogenēs fehlt in Genesis 22,2. Dort hat die griechische Fassung: „Nimm deinen Sohn, den geliebten, den du liebst.“ In der hebräischen Fassung aber lesen wir: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst.“ Warum die LXX das Wort deinen einzigen, jechidkha, ersetzt durch deinen geliebten (ˀohavka) mag vielleicht daran gelegen haben, dass die alten Übersetzer im Alexandrien des 3. Jh. v.u.Z. eine andere Vorlage hatten. Aber die Vulgata hat nicht dilectum tuum, ˀohavkha, sondern unigenitum, jachid. Johannes hat höchstwahrscheinlich beim Wort monogenēs an Genesis 22 gedacht.

<134> Was heißt hier essen, 4,31-38, Abs. 3-8 (Veerkamp 2006, 87-88).

<135> Auch die jüdische Religionswissenschaftlerin Adele Reinhartz vertritt in ihrem Buch Cast Out of the Covenant: Jews and Anti-Judaism in the Gospel of John (Lanham: Lexington Books-Fortress Academic, 2018) eine solche Johannes-Exegese und zieht aus ihr den Schluss, das Johannesevangelium als antisemitisch ad acta zu legen. Zu Johannes 11,52 argumentiert sie (S. 138), dass die Formulierung des Evangelisten

die Prophezeiung ausweitet und sich nicht nur auf die Juden oder die Juden der Diaspora bezieht, sondern auf die Kinder Gottes, die bereits im Prolog als diejenigen bezeichnet werden, „die ihn [den logos] aufgenommen haben und an seinen Namen glauben“ (1,12). Mit anderen Worten, es handelt sich um Gläubige, die keine Juden sind, also Heiden. Hier weitet der johanneische Erzähler die Prophezeiung von der Sammlung der Verbannten aus, so dass sie sich nicht nur auf Israeliten oder Juden bezieht, wie in der prophetischen Literatur und ihren späteren jüdischen Auslegern, sondern auch auf die an Jesus Glaubenden, also wohl auf Heiden.

<136> Vgl. dazu Veerkamp 2013, Paulus: Volk und Völker – Tora undurchführbar und Evangelien.

<137> Das könnte Little zufolge sogar (Anm. 480)

ein zusätzlicher Grund dafür sein, dass Jesu Körper (die „Überreste“ des Gotteslamms) nicht über Nacht am Kreuz bleiben durfte, und es war vielleicht das ursprünglich in Johannes 19,31f. beabsichtigte Echo. Der „Sabbat“ könnte vom Autor oder einem Bearbeiter ergänzt worden sein, um die Verbindung zwischen den Wundern des Mose und Jesu selbst zu verstärken. Leider verdunkelt diese Ergänzung auch das Motiv des „Gotteslamms“.

<138> Das Zeichen der Ernährung Israels. Ein Missverständnis, 6,5-15, Abs. 9 (Veerkamp 2006, 111).

<139> Veerkamp ergänzt (Anm. 216):

Deswegen sollte die letzte Zeile von 6,13 nicht übersetzt werden mit: „Für die, die gegessen haften, war es zuviel gewesen“, sondern: „Die, die gegessen hatten, ließen einen Rest.“

<140> Diesen Gedanken habe ich von Ton Veerkamp, Der Schabbat, 5,9b-18, Abs. 8 (Veerkamp 2006, 99):

„Mein VATER wirkt bis jetzt“ kann in diesem Zusammenhang nur heißen, dass die Schöpfung nicht vollendet ist. Johannes kann den ersten Satz der Schrift nur präsentisch lesen: „Am Anfang (prinzipiell!) schafft Gott den Himmel und die Erde, und die Erde ist Tohuwabohu …“ Deswegen „ruht“ Gott noch nicht, und erst recht nicht „feierlich“; es gibt noch keinen Grund, Schabbat zu feiern, es gilt vielmehr, „Werke zu tun“ (erga-zesthai). Das Thema wird in der Einleitung zur Brotrede (6,27) aufgegriffen. Auch in der Erzählung über den Blindgeborenen taucht das Thema auf (9,4). Schabbat ist erst, wenn alle Werke getan sind, wenn alle Menschen heil sind und sie endlich das sind, was sie sind: Ebenbild Gottes. Bis jetzt sind die Menschen alles andere als Ebenbild Gottes, sie sind nicht, was sie sind – Ebenbild Gottes -, und sie sind, was sie nicht sind: verstümmelte, kaputte Menschen; es gibt nichts zu feiern. Das jedenfalls meinen diese Messianisten.

<141> Vgl. dazu die ausführliche Erläuterung von Ton Veerkamp, Vorbemerkung: Die Zeitangabe „Tag eins“, Abs. 1-11 (Veerkamp 2007, 112-14).

<142> So in meiner Kommentierung des Buches von Esther Kobel, Dining with John. Communal Meals and Identity Formation in the Fourth Gospel and its Historical and Cultural Context, Leiden: Brill 2011, im Abschnitt 7.3 Übertreibt Johannes rituelle Abendmahlspraktiken in polemisch-ironischer Absicht?, Abs. 6.

