Bild: Familie Treblin/Ebling

Der lange Weg zum Frieden

Heinrich-Treblin
Heinrich Treblin

1. Antisemitismus und Fremdenhass ohne Ende

Bedrohungen jüdischer Mitbürger, Anschläge gegen jüdische Friedhöfe und Synagogen fünfzig Jahre nach dem Holokaust in Deutschland, zunehmender Antisemitismus auch in anderen Ländern, Zuspitzung kriegerischer Auseinandersetzung zwischen Israelis und Moslems in Jerusalem um den Anspruch auf Heimat in „eretz Jisrael“ bzw. Palästina; unheilvoll vermischt mit diesem Judenhass allenthalben zunehmende Feindschaft ethnischer Mehrheiten gegen Minderheiten anderer Nationalität, Rasse, Sprache, Kultur, Religion und umgekehrt.

2. Die zögerliche Reaktion der Kirchen und das Versagen des Humanismus

Erst unter dem Schock des Holokausts haben sich die Kirchen genötigt gesehen, darüber nachzudenken, wieweit sie durch weithin schweigendes Zusehen, aber auch durch eine eigene antijudaistische Tradition mitschuldig an diesen Morden geworden seien. Christen, die unter Hitler erfahren hatten, dass auch ihr Festhalten an der alttestamentlichen Botschaft vom Gott Israels, dem Vater Jesu Christi, ihnen Feindschaft und Verfolgung durch die Nationalsozialisten einbrachte, erkannten mehr und mehr die Unvereinbarkeit der Christusbotschaft mit der Religion nationaler Selbstvergötterung. Zugleich mussten sie erkennen, dass die Ideologie eines aufgeklärten demokratischen Humanismus nicht ausreichte, die antisemitische Grundstimmung des christlichen Bürgertums zu überwinden. Das wurde deutlich, als der Jude Bubis resigniert das Scheitern seiner Bemühung um deutsch-jüdische Verständigung zugeben musste und der Aufruf Martin Walsers, den Hinweis auf den Holokaust endlich aufzugeben, große Zustimmung fand.

3. Die „Enterbung“ Israels durch die heidenchristlichen Kirchen

Schon früh setzte sich (als eine gewiss unvorhersehbare) Folge der Verbreitung des Christentums unter den Heidenvölkern in der heidenchristlichen Gemeinde die These durch, die Gemeinde Jesu, die Kirche, habe das ältere Gottesvolk Israel um ihres Unglaubens willen „enterbt“ und sei nun das wahre und einzige Gottesvolk bzw. Israel. Wohin diese anmaßende Behauptung später, als die christlichen Kirchen den Status einer römischen Staatsreligion und Reichskirche erhielten, geführt hat, ist bekannt: zur gewaltsamen blutigen Verfolgung jüdischer Menschen und Gemeinden bis in die beginnende Neuzeit und zum bürgerlichen Antisemitismus auch noch nach der Emanzipation des Judentums im Deutschen Reich.

Theologisch legitimiert wurde dieser Antisemitismus durch kirchliche Theologen, die die Verfolgung der Juden als verdiente Strafe Gottes für den an Jesus vollzogenen „Gottesmord“ („Sein Blut komme über uns“) bezeichneten, und durch Luthers Gleichsetzung der von ihm mit Recht bekämpften römischen „Werkgerechtigkeit“ mit dem jüdisch-pharisäischen Sichrühmen gegenüber den Heiden (Römerbrief 3), in dem es um einen ganz anderen Tatbestand ging. Paulus, der sich selbst als einen Pharisäer bezeichnete, rief im Römerbrief Juden und Heiden zum Wetteifern um den Glaubensgehorsam, die Nachfolge Jesu, auf und mahnte beide, sich nicht gegenseitig als die besseren Diener Gottes zu rühmen.

