Bild: Helmut Schütz

Das weggeborgene Kind

Das Leben und Sterben Jesu scheint in der Offenbarung so gut wie keine Rolle zu spielen, meint Kleijs Kroon. Der Seher der Offenbarung legt „den vollen Akzent auf [Jesu] Himmelfahrt“, die tröstlich ist: „Unser Leben ist mit dem Messias verborgen bei Gott, bei Gott weggeborgen, verwahrt! Und wenn [ER] erscheint, … dann werden auch wir mit IHM erscheinen im Glanz.“

Das Westfenster in der evangelischen Pauluskirche Gießen mit dem Erzengel Michael, der den Drachen besiegt, und der Himmelskönigin mit dem Kind auf dem Arm
Das Kirchenfenster auf der Empore der evangelischen Pauluskirche Gießen

Andacht in der Dekanatskonferenz Gießen Mitte in der Evangelischen Paulusgemeinde am 22. August 2012

Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute halte ich die Andacht einmal in unserer Pauluskirche. Dass wir mit dem Rücken zum Altar sitzen, hat den Grund, dass ich gemeinsam mit Ihnen und euch unser Westfenster oberhalb der Empore betrachten möchte. Es fühlt sich ein wenig stiefmütterlich behandelt, denn als Ausgang aus der Kirche nutzen wir normalerweise den Gemeindesaal, wo wir zum Kirchencafé einladen. Claus Wallner hat dieses Fenster vor 54 Jahren geschaffen.

Ave Maria

Drei Situationen haben mir Inspirationen zu diesem Bild geliefert. Die erste war eine Trauung; ich stand dort vor den Altar, und Colenton Freeman sang das Ave Maria. Mein für einen Gottesdienst ungewohnt unbeschäftigter Blick fiel derweil auf dieses Fenster, und ich dachte: Eigenartig, dass in einer von Anfang an evangelischen Kirche so deutlich die Madonna mit dem Kind bzw. die Himmelskönigin dargestellt ist. Dann fragte ich mich, was wohl die vier roten Vierecke in den Ecken des Bildes bedeuten sollen, und erst allmählich ging mir auf, dass sie den roten Hintergrund eines leuchtend-gelben Lichtkreuzes bilden. Offenbar wollte der Künstler einen Zusammenhang herstellen zwischen dem Sturz des diabolischen Satansdrachens vom Himmel auf die Erde in Kapitel 12 der Offenbarung und der Geschichte Jesu zwischen Geburt und Kreuzigung. Dabei trägt der Künstler etwas in die Vision des Sehers der Offenbarung ein, was so nicht drin steht; denn dort wird das von seiner Geburt an bedrohte Kind ja sogleich zu Gott entrückt und dort in Sicherheit gebracht. Vielleicht kann man sagen, dass der Künstler diese Geborgenheit in handgreiflichen Bildern darstellt: indem das Kind von Mutterhänden getragen wird und indem starke Männerhände das Böse mit Waffengewalt in Schach halten. Das leuchtende Kreuz im Hintergrund macht zugleich deutlich, dass die Mutterhände das Kind nicht vor dem Leid am Kreuz bewahren können, dass aber der Sieg über Sünde, Tod und Teufel gerade durch dieses Leiden aus Liebe errungen wird. Soweit die erste Inspiration.

Weggeborgen

Die zweite Inspiration verdanke ich einem Buch von Kleijs Kroon über die Offenbarung, das ich mir antiquarisch beschaffte, weil wir im Bibelkreis seit einem halben Jahr im letzten Buch der Bibel lesen. Kleijs Kroon schreibt zum Kapitel 12 der Offenbarung: „Was hier von der Frau und dem Drachen erzählt wird, das handelt … von uns selber. Gemeint ist etwas, das ganz tüchtig in und bei uns selbst ist.“ Da ist die schwangere Frau, sie steht dafür, dass wir etwas zu erwarten haben, ich umschreibe das mal in meinen Worten: Wir dürfen erwarten, dass unser Leben ganz vom kindlichen Vertrauen auf Gott bestimmt ist, dass unser Menschsein von der Nachfolge Jesu geprägt ist. Zugleich steht der Drache bereit, um dieses Kind zu verschlingen, sobald es da ist, der Drache, der alles symbolisiert, was sich dem Besten, das wir wollen, immer wieder in den Weg stellt, von dem Paulus in Römer 7 sprach und nach dem Martin Luther ein Tintenfass geworfen haben soll.

