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Das Leben gewinnt an Breite, Länge, Höhe, Tiefe

Das Leben gewinnt an Breite – wir müssen nicht stur geradeaus gehen, ohne nach rechts oder links zu schauen. Es gewinnt an Länge – die Vergangenheit ist nicht mehr ein Klotz am Bein, die Zukunft kein dunkler Abgrund. Wir bekommen Kraft aus der Höhe und gewinnen Mut, uns dem zu stellen, was in der Tiefe unserer Seele verborgen liegt.

Ein fraktrales Gebilde, das wie eine zarte Blume im Dunkeln aussieht
Fraktale Gebilde lassen etwas vom Geheimnis der Strukturen unserer Wirklichkeit ahnen (Bild: Pete LinforthPixabay)

#predigtGottesdienst am Sonntag Exaudi, den 31. Mai 1992, um 9.30 Uhr in der evangelischen Kirche Armsheim
Vorspiel des Posaunenchores
EKG 298:

1) Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn allezeit, den wird er wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit. Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat auf keinen Sand gebaut.

5) Denk nicht in deiner Drangsalshitze, dass du von Gott verlassen seist und dass ihm der im Schoße sitze, der sich mit stetem Glücke speist. Die Folgezeit verändert viel und setzet jeglichem sein Ziel.

6) Es sind ja Gott sehr leichte Sachen und ist dem Höchsten alles gleich, den Reichen klein und arm zu machen, den Armen aber groß und reich. Gott ist der rechte Wundermann, der bald erhöhn, bald stürzen kann.

7) Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, verricht das Deine nur getreu und trau des Himmels reichem Segen, so wird er bei dir werden neu. Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er nicht.

Herzlich willkommen zum Gottesdienst in der schönen Armsheimer Kirche! Guten Morgen! Für die, die mich nicht kennen, möchte ich mich kurz vorstellen: Ich bin Pfarrer Schütz und arbeite als einer der Seelsorger in der Landesnervenklinik und im DRK-Krankenhaus in Alzey. Ich freue mich, heute diesen Gottesdienst gemeinsam mit Ihnen zu feiern; wir feiern ihn im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Wir beten mit den Worten eines ganz kurzen alten Liedes der Bibel, des sehr schönen Psalms 131:

1 HERR, mein Herz ist nicht hoffärtig, und meine Augen sind nicht stolz. Ich gehe nicht um mit großen Dingen, die mir zu wunderbar sind.

2 Fürwahr, meine Seele ist still und ruhig geworden wie ein kleines Kind bei seiner Mutter; wie ein kleines Kind, so ist meine Seele in mir.

3 Israel [- Volk Gottes, Kind Gottes -], hoffe auf den HERRN von nun an bis in Ewigkeit!

Lob, Ehr und Preis sei Gott, dem Vater und dem Sohne und dem, der beiden gleich im höchsten Himmelsthrone, dem dreimal einen Gott,wie es ursprüglich war und ist und bleiben wird jetzund und immerdar.

Guter Gott im Himmel, viele Menschen haben eine Scheu vor Dir, vielleicht manchmal auch wir, wir denken oft, Du stellst nur Forderungen an uns, wir sollen die Gebote halten, unseren Nächsten lieben, und wir fühlen uns überfordert und schuldig. Gott, nimm uns die Angst vor Dir! Herr, erbarme Dich!

Schaffe in mir, Gott, ein reines Herze und gib mir einen neuen, gewissen Geist. Verwirf mich nicht, verwirf mich nicht von deinem Angesicht, von deinem Angesicht und nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir.

Gott, Du überforderst uns nicht: Du beschenkst uns. Unser Leben haben wir von Dir, Du liebst uns mit unendlicher Liebe, Du willst unserer Seele Ruhe schenken, dass wir nicht weglaufen müssen vor uns selbst, dass wir nicht anders sein müssen, als wir sind, nicht größer, aber auch nicht kleiner, nicht so, wie irgendjemand anders uns haben will. Wie ein kleines Kind bei einer guten Mutter, wie ein Kind bei einem guten Vater, so sind wir geborgen in Deinen starken Armen. Ehre sei Dir, Gott in der Höhe!

Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende.