In den 60er Jahren bekannten einige evangelische Synoden, dass „Gottes Bund mit Israel auch weiterhin gelte“. In Denkschriften der EKD „Christen und Juden“ wurde diese These erweitert und der kirchliche Antijudaismus als Schuld an den älteren Geschwistern, den Juden, bekannt. Neuerdings riefen einige Synoden auch zur Solidarität mit den angegriffenen jüdischen Mitbürgern auf. Was aber noch aussteht, ist u. E., die enge Verwandtschaft und Schicksalsgemeinschaft der Christen mit den Juden zu erkennen. Davon soll nun die Rede sein.

4. Die Erwählung des Volkes Israel und der „eingepfropften“ Heiden

Es greift zu kurz, wenn man versucht, das Problem der Judenfeindschaft nur als eine Frage moderner ökonomischer oder politischer Interessengegensätze zu begreifen und auf demokatische Weise lösen zu wollen. Die Feindschaft gegen die Juden hat ihren Ursprung in der Erwählung des Volkes Israel durch Jahwe, den Gott Israels, von der die hebräische Bibel, das „Alte Testament“, berichtet. Diese nicht um eigener besonderer Vorzüge willen, sondern allein aus Gottes freiem Willen erfolgte Berufung, unter den Völkern „Licht der Heiden“ und Zeuge von der Königsherrschaft Gottes zu sein, d. h. befreit von Götzendienst und Menschenfurcht als Ebenbild der barmherzigen Liebe des Schöpfers zu seinen treulosen Geschöpfen ihm allein zu dienen, war eine Kampfansage an alle Selbstvergötterung und gewaltsame Selbstbehauptung der Völker dieser Welt und hatte zur Folge die Feindschaft der Heidenvölker gegen dieses so ganz andere Volk mit seiner „Gegenreligion“ und Verachtung alles dessen, was jenen heilig war, und als überlebenswichtig und unverzichtbar galt. Erwählung und Feindschaft der Völker gehören für Israel von Anfang an untrennbar zusammen.

Der Gegensatz zwischen dem Leben des Gottesvolkes und der Heidenvölker fand seinen äußerlichen Ausdruck zunächst darin, dass sich die Israeliten als eine Art „Kontrastgesellschaft“ von den anderen Völkern absonderten. Abraham verließ auf Gottes Weisung sein Vaterland in Chaldäa und zog in ein Land, das Gott ihm zeigen wollte. Aber diese partikulare Existenz des Gottesvolkes war bereits ausgerichtet auf die universale Erwählung der ganzen Menschheit: „In die sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde“ (1. Mose 12). Auch Mose wurde von Jahwe berufen, mit seinem in Ägypten geknechteten Volk den Exodus aus Menschenknechtschaft zu wagen, wie wiederum den im babylonischen Exil gefangenen Juden die Befreiung und Heimkehr nach Jerusalem geschenkt wurde, nachdem sie auch in der Fremde ihren besonderen Gottesdienst und Lebensstil nach der Tora bewahrt hatten – zum Besten der ganzen Stadt. Auch dies brachte den Juden Feindschaft und Verfolgung ein.

Die Bibel verschweigt aber nicht, dass das Volk Israel sich immer wieder gegen das harte Schicksal, von allen gehasst zu werden, aufgelehnt hat und versucht hat, ein Volk „wie die anderen“ zu sein (1. Samuel 8, 20). Gegen diese Versuchung haben die Propheten gepredigt, oft vergeblich, so dass sie die unheilvollen Folgen dieses Versuches, nämlich das schändliche Erliegen Israels unter den stärkeren Weltmächten bis zum Exil nur noch als Gottes Strafe ansehen konnten.

