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Umstimmung

Ein Plädoyer dafür, sich von Gottes Wort zur Mitte hin umstimmen zu lassen, statt immer nur auf Defizite zu starren und sich hoffnungslos zu überfordern.

Umstimmung - weg vom gepeitschten Holzkreisel - hin zur Mitte Jesus Christus, die Ruhe schenkt (das Bild zeigt einen Holzkreisel in Bewegung)
Brauchen wir in der Kirche Peitschenhiebe wie ein alter Holzkreisel, um in Bewegung zu bleiben? (Bild: Manfred Antranias ZimmerPixabay)

Andacht zur gemeinsamen Sitzung der Leitungsgremien der Gemeinden St. Albertus und Paulus in Gießen am 7. November 2012

Liebe Mitglieder der Leitungsgremien der Gemeinden St. Albertus und Paulus!

Es ist nicht selbstverständlich, dass wir uns in dieser Runde treffen; wir hatten gerade Visitation in einem Nachbardekanat, und da gab es kaum ökumenische Kontakte zwischen den Gemeinden, so etwas hängt wohl vor allem vom Engagement der beteiligten Personen ab, aber auch von den Belastungen, unter denen die einzelnen Gemeinden selber stehen; da bleibt oft gar keine Zeit für übergemeindliche Kontakte. Um so dankbarer sind wir, dass die Zusammenarbeit zwischen unseren Gemeinden nun seit vielen Jahren kontinuierlich besteht.

In meiner Andacht möchte ich Gedanken des emeritierten evangelischen Theologieprofessors Michael Trowitzsch weitergeben, die ich kürzlich im Deutschen Pfarrerblatt las und die mich sehr beeindruckt haben. „Worauf sind wir gegründet?“, fragt er in einem Vortrag und wirbt dafür, dass jede christliche Predigt und Andacht ein „Mittel der Umstimmung“ sein möge. Was meint er damit? „Jeder Mensch ist so und so gestimmt, traurig gestimmt, erwartungsvoll, zufrieden, abenteuerlustig, »in Stimmung« oder »gerade nicht in Stimmung«“. „Gestimmtsein ist früher als Denken, früher als Handeln.“ „Wie es mir jeweils zumute ist“, das kann sich auswirken, indem die Welt für mich so oder so ist, zum Beispiel veränderbar oder hoffnungslos festgefahren. „Wie sind wir gegenwärtig gestimmt“, fragt Trowitzsch, „wie unsere Kirche? Die Ehrenamtlichen, die Mitarbeiter, die Pfarrer und Pastorinnen, die Frauen und Männer in Leitungsämtern? … gibt es eine Grundstimmung?“ „Vielleicht hat eine bedrückte Stimmung Einzug gehalten, geht eine Grundstimmung um, die auf Überforderung beruht? Ist die Kirche ein kleiner Holzkreisel, wie es sie in meiner Kindheit gab, ein Kreisel, der zur Aufrechterhaltung seiner Drehung ständiger Peitschenhiebe bedarf – also ständig neu aufgelegter Handlungsanweisungen, zu verwirklichender, umzusetzender Leitbilder, Aktionsprogramme, Überprüfungsprozeduren, Zielorientierungen?“

Aber können der Holzkreisel und die Peitschenhiebe wirklich „ermutigende Kraft“ entwickeln? „Trösten sie und trotzen sie? Beunruhigen sie produktiv? Unterstellt wird ja häufig, wir seien allzu beruhigt und bedürften neuer energischer Handlungsimpulse. Trifft das eigentlich zu? Bin ich wirklich allzu beruhigt? Muß ich wirklich stärker und nachhaltiger gefordert werden als bisher?“

Oder fühlen sich nicht wenige unter uns auf Dauer überlastet? Trowitzsch erwähnt „die zusammengebissenen Zähne, die Schlaflosigkeit, de[n] Zettel auf dem Nachttisch (was mir nachts eingefallen ist und was nicht vergessen werden darf), … das Anwachsen neuer Anforderungen ohne Reduktion der bisherigen.“ Muss das eventuell sogar so sein? „Jürgen Habermas erklärt: »Religiöse Überlieferungen leisten die Artikulation eines Bewußtseins von dem, was fehlt. Sie halten die Sensibilität für Versagtes wach.« Geradezu programmatisch soll »Religion« hier grundsätzlich vom Defizit her verstanden werden.“

Trowitzsch widerspricht Habermas energisch. „Der christliche Glaube … wird damit … ganz und gar verfehlt. Es geht in ihm nicht um die Sensibilität für Versagtes, für die Aufrechterhaltung und die Beförderung des Bewußtseins dessen, was grundsätzlich fehlt. Es geht um das, was Evangelium genannt werden darf“, Frohe Botschaft. Geradezu furchtbar wäre es, wenn das unser Auftrag als Pfarrer wäre: „niemals den Blick von den Defiziten abzuwenden und ihrerseits die Gemeinden dazu anzuleiten. Was fehlt noch alles? hieße die Programmatik: Was fehlt uns noch alles; und wie halten wir die Sensibilität für Defizite wach?

