Jesu Fleisch kauen – wie beim Gott Dionysos?

Jesus fordert im Johannesevangelium von den ihm Nachfolgenden, sein Fleisch zu kauen und sein Blut zu trinken. Die Exegetin Esther Kobel sieht dazu Parallelen in dionysischen Riten und in verschwörerischen Verbindungen, die mit dem Verzehr von menschlichem Fleisch und Blut besiegelt werden. Allerdings setzt der johanneische Jesus nicht einmal das Abendmahl ein. Worum geht es Johannes als jüdischem Messianisten tatsächlich?

Drei Bilder nebeneinander: links die Göttin Demeter mit Gerstenähren, rechts der Gott Dionysos mit Wein und Knochen, den er abnagt, in der Mitte Jesus am Kreuz
Kann Jesus im Johannesevangelium etwas mit der Göttin Demeter und dem Gott Dionysos zu tun haben? (Bilder: Dimitris Vetsikas und OpenClipart-Vectors und Gordon Johnson – alle auf Pixabay)

Inhaltsverzeichnis

Liebe Frau Kobel Mouttet!

1 Die „kosmologische Erzählung“ und der Begriff kosmos

2 Bedeutet agapē „Liebe“ als „wechselseitige Einwohnung“ oder „Solidarität“?

3 Jesus als der Versorger mit Wein und Fisch im Überfluss

3.1 Abendmahlswein bei der Hochzeit zu Kana?

3.2 Die Hochzeit zu Kana und Dionysos als der Gott des Weines

3.3 Die Hochzeit zu Kana als das prinzipielle Zeichen der Messianischen Hochzeit

3.4 Die Gründung der messianischen Gemeinde

3.5 Der Fischfang im See Tiberias als dritte zeichenhafte Offenbarung Jesu

4. Mahlzeiten als Baustellen der Identität

4.1 Vom Sitzen oder Liegen zu Tisch

4.2 Gründet Jesus eine auf sich zurückgezogene, exklusive Geheimgesellschaft?

4.3 Die Abgrenzung der haberim vom am ha-arez und die Verfluchung des ochlos durch die johanneischen Pharisäer

4.4 Probleme der Mahlgemeinschaft von Juden und Heiden bei Paulus und in der Apostelgeschichte

4.5 Die Didache als jüdisch geprägtes Lehrschreiben für die Heiden

5. Anspielungen auf das Abendmahl im Johannesevangelium

5.1 Ritualkritische Aufnahme von Traditionen durch Johannes

5.2 Was meint Johannes mit unvergänglicher Nahrung und dem ewigen Leben?

5.3 Fleisch kauen, Blut trinken – worauf zielt diese anstößige Sprache?

5.4 Wenn der göttliche Geist Leben gibt, ist dann das menschliche Fleisch wertlos?

5.5 Jesu Brotrede als ein Midrasch über das biblische Manna

5.6 Johannes bezieht sich auf die Weisheit und bleibt dabei doch zurückhaltend

5.7 Bekommt nur einer bei Johannes Abendmahlsbrot – der Verräter Judas?

5.8 Die Fußwaschung als Ritual der Reinheit, das regelmäßig zu wiederholen ist?

5.9 Die Fußwaschung als „Sakrament“ einer Lebenshaltung der Solidarität

6. Was hat Jesus mit Demeter und Dionysos zu tun?

6.1 Gab es Einflüsse mediterraner Mysterienkulte auf das Johannesevangelium?

6.2 Spielen Gerstenbrote auf die Göttin Demeter oder auf den Propheten Elisa an?

6.3 Der Kampf zwischen Licht und Finsternis – heidnisch oder biblisch verstanden?

6.4 Jesus als überlegener Sieger im Wettstreit mit dem griechischen Gott Dionysos?

6.5 Jesu Fleisch kauen entsprechend der Theophagie des Gottes Dionysos?

6.6 Ist Jesus ein sterblich-unsterblicher Super-Dionysos oder der jüdische Messias?

6.7 Jesus ist Gottes Sohn, aber jüdisch verstanden, nicht heidnisch-dionysisch

6.8 Auch Jesu Eschatologie ist jüdisch, nicht heidnisch-dionysisch zu interpretieren

6.9 Verfolgungsmaßnahmen für Jesus-Nachfolger wie für Dionysos-Anhänger?

6.10 Hatte Pilatus Angst, Jesus als Gott in menschlicher Verkleidung zu verkennen?

6.11 Kann der Jude Johannes Jesus als einen Gott wie Dionysos dargestellt haben?

6.12 Ironische Anspielungen eines jüdischen Messianisten auf heidnische Mysterien

6.13 Zwei Wörter von der jüdischen Bibel her begreifen: sklēros und skandalizein

6.14 Noch einmal der Bissen Brot für Judas: Geht es um Satanophagie?

7. Das Fleisch von Jesus kauen

7.1 Reagiert Johannes 6,52-58 auf Anklagen gegen Christusgläubige wegen Kannibalismus?

7.2 Spielt Johannes 6 auf eine mit Fleisch- und Blutgenuss besiegelte verschworene Gemeinschaft gegen die Juden an?

7.3 Übertreibt Johannes rituelle Abendmahlspraktiken in polemisch-ironischer Absicht?

7.4 Dient das Mittel der Ironie einer heidnischen oder jüdischen Johannes-Lektüre?

8. Jüdisch-heidnische Multikulturalität in der johanneischen Gemeinde?

9. Verrat bei Tisch

9.1 „Furcht vor den Juden“ erwächst aus der Bedrohung durch die Römische Weltordnung

9.2 Freiwillige Vereinigungen im Römischen Reich und ihre Beschränkungen

9.3 Der Status christusgläubiger Gruppen im Unterschied zur jüdischen Synagoge

9.4 Zur Lokalisierung des Johannesevangeliums in Kleinasien oder Transjordanien

9.5 Das Johannesevangelium als eine anti-imperialistische Erzählung gegen Rom

9.6 Griff Johannes führende Juden wegen ihrer Kollaboration mit Rom an oder brauchte er die Juden als Feindbild für Christusgläubige?

10. Jesus auf Diät?

10.1 Beweist es Jesu Enthaltsamkeit, wenn er als Gastgeber und nicht als essend oder trinkend dargestellt wird?

10.2 Das Wasser am Jakobsbrunnen und seine symbolische Bedeutung

10.3 Übersehene Gesichtspunkte in der Erzählung vom Jakobsbrunnen

10.3.1 Jesus „müht sich ab“, um das Werk der Propheten Israels zu vollenden

10.3.2 Die Frau am Jakobsbrunnen als Repräsentantin der Erzmütter Rebekka und Rahel

10.3.3 Samarias Heiratssituation als Metapher für die Unterdrückung durch Weltmächte

10.4 Jesu Speise als Metapher für sein Tun des Willens dessen, der ihn gesandt hat

10.5 Welche Bedeutung hat der saure Wein, den Jesus am Kreuz trinkt?

10.6 Ist Jesus in göttlicher Bedürfnislosigkeit nur auf spirituelle Nahrung angewiesen?

10.7 Engel in den jüdischen Schriften, die keine menschliche Nahrung zu sich nehmen

10.8 Ist Jesus für Johannes ein übernatürliches Wesen wie der Engel Raphael?

10.9 Ist Jesus nach Johannes ganz Mensch, ganz Gott oder beides – und inwiefern?

10.10 Eine Kontroverse zwischen Rudolf Bultmann und Ernst Käsemann

10.11 Erzählungen von Essen und Trinken und ihre Bedeutung für Jesu Körperlichkeit

10.12 Behält Jesus seine göttliche Natur oder ist er Gottes Sohn, indem er ganz und gar der jüdische Messias ist?

Anmerkungen

Liebe Frau Kobel Mouttet!

Auf Ihr Buch Dining with John, <1> „Zu Tisch bei Johannes“, über Themen im Johannesevangelium, die mit Mahlzeiten und überhaupt mit dem Essen und Trinken zu tun haben, bin ich durch einen Hinweis von Adele Reinhartz <2> in ihrem Buch Cast Out of the Covenant,  gestoßen. Überwältigt von der Fülle des Materials, das Sie zusammengetragen und für eine Analyse fruchtbar gemacht haben, und dankbar für eine ganze Reihe neuer Einsichten, möchte ich dennoch an einigen Stellen Ihren Schlussfolgerungen für die Deutung des Johannesevangeliums widersprechen.

Mein Ansatzpunkt dafür ist eine Lektüre des Johannesevangeliums des biblischen Theologen Ton Veerkamp der Amsterdamer Schule, <3> die davon ausgeht, dass Johannes weit davon entfernt ist, heidnische Vorstellungen positiv aufzunehmen. Stattdessen geht die Schärfe seiner Auseinandersetzung mit den Ioudaioi, Judäern oder Juden, auf einen innerjüdischen Streit zwischen seiner jesus-messianischem Gruppierung mit dem nach dem Judäischen Krieg entstehenden rabbinischen Judentum zurück, dem er vorwirft, mit der herrschenden Römischen Weltordnung gemeinsame Sache zu machen, so wie in seinen Augen bereits die judäische Hohepriesterschaft zur Zeit Jesu dessen Kreuzigung durch Pontius Pilatus betrieben hat. <4>

Bevor ich ab Kapitel 3 Ihren Ausführungen in der Reihenfolge Ihres Buches folge, gehe ich in zwei Eingangskapiteln auf zwei Begriffsfelder ein, die für Johannes zentral sind und die Sie meines Erachtens nur unzureichend definieren. Damit meine ich, dass Sie eine bestimmte Bedeutung verschiedener Worte und Formulierungen voraussetzen, die erst im Lauf der Zeit vollständig hervortritt und auf eine heidenchristlich gefärbte Lektüre des Johannesevangeliums zurückgeht, die nicht dem ursprünglich jüdisch-messianischen Hintergrund des Evangelisten entspricht.

1 Die „kosmologische Erzählung“ und der Begriff kosmos

Die Bedeutung des griechischen Wortes kosmos setzen Sie in Ihrem Buch unhinterfragt voraus, ohne es auch nur ein einziges Mal zu nennen, obwohl es immerhin 78mal im Johannesevangelium vorkommt. Gleichwohl nehmen Sie an (49), dass

eine „historische“ Erzählung über das Leben Jesu, der auf der Erde unter den Menschen weilt, … in eine Meta-Erzählung über die Welt eingebettet ist. Diese Meta-Erzählung kann als „kosmologische Erzählung“ bezeichnet werden.

Sie mögen annehmen, dass es genügt, sich zur Begründung dieser Annahme auf Ihre Doktormutter Adele Reinhartz zu berufen, <5> allerdings geht auch diese in ihren entsprechenden Arbeiten nicht darauf ein, dass Johannes den Begriff kosmos in einem politischen, befreiungstheologischen Sinn verstehen könnte. <6>

An einer Stelle erwähnen Sie (357) die Auffassung von Lance Byron Richey, der

den Prolog des Evangeliums als eine Gegenideologie betrachtet, die Christus dem Cäsar gegenüberstellt. Er zeigt, dass jeder der vier Abschnitte des Prologs (1,1-5.6-8.9-13.14-18) die kosmologischen, prophetischen, politischen und doxologischen Elemente der Ideologie des Augustus in Frage stellt.

Sie kommen aber nicht auf die Idee, dass genau eine solche römisch verstandene Kosmologie den Hintergrund für die erbitterte Feindschaft des Messias Jesus gegenüber dem kosmos bilden könnte – einem kosmos nämlich, der propagandistisch als wohlgeordnete „Weltordnung“, ja, als Pax Romana, „Römischer Friede“ bezeichnet wird, in Wirklichkeit aber eine durch Unterdrückung und Ausbeutung gekennzeichnete Welt(un)ordnung darstellt, ein weltweites Sklavenhaus, unausweichlicher und schlimmer als die einstige Versklavung Israels unter die ägyptischen Pharaonen.

Stattdessen übernehmen Sie, ohne eine solche Möglichkeit überhaupt in Erwägung zu ziehen, die „kosmologische Erzählung“ im spirituell-verjenseitigten Sinn, den Adele Reinhartz vertritt, als selbstverständlichen Hintergrund Ihrer Interpretation des Johannesevangeliums (49):

Jesu Ursprünge liegen in seiner kosmischen Beziehung zu Gott. Bevor die Welt überhaupt erschaffen war, wohnt der Logos in Gott oder wenigstens bei Gott (En archē ēn ho logos, kai ho logos ēn pros ton theon, kai theos ēn ho logos, Johannes 1,1). Der Prolog (Johannes 1:1-18) umreißt die kosmologische Erzählung, die der historischen Erzählung eine theologische Tragweite verleiht: Irgendwann wird dieser göttliche Logos Fleisch und tritt in die Welt ein, um die Mittel bereitzustellen, durch die Menschen Kinder Gottes werden können. Das ist gleichbedeutend mit der Erlangung der Erlösung. Nachdem er seine Aufgabe erfüllt hat, kehrt der Logos zum Vater zurück (wie in Johannes 1,1-18 vorausgesetzt).

Tatsächlich ist es nicht so eindeutig klar, wie Sie es hier voraussetzen, ob der göttliche logos es ganz allgemein „Menschen“ ermöglichen will, „Kinder Gottes“ zu werden, oder ob der johanneische Jesus als Messias Israels in erster Linie an der Sammlung ganz Israels einschließlich Samarias und der Diasporajuden in seiner messianischen Gemeinde interessiert ist, selbst wenn „die ihm Eigenen“ – also die Juden in Gestalt der priesterlichen Führung zur Zeit Jesu oder in ihrer rabbinisch orientierten Mehrheit zur Zeit des Johannes – ihn nicht aufnehmen. <7>

Geklärt werden müsste auch, ob sich „Erlösung, Rettung, Heil“ als Übersetzung von sōteria (noch ein ungeklärter Begriff!) auf die Rettung erlösungsbedürftiger Seelen in den Himmel beziehen soll oder auf die Befreiung der Welt als Lebenswelt der Menschen von der auf ihr lastenden Römischen Weltordnung – so die zwei hauptsächlichen Arten, in denen Johannes den Begriff kosmos verwendet. <8>

Außerdem redet Johannes nicht so eindeutig davon, dass Jesus als der göttliche logos vor seiner Fleischwerdung in oder bei Gott wohnt, wo er nach der Erfüllung seiner Aufgabe erneut auf Dauer Wohnung nehmen wird. Schon gar nicht bestimmt Johannes die Identität Jesu mit Gott so klar, wie Sie das an späterer Stelle beschrieben wissen wollen (141):

Der ewige Logos war nicht nur bei Gott (pros ton theon, Johannes 1,1), sondern Gott selbst wird mit dem Logos gleichgesetzt (theos ēn ho logos, 1,1). Dieser Logos wird Fleisch und lebt unter den Menschen (1,14). Die Identifikation von Vater und Sohn kommt am deutlichsten in der Aussage Jesu zum Ausdruck, dass er und der Vater eins sind (egō kai ho patēr hen esmen, 10,30).

Das griechische Wort pros heißt aber weder „bei“ noch „mit“, sondern bezeichnet das Ausgerichtetsein auf ein Ziel, der logos ist „auf den Gott hin“ ausgerichtet. Dabei verdeutlicht der bestimmte Artikel, welchen Gott Johannes nur meinen kann, nämlich den Gott Israels, der sich in der hebräischen Tora dem Volk Israel in seinen befreienden devarim, griechisch logoi, „Worttaten“ oder „Tatworten“, offenbart. Indem Johannes gleich zu Beginn seines Evangeliums den Begriff logos für den Messias Jesus verwendet, identifiziert er Jesus mit den befreienden Machttaten Gottes, nicht mit Gott selbst. In dem Satz theos ēn ho logos bleibt das Wort theos wiederum ohne bestimmten Artikel; er meint daher: „göttlich war das Wort,“ nicht: „Gott war das Wort.“ Eins mit dem VATER <9> ist der Messias Jesus, indem er ganz und gar gottbestimmt ist, das heißt: vollkommen mit seinem Willen übereinstimmt, Israel aus der Knechtschaft unter der Römischen Weltordnung zu befreien.

2 Bedeutet agapē „Liebe“ als „wechselseitige Einwohnung“ oder „Solidarität“?

Das johanneische Wort agapē und das zugehörige Verb agapan, das Sie grundsätzlich mit „Liebe“ bzw. „lieben“ wiedergeben, definieren Sie nicht näher außer durch die Gleichsetzung mit einer „wechselseitigen Einwohnung“. Aber auch deren Bedeutung beschreiben Sie nicht eindeutig. Was Sie darüber sagen, deutet auf eine mystische Verschmelzung oder Vereinigung zwischen Jesus und dem VATER einerseits bzw. Jesus und seinen JüngerInnen andererseits hin, aber ausdrücklich sprechen Sie nirgends von einer mystischen Deutung.

Mit Klaus Scholtissek <10> verweisen Sie darauf (141f.), dass die

johanneische Tradition einen einzigartigen Gebrauch von „en“, „menein en“ und „einai en“ entwickelt. Der Gedanke der engen Beziehung und wechselseitigen Einwohnung von Jesus und den JüngerInnen rückt in den Mittelpunkt und wird in der metaphorischen Rede über Essen und Trinken und in Reden innerhalb der Mahlszenen ausführlich entfaltet. Diejenigen, die sein Fleisch essen und sein Blut trinken, bleiben in Jesus und er in ihnen (Johannes 6,56). Indem sie das Fleisch Jesu essen und sein Blut trinken, nehmen die Jünger Jesus in sich auf (6,57).

Bezeichnend erscheint mir (38), dass sich bereits die erste Erwähnung einer „wechselseitigen Einwohnung“ in Ihrem Buch auf „den Vergleich der johanneischen ‚Jesuphagie‘ und der dionysischen Theophagie und des Glaubens an die wechselseitige Einwohnung von Mensch und Gott“ bezieht, als ob heidnische Vorstellungen von der menschlichen Verfügbarkeit über göttliche Kräfte sich ohne Weiteres auf das Evangelium eines jüdischen Messianisten übertragen ließen. Ich erlaube mir also, von vornherein anzuzweifeln, ob es Johannes mit seinen provokativen Worten über das Kauen von Jesu Fleisch und das Trinken seines Blutes tatsächlich um eine Einverleibung Jesu analog zu heidnischen Vorstellungen geht.

Ton Veerkamp <11> erwägt eine andere Möglichkeit, um angemessen zu verstehen, was Sie „wechselseitige Einwohnung“ nennen. Zur Bedeutung von menein schreibt er bei seiner Auslegung von Johannes 1,38 unter Rückgriff auf die Verwendung dieses Wortes in der Übersetzung der hebräischen Bibel durch die griechische Septuaginta:

Die zwei Schüler Jochanans wollen wissen, wo Jeschua „bleibt“. Das Verb, das auf dem ersten Blick einfach „bleiben“ heißt, hat, wie so oft bei unverfänglichen Wörtern, einen doppelten Boden. Eine Kopula „bleiben“ (wie „bleibe du gesund“) gibt es in semitischen Sprachen nicht. Die griechischen Übersetzer geben oft Wurzeln wie „aufrecht sein“ oder „stehen“ mit diesem „bleiben“ wieder. Die Schüler wollen nicht die Adresse Jeschuas wissen, sondern sie möchten wissen, wo sein Standort ist, wo er diesen ganzen trostlosen Zustand Israels „aushält“. Später wird das Verb eine Grundtugend der Schüler beschreiben; sie sollen nicht „in Christus bleiben“ (was sich ein normaler Mensch sowieso nicht vorstellen kann), sondern „mit dem Messias standhalten“. Also fragen sie: „Wo hältst du es aus?“ „Kommt und seht“, ist die Antwort. Die zwei halten es zunächst während dieses Tages mit Jeschua aus.

Was nun den Begriff „Liebe“ betrifft, definieren Sie ihn genau genommen überhaupt nicht, sondern schreiben umgekehrt (140): „Diese wechselseitige Einwohnung wird weiter ausbuchstabiert und ausgedrückt als gegenseitige Liebe.“ Sie erklären also das, was Sie mit gegenseitiger Einwohnung meinen, durch die Liebe, die Gott und Jesus und die Seinen füreinander empfinden bzw. aufbringen.

Aber was genau versteht der johanneische Jesus unter „Liebe“? Wenn sie (13,34; 15,12) das neue Gebot darstellt, das er von denen fordert, die ihm vertrauen, dann kann es nicht einfach um Liebe als ein Gefühl der Zuneigung gehen. Komplizierter wird die Sache dadurch, dass Johannes das, was er mit agapē bzw. agapan auszudrücken versucht, durch Worte wie philos und philein, „Freund“ und „befreundet sein“, allerdings dann doch oft in den Zusammenhang einer sehr persönlichen Freundschaft stellt (144):

Gegenseitige Liebe ist das eine große Gebot, das Jesus seinen Jüngern gibt. Das größte Zeugnis dieser Liebe ist es, sein Leben für einen Freund hinzugeben (Johannes 15,13). Damit kennzeichnet Jesus das, was er selbst für seine Freunde, die Jünger, tun wird, als den höchsten Ausdruck der Liebe. Da die Jünger nun alles wissen, was es zu wissen gibt und was Jesus vom Vater gehört hat, sind sie nach Jesu Wahl seine Freunde.