5. Israels Geschichte als Lernprozess vom Heilsegoismus zur Feindesliebe

Was viele Gläubige, die die Bibel pauschal als „Gottes Wort“ verstehen (statt darin Gottes Wort zu finden), oftmals irritiert und auch dazu geführt hat, das Alte Testament pauschal als überholte Botschaft vom „zornigen Gott“ abzuwerten, sind die Stellen, in denen von grausamen Kriegen und Ausrottungen ganzer Bevölkerungen auf Geheiß Gottes die Rede ist (Jesaja 34; 5. Mose 32, 41). Hier gilt es nüchtern zu erkennen, dass das Volk Israel erst in einem langen Lernprozess zur vollen Vorstellung eines barmherzigen, die Seinen zu barmherziger Feindesliebe erziehenden Gottes gelangt ist. Der Stammesgott des Nomaden Abraham ähnelt in vielem den Göttern anderer Stämme. Man erwartete von ihm Schutz und Bewahrung vor Feinden, vor Krankheit bei Mensch und Vieh, Gedeihen der Herde, Sieg über den Feind, und war bereit, dafür der Gottheit auch Opfer darzubringen. Neben diese naive Vorstellung vom Schutzgott trat mit der mosaischen Gesetzgebung die differenziertere Vorstellung von einem prüfend-erziehenden, Gehorsam erwartenden Gott, der nicht vor jedem Unheil bewahrt, sondern selbstverschuldetes Unheil sogar zulässt oder gar schickt. In Erfahrungen des Exils und danach wandeln sich Gottesbild und Heilerwartung, bis man in den Apokalypsen Gottes Heil und Friedensreich (Schalom) schließlich erst in einem endzeitlichen, auch jenseitigen Äon erwartet.

Trotz wiederholten Rückfalls und teilweisen Verharrens in heidnischem Verhalten wuchs aber die Einsicht, dass nur die Abkehr von der Raubtiermoral der gewaltsamen Selbstbehauptung zum Frieden führen könne. Davon künden die Visionen eines Micha und beider Jesajas vom neuen Himmel und der neuen Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt und Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet werden (Micha 4; Jesaja 2 und 65). Freilich: beschränkt ist dieses neue friedliche Verhalten auf das gesetzestreue Volk Israel; die „unreinen“ Gojim, die Heiden (sofern sie sich nicht bekehren und beschneiden lassen), bleiben draußen; mit ihnen gibt es keine Gemeinschaft.

6. Die leidensbereite Feindesliebe Jesu versöhnt Juden und Heiden

Das Neue und über alles bisherige Verhalten von Juden und Heiden Hinausgehende ist darin zu sehen, dass Jesus Feindesliebe nicht nur von anderen fordert oder zuvor erwartet, sondern als der von Gottes Geist erfüllte „Sohn“ Gottes (Schechina) durch Hingabe seines ganzes Lebens in uneingeschränkter Liebe zu Juden und Heiden selber übt. Als Ebenbild des Gottes, der „seine Sonne scheinen lässt über Gerechte und Ungerechte“, tritt er für die Opfer der in der Gesellschaft herrschenden Gewalt und für alle von der Gesellschaft Ausgegrenzten, die „Unreinen“ und Feinde des eigenen Volkes ein und wird so selbst zum Opfer der Gewalt der Mächtigen. „In Christus Jesus seid ihr, die ihr einst Ferne wart, Nahe geworden durch das Blut Christi. Er ist unser Friede, der aus beiden eins gemacht hat“ (Epheserbrief 2, 13ff.).

Nach Paulus hat Gott durch Jesus den Heiden, der ein „wilder Zweig“ war, „eingepfropft in den Ölbaum“ Israel (Römerbrief 11, 17) und so die einst Abraham gegebene Verheißung, dass „alle Geschlechter in dir gesegnet werden sollen“, erfüllt. Auch Jesus musste erst solchen Gehorsam gegen Gottes vollen Willen lernen. Auch er meinte zunächst, die kanaanäische Frau abweisen zu müssen, da er nur zu den Kindern seines Volkes gesandt sei (Markusevangelium 2, 26). Und auch Petrus, als er zu dem Heiden Kornelius gesandt ward, musste sich erst von Gott sagen lassen: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht unrein“ (Apostelgeschichte 10), ehe er ihn taufte.