Und nun sagt Kleijs Kroon: „Sobald es da ist, wird [das Kind] entrückt … zu Gott hin und zu SEINEM Thron.“ Das Leben Jesu und auch sein Sterben scheint in der Offenbarung so gut wie keine Rolle zu spielen, nur in einem einzigen Nebensatz wird in Offenbarung 11, 8 überhaupt die Kreuzigung Jesu erwähnt. Der Seher der Offenbarung legt „den vollen Akzent auf [Jesu] Himmelfahrt, das heißt: auf seine Geburt und seine Auferstehung, die für sie ungefähr dasselbe waren.“ Er erwartet viel von Jesus, aber diese fleischgewordene Erwartung „war auch sogleich wieder weg“. Die Leser der Offenbarung konnten das damals als tröstlich empfinden: „Unser Leben ist mit dem Messias verborgen bei Gott, bei Gott weggeborgen, verwahrt! Und wenn der Messias erscheint, der unser Leben ist, dann werden auch wir mit IHM erscheinen im Glanz.“

Ein im Himmel weggeborgener Jesus; diese Vorstellung hat mich ein wenig erinnert an die Darstellung Jesu im Koran: Dort wird ja bekanntlich seine Kreuzigung völlig in Abrede gestellt, aber von Jesu Geburt und von seiner Entrückung in den Himmel ist ausdrücklich die Rede (Sure 4, 157-158 und 3, 55). Ich will damit keine Identität oder direkte Abhängigkeit zwischen koranischer und biblischer Überlieferung behaupten, wohl aber zu bedenken geben, wie unterschiedlich Christen von Anfang an ihren Glauben an Jesus Christus ausgedrückt haben.

Auch der Sturz der im Drachen verkörperten bösen Macht auf die Erde findet im Koran einen Widerhall oder Kommentar; dort ist die Macht des Bösen ebenfalls eifersüchtig auf die Menschen und will sie bei Gott schlecht und von Gott abspenstig machen; und dort schützt der unterste Himmel mit den Sternen die oberen Himmel vor jedem rebellischen Satan. Die bösen Teufel werden von allen Seiten beworfen und vertrieben (Sure 37, 6-10).

Aber während im Islam der Mensch vor Gott ziemlich allein dafür verantwortlich ist, sich vor der Macht des Bösen zu hüten, stellt die biblische Offenbarung das Kind im Himmel, den kommenden Messias, als bleibende Hoffnung vor Augen. Wir mögen schwach sein, Niederlagen erleiden im Kampf gegen das banale Böse und unsere eigenen Ängste, und doch dürfen wir wissen, wir sind simul iustus ac peccator, unser wahres „Menschsein“ ist schon im Himmel, „ist mit dem Messias in Gott verborgen, ist dort verwahrt in Sicherheit“.

Papa-Engel

Eine dritte Inspiration habe ich empfangen durch die Kinder unseres Kindergartens. Mit ihnen bin ich vor den Sommerferien auf die Empore gegangen und habe mit ihnen das Bild betrachtet. Viele Mädchen fanden das Bild eher schön, viele Jungen eher cool, einige Kinder fanden es auch gruselig. Am gruseligsten fanden sie die Drachenköpfe, die sie zuerst als Schlangen identifizierten. Ein Junge sah als erstes auf dem Bild – Waffen. Nicht nur den Speer, dessen Spitze vom Drachen aufgefressen wird, wie er meinte, sondern für ihn sah der nach oben gerichtete Flügel des Engels wie ein Schwert aus und die Strahlen, die die Frau umgeben, wie spitze Messer. OK, meinte ich, vielleicht sind die Sonnenstrahlen ja auch auch wie Waffen, die die Frau vor Gefahren schützen.

Am interessantesten fand ich, dass die Kinder in den drei menschlichen Gestalten spontan ein Baby mit Mama und Papa wahrnahmen. Einige Kinder meinten, das ist der Jesus mit seiner Mama Maria. Erst als ich auf die Flügel der männlichen Gestalt hinwies, meinten einige: Das ist ein Engel. Da kam ich auf die Idee, sie zu fragen, ob denn ein Papa auch ein Engel sein kann. Einige konnten sich das vorstellen, andere meinten „Nein“. Ich sagte ihnen: „Wenn ein Papa sein Kind beschützt und lieb hat, dann ist er wie ein Engel für sein Kind da.“

Auch die Kinder haben gespürt, dass es auf diesem Bild um Geborgenheit für ein Kind geht, das in dieser Welt durch viele Gefahren bedroht ist. Sie hatten keine Angst um das Kind, das von einer lieben Mama getragen und von einem Papa-ähnlichen Engel beschützt wird, und sie hörten gerne zu, als ich dann weiter die Geschichte von der Frau erzählte, die von Gott Adlerflügel bekommt und in der Wüste zu essen findet und von der Erde selbst beschützt wird, als sich in der Erde eine Spalte öffnet und sie das große Wasser einfach wegtrinkt. So viel zum Fensterbild.

Nun singen wir zwei Strophen aus dem Lied 326. Ich habe sie ausgewählt, weil es in ihnen um die Mutterhände und Vateraugen unseres Gottes geht, die uns leiten und bewahren.

5. Der Herr ist noch und nimmer nicht von seinem Volk geschieden; er bleibet ihre Zuversicht, ihr Segen, Heil und Frieden. Mit Mutterhänden leitet er die Seinen stetig hin und her. Gebt unserm Gott die Ehre!

6. Wenn Trost und Hilf ermangeln muss, die alle Welt erzeiget, so kommt, so hilft der Überfluss, der Schöpfer selbst, und neiget die Vateraugen denen zu, die sonsten nirgends finden Ruh. Gebt unserm Gott die Ehre!