Es wird Zeit, die griechischen Begriffe für „Liebe“ und „lieben“ genauer anzuschauen, um die es hier geht: agapē und agapan, einschließlich ihrer Beziehung zum Wort philein, „befreundet sein“. Ton Veerkamp <12> schlägt eine weniger gefühlsbetonte Übersetzung von agapan mit „solidarisch sein“ vor:

Oft wird behauptet, dass Johannes die Verben agapan und philein unterschiedslos benutzt; in beiden Fälle sollen sie „lieben“ bedeuten. Tatsächlich ist agapan ein recht kühles Wort (vgl. Platon, Politeia 330b, wo Geld, Gedichte und Kinder – als zum Besitz gehörend – mögliche Objekte sind). Philein hat die emotionalere Färbung, von „befreundet sein“ bis „küssen, lieben“. Bei Johannes soll die Reaktion der Menschen auf die agapē Gottes gerade nicht „Liebe zu Gott“, sondern agapē („Solidaritätsbeziehung“) unter den Menschen sein. Solidaritätsbeziehung deswegen, weil nicht gefordert werden kann, dass sich alle Menschen „lieben“. Deswegen ist die Haltung Gottes zu seinem Volk und zum Lebensraum seiner Menschen, hier [Johannes 3,16] mit „Welt“ zu übersetzen, die einer uneingeschränkten Solidarität. Das Wort ist ziemlich „modern“, aber es macht die Grundstruktur des Verhältnisses zwischen „Gott“ und „Mensch“ im TeNaK deutlich.

Bei der Beschreibung von Jesu Freundschaft mit Lazarus ergänzt Veerkamp: <13>

dass Freundschaft Solidarität, philia agapē, einschließt, aber nicht umgekehrt. Man kann und muss mit jedem Menschen solidarisch sein; deswegen kann nur die agapē der Inbegriff des „neuen Gebotes“ (13,34) sein, nicht die philia. Man kann und darf von keinem Menschen verlangen, dass er mit allen Menschen gut Freund ist, von „Liebe“ erst gar nicht zu reden.

Sehr konkret bestimmt Johannes nach Veerkamp <14> im Zusammenhang mit Jesu Fußwaschung seiner Jünger, worin agapē gemäß Johannes 13,1 zu ihrem Ziel gelangt:

Jeschua, der Herr und Lehrer, handelt als Sklave, damit niemand unter ihnen zum Herrn werden kann: das ist Solidarität.

Aber wie steht es mit dem (140), was Sie „wechselseitige Einwohnung des Vaters und des Sohnes“ nennen, der Liebe, die Gott und der Gottessohn Jesus füreinander aufbringen? Nach Ton Veerkamp darf man die Fleischwerdung und das Sterben des Messias nicht auf die leichte Schulter nehmen nach dem Motto: Jesus ersteht ja wieder auf und kehrt wohlbehalten zum Vater zurück! Stattdessen versucht Veerkamp <15> in einer Auslegung von Johannes 3,16 der Vorstellung von der Solidarität Gottes mit seinem Erstgeborenen gemäß den jüdischen Schriften gerecht zu werden:

Wie kann ein Gott „lieben“, wenn er seinen Sohn – seinen Einzigen, monogenēs – so zum Spielball römischer Soldateska werden lässt? Denn Jeschua erfährt an Leib und Seele, was das Volk im und nach dem judäischen Krieg erfahren muss. Israel fragt sich in jener katastrophalen Zeit der messianischen Kriege gegen Rom zwischen 66 und 135 u.Z., ob und wie sein Gott, der Gott der Befreiungen aus jedem Sklavenhaus, mit Israel noch solidarisch ist. Hier hören wir zum ersten Mal das Verb agapan. Es wird fast immer mit „lieben“ übersetzt; wir ziehen die Übersetzung „solidarisch sein mit“ vor und haben das früher, in der Auslegung des ersten Johannesbriefes, begründet. <16> Die Frage ist also: Wie kann Israels Gott mit Israel solidarisch sein? Johannes antwortet mit drei Sätzen:

(1) Denn so hat sich Gott solidarisch mit der Welt gezeigt,

(2) dass er den SOHN, den Einziggezeugten, gab,

(3) damit jeder, der ihm vertraut, nicht zugrunde geht,
sondern Leben in der kommenden Weltzeit erhält.

(1) Es geht im ersten Satz um den materiellen und sozialen Lebensraum der Menschen. Die Tora erzählt, wie Israel zum erstgeborenen aller Völker wird, wie es aus dem Sklavenhaus befreit wird und die Disziplin der Freiheit in der Wüste lernen musste, damit es im Land der Freiheit das Leben der befreiten Sklaven führen kann.

Diese Erzählung ist nicht möglich ohne die Schöpfungserzählung. Ohne diese ist die Toraerzählung frommer Unsinn. Die Welt, der Lebensraum für die Menschen, wird nur durch die Tora (Wort Gottes) zum Werk Gottes, denn nur die Tora ordnet den Lebensraum. Ein Grieche würde den geordneten Lebensraum kosmos nennen. Genau diese Toraordnung des Lebensraumes der Menschen in Judäa gibt es nicht mehr und kann es unter den weltweiten Ordnungen Roms auch nicht mehr geben. Hier wird „Welt“ als „herrschende Weltordnung“ zu einer negativen Vorstellung. Durch das mandatum novum, das neue Gebot der Solidarität (13,34), wird die Welt so geordnet, dass Gott mit ihr solidarisch sein kann.

Die Ambiguität, die in der Vokabel Welt steckt, fordert genaue Differenzierung beim Übersetzen und Auslegen. Wenn es um den vom Wort Gottes zu ordnenden Lebensraum geht, schreiben wir Welt. Geht es um jene herrschende, menschenfeindliche Ordnung Roms, schreiben wir Weltordnung.

Das ist die Sicht des Johannes. Man kann Rom gegenüber anderer Ansicht sein; wir versuchen, die Sicht des Johannes verständlich zu machen – und zwar politisch! Solidarisch ist der Gott Israels mit der Welt, indem er sie von der Ordnung, die auf ihr lastet, befreit. Wie übt der Gott Israels seine Solidarität mit der Welt als Lebensraum für die Menschen aus?

(2) Johannes bietet im zweiten Satz wiederum einen Midrasch, den über die „Bindung Isaaks, des Einzigen“, Genesis 22. <17> Dort wird von Abraham gefordert, seinen Sohn, „seinen Einzigen“, als Opfer zu erheben. Dann sagte der Bote des NAMENS zu Abraham, Genesis 22,11ff.:

Der Bote des NAMENS rief ihm vom Himmel her zu.
Abraham sagte: „Hier, ich!“
Er sagte:
„Schicke deine Hand nicht aus gegen den Knaben,
tue ihm gar nichts;
jetzt erkenne ich:
du hast Ehrfurcht vor Gott,
denn du hast mir deinen Sohn, deinen Einzigen, nicht vorenthalten.“
Abraham hob seine Augen,
er sah, wie ein Widder sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen hat.
Abraham ging, nahm den Widder,
erhob ihn als Hebeopfer statt seines Sohnes.

Mit dem Wort monogenēs, jachid, ruft Johannes diese Schriftstelle auf. Christen denken dabei immer an das Trinitätsdogma, Jeschua als der ewige Sohn des VATERS, genitum non factum, „gezeugt, nicht gemacht“. Nein; hier ist der SOHN nicht die Gestalt von Daniel 7, sondern die Repräsentation Isaaks. Auf diesen Sohn hatte Abraham ein Leben lang gewartet; er ist seine Zukunft. Der Gott Abrahams muss Abraham in einer boshaft-drastischen Weise klar machen, dass dieser Isaak nicht der Sohn Abrahams, sondern der Sohn seines Gottes ist, des VATERS von Israel, dem Volk, das dazu bestimmt ist, Erstgeborenes unter den Völkern zu sein. Bleibt Isaak nicht am Leben, hat Abraham keine Zukunft. Er muss am Leben bleiben, aber nur als Gottes Sohn.

Johannes stellt hier Jeschua vor als die Repräsentation Isaaks. Wie damals Isaak ist jetzt Jeschua die Zukunft. Im hebräischen Text steht, dass Abraham seinen Sohn „erheben“ muss als Hebeopfer (haˁala le-ˁola). So weit kam es nicht; die Bindung Isaaks wird gelöst, die Schlachtung Isaaks unterbunden, weil Abraham nachweislich seinen Sohn nicht mehr als seine eigene, partikulare Zukunft sieht, sondern als die Zukunft „Gottes“ anerkennt. Die Solidarität Gottes mit Abraham zeigte sich damals in der Verhinderung der Opferung Isaaks. Bei Johannes muss der Gott Israels etwas tun, was von Abraham nie verlangt wurde. Hier wird Jeschua/Isaak erhöht, blutig. Hier geht der Gott Israels den ganzen blutigen Weg mit der Welt der Menschen, weil es keinen anderen Weg gibt, um mit ihnen solidarisch zu sein.

Johannes verfremdet die Erzählung von der Bindung Isaaks. Führt die Zukunft Abrahams über die Lösung der Bindung Isaaks, so führt hier die Zukunft über die Schlachtung des Messias, so brutal muss man das Wort edōken, „hingegeben“, deuten. „Gott“ geht den ganzen blutigen Weg nach unten, weil die Weltordnung den Gott sozusagen zwingt, seinen Einzigen töten zu lassen.

(3) Mit „damit“ (hina) fängt der dritte Satz an. Der Sinn ist, dass jeder, der vertraut, das Leben der kommenden Weltzeit erhält. Isaak, also Israel, hat Zukunft. Der kleine Vers Johannes 3,16 ist nichts anderes als der Versuch, mit der Niederlage Jeschuas im Jahr 30 und der Katastrophe für das ganze Volk im Jahr 70 fertig zu werden. Er will daran festhalten, dass die Ordnung der Welt keine Ordnung des Todes, sondern eine Ordnung des Lebens sein soll, sein kann, sein wird, sein muss. Mit der Schlachtung des Messias enden alle Hoffnungen, innerhalb der geltenden Ordnung einen Ort und somit eine Zukunft für Israel zu finden. Leben ist nur in der kommenden Weltzeit möglich. Vertrauen haben (pisteuein) trotz und wegen (!) der Schlachtung des Messias ist die Bedingung.

War schon Genesis 22 eine Zumutung für alle Hörerinnen und Hörer des Wortes, so ist Johannes 3,16 erst recht unerträglich. Die zentrale politische These des Johannesevangeliums ist: nur durch die Niederlage dieses Einzigen ist Befreiung der Welt von der Ordnung, die auf ihr lastet, möglich. Diese These steht senkrecht auf allem, was als politische Strategie denkbar war – und ist. Die Strategie des Johannes ist Weltrevolution, auch wenn sie nicht auf der Tagesordnung steht. Genau das ist das Unpolitische an ihm, und genau das verleitet die Generationen nach ihm zur Verinnerlichung, zur Spiritualisierung, zur Entpolitisierung seines Messianismus.

Weltrevolution ist freilich nicht Weltverdammung. Johannes ist Kind seiner Zeit; er kennt die Weltverdammung der Gnosis. Weltverdammung wird hier zurückgewiesen. Wir haben es hier mit einem anti-gnostischen Text zu tun. Die Welt sei nicht zu richten, sondern zu befreien von der Weltordnung.

Damit schließt sich ein kleiner Kreis – wir sind nämlich von der Definition der göttlichen agapē, Solidarität, her folgerichtig wieder bei der Befreiung Israels vom römischen kosmos angekommen, um den es im ersten Kapitel ging.

Definitorisch auf diese Weise ausgerüstet können wir uns nun an die Lektüre Ihres Buches machen.

3 Jesus als der Versorger mit Wein und Fisch im Überfluss

Das Wort deipnon, Mahl oder Mahlzeit, kommt im Johannesevangelium nur vier Mal vor, und es wird nur auf zwei konkrete Anlässe bezogen, nämlich (12,2) das Mahl in Bethanien, anlässlich dessen Maria Jesu Füße salbt, und (13,2.4; 21,20) das Mahl, das Jesus zum Anlass für die Fußwaschung und seine Abschiedsreden nimmt. Trotzdem mag es angemessen sein, auch andere Stellen bei Johannes, die mit Essen und Trinken zusammenhängen, unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, dass sie eine Mahlgemeinschaft der johanneischen Gemeinde widerspiegeln. Immerhin sind, wie Sie ausführlich darstellen, gemeinsame Mahlzeiten die wichtigsten Gelegenheiten, um innerhalb einer Gruppierung wie der johanneischen Gemeinde Texte wie die des Evangeliums vorzutragen und entsprechende Rituale durchzuführen, evtl. auch Inhalte zu diskutieren und zu ergänzen

Auf die „Rolle von Mahlszenen und Reden über Essen und Trinken in der Erzählung des vierten Evangeliums“, wie Sie sie in Ihrem dritten Kapitel beschreiben, gehe ich nicht in allen Einzelheiten ein. Ich beschränke mich auf folgenden Aspekt:

Das Weinwunder bei der Hochzeit zu Kana und den wunderbaren Fischfang am See Tiberius beziehen Sie in einer Weise aufeinander, die Sie (117) mit dem Begriff „der johanneischen Mahl-Inclusio“ benennen, da „die irdischen Taten Jesu von Berichten über die wundersame Versorgung mit Nahrung eingerahmt sind“ (151):

Die Diskussion der Mahlszenen und der damit verbundenen Reden hat gezeigt, dass die gemeinsamen Mahlzeiten an entscheidenden Punkten der Erzählung stehen. Mahlszenen mit wundersamer Bereitstellung von Getränken und Speisen markieren den Beginn und das Ende des irdischen Wirkens Jesu und dienen als erste und letzte Gelegenheit für die Selbstoffenbarung Jesu. Diese beiden Mahlszenen in Johannes 2 und Johannes 21 entsprechen einander und bilden somit den Rahmen für das irdische Wirken des menschgewordenen Logos. Dazwischen durchziehen eine Reihe von Mahlszenen und Passagen mit metaphorischen Reden über Essen und Trinken das Evangelium.

Ich gebe allerdings zu bedenken, ob es tatsächlich das Hauptinteresse der ersten Erzählung ist, wie Sie (119) meinen, zu demonstrieren

dass Jesus sich um die Bedürfnisse der Menschen kümmert, indem er ihnen Wein in Hülle und Fülle gibt. Daraufhin glauben viele an ihn und beginnen, ihm zu folgen.

Kann man wirklich das Weinwunder unter dem Gesichtspunkt der Versorgung der Menschen betrachten, damit sie im Überfluss zu trinken haben? Entspräche einem solchen Aspekt nicht eher die Bereitstellung von genug Wasser, was ja später auch ausgiebig thematisiert wird?

3.1 Abendmahlswein bei der Hochzeit zu Kana?

Indem ich vorgreife auf die Frage, ob Johannes die Abendmahlstraditionen anderer neutestamentlicher Autoren kennt und akzeptiert oder wenigstens bewusst auf die Eucharistie anspielt (siehe Kapitel 5), möchte ich bereits hier erwähnen, dass Sie es nicht für völlig unmöglich halten (259), dass auch „der bei der Hochzeit zu Kana servierte Wein“ im vierten Evangelium „auf das Abendmahl anspielen könnte“. Folgendermaßen zitieren Sie Jeffery Horace Hodges <18> als Befürworter dieser Annahme (261):

Hodges behauptet, dass der Gläubige des ersten Jahrhunderts ebenso wie der moderne Exeget fragen würde, ob der Wein zu Kana sich auf das Abendmahl bezieht. Er bezweifelt nicht, dass beide dies bejahen würden. Hodges argumentiert, dass ebenso, wie das metaphorische Brot vom Himmel mit dem Brot der wundersamen Speisung identifiziert wird, der Leser erwarten würde, den Abendmahlswein im Trankwunder von Kana zu finden, „zumal Johannes 6,53-56 Jesu Fleisch und Blut als die wahre Speise und den wahren Trank, die ewiges Leben schenken, zusammenstellt, doch zeigt Johannes nirgendwo außerhalb der Kana-Episode, dass Jesus den Kelch mit dem Wein seines neuen Bundes anbietet.“

Wenngleich Hodges zuzustimmen ist, dass eine solche Auslegung schon sehr früh aufgekommen sein mag, denke ich nicht, dass sie der ursprünglichen Absicht des Johannes entspricht. Warum sollte Johannes, wenn ihm das Abendmahlsritual mit Brot und Wein wichtig gewesen wäre, das Trinken des Blutes des Messias in Gestalt von Wein nur durch weit verstreute Passagen in seinem Evangelium andeuten?

3.2 Die Hochzeit zu Kana und Dionysos als der Gott des Weines

Wilfried Eisele <19> schreibt ebenfalls der Hochzeit zu Kana „eucharistische Bedeutung“ zu und erwähnt zugleich eine Analogie zum griechischen Gott des Weines (261f.):

Er betont, dass Jesus in Analogie zum griechischen Gott Dionysos nicht nur der Spender des Weins, sondern selbst der Weinstock ist. Die eucharistische Bedeutung liegt nicht auf der Hand, wird aber durch Johannes 6 plausibel, wo Jesus der Spender des Brotes ist und mit dem Brot identifiziert wird. Die Vermehrungsgeschichte in Johannes 6 berücksichtigt nur eines der Abendmahlselemente: das Essen. Der Wein, der den Durst löscht, wird in der Kana-Perikope vorwegnehmend in Hülle und Fülle angeboten. Daher muss er in Johannes 6 nicht wiederholt werden.

An späterer Stelle (284ff.) kommen Sie selber auf Dionysos in seiner Eigenschaft als den „Gott des Weines“ zu sprechen und schreiben (287):

Parallelen zum vierten Evangelium sind offensichtlich. So wie Dionysos den Menschen den Wein gebracht hat, so ist Jesus bei der Hochzeit in Kana in Johannes 2 der Spender des Weins. Als der Wein zur Neige geht, befiehlt Jesus, Wassergefäße zu füllen, und als der Aufseher (architriklinos, Johannes 2,9) von der Flüssigkeit kostet, hat sich das Wasser in Wein verwandelt. Eine sehr auffällige Parallele ist sicherlich die Rede Jesu in Johannes 15,1-8, wo Jesus von sich selbst sagt, er sei der Weinstock (Egō eimi hē ampelos hē alēthinē, Johannes 15,1, vgl. 15,5). So wie Dionysos die Personifikation des Weinstocks ist und im Wein gegenwärtig ist, ist Jesus der Weinstock. Er ist jedoch nicht irgendein Weinstock, sondern der wahre Weinstock.

So formulieren Sie auf Seite 287, obwohl Jesus in Johannes 15 zwar als der Weinstock bezeichnet wird, aber mit keinem Wort als der Versorger mit Wein. An anderer Stelle äußern Sie sich über Johannes 15 zu Recht vorsichtiger (264):

Der Weinstock ist jedoch ein beliebtes Bild im gesamten Judentum, und es wird nur der Weinstock (die Pflanze), nicht aber der Wein (das Getränk) erwähnt. <20> Dies schließt jedoch nicht aus, dass die ursprünglichen Zuhörer in diesem Text Anklänge an das Abendmahl gehört haben könnten.

Der entscheidende Unterschied zu Johannes 2 ist aber offensichtlich: Für die Hochzeit zu Kana stellt Jesus zwar den fehlenden Wein zur Verfügung, identifiziert sich selbst aber gerade nicht mit dem Wein, und der Weinstock wird nicht erwähnt. Die naheliegendste Erklärung dafür ist, dass sich beide Kapitel, 2 und 15, auf unterschiedliche Passagen der jüdischen Schriften beziehen, die einerseits mit dem Wein der messianischen Hochzeit und andererseits unter anderem mit dem jesajanischen Weinberggleichnis zu tun haben.

In meinen Augen spricht jedenfalls nichts dafür, einem jüdisch geprägten Messianisten wie Johannes zu unterstellen, den Messias Jesus nach dem Vorbild eines heidnischen Gottes zu beschreiben. Ich schließe nicht aus, dass Johannes Dionysos-Mythen gekannt hat, aber zumindest in der Erzählung von der Hochzeit zu Kana hätte er Jesus deutlich als den wahren Weinstock herausstellen können, wenn es ihm tatsächlich darum gegangen wäre, Jesus mit Dionysos zu vergleichen.

3.3 Die Hochzeit zu Kana als das prinzipielle Zeichen der Messianischen Hochzeit

Was ist also der wirkliche Hintergrund der Hochzeit zu Kana, die den Anfang, archē, der Zeichen darstellt – nicht (107), wörtlich genommen, „das erste der Zeichen Jesu“, wie Sie schreiben? Nach Ton Veerkamp <21> besteht dieses grundlegende, prinzipielle Zeichen Jesu darin, dass hier die messianische Hochzeit vorweggenommen wird, die der Gott Israels mit seinem durch den Messias neu versammelten und vom Joch der Römischen Weltordnung befreiten Volk Israel feiern will.