„Was [aber nun] ist das Gegenteil von »Überforderung«?

Nein, nicht die Unterforderung. Nicht das, was Ernst Bloch das »Faulbett« nannte. Sondern dann tritt das Gegenteil von Überforderung ein, wenn etwas gut ist und genügt. Auf das, was fehlt, kann man sich nicht gründen, sondern es nur zu erreichen suchen, ihm nur, angetrieben vielleicht, hinterherlaufen. Wie können wir uns aber auf das gründen, was gut ist und genügt?“

Trowitzsch nennt dann als Beispiel einen Satz aus der evangelischen Confessio Augustana, dem Augsburgischen Bekenntnis, in dem „einer Überforderung entgegengetreten“ wird. „Es geht um die Einheit der Kirche. Ein »satis« [ein Genug] wird ausgesprochen.“ „Zur wahren Einheit der Kirche genügt es, satis est, »daß das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut des Evangelii gereicht werden. … Mehr braucht es nicht. Die Konfessionen müssen sich nicht überfordern. Und nach Möglichkeit die Pfarrer dann auch nicht“.

Und ich füge ein: wir müssen uns noch nicht einmal damit überfordern, indem wir einander das Abendmahl auf Grund dogmatischer Unterschiede verweigern. Jesus rief alle zu sich, sogar den Judas und den Petrus und später den Paulus und den Jakobus, mit all ihren Sünden und sogar in ihrer entstehenden Glaubenszwietracht.

Am Ende fragt der auferstandene Jesus den Petrus, der ihn verleugnet hat, nur das Eine, das jedes Kind beantworten kann: „»Hast du mich lieb?« (Joh. 21,15ff). Das genügt. Und Paulus berichtet, daß der Herr zu ihm gesagt hat: »Meine Gnade genügt dir. Denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.« (2. Kor. 12,9) »Meine Gnade genügt« – ich glaube, das ist eine der überhaupt schärfsten Zumutungen, die das NT bereithält, für die Gegenwart ein ungeheuer provozierender, unannehmbarer Text, eine glatte Herausforderung. »Meine Gnade GENÜGT.« Als modernen Menschen, die wir natürlich alle irgendwie auch sind, fallen uns sofort hundert Einwände ein.“

Aber genau auf diese Grundstimmung will uns das Evangelium umstimmen. „Umstimmung – das heißt … mit Röm. 12,2: … »Verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes.« … Eine Umkehr der Grundeinstellung, der Grundbefindlichkeit soll eintreten, metánoia, Umkehr, eben Umstimmung.“ Sie geht „jedem Denken und Handeln voraus… Nicht wird zuerst gesagt: »Handelt von jetzt an anders!«, auch nicht zuerst: »Denkt um!«, sondern wichtiger, befreiender, schöner: »Ihr könnt umgestimmt wer­den!« Und dann folgen Umdenken und Neuorientierung des Handelns – aber in anderer Grundierung, in Trost und Trotz.“

Bei dieser Umkehr geht es nicht um eine simple Umkehr der Wegrichtung, sondern um eine „Umkehr zur Mitte hin, … genau zu dem hin, was gut ist und genügt.“ „Wir sind darauf gegründet, dass Jesus Christus genug für uns getan hat. „»Satis« heißt das entsprechende lateinische Wort. Satisfactio, die Genugtuung… Gott hat gehandelt, Gott hat gesprochen…, [das ist] ein Vorurteil im guten Sinne, eine Voreingenommenheit, ein Vorentwurf Gottes, der allem, wirklich allem liebevoll zuvorkommt… Was ist getan? Es ist genug getan.“

„Worauf sind wir gegründet? Seltsam zu sagen: auf etwas Unverfügbares, auf eine Stimme, die Stimme Christi.“ „Jesus Christus, das menschgewordene Evangelium, er stimmt, er bestimmt, er stattet mit neuer Grundstimmung aus, mit Grundvertrauen.“ „Nicht selten beginnt er [Jesus] eine Rede mit einem »Amen«: »Amen, ich sage euch…« … Jesus holt das endgültige Wort kraftvoll nach vorn. Er redet machtvoll. … Von Anfang an – Amen – umgibt uns umfassende Geborgenheit. Ich kann mein ganzes Leben schon in sie einhüllen. Zuvorgekommen ist der Verwirrung meines Lebens das Entscheidende, Gottes Amen.“

Noch einmal: „Bedarf ich wie ein Kreisel beständiger Peitschenhiebe? Nein, unruhig ist mein Herz ohnehin allzusehr. Ein Segen, wenn ich froh und ruhig werden kann!“

Ich habe eben von dem „Amen“ gesprochen, das Jesus an den Anfang vieler Sätze holt, um uns zuzusprechen, dass er genug für uns getan hat. Von diesem „Amen“ möchte ich jetzt mit Ihnen ein Lied singen, das schon unsere Kindergartenkinder gerne und mit Begeisterung singen, und zwar nicht nur die evangelischen und katholischen, sondern sogar die muslimischen Kinder:

Lied 608: Alles, was wir sind, hat Gott geschenkt. Amen! Amen!

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