Hilf uns dabei, Gott, als Deine Kinder zu leben. Hilf uns, zu leben mit dem, was in uns ist, was wir fühlen, was wir uns wünschen. Hilf uns, zu leben in einer Welt voller Angst, die uns bedrängt und in der wir viel Schutz brauchen. Hilf uns, zu leben in einer Welt von Menschen, die im Grunde alle Deine Kinder sind, auch wenn sie es nicht wissen. Amen.

Wir hören die Lesung aus dem Prophetenbuch Jesaja 41, 8-14:

8 Du aber, Israel, mein Knecht, Jakob, den ich erwählt habe, du Spross Abrahams, meines Geliebten,

9 den ich fest ergriffen habe von den Enden der Erde her und berufen von ihren Grenzen, zu dem ich sprach: Du sollst mein Knecht sein; ich erwähle dich und verwerfe dich nicht -,

10 fürchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.

11 Siehe, zu Spott und zuschanden sollen werden alle, die dich hassen; sie sollen werden wie nichts, und die Leute, die mit dir hadern, sollen umkommen.

12 Wenn du nach ihnen fragst, wirst du sie nicht finden. Die mit dir hadern, sollen werden wie nichts, und die wider dich streiten, sollen ein Ende haben.

13 Denn ich bin der HERR, dein Gott, der deine rechte Hand fasst und zu dir spricht; Fürchte dich nicht, ich helfe dir!

14 Fürchte dich nicht, du Würmlein Jakob, du armer Haufe Israel. Ich helfe dir, spricht der HERR, und dein Erlöser ist der Heilige Israels.

Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Halleluja! „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Lied 232, 1-2+11:

1) Sollt ich meinem Gott nicht singen? Sollt ich ihm nicht dankbar sein? Denn ich seh in allen Dingen, wie so gut ers mit mir mein. Ist doch nichts als lauter Lieben, das sein treues Herze regt, das ohn Ende hebt und trägt, die in seinem Dienst sich üben. Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.

2) Wie ein Adler sein Gefieder über seine Jungen streckt, also hat auch hin und wieder mich des Höchsten Arm bedeckt, alsobald im Mutterleibe, da er mir mein Wesen gab und das Leben, das ich hab und noch diese Stunde treibe. Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.

11) Weil denn weder Ziel noch Ende sich in Gottes Liebe findt, ei so heb ich meine Hände zu dir, Vater, als dein Kind, bitte, wollst mir Gnade geben, dich aus aller meiner Macht zu umfangen Tag und Nacht hier in meinem ganzen Leben, bis ich dich nach dieser Zeit lob und lieb in Ewigkeit.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Zur Predigt hören wir aus dem Brief des Paulus an die Epheser 3, 14-21:

14 Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater,

15 der der rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden,

16 dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen,

17 dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid.

18 So könnt ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist,

19 auch die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle.

20 Dem aber, der überschwenglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt,

21 dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Liebe Gemeinde,

der Kirche wird oft vorgeworfen, dass sie die Menschen unmündig halten will, nicht selbständig entscheiden lassen will. Da wird vom Pfarrer gesprochen, der für seine Schäfchen sorgt, den Konfirmanden wird manches abverlangt, was sie nicht immer einsehen, und immer wieder heißt es in der Bibel: Wir sind Kinder Gottes, Gott ist unser Vater, manchmal auch: Gott ist wie eine gute Mutter. Heißt das, wir sollen in Gottes Augen nie erwachsen werden?

Paulus sieht das in unserem Predigttext anders. Er drückt es ziemlich kompliziert aus: „Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater, der der rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden, dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid.“ In anderen Worten: Gerade wer sich als ein Kind Gottes fühlen kann, wer sich Gott anvertrauen kann wie ein kleines Kind, gerade der wird Kraft bekommen, wird innerlich so gestärkt werden und wachsen können, dass er von innen heraus wirklich er-wachsen ist.

Aber in der harten Wirklichkeit der Menschenwelt scheint das Kind in uns keinen Platz beanspruchen zu dürfen. Wo kann man es sich schon leisten, Gefühle zu haben oder gar zu zeigen? Müssen wir nicht immer wieder das ängstliche oder traurige Kind in uns unterdrücken, weil wir nach außen hin stark erscheinen sollen? Müssen wir nicht immer wieder Rücksicht nehmen und auf die innersten Wünsche des Kindes verzichten, das sich nach Aufmerksamkeit und Liebe sehnt, weil es sich angeblich nicht gehört, um solche Dinge zu bitten? Müssen wir nicht immer wieder das Kind in uns einsperren, das fühlen und sich anvertrauen möchte, weil es schon so oft enttäuscht und verletzt wurde, wenn es sich nach draußen gewagt hat?