Am Rande machen auch Sie selbst (123) auf biblische Passagen aufmerksam, in denen das „das Motiv überreichlichen Essens und Trinkens“ mit der endzeitlichen Vorstellung des „messianischen Festmahls“ verbunden wird (124):

Während eine Reihe alttestamentlicher Stellen diesen Gedanken andeutet, bietet Jesaja 25,6-8 die klassische Darstellung des Festmahls der Endzeit. Der Prophet beschreibt, wie Gott auf einem Berg ein Festmahl mit reichhaltigen Speisen und gut gereiftem Wein für alle Völker geben wird. … Bedeutsam ist, dass das Festmahl das zukünftige Zeitalter als universal beschreibt. Alle Völker sind zu diesem Tisch eingeladen.

Aber die Schrift versteht diese Universalität nicht als Aufhebung der besonderen Erwählung Israels durch Gott, vielmehr heißt es etwa in Jesaja 55,5:

Siehe, du wirst Völker rufen, die du nicht kennst, und Völker, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des HERRN willen, deines Gottes, und des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat.

Eine ähnliche Vorstellung kann man Johannes unterstellen, wenn er vor allem anderen an die Sammlung Israels denkt, und zwar einschließlich der verlorenen Stämme Samarias und der Juden aus der Diaspora, und am Rande auch erwähnt, dass „einige Griechen“ Jesus sehen wollen und jedenfalls nicht zurückgestoßen werden – wenn auch nicht ausdrücklich von ihrer Aufnahme in die Jüngerschaft Jesu die Rede ist.

Schließlich schreiben Sie sogar (124), indem Sie in Anm. 200 darauf verweisen, dass „zu den biblischen Quellen zum Beispiel Jesaja 54,5-55,5 gehören,” dass

manchmal das messianische Festmahl als Hochzeitsmahl dargestellt und mit dem Motiv der „Heiligen Hochzeit“ in Verbindung gebracht wird. Das Wunder bei der Hochzeit zu Kana kann durchaus auf mit dem messianischen Festmahl verbundene Bilder anspielen.

Auf genau solche Anspielungen in der Bibel gehen Sie jedoch gar nicht ein. Sie erwähnen lediglich (wieder in Anm. 200), dass die Vorstellung der Heiligen Hochzeit „ein verbreitetes Motiv in Mythos und Ritual des Nahen Ostens“ darstellt, und ignorieren dabei, in welcher besonderen Weise das Volk Israel seine Hochzeit mit Gott versteht.

Die entscheidende Stelle ist dabei Hosea 2,18:

An jenem Tage geschieht’s, spricht der HERR, da wirst du mich nennen ‚Mein Mann‘ und nicht mehr ‚Mein Baal‘.

Es muss also ernst genommen werden, dass das Zeichen der messianischen Hochzeit zu Kana auf die Befreiung Israels gerichtet ist, bildlich gesprochen auf die Wiederherstellung des Ehebundes zwischen Israel als der Frau und Gott als ihrem Mann, ˀisch, und nicht ihrem Gebieter, baˁal. Hier wird deutlich, worin die Ehre, doxa, hebräisch kavod, des Gottes Israels besteht, die zugleich die Ehre seines Messias Jesus ist: nämlich genau in dieser Befreiung seines erwählten Volkes Israel (vgl. dazu auch Ton Veerkamps Ausführungen, die ich in Anm. 142 zitiere)!

Wenn das aber so ist, dann reicht es nicht aus, Jesu doxa ohne nähere Bestimmung auf Jesu Identität zu beziehen und ohne nähere Begründung zu behaupten, dass Jesu Angebot prinzipiell jedem angeboten wird, wie Sie es tun (125):

Der Erzähler verdeutlicht die zentrale Bedeutung der Kana-Geschichte in Johannes 2,11. Dieses Zeichen wird als eine Gelegenheit für Jesus definiert, seine Herrlichkeit zu offenbaren (ephanerōsen tēn doxan autou, Joh 2,11). Die doxa ist Teil der Identität Jesu. Der Kommentar des Erzählers bezieht das Zeichen in Kana gezielt auf andere Zeichen oder Wunder Jesu und auf den Beginn der Taten Jesu, während er auf Erden weilt. Was Jesus zu bieten hat, wird im Prinzip allen angeboten. Es ist von höherer Qualität als das, was der ursprüngliche Gastgeber angeboten hat. Der erlesene Wein, den Jesus auf wundersame Weise für alle Anwesenden bereitstellt, ist eine Einladung zum Glauben an Jesus.

Die letzte Bemerkung zum besseren Wein, den Jesus bereitstellt, könnte eine Überlegenheit der christlichen gegenüber der jüdischen Religion andeuten. Wenn es Johannes als jüdisch-messianischem Evangelisten aber darum ging, Israels Befreiung durch den Messias Jesus zu proklamieren, dann kann das noch nicht seine ursprüngliche Absicht gewesen sein. Zwar sieht die johanneische Gruppe gegenüber allen anderen jüdischen Wegen Jesus als den von Gott eingesetzten überlegenen Messias an, aber er kommt nicht, um alle Juden ihrer angestammten Verheißungen zu enterben, sondern um Israel zur Befreiung und dadurch Gott zu seiner Ehre zu verhelfen.

3.4 Die Gründung der messianischen Gemeinde

Die Wirkung von Jesu Weinwunder zu Kana besteht Ihnen zufolge (119) darin, dass „viele an ihn glauben und ihm nachfolgen“. Das wiederholen Sie mehrfach. Johannes aber spricht an dieser Stelle ausdrücklich nur von den Schüler:innen Jesu, die auf Jesus vertrauen und den Kern einer durch Jesus gegründeten messianischen Gemeinde bilden, zu dem (2:12) „er selbst und seine Mutter und seine Brüder und seine Schüler“ gehören (126):

Die gläubigen Jünger:innen reisen mit Jesus weiter, nun auch in Begleitung der Mutter und der Geschwister Jesu, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erwähnt worden sind.

Für Ton Veerkamp <22> wird auf diese Weise in 2,12 eine Differenzierung innerhalb der messianischen Gemeinde erkennbar, auf die Sie nicht eingehen. Dass die Mutter des Messias an erster Stelle genannt wird (wie sie auch als erste bei der Hochzeit zu Kana zur Stelle war und Jesus mit seinen Schülern „auch“ teilnahmen), unterstreicht die besondere Wertschätzung der Mutter des Messias im Johannesevangelium. <23>

Die Rolle der Brüder Jesu dagegen wird Johannes im Lauf seines Evangeliums mehrfach kritisch betrachten; er zweifelt ihr Vertrauen an und wirft ihnen militant-zelotischen Übereifer vor. Als ihnen Maria Magdalena die Botschaft überbringen soll, dass Jesus „noch nicht“ zum VATER aufgestiegen ist, aber im Begriff ist, aufzusteigen, wird offensichtlich, dass Johannes die Brüder als Teilgruppe der Schüler sieht. <24>

Sie dagegen scheinen davon auszugehen, dass Jesus die gesamte Hochzeitsgesellschaft zu Kana wegen des Weinwunders als seine Anhängerschaft rekrutieren konnte (wovon aber, wie gesagt, nicht ausdrücklich die Rede ist). Ein Indiz dafür, dass die zunächst nur aus den im 2,12 genannten Personen bestehende messianische Gemeinde den Kern eines neu um den Messias versammelten Volkes Israel darstellt, ist in genau diesem Vers in den Worten kai ekei emeinan ou pollas hēmeras, „und dort blieben sie nicht viele Tage“, zu finden. Sie rufen die Zeit der Wüstenwanderung Israels auf, zu der Israel als Folge des Ungehorsams, auf Weisung Gottes das Land Kanaan einzunehmen, „viele Tage“ in der Wüste umherirren musste. Diese Zeit ist nun laut Johannes vorbei; indem der Messias die messianische Gemeinde gründet, steht der Befreiung Israels nichts mehr im Wege.

3.5 Der Fischfang im See Tiberias als dritte zeichenhafte Offenbarung Jesu

Interessant ist nun, dass Sie dem Weinwunder zu Kana den wunderbaren Fischfang im See Tiberias als genaue Entsprechung an die Seite stellen. Wie Jesus zu Kana öffentlich seine Ehre zeigte (2,11: ephanerōsen tēn doxan autou), so geht es auch (119) in Kapitel 21 um die

Selbstoffenbarung Jesu. Der Erzähler leitet diesen Mahlbericht mit der Feststellung ein, dass Jesus sich den Jüngern erneut zeigte (ephanerōsen heauton palin, Johannes 21,1). Im selben Vers unterstreicht der Erzähler den Aspekt der Offenbarung, indem er die Ankündigung wiederholt (ephanerōsen de houtōs, 21,1). Dieser Aspekt wird durch den Kommentar des Erzählers, der die Szene einrahmt, noch unterstrichen: „Es war das dritte Mal, dass Jesus sich den Jüngern zeigte, nachdem er von den Toten auferstanden war“ (touto ēdē triton ephanerothē Iēsous tois mathētais egertheis ek nekrōn, 21,14). Das vierte Evangelium präsentiert also die erste und die letzte Offenbarung Jesu an die Menschheit im Rahmen des ersten und des letzten Mahles der Erzählung.

Der zweite Bericht zeigt, dass Jesus sich auch nach seinem Tod um seine Jünger kümmert, denn es wird deutlich, dass sich die Jünger von dieser Szene an ohne die körperliche Anwesenheit Jesu unter ihnen organisieren müssen.

In diesem Zusammenhang frage ich mich, worauf sich eigentlich die Ordinalzahl triton, „das dritte Mal“, in Vers 21,14 bezieht. Früher dachte ich, Johannes wolle hier die Erscheinungen Jesu als Auferstandener durchnummerieren. Dabei wären seine Auftritte vor den Jüngern ohne und mit Thomas die beiden ersten Erscheinungen gewesen. Allerdings störten mich bei dieser Annahme immer schon zwei Probleme: Wenn man Jesu Begegnung mit Maria Magdalena mitrechnet, erscheint Jesus am See Tiberias bereits zum vierten Mal als Auferstandener, es sei denn, Johannes hätte trotz seiner offensichtlichen Wertschätzung der Frauen diesen Anlass nicht mitgezählt. Wichtiger noch ist, dass die beiden Begegnungen Jesu mit seinen Jüngern ausdrücklich hinter verschlossenen Türen stattfinden und jedenfalls nicht ausdrücklich als öffentliche Ereignisse gekennzeichnet werden; das Wort phaneroun fehlt.

Insofern hat es tatsächlich etwas für sich, die Offenbarung von Jesu Ehre (2,11) durch das Zeichen der messianischen Hochzeit zu Kana mit Jesu Offenbarung (21,14) durch den wunderbaren Fischfang im See Tiberias zusammenzustellen. Dann aber ist zu fragen, warum der letzte Anlass, zu dem sich Jesus öffentlich sehen lässt, der dritte, triton, und nicht der zweite, deuteron, genannt wird.

Eine einfache Erklärung dafür finde ich in dem Umstand, dass das Wort deuteron im Johannesevangelium an anderer Stelle durchaus im Zusammenhang mit einem weiteren Zeichen Jesu vorkommt. Sonst wird überhaupt kein anderes Zeichen im gesamten Verlauf des Evangeliums von Kapitel 5 bis 20 mit einem Zahlwort verbunden. Und das zweite Zeichen findet ausgerechnet genau wie das anfängliche Zeichen der messianischen Hochzeit in Kana statt, am äußersten Rand des ohnehin schon randständigen Galiläa gelegen, nämlich die Belebung des Sohnes eines Beamten von König Herodes aus Kapernaum.

Dass Sie dieses zweite Zeichen überhaupt nicht erwähnen, hängt wohl damit zusammen, dass es nichts mit Essen und Trinken zu tun hat. Allerdings verstärkt diese Tatsache meinen Eindruck, dass zwar das anfängliche, prinzipielle (archēn) Zeichen mit dem dritten Zeichen zusammenhängen kann, dass aber nicht unbedingt die Versorgung der Menschen mit Wein und Fisch den Zusammenhang stiftet.

Nach Ton Veerkamp <25> bildet das zweite Zeichen in Kana den Endpunkt des offenbaren Wirkens des Messias Jesus, dem in den Kapitel 5 bis 12 sein subversives Wirken in der Verborgenheit als der durch die Mehrzahl der Judäer abgelehnte Messias folgt:

Die erste Wegstrecke führte Jeschua nach Kana in Galiläa, 1,43ff. Dann führt der Weg ein zweites Mal, über Jerusalem, das Land Judäa, den Jordan und über Samaria zurück nach Kana in Galiläa. Dort geschieht das andere Zeichen. Der ganze Lebensweg Jeschuas, aus Galiläa (1,43) nach Galiläa (21,1ff.), ist in diesem Abschnitt 2,1 bis 4,54 konzentriert. Es sind die Wege zum ersten und zum zweiten Zeichen in Kana. Ein drittes Mal wird der Weg vom Land Judäa nach Galiläa führen, 5,1-7,1. Zuletzt finden wir Jeschua in Galiläa; 21,1ff. erzählt aber den letzten Gang Jeschuas von Jerusalem nach Galiläa nicht: er ist, oder geschieht in Galiläa, als „der Herr“ (21,7). Alle Zeichen, die in Israel, Judäa, Jerusalem und in Galiläa geschehen, können und müssen auf die zwei Zeichen 2,1ff. und 4,46ff. zurückgeführt werden. Mit diesen zwei Zeichen, der messianischen Hochzeit und der Belebung des Sohnes, ist das Fundament für das Kommende gelegt. Hier – und so – wurde der Messias „offenbar“.

Nach dem Abschied des Messias in den Kapiteln 13 bis 20, der im andauernden Aufsteigen des Messias zum VATER gipfelt, zeigt Jesus sich (Kapitel 21) noch ein drittes Mal öffentlich vor sieben seiner Schüler. <26> Damit macht Johannes deutlich, wie die Gruppe um Johannes sich aus der Isolation hinter verschlossenen Türen aus Angst vor den Judäern befreit und der größeren messianischen Bewegung unter der Führung des Petrus anschließt, um sich zur Nachfolge Jesu in der Praxis der Solidarität gemäß dem Beispiel der Fußwaschung gürten zu lassen.

4. Mahlzeiten als Baustellen der Identität

Im vierten Kapitel Ihres Buches (152) untersuchen Sie Mahlzeiten als Baustellen für Gruppenidentitäten im hellenistischen Mittelmeerraum und stoßen dabei auf eine Reihe von Übereinstimmungen, aber auch Unterschieden zu entsprechenden Erzählungen im Johannesevangelium.

4.1 Vom Sitzen oder Liegen zu Tisch

Bei Ihrer Beschäftigung mit Qumran-Texten erwähnen Sie die unterschiedliche Art, wie Mahlzeiten in verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten eingenommen wurden (163):

Das Fehlen von Belegen für Bänke, auf denen man zu Tisch liegen konnte, deutet darauf hin, dass die Teilnehmer an den gemeinsamen Mahlzeiten der Qumran-Gemeinschaft im Sitzen und nicht im Liegen aßen und damit dem biblischen jüdischen Brauch des Sitzens im Gegensatz zum griechisch-römischen Brauch des Liegens folgten. <27>

Tatsächlich fällt auf, dass das Johannesevangelium im Unterschied zur Qumran-Gemeinschaft den Brauch des Liegens bei Tisch offenbar selbstverständlich voraussetzt: Anakeimai kommt in Johannes 6,11; 12,2; 13,23.28 vor, anapesein in 6,10 (2x); 13,12.25; 21,20, während beide Verben in der Septuaginta für die Einnahme von Mahlzeiten erst in Tobias 2,1 und Sirach 25,18; 32,2, also in hellenistischer Zeit, auftauchen.

Das in der griechischen Übersetzung der jüdischen Schriften weit häufiger verwendete Wort kathizein bzw. kathēmai, „sitzen“ bzw. „sich setzen“, wird im Johannesevangelium ebenfalls sieben Mal verwendet, aber für andere Gelegenheiten, vor allem (6,3; 8,2), wenn Jesus auf „dem Berg“ oder im Tempel sitzt und lehrt oder (12,14.15) sich als messianischer König auf ein Eselchen setzt, und wenn (19,13) Pilatus auf seinem Richterstuhl Platz nimmt.

4.2 Gründet Jesus eine auf sich zurückgezogene, exklusive Geheimgesellschaft?

In den ausgeklügelten Schutzmaßnahmen jüdischer Gemeinschaften, etwa in der Qumran-Gemeinschaft oder bei den Essenern, um ungewollte Teilnehmer von ihrer Mahlgemeinschaft auszuschließen, sehen Sie Parallelen zu einer auch von der johanneischen Gemeinde angestrebten Exklusivität, die Sie später genauer betrachten werden (siehe Kapitel 6 und Kapitel 7). Zusammenfassend ziehen Sie den Schluss (219):

In jeder Gemeinschaft spielt die gemeinschaftliche Nahrungsaufnahme eine zentrale Rolle. Essen, Trinken und deren Einnahme sind immer mehr als nur der Verbrauch von Kalorien und Flüssigkeit. In den verschiedenen Gruppen wird das Thema Essen auf besondere Weise behandelt, und dem Essen und seinem Verzehr wird Bedeutung beigemessen. In einer Reihe von Fällen geht der Teilnahme an den Mahlzeiten der Gemeinschaft ein langer Prozess der Vorbereitung voraus. In Gemeinschaften mit einem solchen Vorbereitungsprozess stellt die Tischgemeinschaft eine volle Mitgliedschaft in der Gemeinschaft dar. In diesen Gemeinschaften ist die gemeinsame Mahlzeit sorgfältig geschützt, kontrolliert und von äußerst exklusivem Charakter.

Obwohl derartige Vorbereitungsprozesse für die Teilnahme an Mahlzeiten im Johannesevangelium nicht beschrieben werden, beschreiben Sie im Laufe Ihrer Ausführungen mehrfach eine Tendenz innerhalb der Szenen des Johannesevangeliums, die in Ihren Augen auf eine Exklusivität der Mahlgemeinschaft auch in der johanneischen Gemeinde hindeutet: Nachdem die Zahl der Anhänger Jesu drei Mal erheblich angestiegen ist (126), erstens durch sein Angebot des „erlesenen Weins in Kana“, zweitens des „metaphorischen lebendigen Wassers in Samaria“, und drittens durch die „physische Nahrung für eine riesige Menschenmenge bei der wundersamen Speisung der Fünftausend“, setzt Ihnen zufolge Jesus selbst einen gegenläufigen Prozess in Gang, durch den bis zum Ende des Evangeliums an Mahlzeiten mit Jesus immer weniger Menschen teilnehmen (151):

Die umfangreichsten Mahlszenen mit den längsten Reden sind in Johannes 6 und Johannes 13-17 enthalten. Diese beiden Abschnitte sind Dreh- und Angelpunkte in der Erzählung des Evangeliums. Der erste Abschnitt leitet den Wendepunkt in der Entwicklung der Anzahl und der Qualität der Mahlteilnehmer ein, während der andere den inneren Kreis von dem Verräter befreit und die wahre Gemeinschaft ermöglicht, die durch das gegenseitige Innewohnen der Jünger mit Jesus auch nach dessen Tod gekennzeichnet ist. Die Entsprechungen zwischen den Kapiteln 6 und 13 und ihr miteinander verflochtener Charakter erlauben es, sie als den Kern, das „Herzstück“ der Mahlthematik im vierten Evangelium zu identifizieren.

Wenn ich das richtig verstehe, soll also im Lauf des Evangeliums ein Prozess des Gesundschrumpfens im Gange sein, der grundsätzlich positiv zu bewerten ist, da Gegner und wenig überzeugte Anhänger Jesu die Gemeinde verlassen und der innere Kreis der wahren Mahlgemeinschaft mit Jesus schließlich sogar noch vom Verräter Judas befreit wird. Eine solche bewusst elitäre und exklusive Ingroup-Mentalität passt jedoch in meinen Augen ganz und gar nicht zu einem jüdisch-messianischen Johannes. Plausibler ist für mich die Struktur des Johannesevangeliums, wie sie Ton Veerkamp <28> auffasst:

  • der Aufbau der messianischen Gemeinde zwischen den beiden grundlegenden Zeichen zu Kana,
  • das Wirken des verborgenen Messias für Israel in Form von vier heilenden und nährenden Zeichen – verborgen (subversiv) deswegen, weil die Mehrheit der Judäer (das rabbinische Judentum und die Zeloten) ihn nicht akzeptiert,
  • der Abschied des Messias und die Übergabe der Inspiration an seine Schüler.