<143> Dazu führt Little (Anm. 489) näher aus:

In Jesajas Vision der Rache an Israel verschlingt jeder das Fleisch seines Nächsten (Jesaja 9,19). Siehe auch Jeremia 19,9; Klagelieder 2,20; Baruch 2,3; Hesekiel 5,10. In den folgenden Verweisen bezeichnet sarx wieder „Fleisch“. Gott verheißt Israel, dass er seine Unterdrücker dazu bringen wird, ihr eigenes Fleisch zu essen und sich an ihrem eigenen Blut zu berauschen (Jesaja 49,26). Die Hunde werden das Fleisch von Isebel fressen (2. Könige 9,36). Israel wird von Bileam als Löwe beschrieben, der sich nicht eher niederlässt, bis er seine Beute verschlungen und ihr Blut getrunken hat (4. Mose 23,24). Gott wirft den Herrschern Israels vor, das Fleisch seines Volkes zu verschlingen (Micha 3,3). Nach Jeremia wird das Schwert des Herrn vom Blut der Feinde trunken sein (Jeremia 46,10). Er wird seine Feinde in seinem Zorn verschlingen, und Feuer wird sie verzehren (Psalm 21,9). Israel wird das Blut seiner Feinde trinken, als wäre es Wein (Sacharja 9,15). In Hesekiels Schreckensvision schlemmen Vögel und Tiere auf den Bergen Israels, fressen das Fleisch (kreas) der Mächtigen und trinken das Blut der Fürsten der Erde (Hesekiel 39,17-20, vgl. Offenbarung 19,17-18).

<144> Little erläutert dazu (Anm. 490):

Durch Zorn, Feuer, Schwert und Heuschrecken (3. Mose 10,2; 5. Mose 32,22.42; 2. Samuel 22,9; 2. Chronik 7,13).

<145> Die Deutung des Gleichnisses, 10,7-18, Abs. 28 (Veerkamp 2006, 160).

<146> Vgl. dazu meinen Gottesdienst vom 18. März 2007, Fleisch für das Leben der Welt, in dem ich auf die Abschaffung des Gesetzes vom Fressen und Gefressenwerden eingehe.

<147> Einschränkend fragt Little jedoch (Anm. 492) zum Essen von Fleisch mit seinem Blut:

War es immer so skandalös? Als die Israeliten das Blut von Tieren aßen, ergriff Saul Maßnahmen, um zu verhindern, dass dies noch einmal geschah (1. Samuel 14,31-35), aber es wurde kein Abscheu ausgedrückt.

<148> In einer Anmerkung zur Übersetzung von Johannes 1,29 in Ton Veerkamp, Das Evangelium nach Johannes in kolometrischer Übersetzung, in: Texte und Kontexte 106/107 (2005), 18.

<149> Die geschlossenen Türen, 20,19-23, Abs. 12-13 (Veerkamp 2007, 124) – vgl. Abschnitt 1.4.3.

<150> Er greift dabei (Anm. 494) auf eine Bemerkung von John Marsh, The Gospel of St John, Harmondsworth: Pelican 1983, 295, zurück.

<151> Little bezieht sich auf den Aufsatz James D. G. Dunn, „John VI – A Eucharistic Discourse?“, NTS XVII (1970-71), 328-38, hier speziell auf die Seiten 333 und 336.

<152> Hier irrt Little, denn das Wort gemizō erscheint außerdem in unterschiedlichen Zusammenhängen in Markus 4,37; 15,36; Lukas 14,23; Offenbarung 8,5; 15,8.

<153> Er meint 1. Mose 45,17. Weitere Stellen im TeNaK habe ich nicht gefunden; einmal kommt gemizō noch in 3. Makkabäer 5,47 vor.

<154> Eine weitere Ungenauigkeit besteht darin, dass Little zufolge „Jesus diese Titel zu Beginn seines Dienstes (Johannes 1,41.45.49) erhielt“, denn als Prophet wurde Jesus erst später bezeichnet (4,19; 6,14; 7,40; 9,17).

<155> Das Zeichen der Ernährung Israels. Ein Missverständnis, 6,5-15, Abs. 11-12 und 15 (Veerkamp 2006,112).

<156> Zu dem Verb harpazō verweist Little außerdem auf

einige Anklänge an das Alte Testament. Die Menge kann mit dem wilden Tier identifiziert werden, von dem man fälschlicherweise annahm, es habe Josef ergriffen (1. Mose 37,33), oder mit der Menge, die versuchte, Judas Makkabäus zu ergreifen (1 Makkabäer 7,29), einen anderen Befreier Israels.

Warum Little ausgerechnet diese Beispiele auswählt, bleibt unklar. Es geht der Menge ja nicht um die Tötung Jesu (deren Anschein bei Josef erweckt wird) oder um seine Gefangennahme, um eine Machtergreifung zu verhindern (wie bei Judas Makkabäus), sondern um die Indienstnahme des Messias für eine Machtergreifung, die nicht in Jesu Sinne ist.

<157> Was ist schon Treue? 18,28b-38a, Abs. 17-23 (Veerkamp 2007, 88-89).

<158> Er ist (Anm. 506) „dem Rev. Jerome Murphy-O‘Connor OP dankbar, den Punkt zur Debatte zu stellen“: Jerome Murphy-O‘Connor, The École Biblique and the New Testament: A Century of Scholarship (1890-1900), Freiburg: Universitätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1990. Zugleich verweist Little darauf, dass Barnabas Lindars, The Gospel of John, New Century Bible Commentary, Grand Rapids: Marshall, Morgan & Scott 1987, „diese Interpretation zurückweist. Seiner Ansicht nach liegt keine Versuchung vor. Jesus will in dieser Phase seines Dienstes keine öffentliche Akklamation.“

<159> Vgl. dazu das Zitat von Ton Veerkamp in meiner Anm. 75.

<160> Das Zeichen der Ernährung Israels. Ein Missverständnis, 6,5-15, Abs. 12-15 (Veerkamp 2006, 112).

<161> Das andere Zeichen in Kana, Galiläa: Dein Sohn lebt, 4,43-54, Abs. 3 (Veerkamp 2006, 90).

<162> Vom Messias, 7,11-52, Abs. 1 und 25-27 (Veerkamp 2006, 135).

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