Blitzlicht aus der Gemeinde

Auch mein Blitzlicht aus der Gemeinde möchte ich aus einem einzigen Grund, der noch deutlich werden wird, hier in der Kirche vorstellen. Es enthält drei Stichpunkte.

Interreligiöse Kompetenz

Nach wie vor beschäftigt uns das Thema „Interreligiöse Kompetenz“. Es ist mehr als ein Projekt; es begleitet unsere Arbeit an der Nahtstelle zwischen dem Kinder- und Familienzentrum und der Paulusgemeinde auf Dauer.

Konkret planen wir zur Zeit eine zweite interreligiöse Feier, die nebenan im Saal zum Thema Schöpfung und Erntedank am 30. September stattfinden soll. Eine erste interreligiöse Feier gab es Ende März draußen im Hof zum Thema „Nachbarschaft verpflichtet“. In diesem Zusammenhang möchte ich das Rätsel auflösen, wer die junge Vikarin oder Pfarrerin auf dem Titel unseres letzten Gemeindebriefs war: es handelt sich um eine Erzieherin im Jahrespraktikum, die bei der Feier in einem von einer muslimischen Mutter entworfenen Theaterstück eine Pfarrerin lediglich gespielt hat.

Außerdem wollen wir in den nächsten sieben Monaten mit Kindergarteneltern und anderen Nordstadtbewohnern sieben Gotteshäuser bzw. religiöse Gemeinden in der Nordstadt besuchen, vom buddhistischen Tempel über die Baptisten bis hin zu den beiden Moscheen, den Kirchen St. Albertus und Paulus und der alevitischen Gemeinde.

Gestern wurde auf dem Rasen vor dem Kindergarten das Ramadan-Fest gefeiert; muslimische Mütter haben das vorbereitet und alle Interessierten dazu eingeladen. Bei diesem Anlass entstand auch der Titel für das eben genannte Besuchsprojekt: „Glaubensvielfalt in der Nordstadt“.

Capoeira und Konfi-Team

Nachdem wir im letzten Jahr nur acht Konfirmanden hatten, haben sich dieses Jahr im Zuge eines quasi statistischen Ausgleichs 24 angemeldet. Zunächst bekam ich einen Schreck, weil ich seit einem Jahr im Unterricht ohne Konfi-Team allein dastand und weil auf der Liste eine ganze Reihe von Namen auftauchte, von denen ich eher Stress als Interesse am Unterricht befürchtete. Inzwischen haben sich mein Schreck und meine Befürchtungen als unbegründet erwiesen, denn ich bekam Hilfe von mehreren Jugendlichen und Erwachsenen aus der Escolar Popular, also der Capoeira-Gruppe, die jeden Donnerstag im Gemeindesaal trainiert. So kann ich den für unsere Verhältnisse großen Konfi-Jahrgang wieder mit einem Team betreuen. Abgesehen davon hat sich herausgestellt, dass meine Vorurteile gegenüber der Gruppe weitgehend unbegründet waren. Bisher zeigten die Konfis großes Interesse daran, Bilder und Szenen mitzugestalten, und sind auch nicht mit respektlosem Verhalten aufgefallen. Und das ist der Grund, weshalb ich das Blitzlicht hier in der Kirche loswerden wollte: Dort an den Türen zum Gemeindesaal sind Bilder unserer Konfirmanden zu sehen, die ich nächsten Sonntag in den Gottesdienst einbeziehen will, zum Thema: Wo können wir Gott am besten finden?

Neue Identität als Opa

Ganz persönlich ist für mich zur Zeit am bedeutendsten meine neue Identität als Großvater. Als wir zum letzten Mal vor fast anderthalb Jahren hier versammelt waren, war unsere erste Enkelin noch nicht geboren; mittlerweile ist sie fast anderthalb Jahre alt, und meine Frau und ich freuen uns sehr, dass wir sehr oft Zeit mit ihr verbringen können. Es ist einfach wunderbar, dieses Menschenkind aufwachsen zu sehen und viel von dem mitzubekommen, was sie von Woche zu Woche alles erlebt und lernt. Das erleben wir als großes Geschenk.

Gestaunt haben wir am Anfang, dass unser Sohn und unsere Schwiegertochter der kleinen … schon ab dem Alter von drei Monaten keine Windeln mehr angezogen haben. Sehr rasch merkten wir, dass dieser Weg der windelfreien Babybetreuung mit einem sehr intensiven Eingehen auf die Signale des Kindes einhergeht, auch mit dem Respekt dafür, dass es vielleicht auch ein kleines Kind nicht unbedingt gerne mag, stundenlang mit einer nassen Windel herumzulaufen, selbst wenn die Firma Procter und Gamble das Nässegefühl auf Null zu reduzieren versucht. Ich erwähne diese Einzelheit, weil sie vielleicht neugierig macht auf etwas, was in der westlichen Welt ziemlich in Vergessenheit geraten ist. Und weil wir auch als Großeltern damit einfach gute Erfahrungen gemacht haben.

Damit ist mein Blitzlicht fertiggeblitzt, und wir können zum nächsten Tagesordnungspunkt in den Saal nach nebenan gehen…

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