Demzufolge zeigt sich Jesus nicht nur zu Beginn seiner Wirksamkeit, sondern auch nach seiner Auferstehung am See Tiberias öffentlich, und Jesus ist nicht absichtlich auf die Beschränkung der Zahl seiner Anhänger bedacht; vielmehr führt die Ablehnung des Messias bis hin zu tödlicher Bedrohung dazu, dass eine messianische Gemeinde, die eigentlich ganz Israel sammeln will, ins Hintertreffen gerät und sich am Ende (20,19) „aus Furcht vor den Juden“ hinter verschlossenen Türen verbirgt.

Sie dagegen werden zu Beginn des 7. Kapitels erneut wiederholen, dass (312)

die Gruppe, die Jesus bei den Mahlzeiten umgibt, im Laufe der Geschichte immer kleiner wird. Zu Beginn des Evangeliums ist eine vermutlich große Menschenmenge bei der Hochzeit in Kana anwesend. Die Speisung der Menge in Johannes 6 deutet auf die Anwesenheit einer noch größeren Gruppe von Menschen hin. Die Rede, die auf dieses Mahl folgt, löst jedoch den Protest der Juden aus und veranlasst auch einige der Anhänger Jesu zur Flucht. Von da an schrumpft die Gruppe am Tisch: Vermutlich ist die Gruppe, die Maria und Martha in Bethanien zu Gast haben, viel kleiner als die Menge am Ufer des Sees Genezareth, und nur Jesus und sein engster Jüngerkreis sind beim letzten Mahl Jesu anwesend. Nach der Auferstehung Jesu schließlich sind nur sieben Jünger bei dem Frühstück anwesend, das er ihnen am Ufer des Sees Genezareth serviert. Die Gruppe, die die Tischgemeinschaft teilt, rückt also im Laufe der Geschichte immer enger zusammen.

Ohne Gegenargumente zu erwähnen, wollen Sie offenbar als unmittelbar einleuchtend darstellen, dass der johanneische Jesus eine immer mehr auf sich bezogene Geheimgesellschaft gründen will, voller Absicht zurückgezogen von der Öffentlichkeit, für deren Initiation das Kapitel 6 außerordentlich wichtig ist:

Der Wendepunkt ist Johannes 6, insbesondere die Rede vom Brot des Lebens, die in der sehr anschaulichen Beschreibung des Kauens von Jesu Fleisch und des Trinkens seines Blutes gipfelt (Johannes verwendet sarx anstelle von sōma und trōgein anstelle von esthiein).

Auf Ihre Auslegung von Johannes 6, die den Kern Ihres Buches darstellt, werde ich später in den Kapiteln 6 bis 8 im einzelnen eingehen.

4.3 Die Abgrenzung der haberim vom am ha-arez und die Verfluchung des ochlos durch die johanneischen Pharisäer

Interessant finde ich Ihre Ausführungen (175) über die haburoth oder haberim, die in „mehreren verstreuten Passagen der Mischna, der Tosefta und des Talmud“ erwähnt werden und in besonderer Weise auf Reinheit bedacht sind, obwohl sie sich nicht (219) wie „die Qumraniten/Essener (und auch die Therapeutae) zurückziehen, um ein einsames Leben zu führen”, sondern „in den Städten leben und in der größeren Gesellschaft bleiben“ (186):

Durch die strikte Befolgung der Gesetze schufen die haberim eine Grenze zwischen Mitgliedern und Außenstehenden, zwischen sich selbst und den Menschen, die am ha-arez genannt wurden. Die Begegnung mit einem am ha-arez war immer eine mögliche Quelle der Verunreinigung. Da die haberim sich nicht physisch von der größeren Gesellschaft trennten, indem sie an einen anderen Ort zogen, sondern strenge Regeln für den Umgang mit den amme ha-arez einhielten, führte dies zu verschiedenen Problemen, die das Zusammenleben erschwerten. Die Regeln und Vorschriften dienten dazu, zwischen haberim und amme ha-arez zu unterscheiden.

Ich frage mich nun, ob diese haberim möglicherweise etwas zu tun haben mit den Pharisäern der Evangelien, die darauf bedacht sind, sich von Sündern, insbesondere dem johanneischen ochlos, abzugrenzen. Sie schreiben dazu (176):

Es besteht kein wissenschaftlicher Konsens darüber, ob die haberim und die Pharisäer zwei verschiedene Personengruppen waren oder eher zwei verschiedene Bezeichnungen für dieselbe Gruppe von Menschen, möglicherweise eine Selbstbezeichnung der Pharisäer.

Nun geht es im Johannesevangelium, ganz anders als etwa in den synoptischen Evangelien – etwa im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner oder wenn Jesus mit Zöllnern isst oder wenn es um das Händewaschen und andere Reinheitsgebote geht – nur sehr am Rande um das Thema von Reinheit und Unreinheit. Zwar werden in 2,6 Gefäße für die jüdische Reinigung erwähnt und geht es in 3,25 um den Streit eines Juden mit den Johannesjüngern über die Reinigung, der aber inhaltlich nicht entfaltet wird. Was Reinheit (13,10.11) für Jesus im Zusammenhang mit der Fußwaschung bedeutet, wird später geklärt werden. Nach 15,3 hängt sie allein von Jesu Wort ab.

Nirgends geht es für Johannes um Reinheit im Zusammenhang mit Speisevorschriften oder im Sinne der Abgrenzung etwa von der unreinen Volksmenge. Ganz im Gegenteil scheint gerade die Bevölkerungsschicht, die von den haberim „Volk des Landes“, ˀam haˀarez, genannt wird und mit dem johanneischen ochlos, der „Volksmenge“, identisch sein mag, im Gegensatz zu den Pharisäern offener für die Jesusbewegung. Und genau aus diesem Grund verfluchen gemäß 7,49 die Pharisäer die Volksmenge, weil diese die Tora nicht kennt und dazu verführt worden ist, in Jesus den Messias zu erblicken.

Sie erwähnen diesen Konflikt nicht, vielleicht weil er im Johannesevangelium nicht im Zusammenhang mit der Reinheit von Nahrung steht und auch in einem gewissen Widerspruch zu Ihrer Auffassung steht, dass gerade die johanneische Gemeinde sich bewusst auf sich selbst zurückziehen wolle. Bezeichnend dafür ist Ihre Auffassung, dass ab der Brotrede mit Jesu provozierenden Worten über das Kauen seines Fleisches (127) seine „Zuhörerschaft immer kleiner wird und die Zahl der Menschen, die mit Jesus essen, dramatisch abnimmt“. Das führt aber dazu, dass Sie die Befürwortung der Messianität Jesu durch Teile des ochlos, die in Johannes 7 erwähnt wird – als für Ihre Argumentation unerheblich oder störend? – nur ganz am Rande andeuten (128):

Der Aufschrei Jesu während des Laubhüttenfestes in Jerusalem (Johannes 7,37-38) führt zu einer weiteren Spaltung unter den Zuhörern: Die einen sehen einen Propheten, die anderen den Messias, eine andere Gruppe lehnt diese Möglichkeit ab, und einige wollen sogar Hand an ihn legen, tun dies aber nicht (7,40-44). Der Aufschrei Jesu provoziert die Menschen, ihre Position zu klären. Sind sie für ihn, das heißt, glauben sie an ihn? Oder sind sie gegen ihn? Als Ungläubige sind die Pharisäer gegen Jesus (7,45-53). Nur Nikodemus, einer von ihnen, vertritt die Ansicht, dass nach dem Gesetz jeder eine Anhörung verdient.

Sie erwähnen nicht einmal, dass es hier um Konflikte innerhalb der Volksmenge, des ochlos, geht, und dass die Volksmenge insgesamt von den Pharisäern verflucht wird.

Nach Ton Veerkamp <29> ist es übrigens unwahrscheinlich, dass Nikodemus sich an dieser Stelle gegen eine Verurteilung Jesu ohne eine Anhörung ausspricht. Er meldet sich ja unmittelbar nach der Verfluchung des ochlos zu Wort:

Die Menge hat in diesem Gremium einen Anwalt. Tatsächlich sagt Nikodemus nichts anderes als das, was die Tora verlangt: Man müsse den Beschuldigten anhören und seine Handlungen abwägen, bevor man ihn verurteilt. Wer ist der Verurteilte? Jeschua [Jesus]? Wohl kaum. Jeschua sollte vorgeführt werden, man wollte ihn hören, um ihn dann zu verurteilen. Hier ist aber das Urteil ausgesprochen: „Verflucht“. Es ist Israel, das durch Israel verurteilt wird.

Das Intermezzo 7,53-8,11, das ein späterer Bearbeiter des Johannesevangeliums hier eingefügt hat, setzt sich nach Veerkamp <30> mit der Frage auseinander, ob auch der Messias Jesus das Volk Israel wegen seiner Sünde – also aus seiner Sicht: der Nichtanerkennung des Messias – verfluchen oder verurteilen würde:

In der Schrift handelt es sich beim Thema Ehebruch fast immer um den Bruch des Treueverhältnisses zwischen dem Volk Israel und seinem Gott. Es kann beim christlichen (!) Erzähler kein Zweifel daran bestehen, dass Israel in die Irre gegangen ist, denn es vertraut dem Messias nicht. Die Frau, die Tochter Jerusalems, steht hier pars pro toto Israel. Dann haben wir tatsächlich einen anderen Rechtskasus. Israel ist in flagranti erwischt. Wer urteilt, wer vollstreckt dann das Urteil? Das ist tatsächlich die eigentliche Frage. Wer kann in diesem Fall überhaupt richten? Die Peruschim [Pharisäer] haben gerichtet. Sie, Judäer, haben die, die Tora nicht kennen, ebenfalls Judäer, verurteilt, eben verflucht. „Niemand von euch tut die Tora“, so hat Jeschua gesagt (7,19). Wenn die Tora der Maßstab ist, wer ist dann ohne Verirrung (anhamartētos)? Wer ohne Verirrung ist, mag das Urteil vollstrecken. …

Das Stück endet mit dem Satz: „Auch ich verurteile dich nicht. Gehe und verirre dich nicht wieder.“ Das hat er auch zum geheilten Gelähmten gesagt, 5,14. Verirrung ist: dem Messias nicht zu vertrauen. Der Erzähler hat seine Erzählung so genau in den Duktus des Evangeliums eingefügt, dass man denken könnte, sie sei durch und durch „johanneisch“. Deswegen ist die Diskussion, ob von Johannes oder nicht, müßig. Die Erzählung ist auf alle Fälle ein sehr präziser Kommentar zu den Kapiteln 7 und 8.

4.4 Probleme der Mahlgemeinschaft von Juden und Heiden bei Paulus und in der Apostelgeschichte

Ihre Untersuchung der Paulusbriefe und der Apostelgeschichte macht deutlich, dass dort im Zusammenhang mit Mahlzeiten ganz andere thematische Schwerpunkte vorliegen, da (219) die „Paulusbriefe Gemeinden bezeugen, die in gemischten Umgebungen leben, wo es auch heidnische Tempel gibt“. Während es aber zu den wichtigsten Zielen der eben erwähnten haberim zählt (220) „nicht nur die Gemeinschaft, sondern auch die Speise selbst vor Unreinheit zu bewahren“, geht Paulus davon aus (119), „dass Speise an sich nicht wesenhaft verunreinigt sein kann“. Er fordert aber Rücksichtnahme gegenüber denjenigen, die am Genuss von Fleisch, das heidnischen Götzen geopfert worden ist, Anstoß nehmen. Da Paulus die Mahlgemeinschaft von Juden und gojim, „Heiden“, das heißt, „Menschen aus den nichtjüdischen Völkern“, ausdrücklich als die Verkörperung des Leibes Christi begreift, ist für ihn die Bewahrung ihrer Einheit außerordentlich wichtig (195):

Die Paulusbriefe spiegeln das Bewusstsein für die Bedeutung des gemeinsamen Essens als Ort der Gemeinschaft und der Identitätsbildung wider. Jedes in seinen Briefen angesprochene Problem des Essens zeigt, dass es einen Bedeutungsüberschuss gibt, der über die bloße Aufnahme von Kalorien hinausgeht. Das gemeinsame Essen sollte der Einheit der Gemeindemitglieder untereinander und mit dem Leib Christi dienen.

Eine solche Mahlgemeinschaft mit Heiden ist bei Johannes nirgends im Blick, selbst in 12,20 nicht, wo Hellēnes tines, „einige Griechen“ Jesus sehen wollen, aber ohne dass erwähnt wird, ob sie tatsächlich in seine Jüngerschaft aufgenommen werden.

Ähnlich gilt für die Apostelgeschichte, dass es häufig um Themen der Reinheit im Konfliktfeld zwischen Juden und Heiden geht (203f.):

Mahlszenen und Diskussionen über die Reinheit oder Unreinheit von Speisen kommen in der Apostelgeschichte häufig vor. Die Tischgemeinschaft spielt eine wichtige Rolle in der Mission der Apostel unter den Heiden. In vielen Fällen folgt auf eine Taufe ein gemeinsames Mahl, das die zuvor durch die Taufe zum Ausdruck gebrachte Verbundenheit stärkt und festigt. Die Reinheit der Speisen und damit verbunden die Möglichkeit der Tischgemeinschaft zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christusgläubigen ist ein wichtiges Thema in der Apostelgeschichte und erscheint als eines der Kernprobleme der Heidenmission.

In der Apostelgeschichte gibt es unterschiedliche Ansätze und bemerkenswerte Spannungen zwischen den Aposteln im Blick auf die Reinheit der Speisen. Petrus erklärt alle Lebensmittel für rein und hebt damit das Konzept der Reinheit und Unreinheit von Lebensmitteln vollständig auf. Das Aposteldekret legt jedoch fest, was für alle Gläubigen grundsätzlich verboten ist. Gläubige mit nichtjüdischem Hintergrund müssen sich des Verzehrs von Götzenopfern, von blutigem oder erwürgtem Fleisch und auch von sexueller Unzucht enthalten. Die Zweideutigkeit in der Behandlung der Lebensmittelreinheit in der Apostelgeschichte deutet darauf hin, dass das Thema in den beteiligten Gemeinden immer noch eine zentrale Rolle spielt. Die Diskussionen über die Reinheit der Speisen und die Berichte über die Mahlzeiten sind von einer Bedeutung durchdrungen, die über die bloße Ernährung des Körpers hinausgeht. In den gemeinsamen Mahlzeiten wird die Zugehörigkeit sichtbar, und es werden Bindungen unter den Christusgläubigen geschaffen und gestärkt.

Und gerade dieser Überblick über die Speiseproblematik in der Apostelgeschichte zeigt, dass all diese Themen im Johannesevangelium nicht die geringste Rolle spielen – eben weil eine Mahlgemeinschaft mit Heiden nirgends vorkommt.

4.5 Die Didachē als jüdisch geprägtes Lehrschreiben für die Heiden

Besonders spannend finde ich Ihre ausführliche Betrachtung der Didache, da sich hier weitreichende Parallelen zum Johannesevangelium aufzutun scheinen. So ist (210)

die Verwendung des Wortes klasma (Stück, 9,3.4) an Stelle von artos [Brot] merkwürdig. Die Begriffe für Zerstreuen und Versammeln (diaskorpizein und synagein, Didache 9,4) sind keine üblichen landwirtschaftlichen Begriffe, sondern werden in der jüdischen Diaspora für die Sammlung Israels verwendet.

Zwar gehen viele Gelehrte davon aus, „dass die Trennung zwischen der christusgläubigen Gemeinschaft der Didache und dem Judentum bereits stattgefunden hat“, Jonathan A. Draper <31>

legt jedoch nahe, dass sich die Gemeinschaft, die hinter der Didache steht, immer noch innerhalb des breiten und vielfältigen Diaspora-Judentums sieht, während sie sich der pharisäischen Partei widersetzt, die dominant wird. Er argumentiert, dass alle Positionen, die zur Tora eingenommen werden, mit den Debatten des ersten Jahrhunderts zwischen und innerhalb der Parteien Israels zusammenhängen.

Damit vertritt er eine ähnliche Position wie Ton Veerkamp mit seiner jüdisch-messianischen Auslegung des Johannesevangeliums, das seines Erachtens ebenfalls in einen innerjüdischen Streit mit rabbinischen Juden des späten ersten Jahrhunderts verwickelt ist.

Insbesondere vertritt die Didache nach Draper (211f.)

eine davidische Christologie. Selbst wenn der „Weinstock Davids“ in einem christologischen Sinne aufgefasst wird, bleibt David eine Symbolfigur für Israel. … Der Weinstock fungiert also als Symbol einer gemeinsamen Identität, indem „die Heidenchristen, die die Adressaten des Textes sind, in gewisser Weise mit Israel in Verbindung gebracht werden, was einer vollständigen Eingliederung entgegensteht, da sie nicht zum Weinstock werden, sondern ihn kennen lernen. Dies bezieht sich meines Erachtens auf die Zulassung der Heiden zu den Gemeinschaftsmahlzeiten, ohne dass eine vollständige Bekehrung zum Judentum und eine Beschneidung erforderlich sind, d. h. sie müssen nicht ‚vollkommen sein‘ und ‚das volle Joch des Herrn auf sich nehmen‘ (6,2).“ [272-73] Um ‚vollkommen zu sein‘, ist jedoch die vollständige Befolgung der Tora erforderlich, auch wenn die Unterwerfung der Heiden unter das Gesetz auf die Zukunft verschoben werden könnte, wenn der Herr sein Reich errichten wird. Die Darstellung und Verwendung des Symbols des Weinstocks erinnert an Johannes 15,1-11, wo Jesus von sich sagt, dass er der Weinstock ist und sein Vater der Winzer. <32>

Das heißt, obwohl die Didache ausdrücklich als „Lehre der Zwölf Apostel für die Heiden“ bezeichnet wurde, bleibt sie doch ein jüdisch geprägter Text. Im Johannesevangelium geht die Zurückhaltung gegenüber der Einbeziehung von Heiden sogar noch weiter, insofern diese nirgends in die Gemeinschaft der Nachfolger Jesu und ihrer Mahlgemeinschaft aufgenommen, wenn auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen werden. Unterschiede bestehen auch in der Sicht Davids, der bei Johannes nur in 7,42 vorkommt, wo es darum geht, dass man Jesu Messianität anzweifelt, weil er eben kein Davidide ist und nicht aus der Stadt Davids kommt. Für Johannes sind davidische Traditionen anscheinend zu sehr mit militant-zelotischen Positionen verbunden, die in seinen Augen im Jüdischen Krieg zum Untergang Jerusalems und des Tempels geführt haben; daher ist Jesus für ihn gerade nicht der Sohn Davids. Aber es mag sein, dass dieser Aspekt in der Didache in den Hintergrund getreten ist.

Auch in einer anderen Hinsicht scheint die Didache anders geprägt zu sein als das Johannesevangelium, nämlich was das Thema der Reinheit angeht (218f.):

Die Gemeinschaft im Umfeld der Didache versammelte sich wahrscheinlich zu gemeinsamen Mahlzeiten. Aus dem Schriftmaterial über die Mahlzeiten der Didache-Gemeinschaft lassen sich Fragen ihrer Identität beschreiben. Die Mahlzeiten sind die Anlässe, bei denen die Gemeinschaft ihre Identität als ekklesia mit einem sehr exklusiven Charakter erlebte, wobei die gemeinsame Nahrungsaufnahme mit einem Mehr an Bedeutung durchdrungen war. Die Tischgebete zeugen von den jüdischen Wurzeln der Didache-Gemeinde, die vor allem in der davidisch-messianischen Tradition sichtbar werden. In der Didache wird dies zu einer davidischen Christologie weiterentwickelt, die für das Selbstverständnis der Gemeinschaft zentral ist. Diejenigen, die zum Mahl zugelassen werden, sind in mehr als einer Hinsicht rein. Sie sind durch die Taufe rituell gereinigt worden und moralisch rein. Wenn nicht, dürfen sie nicht am Mahl teilnehmen. Das gebrochene Brot fungiert als Metapher für die Gemeinschaft. So wie das gebrochene Brot, das über die Hügel verstreut ist und wieder zu einem Laib wird, wird auch die Gemeinschaft versammelt werden.

Hinzu kommt, dass sich Ihnen zufolge (220) in „der Didache auch der Gedanke findet, dass die Speise selbst vor Unreinheit geschützt werden muss, ebenso wie die Gemeinschaft.“ Einen solchen Wert auf Reinheit, insbesondere was Speisen betrifft, legt das Johannesevangelium ganz und gar nicht an den Tag, wie schon in Abschnitt 4.3 angedeutet.

Auch von dem, was Sie im folgenden Absatz zusammenfassend über das Essen in den verschiedenen von Ihnen untersuchten Gruppierungen schreiben, ist meines Erachtens so gut wie gar nichts auf das Johannesevangelium zu übertragen:

Essen kann als Metapher dienen, um gemeinschaftliche Beziehungen auszudrücken: das gebrochene Brot, der Brotlaib und der Weinstock Davids stehen für die Gemeinschaft. Während für die Mitgliedschaft Voraussetzungen notwendig sind (z. B. Fasten, Verzicht auf Götzenopferfleisch, Taufe, moralische Reinheit, korrekter Zehnt, kein Kontakt mit Außenstehenden), ist das gemeinsame Mahl der Ort, an dem die Zugehörigkeit sichtbar wird und erlebt werden kann.