Wie allen Propheten vor ihm bis auf Johannes den Täufer ging es Jesus darum, die Menschen zur Umkehr aus heidnischer Selbstbehauptung gegen Gott und den Mitmenschen einzuladen (Markusevangelium 1, 15). „Den Willen Gottes zu tun“, forderte er nicht nur, sondern das tat er selbst so radikal und uneingeschränkt – bis zum Tode am Kreuz. Eben diese unbedingte Liebe beschämte und überzeugte viele, so dass sie in seinem Kreuzestod nicht mehr sein Scheitern, sondern den Sieg über alle Todesfurcht und Lieblosigkeit sahen und fortan ihm als dem lebendigen „auferstandenen“ Herrn nachfolgten, selber durch ihn aus dem Tode der Sünde „auferweckt“ zu einem neuen Leben (Epheserbrief 2, 5; Kolosserbrief 2, 12).

Wie die Propheten vor ihm erfuhr Jesus, dass seine Einladung zur Umkehr bei „einem Teil“ seines Volkes auf taube Ohren und auf Ablehnung stieß. Die Feindschaft, der Gottes Volk seit jeher in der Welt ausgesetzt war, traf nun auch ihn und seine Gemeinde: „Wenn euch die Welt hasst, so wisset, dass sie mich auch gehasst hat“ (Johannesevangelium 15). „Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe“ (Matthäusevangelium 10). So nennt auch der Hebräerbrief mit aller Deutlichkeit den Ort der Gemeinde Jesu: „Jesus hat gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen!“ (Hebräerbrief 13)

An der Seite der Schwachen, Unterdrückten, Ausgegrenzten in der Gesellschaft sollte auch heute die Gemeinde Jesu zu finden sein, nicht aber in den Palästen der Mächtigen und Privilegierten, die sich gerne der Kirchen bedienen, um ihre eigenen Praktiken bestätigen zu lassen. Die gewaltfreien Täufer und Waldenser, Quäker und Mennoniten, der lateinamerikanische Bischof Romero, der Urwalddoktor Albert Schweitzer, Mutter Teresa in Indien haben ein solches glaubwürdiges Zeugnis gegeben.

7. Die heidnische Entstellung der Botschaft Jesu

Die Einladung Jesu an seine jüdischen Hörer, umzukehren zu Gott, ihrem wahren König, und seinen Willen uneingeschränkt zu tun, wurde nicht von allen angenommen. Jesu Botschaft ist ihnen zum Teil zu einem „Stein des Anstoßes“ geworden. „Gott hat ihnen einen Geist der Betäubung gegeben, Augen, dass sie nicht sehen, Ohren, dass sie nicht hören“. „Ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer für Gott haben, aber ohne Einsicht“. „Doch Gott hat sein Volk nicht verstoßen“. „Er kann sie wieder einpfropfen“ (Römerbrief 9ff.). Der „Teil Israels, dem Verstockung“ widerfahren ist, „bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist“, waren nach neueren Forschungen vorwiegend die Sadduzäer, jene Gruppe, die mit den heidnischen Römern kooperierten, während die Pharisäer wohl mit dem Rabbi Jesus nach damals üblicher Weise Streitgespräche um die richtige Auslegung der Tora führten, aber am Tode Jesu nicht schuld waren. Anderslautende Texte in den Evangelien spiegeln offenbar eine spätere Situation wider, als jüdische Rabbiner nach dem Tode Jesu über die junge judenchristliche Gemeinde den Bann aussprachen. Auch Paulus bezeichnet sich ja als Pharisäer und musste für das Recht seiner Missionspredigt unter den Heiden selbst mit den gesetzestreuen Kreisen innerhalb der Jerusalemer Gemeinde Jesu um Petrus und Jakobus hart kämpfen.