Es ist wirklich schwer, in einer solchen Welt überhaupt zu spüren, dass auch in uns Erwachsenen noch ein fühlendes, wünschendes, sehnsüchtiges Kind am Leben ist. Aber gerade weil so viele Menschen nur erwachsen sein wollen, ohne auf das Kind in sich zu achten, werden sie hart zu sich selbst und hart zu anderen. Das ist ein Teufelskreis, der alles nur noch schlimmer macht. Denn wenn auch wir uns hart machen, machen wir nicht nur uns selbst, sondern auch wieder anderen das Leben schwer.

Paulus beschreibt einen Weg, wie wir aus diesem Teufelskreis herauskommen können. Ein Himmelsweg, ein Gottesweg durchbricht den Teufelskreis:

Dieser Weg Gottes fängt mit einem Gebet an; Paulus drückt das mit den Worten aus: „Ich beuge meine Knie.“ Hinknien, um zu beten, das kennen wir nur von den katholischen Christen. Oder von der Konfirmation, wenn die Jungen und Mädchen den Segen Gottes bekommen. Ich denke, Paulus meint es symbolisch – es gibt die Erfahrung, dass ich nicht auf eigenen Beinen stehen kann ohne fremde Hilfe, dass ich einen neuen Halt und neue Orientierung brauche, um wieder festen Boden unter den Füßen spüren zu können. „Die Knie beugen“, das ist wie ein Zulassen dessen, dass ich allein nicht stark genug bin, das Leben zu meistern.

Vor wem nun beugt Paulus die Knie? „Vor dem Vater“, und zwar vor dem Vater, „der der rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden“. Im griechischen Urtext dieser Stelle heißt es wörtlich: „vor dem Vater, von dem jede Vaterschaft im Himmel und auf Erden ihren Namen bekommt.“ Zweierlei höre ich aus diesen Worten: Zum einen, dass eine Macht da ist, die alles umfasst, Himmel und Erde, die väterlich, hilfreich, gütig umgeht mit allem, was lebt. Und zum zweiten, dass jeder, der auf Erden Vater sein will, sich an diesem himmlischen Vater messen lassen muss. Wirklich einen Vater nennen darf sich nur ein Mann, der sich auch wirklich väterlich zu seinen Kindern verhält. Einem Vater, der sich nicht wie ein rechter Vater verhält, schuldet das Kind auch keinen Dank.

Wie verhält sich denn nun ein rechter Vater? Paulus sagt es so: „er gibt euch Kraft“. Ein Vater, der nicht Kraft gibt, ist kein Vater. Ein Vater, der seine Kinder nur in seinem Sinne hinbiegen will, sie nur egoistisch für sich ausnutzt oder gar missbraucht, oder dem seine Kinder nur eine Last sind, ein Vater also, der seine Kinder eher unterdrückt und schwächt, statt dass er sie stärkt, der ist kein rechter Vater.

Beschrieben wird durch Paulus auch, woher ein Vater diese Kraft hat, die er weitergeben kann: es ist eine Kraft „nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit“. Dieses Wort „Herrlichkeit“ ist natürlich etwas ungewöhnlich, und schwierig zu verstehen. Im Griechischen steht da das Wort „doxa“, das heißt eigentlich: die Ausstrahlung einer Person, die Art, wie sich das innere Wesen, die innere Kraft einer Person nach außen zu erkennen gibt. Es ist also eine Kraft von innen, nicht ein Sich-Zusammenreißen aus einer Schwäche heraus. Es ist eine ruhige und sanfte Kraft, nicht eine brutal verletzende Gewalt.

Und was macht diese Kraft mit den Kindern, was macht sie mit uns, wenn wir uns ihr aussetzen?

Sie hilft auch uns, „stark zu werden“, und zwar ebenfalls nicht äußerlich, so dass wir uns nur immer noch mehr zusammenreißen müssten. Nein, es geht um ein Stark-Werden „an dem inwendigen Menschen“. Und dieses Starkwerden kann paradoxerweise gerade darin bestehen, dass wir auch einmal dazu stehen, schwach zu sein, nicht weiter zu wissen, von Gefühlen heimgesucht zu sein, die einfach da sind und auch ihren Sinn haben.