Weder gibt es im Johannesevangelium die Tradition des Brotbrechens noch einen rituellen Verzehr von Brot und Wein, nicht einmal einen positiven Bezug auf David. Keine der genannten Voraussetzungen für die Teilnahme an Mahlzeiten gilt bei Johannes; von den beiden einzigen deipnon genannten Mahlzeiten im Johannesevangelium ist nicht einmal der Verräter Judas ausgeschlossen – allenfalls kann gesagt werden, dass er sich selbst ausschließt.

5. Anspielungen auf das Abendmahl im Johannesevangelium

Die letzte Schlussfolgerung, die Sie aus Ihren Untersuchungen im 4. Kapitel ziehen, leitet unmittelbar zum 5. Kapitel über, denn Sie verstehen im Grunde alle gemeinsamen Mahlzeiten von Christusgläubigen in einem Zusammenhang mit dem, was sich später zur Feier des Abendmahls oder der Eucharistie entwickelt hat (220):

Die Untersuchung der gemeinsamen Mahlzeiten der Christusgläubigen hat gezeigt, dass sie sich auf Jesus Christus beziehen (auch wenn andere Begriffe wie „der Herr“ verwendet werden). Sowohl das paulinische Herrenmahl (kyriakon deipnon) als auch die gemeinsamen Mahlzeiten in der Apostelgeschichte, insbesondere die nach der Bekehrungstaufe, und die Didache-Mahlzeiten werden in Gemeinschaft mit anderen Gläubigen gehalten und erinnern auf unterschiedliche Weise an Jesus. Über die genaue Form der Mahlzeiten und die Rituale, die in diesen Gruppen durchgeführt werden, lässt sich zwar wenig sagen, aber es ist offensichtlich und ein wissenschaftlicher Gemeinplatz, dass sie alle mit Jesus in Verbindung stehen. Hier liegen die Wurzeln dessen, was sich später zum „Abendmahl“ bzw. zur „Eucharistie“ entwickelte. Über das genaue Ritual lässt sich wenig sagen, und am Ende des ersten Jahrhunderts war seine Form noch nicht festgelegt. „Abendmahl“ kann jedoch als Bezeichnung für die Mahlzeiten der Christusgläubigen dienen, einschließlich ihrer zusätzlichen Bedeutung, die in der Beziehung der Gläubigen zum „Stifter“ Jesus Christus besteht. Das nächste Kapitel wird daher die Spuren des „Abendmahls“ bei Johannes im Detail untersuchen.

Wenn Sie tatsächlich im Johannesevangelium lediglich Spuren von Vorstellungen aufspüren wollen, die später für eine ausgefeilte Abendmahlstheologie verwendet wurden, mag dieses Unterfangen erfolgversprechend sein. Aber bereits zu Beginn Ihres 5. Kapitels lassen Sie erkennen, dass Ihr Ziel weit darüber hinaus geht, indem Sie es für möglich halten, dass Johannes die Feier des Abendmahls implizit voraussetzt, ohne seine Einsetzung explizit zu erwähnen (221f.):

Das Fehlen der Einsetzungsworte wirft die Frage auf, ob Johannes überhaupt vom Abendmahl spricht, und wenn ja, auf welche Weise. Die Gründe für das Fehlen der eucharistischen Einsetzung während des letzten Mahls Jesu mit seinen Jüngern könnten erstens darin liegen, dass Johannes mit der Abendmahlstradition überhaupt nicht vertraut war. Andere Möglichkeiten sind zweitens, dass Johannes bewusst einen spezifischen Bericht über die Eucharistie ausgelassen hat, oder drittens, dass er das Abendmahl voraussetzt, ohne es zu erwähnen.

Da (224) die Speisungsgeschichte Johannes 6,1-14 eine Reihe von Ausdrücken enthält – elaben … tous artous, eucharistēsas, diedōken – die auch für die Einsetzung des Abendmahls bei Markus, Matthäus, Lukas und bei Paulus verwendet werden, fragen Sie sich (225), ob „diese Ausdrücke ein Echo der Einsetzungsworte in ihrer paulinischen oder synoptischen Version darstellen können“.

5.1 Ritualkritische Aufnahme von Traditionen durch Johannes

Wenn dem so ist, erlaube ich mir die Frage, ob Johannes nicht nur mit dem Ritual der Taufe seltsam locker umgeht (er erwähnt in 3,22.26, dass Jesus getauft hat, schränkt aber in 4,1-2 ein, dass nicht er selbst, sondern nur seine Schüler die Taufe durchgeführt haben) und nicht nur, wie in Abschnitt 4.3 gesagt, Reinigungsriten weniger wichtig nimmt als das Wort des Messias (auch der Gelähmte muss in 5,7-8 für seine Heilung nicht in das Tauchbad von Bethzatha hinabsteigen), sondern auch ein eucharistisches Ritual nicht als solches wertschätzt, sondern allenfalls, wenn es in einen Bezug zur Ernährung ganz Israels durch den Messias gesetzt wird. Das Verb eucharistein, „danken“, das dem Abendmahl, wie es die katholische Tradition bis heute kennt, seinen Namen gegeben hat, kommt tatsächlich im Johannesevangelium nur vor, wenn ganz Israel (die 5000 Mann von 6,10) Brot erhält und wenn Lazarus (das verwesende Israel, um das es in Johannes 11 geht <33>) vom Tode erweckt wird.

Wehrt sich Johannes möglicherweise sogar gegen ein Missverständnis, als ob Eingeweihte bei einer exklusiven Mahlzeit den göttlichen Messias in sich aufnehmen könnten, während er doch das Kauen des Fleisches des Messias als Teilhabe an seinem solidarischen Kampf gegen die Weltordnung interpretiert, den er im Sklavendienst der Fußwaschung symbolisiert? Insofern könnten Anklänge an das Abendmahl vorhanden sein, aber gerade der Unterstreichung eines anderen Akzents dienen.

Auch die Tatsache (226), dass in 6,15-24 genau wie „in den Synoptikern auf den johanneischen Bericht über die Speisung der Volksmenge der Rückzug Jesu auf einen Berg, der Sturm auf dem See von Tiberias und der Gang Jesu auf dem Wasser“ folgt, spricht dafür, dass Johannes entsprechende Traditionen kannte, aber auf seine ganz besondere Weise aufgriff und veränderte. <34>

Für Sie ist in diesem Zusammenhang nur interessant,

was mögliche eucharistische Anhaltspunkte betrifft, dass die Stelle, an dem die Menge nach Jesus sucht, in der Nähe des Ortes liegt, wo sie (die Menge) das Brot gegessen hatte, nachdem der Herr es gesegnet hatte (engys tou topou hopou ephagon ton arton eucharistēsantos tou kyriou, Johannes 6:23). Zwei Punkte sind hervorzuheben. Erstens wird ausdrücklich der Segen vor dem Essen erwähnt. Der Segen und das Essen definieren den Ort. Zweitens wird nur das Brot erwähnt, nicht der Fisch.

Ton Veerkamp hält es für wichtiger, dass der bedeutende römische Ort Tiberias (der nach dem Judäischen Krieg auch zu einem bedeutenden Ort für das rabbinische Judentum wurde <35>), für Johannes offenbar nur wegen des Zeichens der Ernährung Israels erwähnenswert ist, indem er mit der Segnung des Brotes durch den Messias in Verbindung gebracht wird. <36>

5.2 Was meint Johannes mit unvergänglicher Nahrung und dem ewigen Leben?

Zur anschließenden Lehrrede Jesu (6,25-59) über das Brot des Lebens in der Synagoge von Kapernaum (226) fragen Sie zunächst nach der Bedeutung des „Sättigungsmotivs“, das auch bei Paulus vorkommt, allerdings in entgegengesetzter Form. Während Jesus den Menschen der Volksmenge vorwirft, „dass sie ihn nicht deshalb gesucht haben, weil sie Zeichen gesehen haben, sondern weil sie sich an Brot satt gegessen haben, … weiß Paulus um die Hungernden und fordert die Korinther auf, ihre Mahlzeiten zu Hause einzunehmen, um diejenigen nicht zu demütigen, die nichts haben (1. Korinther 11,21-22). Sie nehmen das als eine weitere johanneische Formulierung, in der die paulinische Abendmahlstradition anklingt, fragen aber nicht, was es bedeutet, dass Johannes ein anderer Aspekt im Zusammenhang mit dem Sattwerden wichtig ist. Paulus geht es um die Überwindung des Unfriedens in der aus Juden und gojim gebildeten messianischen Gemeinde; in ihr, die er ausdrücklich als Leib Christi versteht, sollen auch die sozialen Unterschiede überwunden werden. Johannes dagegen setzt sich mit messianischen Juden auseinander, die Jesus auf Grund des Speisungswunders zu einem König nach den Vorstellungen der militanten Zeloten machen wollen. Ein solcher König (wie die hasmonäischen Könige, die nach der makkabäischen Revolution an die Macht kamen) hätte nur für „vergängliche Nahrung“ gesorgt und das „Leben der kommenden Weltzeit“ nicht wirklich herbeigeführt. Letzteres erwartet Johannes vom Messias Jesus gerade dadurch, dass dieser von den Seinen Abschied nimmt, am Kreuz der Römer hingerichtet wird und durch dieses Aufsteigen zum VATER die Römische Weltordnung überwindet (vgl. Anm. 34).

Sie scheinen den „Dialog zwischen Jesus und der Volksmenge” über „vergängliche und unvergängliche Nahrung und das Werk Gottes, das darin besteht, an Jesus zu glauben“, anders zu verstehen, indem Sie darauf hinweisen, dass Jesus (227)

behauptet, er sei das Brot des Lebens, das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Er verspricht, dass jeder, der von diesem Brot isst, ewig leben wird. Die wiederholte Erwähnung des Brotes in Johannes 6 (21 Mal im gesamten Kapitel 6, die meisten davon im Redeteil) kann als Anspielung auf das Abendmahl verstanden werden, denn in den Einsetzungsworten ist das Brot eines der beiden zentralen (physischen) Elemente, das andere ist der Wein.

Schon zuvor (138) hatten Sie darüber nachgedacht, was bei Johannes der Begriff zōē bzw. zōē aiōnios bedeuten könnte:

Leben, ein Begriff, der mit dem ewigen Leben gleichgesetzt wird, ist eines der zentralen Motive in den Reden über das Brot des Lebens (Johannes 6,27.35.40.47.48.51.53.54.63.68). Die Vorfahren der Juden haben in der Wüste zwar Manna erhalten, sind aber trotzdem gestorben. Das Brot vom Himmel, das nur Jesus geben kann, schenkt den Gläubigen jedoch ewiges Leben. Jesus behauptet, er selbst sei dieses Brot. Die Menschen müssen davon essen, um das ewige Leben zu erlangen.

Indem Sie zōē aiōnios, „ewiges Leben“, lediglich dadurch definieren, dass sie es in einen Gegensatz zum Sterben der jüdischen Ahnen in der Wüste stellen, legen Sie nahe, dass Sie dieses Wort im landläufigen Sinne des jenseitigen Lebens nach dem Tod verstehen. In Ihrer rückblickenden Zusammenfassung in Kapitel 9 Ihres Buches (363) im Blick auf „die Wirkung und Bedeutung der johanneischen Mahlgeschichten und -reden und die Identität der Mahlteilnehmer in der Antike“ kommt das deutlicher zum Ausdruck:

Die Personen in der Geschichte sind von der Nahrung abhängig, die ihnen durch die von Jesus gewirkten Wunder angeboten wird. Gleichzeitig müssen sie die wahre Nahrung zu sich nehmen, die ihnen angeboten wird, nämlich den Glauben an Jesus als den Messias. Während die ursprüngliche Zuhörerschaft des vierten Evangeliums in Bezug auf ihre irdische Nahrung für sich selbst sorgen musste, ist es genau diese „himmlische“ Nahrung, die ihnen in den johanneischen Texten beständig angeboten wurde und die sie in Beziehung zu Jesus, dem Gründer dieser besonderen Gemeinschaft, bringt. Die Mahlszenen und -reden fungieren als eine Leiter zwischen den Gläubigen auf der Erde und dem auferstandenen und zum Vater zurückgekehrten Christus (Johannes 1,50-51).

Aber kann ein jüdisch denkender Messianist wie Johannes das Bild der Himmelsleiter auf diese Weise verstanden haben, dass die Mahlgemeinschaft mit Jesus denjenigen, die auf Jesus vertrauen, den Zugang zum Himmel eröffnet? Die jüdischen Schriften beschreiben nirgends den Himmel als einen Ort des Heils, den die Gerechten nach ihrem Tode bewohnen; vielmehr heißt es grundsätzlich in Psalm 115,16:

Der Himmel ist der Himmel des HERRN; aber die Erde hat er den Menschenkindern gegeben.

Lediglich von zwei Ausnahmen ist in der Tora (Genesis 5,24: Henoch) und in den Propheten (2. Könige 2,1.11: Elia) die Rede. Man könnte also darüber spekulieren, ob Johannes sich das Aufsteigen Jesu in den Himmel analog zur Himmelfahrt des Elia vorgestellt hat. <37>

Ton Veerkamp kommt in seiner Analyse von Johannes 20,17 sogar zu dem Schluss, dass in den Augen des Johannes der zum VATER aufsteigende Messias tatsächlich „noch nicht“ beim VATER im Himmel angekommen ist, so lange das durch die Solidarität seiner agapē begründete Friedensreich für Israel inmitten der Völker noch nicht angebrochen ist. Dahinter steht die Annahme, dass Jesus als der Messias, der den kosmos überwindet, nicht einfach nur auf die Erde kommen und wieder in den Himmel zurückkehren kann, ohne dass sich an der Situation der Unterdrückung Israels durch die Römische Weltordnung auf der Erde Entscheidendes ändert. <38>

Zur Begründung Ihres eben angeführten Zitats beziehen Sie sich auf Johannes 1,50-51. Es lohnt sich, die Auslegung dieser beiden Verse durch Ton Veerkamp <39> anzuschauen, denn anders als Sie nimmt er wahr, auf welche Weise sich Johannes in diesen Versen auf die Heiligen Schriften der Juden bezieht:

1,50 Jeschua antwortete, er sagte zu ihm [Nathanael],
„Weil ich gesagt habe,
ich habe dich unter dem Feigenbaum gesehen,
hast du Vertrauen.
Größeres noch als das wirst du sehen.“
1,51 Und er sagt ihm:
„Amen, amen, ich sage euch:
ihr werdet sehen:
den Himmel geöffnet,
die Boten GOTTES aufsteigend, absteigend
über den bar enosch, den MENSCHEN.“

„Als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen“, sagt Jeschua. Die Phantasie geht dann mit vielen Auslegenden durch, Jeschua habe gesehen, was ein normaler Mensch nicht sehen konnte, irgend etwas, was Nathanael heimlich unter jenem Feigenbaum trieb… Nein, die angebliche Verblüffung Nathanaels über parapsychologische Fähigkeiten Jeschuas enthüllt die Ahnungslosigkeit der Exegeten. Jeschua antwortet nicht direkt auf die Frage, er verkündigt vielmehr seine Vision: „Friede für Israel“. Im Goldenen Zeitalter Israels, als König Salomo noch ein tadelloser Mann war, hieß es, 1 Könige 5,4f.:

Friede war mit ihm [Salomo] von allen Seiten ringsum.
Und Juda und Israel siedelten in Sicherheit,
jedermann unter seinem Weinstock, unter seinem Feigenbaum,
von Dan bis nach Beerscheba,
alle Tage Salomos.

Diese Vision hatte auch der Verfasser des ersten Buches der Makkabäer; während der Regierung des Fürsten Simon Makkabäus saß „jedermann unter dem Weinstock und unter seinem Feigenbaum“ (14,12). Diese Vision war in der makkabäischen Zeit lebendig. Jeschua nennt Nathanael „einen Israeliten ohne Tücke“. Was das heißt, erklärt Jeschua mit seiner Sicht, dass Nathanael „unter dem Feigenbaum war“. Ein Israelit ohne Tücke ist ein Israelit, der nur eins will: Friede für Israel. Dasein unter dem Feigenbaum ist die Friedensvision des Messias und die Herzensangelegenheit Nathanaels. <40> Nathanael begreift sofort, was Jeschua ihm sagt. Jeschua, der Lehrer, sei „wie Gott“ und „König über Israel“, wie Salomo ben David und Simon, der Bruder des Judas Makkabäus. Das ist kein formelhaftes Bekenntnis, sondern eine inhaltliche Aussage über Jeschua.

Jeschua ahnt das Missverständnis, Nathanael denke, mit ihm, Jeschua, kämen die großen alten Tage Israels wieder. Er sagt zu ihm: „Weil ich gesagt habe, dass ich dich unter dem Feigenbaum sehe, vertraust du. Größeres als das wirst du sehen.“ Nathanael vertraut darauf, dass er „unter dem Feigenbaum“ sein wird, dass er Frieden erleben wird, und Frieden ist mehr als die Abwesenheit offenen Krieges, Frieden ist Sicherheit, und die ist unter Königen wie Salomo oder Simon nicht wirklich zu haben. Das plastische Bild für das Leben in Sicherheit ist Sitzen unter dem Weinstock und unter dem Feigenbaum. Aber diese Sehnsucht ist nicht genug. Es gibt ein Problem der Weltordnung, das durch diesen Frieden nicht gelöst wird. Zwischen der Vision der Belebung und Vereinigung Israels Ezechiel 37 und den Blueprint für den Wiederaufbau Israels Ezechiel 40-48 steht der Text über Gog aus Magog. Dieser kommt „gegen ein Land von Bauern, auszuplündern Leute, die in Sicherheit siedeln. Alle siedeln sie ohne Mauern, weder Riegel noch Türen haben sie“ (Ezechiel 38,11). Solange es Gog aus Magog gibt, solange gibt es keine wahre Sicherheit. Was ist größer als Frieden für Israel? Eine Weltordnung des Friedens.

Johannes bringt dann ein komplexes Zitat aus der Schrift, das sich auf drei Stellen bezieht, Ezechiel 1,1, Genesis 28,12 und Daniel 7,12. Eingeleitet wird dieses Konglomerat mit dem Satz: „Ihr werdet sehen den Himmel, geöffnet.“ Der Ausdruck kommt nur im Buch Ezechiel vor, in 1,1:

Geöffnet wurden die Himmel
ich sah, Sicht auf Gott: …

Was „Sicht auf Gott“ (marˀoth ˀelohim) bedeutet, werden wir noch erfahren. Zunächst aber ruft Johannes die Vision Jakobs auf: Die Schüler sollten sehen, was Jakob im Traum sah, Genesis 28,12-13:

Er träumte,
da: eine Leiter aufgestellt auf der Erde,
ihre Spitze berührte den Himmel,
da: Gottesboten steigen auf, steigen ab auf ihr,
da: der NAME stellte sich über ihn auf,
er sagte:
„ICH BIN ES, der NAME,
der Gott Abrahams, deines Vaters,
der Gott Isaaks.
Das Land, das ich ihm zuschwor,
dir werde ich es geben, und deinem Samen …“

Was sie zu sehen bekommen, hat mit Israel zu tun, mit der Landverheißung. Heute gehört das Land anderen, durch den Messias wird es Israel gehören. Dann kommt das dritte Element, bar enosch, der MENSCH. Daniel schaute, wie im Himmel Throne aufgestellt werden für einen „Fortgeschrittenen an Tagen“, unzählige Wesen standen vor ihm. Dann heißt es, 7,10-14:

Das Gericht setzt sich, Bücher werden geöffnet.
Eine Vision geschah mir danach,
wegen der Stimme großspuriger Redensarten,
die das Horn [der Großkönig Syriens] redete,
eine Vision geschah mir,
das Tier [das Königtum Syriens] wurde getötet,
sein Leichnam vernichtet und der Feuerglut übergeben.
Die Regierung der übrigen Tiere [Königreiche] wurde befristet,
Lebensdauer wurde ihnen gegeben für eine befristete Zeit.
Ich schaute, eine Nachtvision:
Da kam mit den Wolken des Himmels ein bar enosch, ein MENSCH,
zum Fortgeschrittenen an Tagen ging er,
er wurde vorgeleitet bis in seine Nähe.
Ihm wurde die Regierungsmacht übergeben, die Würde, das Königtum,
alle Völker, Gemeinschaften und Sprachgruppen erwiesen ihm die Ehre.
Seine Regierung wird eine Regierung in Weltzeit sein, unbefristet,
sein Königtum wird nicht zerstört.