Man kann es nur als tragisch bezeichnen, dass aus der durch Jesus und seinen Jünger Paulus bewirkten Überbrückung des Grabens zwischen Juden und Heiden eine viel schlimmere Feindschaft gegen das jüdische Volk erwuchs, als sie Israel schon zuvor zu erdulden hatte, nämlich die Verfolgung der Juden durch die Christen. Indem Paulus „den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche“ zu sein bemühte, um beide für seine Botschaft zu gewinnen (1. Korintherbrief 9), konnte es geschehen, dass seine Rede vom „Sohn Gottes“, vom „Kyrios Christus“, von den durch die heidnische Religion und Kaiserverehrung geprägten Menschen nicht mehr im Sinne der hebräischen Bibel und jüdischen Sohnschaft Jahwes verstanden wurde. Jesus, der Gott seinen abba/Vater nannte und durch den in ihm wohnenden Geist Gottes seine Jünger einlud, als Söhne Gottes Gott ihren Vater zu nennen, wurde nun mehr und mehr wie die heidnischen Gottkaiser als ein übernatürliches Wesen, als Gott angerufen, während des Paulus‘ Botschaft klar und eindeutig sagte: „Es ist ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus“ (1. Timotheusbrief 2, 5).

Diese Tendenz zur „Vergottung“ des Juden Jesus setzte sich fort in den Evangelien. Lukas feiert Jesus als den Gottessohn analog den Geburtslegenden der heidnischen Kaiser. Metaphern wie die „jungfräuliche Zeugung Jesu“, die auf den Geist Gottes, der Jesus erfüllte, hinweisen sollten, haben ihre Parallele im Kaiserkult, wo sie vielleicht auch nur als Metaphern verstanden wurden, im Gegensatz zur heutigen evangelikalischen Deutung als reale biologische Fakten. „Wenn ein Jude beobachtete, wie schnell sich die Botschaft vom Israel-Messias beim Übergang zum Heidenchristentum veränderte, so gereichte ihm das zum Schrecken und zur Trauer“ (Reinhold Mayer). Es ist zur Genüge bekannt, wie die Vergottung Jesu im Laufe der Kirchengeschichte unheilvoll zum „Pantokrator“ der römischen Reichskirche führte. Aus der judenchristlichen Gemeinde Jesu, welche mit ihrem Volk unter der heidnisch-römischen Unterdrückung und Feindschaft litt, wurde eine halb-heidnische „christliche“ Kirche, die selber unter ihren Päpsten und „christlichen“ Herrschern nun Juden blutig verfolgte. Nun geschah genau das, wovor Paulus die Gemeinde der Heidenchristen gewarnt hatte: Sie sollte sich nicht wie die Juden, die sich gegenüber den Heiden ihrer Gotteserkenntnis und ihres Gesetzesbesitzes „rühmten“, selber aber das Gesetz übertraten („Du lehrst andere, lehrst dich aber selber nicht“, Römerbrief 2) als in den Ölbaum „eingepfropfte“ Zweige gegenüber den um ihres Unglaubens willen ausgebrochenen Zweigen „rühmen“. „Sei nicht stolz, sondern fürchte dich. Gott hat die natürlichen Zweige nicht verschont, so wird er dich auch nicht verschonen (Römerbrief 11, 17ff.). Eben dessen rühmten sich die heidenchristlichen Gemeinden, das bessere, „wahre“ Israel zu sein und das ältere Gottesvolk wegen seine Unglaubens „enterbt“ zu haben. Statt an der Seite des älteren Gottesvolkes der heidnisch gewaltsamen Selbstbehauptung abzusagen und dafür Verfolgung und Feindschaft der Heidenvölker auf sich zu nehmen, üben sie nun selber Gewalt gegen ihre älteren Geschwister.