„Durch seinen Geist“ gibt der himmlische Vater uns diese stärkende Kraft, dass heißt im Grunde: durch sich selber, dadurch dass wir spüren: er selber ist bei uns, er lässt uns nicht allein in dem, was uns ängstigt, in dem, was wir allein nicht meistern können. Paulus kann das auch noch einmal so ausdrücken, dass „Christus in unseren Herzen wohnt“. Und wenn dieser Gast uns auswählt als seine Wohnung, bekommt unser Leben einen ruhenden Pol, so dass wir nicht mehr vor uns selbst weglaufen müssen. „Durch den Glauben“, sagt Paulus, beginnt Christus in unseren Herzen zu wohnen, durch das Vertrauen, das in uns wächst. Durch das Gefühl, vor diesem Gott nichts verbergen zu müssen und uns keine Maske einer scheinbaren Stärke aufsetzen zu müssen.

Noch ein Bild gebraucht Paulus für die Kraft, die Gott uns schenken will: dass wir „in der Liebe eingewurzelt und gegründet“ sind. Ein Baum bleibt nur dann standfest und kann nur dann zu seiner ganzen Größe und Schönheit heranwachsen, wenn er sich mit seinen Wurzeln tief im Erdreich verankert. Ebenso brauchen wir Menschen einen festen Grund der Liebe, in dem wir uns einwurzeln und festhalten können. Ein Haus muss auf einem festen Fundament aufgebaut werden, wenn es nicht durch Wind und Wetter oder Erdbeben umgestürzt werden soll. Ebenso brauchen wir Menschen den festen Grund der Liebe Gottes, die uns festhält, auch wenn alles in uns einzustürzen scheint. Wir brauchen das Gefühl, das wir niemals tiefer fallen können als in die Hände unseres Gottes.

Wir können also zugeben, dass wir Kinder Gottes sind. Wir sind seiner Liebe bedürftig. Wir bekommen innere Stärke gerade dadurch, dass wir nicht stärker sein wollen, als wir sind, nicht unterdrücken, was wir fühlen und wonach wir uns im Innersten sehnen.

Und dann, so sagt uns Paulus, wird unser ganzes Leben plötzlich anders. Es wird eben nicht eingeengt, nicht reduziert auf das Maß eines immer nur klein bleibenden Kindes. Das Leben bekommt für uns eine Weite und Offenheit und Freiheit, die wir uns in einem krampfhaften Erwachsensein-Wollen nie erträumen würden. Gerade wenn wir dazu stehen, dass das Kind auch in uns Erwachsenen lebendig bleibt, erwachsen in uns innere Kräfte, die uns ermöglichen, der Welt wirklich als erwachsene, fühlende und verantwortlich handelnde Menschen zu begegnen. Paulus drückt das mit einem merkwürdigen Satz so aus: „So könnt ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist“.

Die theologisch-wissenschaftlichen Kommentare tun sich sehr schwer mit diesem Satz. Sie reden davon, dass die Christen sich vielleicht vorstellten, in der Mitte der Welt zu leben und durch Christus zu erkennen, wie breit, wie lang, wie hoch und wie tief die Welt im Ganzen ist. Aber ist der Sinn dieser Worte wirklich so schwer zu erfassen? Wie weit und offen und dennoch nicht nur ängstigend liegt die Welt denn plötzlich vor uns, wenn in uns dieser innere Halt, dieses innere Vertrauen, diese innere Kraft, gewachsen ist.

Das Leben gewinnt an Breite – wir brauchen nicht nur stur geradeaus zu gehen, ohne nach rechts oder links zu schauen. Sicher, die Welt besteht nicht nur aus schönen Dingen und Menschen, die gut mit uns umgehen. Aber wenn wir Kraft gewinnen, um mit Verletzungen umzugehen und soweit es geht, uns zu schützen vor neuen Verletzungen, dann brauchen wir die Scheuklappen nicht mehr, mit denen wir alles fernhalten wollen, was von außen auf uns einstürmt. Solche Scheuklappen hindern uns ja auch daran, all das Schöne und Herrliche in unserer Welt wahrzunehmen, den leuchtend roten Käfer auf dem Fußweg, den Duft der Blumen, den freundlichen Gruß eines Nachbarn, die Nähe eines Menschen, der es gut mit uns meint, oder die stille Sehnsucht eines Menschen, der sich vielleicht nichts weiter wünscht als einen aufmerksamen Blick oder ein liebes Wort.