Diese Vision hat die Wucht des Volkswillens, sich nicht auf Dauer der Macht der Raubtiere, die bis dahin über Israel herrschten, zu ergeben (Daniel 7,1ff.). „Das Gericht setzt sich, Bücher werden geöffnet.“ Was jetzt kommt, ist nichts Tierisches mehr, jetzt kommt einer „wie ein Mensch“. Der Ausdruck „Sohn eines Menschen“ oder „Menschensohn“ bedeutet schlicht: „ein MENSCH“. Wir schreiben das Wort groß, um einen ganz bestimmten Menschen mit einem ganz bestimmten Auftrag zu bezeichnen. Die Macht tierischer Königreiche ist eine befristete, die Macht des Humanen ist eine unbefristete Macht. Mit den Wolken des Himmels kommt etwas, was noch nie war: die Macht des Humanen, verkörpert durch das Volk der Heiligen des Höchsten, durch Israel (Daniel 7,27). Und dieses Humane ist zugleich Maß des Rechts und Vollstrecker des Rechts.

Die Verkörperung dieses Israels, dieses bar enosch, dieses MENSCHEN, ist für Johannes der Messias Jeschua ben Joseph aus Nazareth. Immer wenn wir bei Johannes den Ausdruck bar enosch, „Menschensohn“, hören – wir schreiben „MENSCH“ -, müssen wir diese Vision mithören. Das „Größere“, das Nathanael und seine Mitschüler sehen werden, ist dreierlei. Sie werden „Sicht auf Gott“ bekommen, also „die Himmel geöffnet“. Der Himmel, das zweite Schöpfungswerk Gottes, ist das Gewölbe (raqiaˁ), das das Oberirdische vom Irdischen abschirmt. Es ist also gut, dass der Himmel geschlossen bleibt. Wird er geöffnet, geschieht das Unheil der Flut, „die Schleusen des Himmels wurden geöffnet“, Genesis 7,11. Wenn weiter die Himmel geöffnet werden, dann wird zweitens Israel eine irdische Zukunft erschlossen: das Land. Drittens aber werden die Himmel geöffnet, damit Recht geschieht für die Erde und ihre Bewohner, Jesaja 24,18. Die Schüler werden sehen, dass endlich Recht geschehen wird, Gottesrecht. Es kommt „vom geöffneten Himmel“, Ezechiel 1,1, mit dem „MENSCHEN“, Daniel 7, für Israel, Genesis 28,10ff. Es werden die Schriften erfüllt werden.

Dieses ausführliche Zitat sollte der Erwägung Raum geben, dass Johannes als jüdischer Messianist, wenn er vom ewigen Leben spricht, auch die diesseitige kommende Weltzeit meinen kann, in der Israel in Freiheit und Gerechtigkeit leben kann, weil das Sklavenhaus der Römischen Weltordnung mit ihren Todesmächten endgültig überwunden ist.

Ihre Vorstellung (367) von der „wechselseitigen Einwohnung Jesu und seiner Schüler:innen“ als „einer nachösterlichen Realität“, bei der die „nachösterliche Gabe des Parakleten“ eine besondere Rolle spielt, ist auch mit einer solchen Sichtweise vereinbar, zumal nach Johannes (14,2.3.23) die Einwohnung des VATERS und des Sohnes in der messianischen Gemeinde von oben nach unten definiert ist. Johannes proklamiert also nicht die Auferstehung Jesu als Rückgängigmachung oder Aufhebung des Todes (obwohl er in 5,28-29 gemäß Daniel 12,2 die Auferstehung der Toten für den Anbruch der neuen Weltzeit erwartet), sondern für ihn ist der Auferstehungstag Jesu der Tag 1 einer neuen Schöpfung, die seine Schüler mit Hilfe des Parakleten, also der Inspiration der Treue des Gottes Israels, tätig erwarten sollen, indem sie die Solidarität der agapē praktizieren.

5.3 Fleisch kauen, Blut trinken – worauf zielt diese anstößige Sprache?

Eine schwer zu beantwortende Frage ist nun, was der johanneische Jesus im Abschnitt 6,51b-58 mit der provokativen Forderung meint (227),

dass seine Zuhörer Brot, Blut und Leib zu sich nehmen. Er identifiziert das Brot, das er für das Leben der Welt geben wird, mit seinem Fleisch. Jesus erklärt, dass sie das Fleisch des Menschensohns essen (phagēte) und sein (Jesu) Blut trinken müssen, um ewiges Leben zu haben (Johannes 6,53). Dies wird in der Erklärung weiter ausgeführt, dass derjenige, der sein Fleisch kaut (trōgōn, 6,54.56.57.58 gleiche Form und gleiches Lemma an allen Stellen) und sein Blut trinkt, ewiges Leben haben wird. Die Gläubigen werden am letzten Tag auferweckt. Das Fleisch Jesu ist die wahre Speise (alēthēs estin brōsis, 6,55) und sein Blut der wahre Trank (alēthēs estin posis, 6,55).

Anspielungen auf das Abendmahl kann man darin erkennen, dass Jesus hier sein Fleisch, sarx, in ähnlicher Weise wie in den verschiedenen Einsetzungsworten des Abendmahls seinen Leib, sōma, für andere Menschen hingibt. Ebenso soll hier wie dort sein Blut, haima, getrunken und sein Fleisch oder Leib gegessen werden.

Allerdings gibt es auch Unterschiede (228), erstens, wie gesagt, dass Johannes vom Fleisch und nicht vom Leib Jesu spricht, zweitens:

Es wird weder ein Kelch, noch Wein oder ein anderes Getränk erwähnt. Dennoch ist es offensichtlich, dass das Blut als Parallele zur Verbindung zwischen Brot und Leib leicht mit dem Wein und seiner rituellen Funktion in Verbindung gebracht werden konnte.

Drittens benutzt Johannes für den Vorgang des Essens das Wort trōgein, „kauen“. Das beurteilen Sie inhaltlich unter Berufung auf Bultmann <41> „als eine bewusste Betonung der Realität des physischen Essens“ und (229) gemäß dem Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament <42>

als sprachliches Mittel, um die Absicht des Textes zu unterstreichen. Nach dieser Interpretation bedeutet das Essen ab Johannes 6,51c nicht die Annahme der Selbstvorstellung Jesu durch den Glauben, sondern ihre Annahme durch das physische Essen, d. h. das Essen des Abendmahls.

Eine solche Interpretation wird allerdings nicht der Tatsache gerecht, dass Jesus im Johannesevangelium nirgends das Ritual des Abendmahls einsetzt, und erst recht nicht der Anstößigkeit der gesamten Rede vom Kauen des Fleisches des Messias und vom Trinken seines Blutes. Mit keinem Wort gehen Sie darauf ein, dass Jesus hier Worte benutzt, die einen absoluten Widerspruch zum Blut-Tabu der jüdischen Tora darstellen. Nach Ton Veerkamp <43> verwendet Johannes hier bewusst eine provokative Sprache, um die Tragweite der Nachfolge eines Messias herauszustellen, der am Kreuz der Römer zerfleischt wird:

Wir sind durch unsere Abendmahlsgottesdienste so abgestumpft, dass wir die Provokation erst gar nicht mehr spüren. Jeschua redet nicht von der Oblate oder von einem Becher Traubensaft, mit oder ohne Alkohol. Die Provokation ist wirklich beabsichtigt. Fleisch darf man in Israel essen, aber: „Fleisch, das in seiner Seele sein Blut hat, dürft ihr auf keinen Fall essen“, Genesis 9,4. Dieses sogenannte noachitische Verbot wird immer wieder eingeschärft: das Blut darf man nicht essen, man muss es wegfließen lassen, bevor man das Fleisch isst; es muss koscher sein. Menschenfleisch kauen und zugleich sein Blut trinken ist für jedes Kind Israels eine widerliche Übertretung des fundamentalen Gebots, das auf der unbedingten Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben basiert, Genesis 9,5f. Deswegen erklärt die Tora Blut zu einem unbedingten Tabu.

Sicher meint Johannes mit diesem Ausdruck Fleisch essen eine vollständige Identifikation mit der politischen Existenz Jeschuas, unbedingte Nachfolge auf dem Weg des Messias: „Wer mein Fleisch kaut, mein Blut trinkt, bleibt mir verbunden, und ich ihm.“ Aber indem er diesen Gedanken für die Judäer so abstoßend formuliert, will er offenbar gar nicht, dass sie einen Zugang zu diesem Messias finden. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes skandalös, und Johannes weiß es, V.61! Folgerichtig landet die Gruppe um Johannes in einem abgeschlossenen Raum, „Türen verschlossen aus Angst vor den Judäern“, 20,19.26.

Jeschua, der vom VATER Gesandte, lebt nur „durch den VATER“. Das heißt: er arbeitet nicht nur für die Sache des Gottes Israels, er ist vielmehr die Sache selber, das, und nur das, ist sein Leben. Und wer den Messias kaut, der lebt durch den Messias, denn er wird selber zur Sache Gottes, zur Sache des Messias. Er kann nichts anderes mehr tun.

In Ihrer ausführlichen Wiedergabe der wissenschaftlichen Diskussion über die Frage, ob es hier tatsächlich um das Abendmahl geht oder nicht, erwähnen Sie einen Exegeten, der einen ähnlichen Gedanken wie Ton Veerkamp vertritt (234):

Maarten J. Menken <44> … argumentiert, dass es zwar vernünftig ist, anzunehmen, dass die eucharistische Sprache und insbesondere eine Version der Einsetzung Johannes 6,51c-58 beeinflusst hat, dass dies aber keineswegs bedeutet, dass es in der Passage um die Eucharistie geht, denn „sarx und haima können sich auf die eucharistischen Elemente beziehen, aber dies ist keineswegs die übliche Verwendung dieser Wörter im frühen Christentum“. [189] Menken schlägt vor, dass sich sarx wahrscheinlich auf Jesus als sterbenden Menschen bezieht. [190]

Schließlich scheint auch (236f.) der Exeget Craig Keener <45> die Auffassung zu vertreten, dass Johannes mit Anklängen an die Sprache des Abendmahls dennoch nicht das Ritual selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken wollte, denn er

argumentiert, dass die eucharistische Sprache im Hintergrund von Johannes 6 nicht zu übersehen ist, dass es aber nicht klar ist, was man daraus machen soll. Selbst wenn Brot und Wein erwähnt werden, hat dies nicht unbedingt eucharistische Konnotationen. Außerdem, so Keener, wird der Wein nirgends erwähnt. Er argumentiert, dass der übliche eucharistische Begriff für Leib sōma ist und nicht sarx, wie er von Johannes verwendet wird. Dies könnte jedoch darauf hindeuten, dass der Autor die Fleischwerdung Jesu (1,14; 1. Johannes 4,2; 2. Johannes 7) und die Opferkonnotationen betonen wollte. Diese Betonung könnte dazu dienen, die johanneische Vorstellung zu stärken, dass der Tod Jesu das wahre Passahfest ist. Keener legt nahe, dass durch die Übertragung des Passahfestes vom letzten Abendmahl auf die Kreuzigung der johanneische Gebrauch der eucharistischen Sprache sich direkt auf den Tod Jesu bezieht. Die Absicht des Autors ist eine Einladung, den Tod Jesu selbst zu betrachten und nicht die Symbole, die auf ihn hinweisen. Der Weg zur Teilhabe an Jesus führt über den Glauben und den Geist (6,27-29.35.63).

5.4 Wenn der göttliche Geist Leben gibt, ist dann das menschliche Fleisch wertlos?

Sie selbst (237) finden in der in 6,60-66 folgenden Diskussion Jesu mit seinen Schülern eine Erklärung der rätselhaften Aussagen Jesu im Abschnitt zuvor.

Er erklärt nun, dass nur der Geist Leben gibt (to pneuma estin to zōopoioun). Das Fleisch ist von keinerlei Nutzen (sarx ouk ōphelei ouden). Die Worte, die er gesagt hat, sind der Geist und das Leben (ta rhēmata ha egō lelalēka hymin pneuma estin kai zōē estin, Johannes 6,63). Die wahre Aufnahme von Jesu Fleisch ist also der Glaube an ihn. Der Gedanke des Verzehrs von Fleisch und Blut, an den hier erinnert wird, erinnert an die Einsetzungsworte des Abendmahls, in denen Jesus sein Blut als für viele vergossen zur Vergebung der Sünden bezeichnet (Matthäus 26,28) oder als ausgegossen für den Schüler für den Bund (Markus 14,24) oder neuen Bund (Lukas 22,20).

In diesem Zitat scheint mir allerdings Ihr letzter Satz in keinster Weise durch die vorherigen begründet zu sein, denn vom Bund ist bei Johannes nirgends ausdrücklich die Rede, während alle drei Synoptiker (auch Matthäus!) das Ritual des Abendmahls offenbar auf den durch Blut besiegelten Bundesschluss in Exodus 24,3-8 beziehen.

Zu Recht weisen Sie hin auf (237f.)

eine Art Widerspruch oder zumindest eine Ambivalenz zwischen den Ermahnungen in Johannes 6,51-59 einerseits und 6,63 andererseits. In der erstgenannten Passage gibt es äußerst positive Aussagen über das Essen des Fleisches Jesu und das Trinken seines Blutes. Der Gedanke, dass es notwendig ist, Jesu Fleisch und Blut zu sich zu nehmen, um ewiges Leben zu haben, wird stark betont. In der letztgenannten Passage stellt Jesus jedoch klar, dass nur der Geist Leben gibt. Entgegengesetzte Haltungen gegenüber der sarx finden sich in einem Bereich von nur 10 Versen. Die positive Darstellung, ja sogar die Heilsnotwendigkeit des Verzehrs von Jesu Fleisch und Blut als Mittel zur Erlangung des ewigen Lebens (ean mē phagēte tēn sarka tou hyiou tou anthrōpou kai piēte autou to haima, ouk echete zōēn en heautois, 6: 53) scheint auf den ersten Blick in starkem Widerspruch zu der späteren Vorstellung zu stehen, dass nur der Geist Leben gibt, dass das Fleisch nutzlos ist, da der Geist Leben schafft, und dass die von Jesus gesprochenen Worte Geist und Leben sind (to pneuma estin to zōopoioun, hē sarx ouk ōphelei ouden, ta rhēmata ha egō lelalēka hymin pneuma estin kai zōē estin, 6,63).

Bei näherer Betrachtung (238) stellen Sie allerdings fest, dass es nicht in beiden Fällen um dasselbe Thema geht. Zuvor geht es um Fleisch und Blut des Messias Jesus, jetzt um das Verhältnis von Fleisch und Geist in einem allgemeineren Sinn.

Die Frage ist allerdings, ob „Fleisch“ im Johannesevangelium tatsächlich absolut „als der entgegengesetzte Pol zum Geist (pneuma)“ angesehen werden darf. Ihnen zufolge bezieht sich

Johannes 6,63 daher nicht auf 6,53, um eine Ambivalenz zu erzeugen, sondern gehört in den Rahmen des Gegensatzes, wie er beispielsweise aus dem Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus vertraut ist (to gegennēmenon ek tēs sarkos sarx estin, kai to gegennēmenon ek tou pneumatos pneuma estin, 3,6).

Einer solchen Entgegensetzung widerspricht Ton Veerkamp <46> in seiner Auslegung des Gesprächs Jesu mit Nikodemus entschieden:

Jetzt kommt ein Satz, der von uns, die wir mit einem gnostisch-dualistischen Christentum vertraut gemacht wurden, nur missverstanden werden kann. Fleisch sei nicht Geist und umgekehrt, sie schließen sich gegenseitig aus. So würden Griechen miteinander reden. Hier reden aber Juden miteinander, und Judäer wie Nikodemus, der Rabbi, und Johannes, der Messianist, haben mit Gnosis und Dualismus nichts zu tun.

Fleisch ist die konkrete irdische Existenz, das Leben, das unter den realen Verhältnissen der Weltordnung verletzbar und korrumpierbar ist. Ein Leben „nach dem Fleisch“ ist ein angepasstes Leben, anfällig für die Korruption durch die Weltordnung. Wer „aus dem Fleisch“ gezeugt wird, kann nur „fleischlich“ leben; wer so gezeugt wird, das heißt in die Welt gesetzt, erzogen zur Anpassung an die Ordnungen der Welt nach dem Prinzip: So war es, so ist es, so wird es immer sein. Dieser Mensch hat keine andere Wahl, als zuzusehen, wie er durchkommt, bis der Tod ihn holt.

Die rabbinische Option war freilich eine andere: Kompromiss ist nicht Anpassung, Kompromiss kann sehr viel mit Inspiration zu tun haben. Was Johannes hier sagt, ist nicht nur Unterstellung. Kompromiss kann auch – wahrscheinlich oft – zur Anpassung führen. Diese Diskussion ist ewig; es ist die Diskussion zwischen Reform und Kompromiss einerseits und Revolution andererseits.

Wer aber eine Alternative „sieht“, das heißt, wer erkennt, dass eine Alternative notwendig und möglich ist, lebt anders. Gemeint ist ein Leben aus messianischer Inspiration, der Inspiration, die vom Messias Jeschua ausgeht. Es ist also nicht verwunderlich, dass dann ein neues Leben beginnt, sozusagen: „Von oben her, erneut gezeugt sein.“ Das Wortspiel mit Inspiration (Geist) und Sturmwind (das steckt beides im Wort pneuma, auf hebräisch ruach) zeigt, dass ein Mensch, der durch diese Inspiration „gepackt“ wird, nicht anders tun kann, als sich führen zu lassen, wohin diese Inspiration ihn bringt. Wer sich auf diese Revolution einlässt, weiß weder, auf was er sich eigentlich einlässt, noch wohin das einmal führen wird.

Und auch im Blick auf 6,63 gibt Ton Veerkamp <47> zu bedenken, dass ein Evangelist, der so jüdisch denkt wie Johannes, nicht das Fleisch für absolut wertlos einschätzen kann. Er interpretiert den Vers von Ezechiel 37,5f. her:

So sagt mein Herr, der NAME, zu den dürren Gebeinen:
„Da, Ich bin es, der die Inspiration kommen lässt: Ihr lebt!
Und ich gebe euch Muskeln,
ich überziehe euch mit Fleisch,
ich spanne über euch Haut,
ich gebe in euch Inspiration: Ihr lebt,
ihr erkennt: Ich bin es, der NAME!“

Die beiden Zeilen über die belebende Inspiration umrahmen die Zeilen über die Muskeln, das Fleisch, die Haut. Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile, der Glieder, es ist der Hauch Gottes, „der Hauch des Lebens, der die Menschheit zu einer lebenden Seele macht“, Genesis 2,7. Diese Inspiration ist das Prinzip; Fleisch, Muskeln, Haut leben erst durch die Inspiration, „das Fleisch kann nichts dazu beitragen“.

Die klassische Übersetzung: „Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch hilft nichts“, suggeriert einen Gegensatz zwischen „Geist“ und „Fleisch“, den es weder bei Johannes noch in der Schrift gibt. Wenn der Messias will, dass die, die ihm vertrauen, „sein Fleisch kauen“ sollen, kann Fleisch hier nicht auf einmal eine negative Bedeutung haben.

Der Sinn erhellt sich also aus Ezechiel 37,5f. Das Fleisch ist ein Teil, vielleicht auch die Summe der Teile, erst die Inspiration ist das Ganze. Ohne die Teile gibt es kein Ganzes, ohne das Ganze sind die Teile eben keine Teile, ohne die lnspiration verwest das Fleisch, aber ohne das Fleisch ist die Inspiration eine Luftnummer.

„Die gesprochenen Worte – rhēmata –, die ich geredet habe, sind Inspiration und Leben.“ Die vollkommene Identifikation mit den devarim, den Reden und Taten des Messias, kauen und trinken, ist das einzige, was das Leben inspirieren kann. Und er wiederholt, dass kein Mensch sich mit dem Messias identifizieren kann, wenn es ihm der Gott Israels – und das ist das Wort Gottes – nicht gibt.

Die Frage ist also, ob man die Gegenüberstellung von Fleisch und Geist von den jüdischen Schriften oder von einem quasi-gnostischen Gegensatz her verstehen will.

5.5 Jesu Brotrede als ein Midrasch über das biblische Manna

Ausdrücklich lesen Sie selbst (239) in einem Exkurs „Johannes 6 auf dem Hintergrund jüdischer Traditionen“, um auch anderen Interpretationen als der „Suche nach eucharistischen Elementen in Johannes 6“ Raum zu geben.

Dabei gehen Sie zunächst (240) ausführlich auf eine Studie von Peder Borgen <48> über „den Topos des Manna in Johannes 6,31-58 … im Licht biblischer Manna-Traditionen“ ein und kommen zu dem Schluss, dass „Borgens These, dass Johannes 6,31-58 eine Homilie über das Manna aus Exodus 16 ist, sehr überzeugend ist“, wenn Sie auch seine „Interpretation ihres Zusammenhangs“, auf die ich hier nicht weiter eingehen will, für nicht weitreichend genug halten.