8. Die vorläufige und die endgültige Überwindung von Juden- und Fremdenhass

Einige Synoden haben unseren jüdischen Mitbürgern bescheinigt, dass der Bund Gottes mit Israel noch gelte. Das steht in Gegensatz zu der bisherigen kirchlichen und theologischen Behauptung, wonach Gott Israel um seines Unglaubens willen verstoßen habe. Hier und da ist auch von einer Mitschuld der Kirche an Auschwitz die Rede, weil man schweigend den Verbrechen zugesehen habe. Eine wirkliche „Buße“, nämlich eine radikale Umkehr und Abkehr der Christengemeinde vom heidnischen Geist der heidnischen Selbstbehauptung und gewaltsamen Selbstsicherung steht aber noch aus. Nach wie vor sanktionieren Kirchen militärische Landesverteidigung, und die synodalen Aussagen von der Weitergeltung des Bundes Gottes mit Israel können leicht als gönnerhaft-herablassende Höflichkeit verstanden werden. Verbale Eingeständnisse christlicher Mitschuld an den an den Juden begangenen Verbrechen dürften, nach dem, was wir Christen den Juden angetan haben, nicht ausreichen, um glaubwürdig erkennen zu lassen, dass wir von dem hohen Ross christlicher Anmaßung, das bessere, wahre Gottesvolk zu sein, schon herabgestiegen sind. Müssten wir Christen den Juden nicht in echter Solidarität vielmehr beweisen, dass wir als ihre in den Ölbaum Gottes „eingepfropften“ jüngeren Geschwister bereit sind, unter den Völkern der Welt auch als anstößige „Kontrastgesellschaft“ zu leben und die daraus erwachsende Feindschaft der Völker gegen Gottes Volk mitzutragen? Müssten wir nicht auf unsere Privilegien verzichten und unseren Ort „draußen vor dem Tor“ des Lagers der etablierten Gesellschaft an der Seite der Ausgegrenzten und Unterprivilegierten aufsuchen?

Müssten wir nicht offen bekennen, dass wir nicht nur die gemeinsame Erwählung mit den Juden, „Licht der Heiden“ zu sein, verleugnet haben, sondern darüber hinaus das Versöhnungswerk Jesu Christ, den Frieden, „der aus beiden eines gemacht hat durch das Opfer seines Leibes“ (Epheserbrief 2!)? Könnten wir beide, Juden und Christen, nicht, statt unsere beiderseitigen Gruppeninteressen zu verteidigen und gegeneinander auszuspielen, Gottes Geist bitten, er möge in beiden etablierten Religionsgemeinschaften durch den Juden Jesus ein neues versöhntes Gottesvolk erwecken, das dann gemeinsam ohne Scheu vor den Mächtigen dieser Welt für „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung von Gottes Schöpfung“ einträte?

Judenfeindschaft und Fremdenhass haben die gleiche Wurzel: Der Rückfall der heidenchristlichen Kirchen in heidnische Herrschaft der Starken über die Schwachen und die Abwehr der Fremden folgte aus der Verleugnung des Versöhnungswerks Jesu Christi. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass sich die Friedensbotschaft Jesu auch in den christlichen Kirchen immer wieder Raum geschaffen hat. Wie nach Luther der Christ stets „Gerechter und Sünder zugleich“ ist, so ist auch die Kirche als ganze stets ein „corpus permixtum“, eine halbheidnische, halbchristliche Größe. In der diesseitigen Weltzeit wird es immer nur vorläufige und zeitweilige Zeichen friedlichen Verhaltens geben („Stückwerk“, 1. Korintherbrief 13). Darum hofft die Friedensgemeinde Jesu mit den Juden auf den Tag, da Gott selber sein ewiges Friedensreich aufrichten wird. Dann wird auch „ganz Israel gerettet werden. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme“ (Römerbrief 11). In dieser Erwartung kann es für uns Christen nur darum gehen, dass ein heidnisch verfremdetes „Christentum“ nicht weiter die wahre Botschaft Jesu verdunkele, nämlich, dass er gekommen ist, Juden und Heiden miteinander zu versöhnen.

Heinrich Treblin, Alzey, Januar 2002

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