Das Leben gewinnt auch in der Länge an Reichtum hinzu – die Vergangenheit ist nicht mehr ein Klotz am Bein, der nicht abzuschütteln ist, die Zukunft nicht mehr ein dunkler Abgrund, in den wir hineinzustürzen drohen, geborgen und gehalten in der Liebe des Vaters gehen wir an seiner Hand, leben jetzt und hier im Augenblick, den wir genießen oder ertragen oder bewältigen können, und können Vergangenheit und Zukunft getrost ihm selbst überlassen.

An Höhe gewinnt das Leben sowieso, weil wir ja die ganze Zeit davon ausgehen, dass wir Kraft aus der Höhe bekommen, Kraft von oben, natürlich nicht buchstäblich verstanden aus irgendeiner Regenwolke heraus oder vom Sternenhimmel herabfallend, sondern von oben in dem Sinne, wie wir nur von Gott sprechen können, der uns unendlich überlegen ist und uns doch nicht klein machen und erniedrigen will. Auch wenn wir vor Gottes Größe in die Knie gehen können – er will uns aufrichten, will uns ermutigen zu einem aufrechten Gang, so dass unsere Stirn, bildlich gesprochen, den Himmel berühren kann.

Und ebenso gewinnt das Leben an Tiefe. Wir gewinnen immer mehr Mut, uns dem zu stellen, was in der Tiefe unserer Seele verborgen liegt, sei es an Wünschen, sei es an Gefühlen, sei es an den oft verwirrenden Bildern und Vorstellungen, die manchmal in unseren Träumen an die Oberfläche unseres Bewusstseins dringen. Wir lernen uns besser kennen und erfahren ganz neu, dass es nichts in uns gibt, was wirklich verboten wäre und auf Dauer verdrängt oder unterdrückt werden müsste.

Denn letzten Endes ist alles, was in uns ist, jede Angst, jede Traurigkeit, selbst Hass und Neid und Zorn wie ein Schrei nach Liebe. Und nun schließt sich der Kreis: indem wir Liebe erfahren, können wir uns den Tiefen unserer eigenen Seele aussetzen. Und indem wir das tun, wächst wieder das Gefühl in uns, wirklich geliebt zu sein. Wir werden, so sagt Paulus, „die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle“. Das ist keine Erkenntnis des Verstandes allein, sondern ein Erfülltwerden von einer Liebe, die von außen kommt, die unser Fühlen annimmt und verwandelt, unser Denken erneuert und auch unser ganzes Verhalten, unser Tun und Lassen neu macht.

Über all das ist Paulus so voller Freude und Dankbarkeit, dass er mit einem Lobpreis seinen Text beschließt: „Dem aber, der überschwenglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ Paulus traut Gott zu, dass er für uns noch mehr tun kann, als wir überhaupt von ihm zu erbitten wagen, als wir überhaupt mit unserem eingeschränkten Denken begreifen. Noch einmal betont er, dass Gott uns innerlich hilft: mit „der Kraft, die in uns wirkt“. Mit dem deutschen Wort „Ehre“ wird hier übrigens noch einmal das gleiche griechische Wort „doxa“ übersetzt, das vorhin mit „Herrlichkeit“ übersetzt wurde. Ich hatte von der „Ausstrahlung“ gesprochen, von dem, was das innere Wesen einer Person ausmacht. Gott die Ehre zu geben, heißt also, ihn als den ernstzunehmen, der er ist, als den Vater, der uns über alles liebt, als den Gott, für den wir Menschen unendlich kostbar und wertvoll sind. So gesehen verliert Gottes Ehre jeden Anschein davon, als ob er beleidigt wäre, wenn man z. B. nicht genug betet, oder als müsste man anders sein, als man ist, um nicht undankbar sein. Nein, Gott will, dass wir zu uns selbst finden, zu dem, was wir uns in unserem Inneren ersehnen.

Dabei kann auch die Gemeinde der Christen uns eine Hilfe sein, nämlich alle die Menschen, die bereits begonnen haben, als Kinder Gottes zu leben, auf ihr inneres Kind zu achten. In einer solchen Gemeinschaft, und seien es vielleicht nur ein paar Mitglieder eines Bibelkreises oder einige gute Freunde, fällt es nicht schwer, auch füreinander gut zu sorgen und sich gegenseitig einen Halt zu geben.