Worin inhaltlich der Ertrag des johanneischen Midraschs über das biblische Manna bestehen soll, wird aus Ihren Ausführungen nicht deutlich. Nach Ton Veerkamp <49> muss man ihn in der Auseinandersetzung der johanneisches Messianisten mit dem rabbinischen Judentum suchen:

Für die lokalen Gegner der Messianisten, die wohl Anhänger des rabbinischen Judentums waren, war Jeschua bestenfalls ein Wirrkopf, schlimmstenfalls ein Betrüger, aber immer Inbegriff einer verhängnisvollen Politik. Hier ist die Frage schlicht: „Was bewirkst du? Was bringt diese ganze messianische Aufgeregtheit?“ Und sie verweisen gleich auf den Unterschied zwischen dem Spektakelstück Jeschuas am anderen Ufer des Sees und der Speisung des Volkes auf seinem vierzigjährigen Zug durch die Wüste, wie es sich gehört, mit einem Schriftzitat (Psalm 78,24).

Die Gegner sind jetzt andere. Waren die, die Jeschua zum König machen wollten, zelotische Kurzsichtige, jetzt sprechen die, die jedem Messianismus mit größter Skepsis gegenüber treten. Was wäre die Ernährung der Fünftausend verglichen mit der Ernährung Israels in der Wüste? Was folgt, ist eine heftige Auseinandersetzung unter den Lehrern Israels um die Deutung zentraler Schriftstellen wie Psalm 78,24 und Exodus 16.

Diese Judäer sind getreue Schüler Mosches, das weiß Jeschua. Aber auch er verweist auf einen Unterschied; er dreht den Spieß um. Zunächst stellt er fest, dass dieses Brot des Himmels, das Manna, nicht von Mosche, sondern vom VATER, dem Gott Israels stammt. Die Antwort Jeschuas enthält ohne Zweifel einen Gegensatz. Nur muss man diesen Gegensatz vollständig ausschreiben: „Nicht Mosche hat gegeben (Perfekt), … mein VATER gibt (Präsens).“

Vielfach wird angemerkt, das Zitat sei nicht wörtlich. Es ist nötig, dass wir die Stelle Exodus 16,4 in ihrem Kontext hören; alle weiteren Stellen, auch unser Ausgangstext Deuteronomium 8,3, beziehen sich auf diese Stelle. Das Volk ist in die Wüste Sin gekommen, dann heißt es, 16,2-4:

Sie murrten, die ganze Gemeinschaft (der Söhne) Israel(s),
gegen Mosche und gegen Aaron in der Wüste.
Sie sagten zu ihnen:
Wären wir doch durch die Hand des NAMENS gestorben im Land Ägypten,
als wir am Fleischtopf saßen, Brot zur Sättigung zu essen hatten;
statt dessen habt ihr uns in diese Wüste geführt,
um die ganze Versammlung Israels zu töten.
Der NAME sagte zu Mosche:
„Da, ich werde euch Brot vom Himmel regnen lassen …“

Wenn seine Zuhörer den Messias nicht annehmen, verschmähen sie das, was sie am Leben hält, das „Brot vom Himmel“. …

Das Manna steht für die „fünf Brote“ aus 6,9. Es geht um Mosche, um die Tora – daher „fünf“; „Mosche“ kann heute nicht länger die Antwort sein. So wie die fünf Brote die Menge nur vorübergehend sättigen kann, wie das Manna das Volk damals vorübergehend gesättigt hat, so ernährt die Tora Israel heute unter den herrschenden, römischen Zuständen nicht länger. Genau diese Auffassung lehnte das rabbinische Judentum und lehnt das Judentum heute vehement ab. Unter den gegebenen Umständen ist Tora unwirklich, meint Johannes, meint auch Paulus. Unter denen, die diese messianische Auffassung vehement ablehnen, ist auch der Messianist Matthäus! Es ist nicht unsere Aufgabe, eine Vorliebe für Johannes oder für Matthäus auszusprechen. Wir müssen Johannes deuten.

Wirklich ist nach Johannes nur „das Brot, das vom Himmel herabsteigt und der Welt [den Menschen in ihrem Lebensraum] Leben gibt“, will heißen: der Welt eine Ordnung ermöglicht, durch die Menschen wirklich leben können. Die Menschen wissen, wovon Jeschua redet: Es geht um eine neue, Leben ermöglichende Ordnung; dieses Brot wollen die Menschen, denn sie leiden unter der herrschenden Weltordnung. Es geht um Politik, und die Menschen wissen es. Es geht buchstäblich um das definitive Brot, um die neue, definitive (pantote, für immer) Weltordnung des Messias Israels, um die definitive Lösung definitiver Probleme. Das wollen die Leute.

Natürlich kann man fragen, ob Veerkamp in mancher Hinsicht zu weitreichende Spekulationen anstellt. Dazu müsste man seine Auslegung insgesamt prüfen, was meines Wissen bisher noch niemand im akademischen Raum unternommen hat. Dass aber überhaupt nicht in dieser Richtung gefragt wird, halte ich für ein unverzeihliches Defizit in einer Zeit, in der die christliche Theologie endlich dabei ist, ihren Anti-Judaismus zu überwinden.

5.6 Johannes bezieht sich auf die Weisheit und bleibt dabei doch zurückhaltend

Weiterhin (242) betrachten Sie wissenschaftliche Ansätze, „die Johannes 6 auf dem Hintergrund von Weisheitstraditionen lesen“, wobei Sie insbesondere auf Angelika Strotmann <50> eingehen, die „eine Lektüre von Johannes 6 vorgeschlagen hat, die mit Sophia-Traditionen in den Sprüchen und in der Weisheit Sirachs übereinstimmt” (243):

In allen drei Traditionen sind Sophia/Weisheit und Jesus diejenigen, die ihrem Publikum auf direkte Weise Nahrung anbieten. Der Übergang von Brot zu Fleisch in Johannes 6,51-58 erinnert an den umgekehrten Übergang in Sprüche 9. Hier bereitet Sophia Fleisch für ihre Besucher zu (Sprüche 9,2), lädt aber anschließend ihre Gäste zum Brot ein (Sprüche 9,5). Sowohl im Kontext der Sprüche als auch bei Johannes führt der Verzehr zum ewigen Leben.

Sirach 24,21 bietet eine noch auffälligere Parallele zu Johannes 6. In beiden Texten treten Sophia bzw. Jesus nicht nur als Geber von Nahrung auf, sondern bieten sich anschließend auch selbst als Speise und Trank an (hoi esthiontes me eti peinasousin, kai hoi pinontes me eti dipsēsousin, Sirach 24,21; vgl. Johannes 6,35). Der Übergang von der Bereitstellung von Nahrung zur Selbsthingabe als Nahrung ist also keine johanneische Erfindung. Sophia und Jesus handeln nicht aus eigenem Willen, sondern sind beide von Gott gesandt worden. Während Jesus vom Vater gesandt ist, ist Sophia aus Gottes eigenem Mund hervorgegangen (Sirach 24,3) und hat auf dem Zion Wohnung genommen. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen Sophia und dem johanneischen Jesus besteht darin, dass beide ihre Person durch die Wiederholung von „egō“ in ihren Reden betonen (Sirach 24,3.4.16.17; Johannes 6,35.41.48.51).

Aufgrund dieser Parallelen argumentiert Strotmann, dass es eine direkte Linie von der Weisheit der Gastgeberin in den Sprüchen und von Sirachs Weisheit zur Gestalt Jesu in Johannes 6 gibt. [131-156]

Sie weisen allerdings auch auf einen erheblichen Unterschied zwischen den Weisheitstraditionen und Johannes hin (244):

Während Johannes 6,35 die einmalige Befriedigung des Hungers betont, drückt Sirach 24,23 es ganz anders aus: Weisheit wird mit der Tora identifiziert, und das Essen und Trinken der Weisheit wird in der Tat einen unstillbaren Durst und Hunger nach dieser Nahrung erzeugen (Sirach 24,23).

Was dieser Unterschied für eine jüdisch-messianische Johannes-Auslegung bedeuten kann, geht aus der eben zitierten Passage von Ton Veerkamp hervor.

Nicht übersehen werden darf die Zurückhaltung des Johannesevangeliums gegenüber weisheitlichen Traditionen Israels, die sich darin ausdrückt, dass der Begriff sophia im gesamten Text vollständig fehlt, und zwar sogar im Prolog, der sich inhaltlich durchaus auf weisheitliche Traditionen bezieht. Dort wird Jesus nicht als die göttliche sophia, sondern als der logos identifiziert, und sicher nicht nur deswegen, weil Jesus ein Mann war, denn gerade Johannes äußert sich ansonsten ausschließlich wertschätzend über Frauen.

Wahrscheinlicher ist in meinen Augen, dass Johannes nach der Katastrophe des Judäischen Krieges und im Angesicht der immer noch erstarkenden Römischen Weltordnung nicht der Sinn nach einem weisheitlichen Lobpreis der Schöpfung oder gar des kosmos steht. Vielmehr greift er auf den befreienden logos der Exodusgeschichten zurück, die göttlichen Worttaten oder Tatworte, devarim, die damals Israel aus dem Sklavenhaus Ägyptens geführt haben und zur Zeit des Johannes die Überwindung des weltweiten Sklavenhauses der Römischen Weltordnung in Aussicht stellen.

5.7 Bekommt nur einer bei Johannes Abendmahlsbrot – der Verräter Judas?

Zurück zur Frage, ob sich Johannes auf Abendmahlstraditionen bezieht. In Ihren Ausführungen (235) über den Exegeten James D.G. Dunn <51> finde ich eine Reihe zutreffender Annahmen: Erstens, dass sich Johannes gegen ein doketisches Verständnis von Jesus wendet, also dagegen, dass manche ihn eigentlich nur als Gott in menschlicher Verkleidung, nicht als wirklichen Menschen betrachten. Zweitens, dass für Johannes bei der Vereinigung der Glaubenden mit Jesus der Geist wichtiger ist als ein Abendmahlsritual, wie bereits oben ausgeführt. Drittens weist er darauf hin,

dass der Grund für das Schweigen des Johannes über die Einsetzung des Abendmahls nicht in einer disciplina arcanorum liegt. <52> Er verortet den Grund für das Schweigen in der Absicht des Johannes, die Bedeutung der rituellen Handlung zu kritisieren.

Unter einer disciplina arcanorum wäre zu verstehen, dass nur Eingeweihten die besonderen Rituale einer geschlossenen religiösen Gruppe bekannt gemacht werden dürfen. Das würde voraussetzen, dass das Johannesevangelium das Dokument einer elitären Mysterienreligion wäre. Allerdings widerspricht der Annahme einer elitär verstandenen Religion schon die Tatsache, dass Johannes mit Kritik gerade an den Männern im engsten Jüngerkreis Jesu nicht spart, während er der Volksmenge, dem ochlos, teilweise durchaus Sympathien entgegenbringt. Wie Dunn würde also auch ich sagen, dass Johannes deswegen über die Einsetzung eines Abendmahlsrituals schweigt, weil er ihm kritisch gegenübersteht.

Außerordentlich spannend finde ich einen weiteren Gedankengang, mit dem Dunn diese Einschätzung zusätzlich begründet:

Dunn untermauert sein Argument, indem er darauf hinweist, dass die einzige Handhabung der Elemente während des letzten Mahls Jesu mit den Jüngern dazu führt, dass Satan in Judas eindringt. Es ist der Geist, der Leben schenkt. Man erlangt das Leben nicht durch eucharistische Elemente, die nichts Gutes bewirken, sondern durch die Worte Jesu. [337]

An späterer Stelle (246) gehen Sie selbst auf diese Szene ausführlich ein:

Jesus fordert Judas auf, schnell zu tun, was er zu tun hat. Die anderen Jünger verstehen nicht, oder besser gesagt, missverstehen, was das bedeutet. Die symbolische Speisung muss stattfinden, um die Schrift zu erfüllen (Johannes 13,18, mit einem Zitat aus Ps 40,40: kai gar ho anthrōpos tēs eirēnēs mou eph’ hon ēlpisa ho esthiōn artous mou emegalunen ep’ eme pternismon; man beachte jedoch den Wechsel vom LXX esthiein zum johanneischen trōgein in diesem Zitat).

Nachdem er den Bissen genommen hat, verlässt Judas den Ort und geht in die Nacht.

In den Augen von Jeffery Horace Hodges, <53> dessen Argumentation Sie in Anm. 445 ausführlich darstellen, ist es tatsächlich so (246f.),

dass „Jesus, indem er das psōmion eintaucht und es Judas reicht, – in der Auslegung des Evangelisten – die Eucharistie anbietet“. [574] Hodges weist ferner darauf hin, dass selbst mit dem Wort trōgōn allein (Johannes 13,18, Parallele zu 6,51c-59) die Gewissheit einer eucharistischen Anspielung geltend gemacht werden kann. Die Konsequenzen, die Judas erleidet, entsprechen genau dem, was zu erwarten ist, wenn jemand das Abendmahl in unwürdiger Weise zu sich nimmt. [572-74]

In meinen Augen wäre damit belegt, dass Johannes die Abendmahlstraditionen anderer messianischer Gemeinden durchaus kennt, aber sie bewusst für seine eigene Gruppierung ablehnt oder zumindest äußerst skeptisch betrachtet. Wie soll man es anders als eine ironische Verwendung ritueller Formeln betrachten, wenn Jesus ausschließlich dem Verräter das Abendmahlsbrot reicht? Dass ritueller Abendmahlsgenuss nicht davor schützt, zum Feind überzulaufen, wissen auch die anderen Evangelisten; bei Johannes scheint das Abendmahl geradezu die Verschmelzung mit dem satanas, dem römischen Widersacher, auszulösen, es wird zu einer Kommunion mit dem leibhaftigen – allerdings durchaus diesseitigen, politischen – Teufel.

5.8 Die Fußwaschung als Ritual der Reinheit, das regelmäßig zu wiederholen ist?

Ausführlich begründen Sie nun (247-51), dass der johanneische Jesus an der Stelle, an der in den synoptischen Evangelien die Einsetzung des Abendmahls erfolgt, ein anderes Ritual einsetzt, nämlich die Fußwaschung (251):

Die Tatsache, dass die johanneische Fußwaschung genau an der Stelle des Mahls zu finden ist, an der Lukas die Einsetzung einordnet, weist darauf hin, dass die johanneische Fußwaschung sehr wahrscheinlich die lukanische Eucharistie ersetzt.

Wieder ist allerdings die Frage: Hat Johannes tatsächlich ein Fußwaschungsritual im Sinn, das – wie in anderen Gemeinden das Abendmahl – regelmäßig wiederholt werden soll? Sie begründen das unter anderem damit (252), dass der

johanneische Jesus seinen Jüngern befiehlt, seinem Beispiel zu folgen und das fortzusetzen, was er ihnen gezeigt und an ihnen getan hat (Johannes 13,14-17). Dies erinnert an die paulinische Vorstellung, dass sie (nämlich die Jünger, die Jesus wohl ansprach) die Handlung ausführen sollen, zu seinem Gedächtnis (zweimal in 1. Korinther 11,24-25). In beiden Fällen handelt es sich also um eine Handlung, die vorgeführt wird und die die Jünger in Zukunft zu wiederholen angehalten sind.

Vor allem stützen Sie Ihre Argumentation darauf, dass die Fußwaschung in Johannes 13 während der Mahlzeit stattfindet und nicht (256) „nur als eine gastfreundliche Handlung, um Staub und Schmutz zu entfernen, denn es hätte keinen Sinn, dies zu tun, nachdem sich alle niedergelassen haben.“

Auf die Frage (257) „Warum ersetzt Johannes dann das Abendmahl durch die Fußwaschung?“ antworten Sie allerdings zunächst:

Eine mögliche Antwort ist, dass das Abendmahl bereits im Bericht über die Speisung der Volksmenge sowie in der Rede vom Brot des Lebens in Johannes 6 ihren Platz hat, nicht ausdrücklich, sondern durch Anspielungen.

Das heißt doch wohl, Sie nehmen an, dass in der johanneischen Gemeinde das Abendmahl durchaus neben der Fußwaschung als Ritual praktiziert wird.

Zum Zweck des Rituals der Fußwaschung schreiben Sie zunächst sehr knapp (258):

Die Fußwaschung in Johannes 13 ist notwendig, damit die Jünger an Jesus teilhaben können. Nur die, denen er die Füße wäscht, sind wahrhaft und vollkommen rein (katharos holos, Johannes 13,10).

Später (269) führen Sie diesen Gedanken im Fazit zu diesem Kapitel genauer aus:

Die Fußwaschung bereitet die Jünger auf einen Zustand vor, der später kommt. Sie ist ein Akt der Liebe und macht den Gewaschenen rein. Jesus setzt seinen Akt der Liebe in Beziehung zu seinem Verrat; es gibt einen unter den Jüngern, der nicht rein ist. Der physische Akt der Fußwaschung ist notwendig, um zu Jesus zu gehören, und die gegenseitige Fußwaschung, wie sie Jesus seinen Jüngern im Rahmen einer Mahlszene vorführt, macht die Gewaschenen rein. Eine solche Reinheit ist erforderlich, um wirklich zu Jesus zu gehören.

Aber kann es tatsächlich sein, dass ein Evangelist, der das Thema der Reinheit so selten anspricht wie Johannes, worauf Sie in Anm. 465 selbst ausdrücklich hinweisen (vgl. auch meinen Abschnitt 4.3), einen derart großen Wert auf eine durch ein besonderes Ritual gespendete Reinheit legt? Zumindest geht aus 15,3 deutlich hervor, dass kein ständig zu wiederholendes Ritual notwendig ist, um die Reinheit der Schüler Jesus herzustellen, denn:

Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.

Daher melde ich auch Zweifel an Ihrer folgenden Argumentation an (258f.):

Die Notwendigkeit der physischen Handlung, um einen gewünschten geistigen Zustand zu erreichen, ist aus Johannes 6 bekannt. Dort betont Jesus, dass es notwendig ist, sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken, um ewiges Leben zu haben. Später bestimmt er jedoch, dass nichts anderes als das Wort wirksam ist (logos, 6,63). Die Interpretation der Teilhabe am Leib Jesu bleibt im Gegensatz zur Notwendigkeit der Fußwaschung irgendwie ambivalent. Was die Fußwaschung betrifft, so führt Jesus sie selbst vor und setzt sie dann für die Jünger ein. Er hat ihnen ein Beispiel gegeben, damit sie tun, was er getan hat (13,15). Die Fußwaschung, die an der Stelle vollzogen wird, an dem man das Abendmahl erwarten würde, wird als unverzichtbar definiert.

Gerade die Parallele zwischen der provokativen Forderung des johanneischen Jesus, sein Fleisch zu kauen und sein Blut zu trinken, und der strikten Anweisung an Petrus, sich die Füße waschen zu lassen, nährt meine Zweifel, dass es Johannes im Fall der Fußwaschung um die Einsetzung eines unabdingbar zu wiederholenden Rituals ging.

Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass ich Ihre Einschätzung nicht teile, es gehe bei all diesen Metaphern darum, „einen erwünschten spirituellen Zustand zu erreichen“. Auf den Messias Jesus zu vertrauen, bei ihm zu bleiben und ihm nachzufolgen, zielt für den jüdischen Messianisten Johannes nicht darauf ab, die eigene Seele rein zu halten und in ein ewiges Leben im jenseitigen Himmel zu retten. Vielmehr identifiziert sich der, der das Fleisch des Messias kaut und sein Blut trinkt, vollständig mit dem Weg des Messias, der am römischen Kreuz geschlachtet wird. Gleichermaßen ist zu fragen, welches konkrete Ziel die vom johanneischen Jesus praktizierte Fußwaschung verfolgt.

5.9 Die Fußwaschung als „Sakrament“ einer Lebenshaltung der Solidarität

In Ihrer Betrachtung (255) der von John Christopher Thomas <54> untersuchten Quellen zur Fußwaschung „in der griechisch-römischen Welt im Allgemeinen“ fällt mir ein Umstand auf, der diese Frage in meinen Augen eindeutig beantwortet:

Generell gibt es in der griechisch-römischen Welt zahlreiche Hinweise auf rituelle Waschungen. Die Fußwaschung im Besonderen kommt jedoch eher selten vor. Die meisten dieser Quellen finden sich im Zusammenhang mit einer Mahlzeit oder einem Bankett, das in jedem dieser Fälle vorausgeht. Die Fußwaschung wird in der Regel von einem Sklaven vorgenommen, und so wird die Fußwaschung als Synonym für Sklaverei verwendet.

Genau das ist nach Ton Veerkamp die Bedeutung des Zeichens der Fußwaschung – dass der Messias als Herr sich zum Sklaven macht und dass seiner Schüler nach diesem Beispiel handeln sollen – darin besteht die Erfüllung des Gebots der agapē. Insofern bin ich skeptisch, ob Johannes tatsächlich die Fußwaschung als regelmäßig zu wiederholendes Ritual eingesetzt wissen wollte. Sein Ziel war sicherlich, mit der Fußwaschung durch Jesus ein klareres Zeichen als das Abendmahl für die von Jesus geforderte Solidarität zu setzen, die jedes Herrschen-Wollen über andere ausschließt.