Doch letzten Endes ist alles, womit wir uns gegenseitig stärken, ein Abglanz dessen, was wir von Gott her bekommen – und darum hat auch all das, was wir füreinander in diesem Sinne tun können, einen unendlichen Wert. Denn so wie wir Gott die Ehre geben „von Ewigkeit zu Ewigkeit“, so lässt er auch uns nicht verloren gehen, weder im Leben noch im Sterben.

Damit kommt meine Predigt zum Ende. Sie setzt sich allerdings noch ein wenig fort im Lied nach der Predigt, im Lied 272, 6-8; da werden wir davon singen, wie es ist, wenn Gott, der Vater, uns begleitet und stärkt und wenn wir Christen miteinander gemeinsam auf dem Weg sind. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
Lied 272, 6-8:

6) Kommt, Kinder, lasst uns gehen, der Vater gehet mit; er selbst will bei uns stehen bei jedem sauren Tritt; er will uns machen Mut, mit süßen Sonnenblicken uns locken und erquicken; ach ja, wir habens gut, ach ja, wir habens gut.

7) Kommt, Kinder, lasst uns wandern, wir gehen Hand in Hand; eins freuet sich am andern in diesem wilden Land. Kommt, lasst uns kindlich sein, uns auf dem Weg nicht streiten; die Engel selbst begleiten als Brüder unsre Reihn, als Brüder unsre Reihn.

8) Sollt wo ein Schwacher fallen, so greif der Stärkre zu; man trag, man helfe allen, man pflanze Lieb und Ruh. Kommt, bindet fester an; ein jeder sei der Kleinste, doch auch wohl gern der Reinste auf unsrer Liebesbahn, auf unsrer Liebesbahn.

Gott, unser barmherziger Vater, dass wir Deine Kinder sein dürfen, dafür danken wir Dir! Dass wir nichts weiter tun müssen, um von Dir geliebt zu sein, dafür danken wir Dir! Dass Du nichts Besonderes von uns erwartest, um Dir unsere Dankbarkeit zu zeigen, das macht uns frei! All das macht uns aber auch Angst. Sollten wir wirklich auch als Erwachsene noch das Recht haben, zu fühlen und zu wünschen? Sollten wir wirklich das Recht haben, uns selbst liebzuhaben, so wie wir sind? Hilf uns, diese Angst auszuhalten – und am Vertrauen zu Dir festzuhalten. Hilf uns, zu leben, zu fühlen, zu spüren, dass Du uns nicht niedermachen, sondern aufrichten willst. Lass in der Tiefe unserer Seele die Liebe wachsen, die Liebe zu Dir, die Liebe zu uns selbst, die Liebe zu anderen Menschen. Und wenn Trauer in uns ist, Trauer um einen verstorbenen Menschen, Trauer um die Opfer des furchtbaren Krieges im ehemaligen Jugoslawien, oder Trauer um eine Sehnsucht, die nie erfüllt werden konnte, dann hilf uns, diesen Schmerz zu ertragen, und lass uns nicht allein bleiben in der Traurigkeit. Amen.

Alles, was uns heute bewegt, schließen wir im Gebet Jesu zusammen:

Vater unser
Fürbitte für eine Verstorbene
Musikstück des Posaunenchores
Lied 428, 1-4:

1) Es kennt der Herr die Seinen und hat sie stets gekannt, die Großen und die Kleinen in jedem Volk und Land. Er lässt sie nicht verderben, er führt sie aus und ein; im Leben und im Sterben sind sie und bleiben sein.

2) Er kennet seine Scharen am Glauben, der nicht schaut und doch dem Unsichtbaren, als säh er ihn, vertraut, der aus dem Wort gezeuget und durch das Wort sich nährt und vor dem Wort sich beuget und mit dem Wort sich wehrt.

3) Er kennt sie als die Seinen an ihrer Hoffnung Mut, die fröhlich auf dem einen, dass er der Herr ist, ruht, in seiner Wahrheit Glanze sich sonnet treu und kühn, die wunderbare Pflanze, die immerdar ist grün.

4) Er kennt sie an der Liebe, die seiner Liebe Frucht und die mit lauterm Triebe ihm zu gefallen sucht, die andern so begegnet, wie er das Herz bewegt, die segnet, wie er segnet, und trägt, wie er sie trägt.

Und nun lasst uns mit Gottes Segen in den Sonntag und in die neue Woche gehen:

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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