Wegweisend finde ich die Einschätzung Ton Veerkamps <55> zur johanneischen Skepsis gegenüber jeglicher ritueller Praxis:

Wie Johannes nicht ausdrücklich gegen die Taufpraxis der messianischen Gruppen polemisiert, so polemisiert er nicht offen gegen die Praxis, durch Brot und Wein des Messias zu gedenken „bis er kommt“. Aber er kommt ohne sie aus. Wir können höchstens vermuten, dass Johannes die Gefahr spürt, aus dieser Praxis könne religiöser Hokuspokus entstehen. Wenn „Sakrament“, dann bei ihm höchstens die Fußwaschung – das Sakrament der Solidarität.

Damit konnten und können die Kirchen nicht viel anfangen, weil die klerikale Sakramentenverwaltung, mit der die Reformation mitnichten aufgeräumt, sondern die sie durch eine Verwaltungsreform bestätigt hatte, Existenzberechtigung aller kirchlichen Ordnungen bleibt und nicht, wie das synoptische Abendmahl, Zeichen eines befreiten, messianischen Lebens ist. Der Vatikan hatte nach dem zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1966) dem Ritual der Fußwaschung eine gewisse gesamtkirchliche Weihe verliehen; das Ganze ist aber nicht mehr als religiöse Folklore, wie das Abendmahl eine Art religiöse Magie war – und ist. <56> Die Rede vom „Brot des Lebens“ ist die Rede von einer unbedingten messianischen Disziplin und nicht von einer rituellen Handlung.

Was manche Autoren, die Sie erwähnen, im Blick auf (265) „eine eucharistische Bedeutung“ der Begegnung Jesu mit seinen Jüngern in 20,19-29 und in Kapitel 21 geschrieben haben, finde ich eher im Blick auf das von Veerkamp angedeutete „Sakrament der Solidarität“ weiterführend als im Blick auf das Abendmahl.

Zu 20,19-29 vertritt John Suggit <57> die Auffassung [53-54] „dass der Aspekt der verschlossenen Türen auf das Abendmahl und seine Exklusivität für die Gläubigen hinweist“. Er lässt dabei aber außer Acht, dass die Türen aus Angst vor den Judäern verschlossen sind und dass Jesus seine Schüler ausdrücklich aussendet. Sein Hinweis [55] „dass der Befehl, den Heiligen Geist zu empfangen (labete, 20,22) auf die Einsetzungsworte anspielt“, ist allerdings interessant, weil nach Ton Veerkamp <58> in diesem Empfang des Geistes (er spricht von „Inspiration“) tatsächlich Entscheidendes geschieht. Hier soll nämlich die Inspiration, pneuma, hebräisch ruach, die Jesus am Kreuz (19,30) übergibt, paredōken, von den Schülern empfangen werden.

Da Johannes 21 sich in manchem auf Johannes 6 bezieht, können hier wie dort Anspielungen auf das Abendmahl entdeckt werden. Doch auch hier legt Johannes keinen Wert auf ein nach vorgegebenen Regeln durchgeführtes Brot- und Wein-Ritual.

Wenn man genau hinschaut, ist in 21,18 eine Anspielung auf die Fußwaschung zu erkennen, aber nicht zum Zweck ihrer Institutionalisierung als Ritual der Gemeinde, sondern um herauszustellen, dass dieses Beispiel Jesu nach dem Willen Jesu prägend sein soll für die Lebenspraxis dessen, dem die Leitung der Gemeinde anvertraut ist. Hier ist nämlich davon die Rede, dass Petrus als Anführer und Vorbild der Gemeinde sich nicht mehr selbst gürtet zum Kampf für den Messias mit dem Schwert in der Hand, wie er es bei der Gefangennahme Jesu getan hat (18,10); dieser Einsatz ist ja damit zu Ende gegangen, dass er Jesus aus Selbstschutz verleugnen muss (18,18.25.27). „Ein anderer wird dich gürten“, sagt Jesus (21,18). <59> Von Jesus selbst lässt Petrus sich mit dem Dienst der solidarischen agapē beauftragen, so wie Jesus sich gürtet, als er seinen Jüngern wie ein Sklave die Füße wäscht (13,1-17). Für diesen Zusammenhang spricht vor allem, dass Worte von der Wurzel diazōnnymi bzw. zōnnyō bei Johannes ausschließlich in der Szene von der Fußwaschung (13,4.5) und im Schlusskapitel 21 auftauchen (21,7.18).

In Ihrer Zusammenfassung des Kapitels 5 (269) lassen Sie es abschließend offen, „ob die johanneische Gemeinde tatsächlich ein Abendmahl feierte, also ein Ritual mit Wein und Brot, und ob sie dieses Ritual durch die Durchführung einer Fußwaschung ersetzte“. Falls das der Fall wäre, stellen Sie nochmals heraus, dass dann die

Fußwaschung für die Beziehung der Jünger untereinander von besonderer Bedeutung gewesen wäre und eine verbindende Erfahrung zwischen den Mitgliedern der Gruppe geschaffen hätte. Zusätzlich zu dieser horizontalen Beziehung hätte sie immer auch an Jesus erinnert, der den Ritus einführte. Wenn sich die johanneischen Mahlerzählungen und die Essgewohnheiten der johanneischen Gemeinschaft gegenseitig beeinflusst haben, könnte der Umgang mit dem „Abendmahl“ eine ganz eigene Form angenommen haben.

Möglich ist das sicherlich. Aber ganz gleich, welche Formen solcher Rituale in einer johanneischen Gemeinde im Laufe der Zeit üblich wurden oder blieben, die Absicht des Johannes war es meiner Ansicht nach nicht, regelmäßige Rituale zu institutionalisieren, sondern eine dauerhafte Praxis der Solidarität in der getreuen Nachfolge des Messias Jesus in Gang zu setzen.

6. Was hat Jesus mit Demeter und Dionysos zu tun?

Im Zusammenhang mit der Hochzeit zu Kana war schon kurz davon die Rede gewesen, ob das dort von Jesus vollbrachte Weinwunder etwas mit dem griechischen Mysterienkult des Gottes Dionysos zu tun hat. In Ihrem Kapitel 6 (270) beschäftigen Sie sich nun sehr ausführlich mit

der Frage nach den Bedeutungen, die ein Publikum des ersten oder zweiten Jahrhunderts, das Johannes 6 hörte oder las, mit der Welt der Mysterien assoziiert haben könnte. Diese Frage bildet den Kern der vorliegenden Untersuchung.

Interessant finde ich, dass Sie nicht nach den Absichten des oder der ursprünglichen Autoren des Johannesevangeliums fragen, sondern nur nach der Art, wie ein frühes Publikum seine Aussagen aufgenommen haben mag. Ist für Sie der Unterschied nicht relevant oder meinen Sie, über Zielsetzungen beim Verfassen des Evangeliums nichts Genaues herausfinden zu können?

6.1 Gab es Einflüsse mediterraner Mysterienkulte auf das Johannesevangelium?

Sie stellen Ihre Frage unter folgenden Voraussetzungen (270):

Die johanneische Gemeinschaft, die irgendwo im Mittelmeerraum lebte, wurde sowohl von ihren jüdischen Wurzeln als auch von dem jüngeren und überaus prägenden Glauben an Christus beeinflusst und bestimmt. Es ist jedoch wichtig, sich den äußerst vielschichtigen Kontext vor Augen zu halten, aus dem das Evangelium hervorging und in dem die johanneische Gemeinde lebte. Hybridität war ein Merkmal, das alle Mittelmeerländer in der Antike gemeinsam hatten. Diese Tatsache deutet darauf hin, dass die Berichte des Evangeliums und die Lektüre dieser Berichte durch die johanneische Gemeinschaft von nicht-jüdischen, nicht-christlichen Traditionen beeinflusst worden sein könnten.

Da in „der griechisch-römischen Welt der Antike viele Menschen an unterschiedlichen Mysterienkulten teilnahmen“, ist es sicher nicht abwegig, anzunehmen, dass auch sowohl Autor wie Publikum des Johannesevangeliums „mit den Hauptgedanken der verschiedenen Mysterienkulte vertraut waren“. Allerdings muss das keineswegs bedeuten, dass sie diesen positiv gegenüberstanden. Wenn die für alle Mysterienkulte gemeinsamen Charakteristika (271) „Geheimhaltung, ein Initiationsritual, durch das die Eingeweihten Mitglieder wurden und sich einer bestimmten Gruppe zugehörig fühlten, einen Gegensatz zur Religion der Polis, eine individuelle Entscheidung zum Beitritt, die durch persönlichen Gewinn motiviert war, und die Notwendigkeit von Propaganda“ umfassen, dann ist genau zu prüfen, ob der Umkehrschluss zulässig ist, eine johanneische Gemeinde mit sektiererischem Auftreten und öffentlicher Propaganda im Gegensatz zu den staatlichen Göttern in die Nähe der Mysterienkulte zu rücken. Dagegen würde in meinen Augen schon die Definition von Walter Burkert <60> sprechen:

„Mysterien sind eine Form der persönlichen Religion, die von einer privaten Entscheidung abhängt und auf eine Form der Erlösung durch die Nähe zum Göttlichen abzielt.“

Genau eine solche private Religion dürfte keineswegs in der Absicht eines Johannes liegen, der als jüdischer Messianist die Überwindung der Römischen Weltordnung und die Sammlung und Befreiung ganz Israels durch den Messias Jesus proklamiert.

Von vornherein möchte ich auch klarstellen, dass Hans-Josef Klaucks Studie, <61> die das paulinische Herrenmahl in den Kontext der hellenistischen Religionsgeschichte stellt, insofern nicht unwidersprochen geblieben ist, dass keineswegs auf der Hand liegt, Paulus habe auf heidnische Quellen zurückgegriffen, um Jesu göttliche Verehrung zu begründen. So schreibt Larry W. Hurtado <62> zum Herrenmahl bei Paulus:

Das Herrenmahl ist hier eindeutig das christliche Kultmahl, bei dem der Herr Jesus eine Rolle spielt, die ausdrücklich mit derjenigen der Gottheiten der heidnischen Kulte und, was noch erstaunlicher ist, mit der Rolle Gottes verglichen wird!

Aber zugleich besteht Hurtado zu Recht auf einem entscheidenden Unterschied der paulinischen Sicht Jesu im Vergleich zu hellenistischen Göttern:

Doch Paulus‘ ausdrückliche Verachtung für den Polytheismus des römischen religiösen Umfelds und seine Verwendung biblischer Analogien und Kategorien bei der Erläuterung der Bedeutung des Herrenmahls machen zusammengenommen deutlich, dass die überhöhte Thematisierung Jesu, die sich im Mahl widerspiegelt, nicht als Abkehr von der monotheistischen Tradition der jüdischen Gottesverehrung gedacht war. Dass Paulus in 1. Korinther 11,23-26 auf frühe Tradition zurückgreift, zeigt zudem, dass die kultische Bedeutung Jesu im Mahl keine paulinische Neuerung war, sondern aus früheren christlichen Kreisen stammte.

Wenn das sogar für Paulus gilt, dem als Verfechter der Gemeinschaft von Juden und Hellenen in dem einen Leib des Messias Jesus keine Berührungsängste gegenüber der Völkerwelt nachzusagen sind, ist nicht anzunehmen, dass Johannes, in dessen Evangelium keine Heidenmission proklamiert wird, sondern lediglich in 12,20 Hellenes tines, „einige Griechen“, Jesus sehen wollen, von denen nicht einmal klar ist, ob Jesus sie als Schüler aufnimmt, weniger Skrupel gehabt haben sollte, sich positiv auf die Vorstellungswelt der hellenistischen Göttinnen und Götter zu beziehen.

6.2 Spielen Gerstenbrote auf die Göttin Demeter oder auf den Propheten Elisa an?

Zeichnung der Göttin Demeter, auf einem Thron sitzend, mit Gerstenbüschel unter dem Arm
Die griechische Göttin Demeter als Erntegöttin (Bild: Dimitris VetsikasPixabay)

Sie vergleichen zunächst (273) „das Johannesevangelium und den Demetermythos nach den homerischen und orphischen Hymnen an Demeter“ und finden „eine Reihe von Parallelen“: <63>

Im gesamten homerischen Hymnus an Demeter wird die Göttin als Spenderin von Nahrung und Leben gepriesen. Es liegt in Demeters Willen, die Erde sprießen und fruchtbar sein zu lassen oder sie zu veranlassen, nichts zu produzieren und die Menschen hungern zu lassen. Auch in der orphischen Hymne an Demeter wird Demeter ganz explizit als Spenderin von Nahrung angesprochen.

Diesen Fähigkeiten der Göttin Demeter stellen Sie Jesu Wirken gemäß Johannes 6 gegenüber (274):

Die Speisung der Volksmengen durch Jesus und die anderen johanneischen Speisungswunder sind Parallelen zu dieser göttlichen Macht. Die Nahrung, die in Johannes 6 vermehrt wird, ist an sich schon eine Anspielung auf den Demeter-Kult. Johannes weist wiederholt darauf hin, dass es sich bei dem Brot, das bei der Speisung der Fünftausend vervielfältigt wird, um Gerstenbrot (artous krithinous, 6,9.13) handelt. Das ist bemerkenswert, denn in allen synoptischen Berichten über die Speisung der Menschenmenge wird das Brot einfach als Brot bezeichnet und nicht weiter definiert.

Hier frage ich mich, wie Sie als christliche Theologin, die doch auch die Traditionen der jüdischen Heiligen Schrift kennen müsste, das Wirken der heidnischen Göttin Demeter und des jüdischen Messias und Sohnes des Gottes Israels kurzerhand gleichsetzen können, ohne wenigstens zu erwägen, ob dem nicht der unüberbrückbare Gegensatz zwischen altorientalischen Fruchtbarkeitsgöttern wie Baal und Aschera und dem Gott Israels grundsätzlich entgegensteht. Natürlich wussten auch Juden, dass heidnische Götter für ihre Bereitstellung von Potenz, Fruchtbarkeit und Nahrung gepriesen wurden. Aber kein gottesfürchtiger Jude hätte einem Gott Baal oder einer Göttin Demeter sein Vertrauen geschenkt, auch kein messianischer Jude, der in Jesus den Sohn des Gottes Israels sieht. Der entscheidende Unterschied dürfte darin liegen, dass es Johannes um die Ernährung des hungernden Volkes Israel geht, ja, um die grundlegende Überwindung der Ausbeutung Israels durch die herrschende Weltordnung. Es geht ihm nicht um Fruchtbarkeit als allgemein-menschliches Problem.

Weiterhin stimmt es zwar, dass Johannes im Gegensatz zu den Synoptikern Gerstenbrote erwähnt. Aber Ihnen entgeht offenbar völlig, dass Johannes diese einer ihm viel naheliegenderen Quelle entnehmen konnte, nämlich 2. Könige 4,42, wo eine Geschichte der Ernährung Israels während einer Hungersnot erzählt wird, die der Prophet Elisa vollzieht.

Heidenchristen mögen bei Gerstenbrot auch an die Göttin Demeter gedacht haben, aber ein jüdischer Messianist wie Johannes hätte keinesfalls eine heidnische Göttin an Stelle des Gottes Israels als Versorgerin mit Brot in Erwägung gezogen. Wenn das doch wider alle Vernunft der Fall sein sollte, müsste man dann nicht das Johannesevangelium als heidnisches Machwerk aus dem biblischen Kanon entfernen? Tatsächlich wäre es einem solchen heidnisch inspirierten „Evangelium“ auch von Anfang an zuzutrauen, die Ausstoßung der Juden aus dem Bund mit ihrem Gott zu betreiben, um sich in der jüdischen Tradition wie in einem Selbstbedienungsladen alle Traditionen anzueignen, die heidnischen „Christen“ in den Kram passten. <64>

Abgesehen davon ist es die Frage, ob man Gerstenbrote, die Jesus segnet und wunderbar für die Ernährung Israels bereitstellt, mit einem Gerstentrank vergleichen kann, den die Göttin Demeter selber zu sich nimmt und der in ihrem Kult eine rituelle Rolle spielt. Wenn dem so wäre, sollte man anfangen, das Abendmahl mit Bier zu feiern? Im Johannesevangelium kommt jedenfalls nirgends auch nur andeutungsweise ein Gerstentrank als rituelles Getränk vor.

Erst ein heidenchristliches Publikum des Johannesevangeliums, das sich des Bezugs auf Elisa nicht mehr bewusst war, mag vielleicht die Gerstenbrote auf die Göttin Demeter bezogen haben. Das könnte zur Erklärung beitragen, warum das ursprünglich jüdisch-messianisch geprägte Johannesevangelium innerhalb recht kurzer Zeit heidnisch uminterpretiert werden konnte.

6.3 Der Kampf zwischen Licht und Finsternis – heidnisch oder biblisch verstanden?

Eine weitere Parallele zwischen dem johanneischen Jesus und Demeter sehen Sie (275) gemäß „dem homerischen Hymnus an Demeter“ darin, (276)

dass die Initiation in den Demeter-Kult unerlässlich ist, um der Finsternis zu entkommen. Diejenigen, die nicht eingeweiht sind, bleiben in trostloser Finsternis (hypo zophō eurōenti, 482 <65>). Dies erinnert deutlich an die Sprache des Johannes, der häufig die binäre Opposition von Finsternis und Licht verwendet, erstere für die Ungläubigen, letztere für die Gläubigen. In Johannes 6,51-59 wird wiederholt von der Notwendigkeit gesprochen, das Fleisch Jesu zu essen und sein Blut zu trinken, um das ewige Leben zu erlangen. Der Glaube an Jesus ist unerlässlich, um Leben zu haben.

Und wieder gilt, dass die Verwendung ähnlicher Gegensatzpaare wie Licht und Finsternis oder scheinbar übereinstimmender Vorstellungen vom ewigen Leben nicht dasselbe meinen müssen. Ihnen scheint die Frage nicht in den Sinn zu kommen, ob Johannes nicht vielleicht doch eher biblische Vorstellungen als heidnische aufgreift.

Wo sich etwa Genesis 1,2 auf fremde Schöpfungsmythen bezieht, wird das, was diese als quasi-göttliche kosmische Macht der Finsternis bezeichnen, in Genesis 1,4-5 zur schlichten Nacht, die sich mit dem Licht des Tages abwechselt und zur Schöpfung Gottes gehört. Jeremia 4,23-26 dagegen kennt, wie Ton Veerkamp <66> in seiner Auslegung von Johannes 1,5 ausführt „eine von Menschen verursachte Finsternis“:

Hier wird der Zustand eines von Krieg verheerten Landes beschrieben mit dem Zustand einer Erde vor jedem schöpferischen Wort: Irr und wirr, kein Licht, keine Menschheit, keine Vögel, alles verwüstet, und zwar wegen der törichten Politik der Eliten Jerusalems, ihrer Verweigerung, das Reformwerk des guten Königs Josia zu bewahren und die Machtverhältnisse in der Region zu beachten. Das Ergebnis dieser Politik ist das Nichts und die Finsternis. Der Prophet kann das nur als Resultat der zornigen Reaktion des Gottes Israels verstehen. Wenn die Ordnung der Tora, die ja für Israel „Gott“ ist, durch die Politik seiner Eliten zerstört wird, reagiert diese Ordnung mit dem Zorn ihres Zerstörtseins. Es geht nicht um einen mythischen Urzustand, es geht um das, was die Menschen um Johannes damals und was wir heute täglich sehen: Finsternis, Chaos, Zerstörung des Lebens.

Was Jeremia beschreibt, ist genau der Zustand des Volkes von Judäa nach dem Jahr 70. Die Stadt ist verwüstet, die Bevölkerung massakriert, das Land unbewohnbar. Was not tut, ist ein vollkommener Neuanfang. Von der Katastrophe des Jahres 70 führt kein Weg mehr zurück, nichts wird mehr sein, was je war. Wegen des aktuellen Zustandes muss jemand, der wie Johannes das Jahr 70 als das Ende deutet, mit den Worten im Anfang beginnen. Das Werk des Messias ist eine neue Erde unter einem neuen Himmel, Leben und Licht. Die Finsternis hat nicht gewonnen: Das Verb, das hier auftaucht, katalambanein, „überwältigen“, hat in der griechischen Version der Schrift immer eine gewalttätige Konnotation. Gegen das Nichts und die Finsternis, die seit dem katastrophalen Ausgang des judäischen Krieges 66-70 herrschten, holt Johannes „Licht“ und „Leben“ hervor: die Finsternis hat Licht und Leben nicht überwältigt.

Was hier Finsternis heißt, verbindet Johannes in 3,19-20 konkret mit Taten, die böse sind, mit Machenschaften gesellschaftlicher Gruppen, die das Licht scheuen. Letzten Endes ist „Licht“ für Johannes ein politischer Begriff. Er bezeichnet die Aufklärung über die Finsternis dessen, was in der bedrückenden Weltordnung vor sich geht, und über Wege zu ihrer Überwindung. Der priesterlichen jüdischen Führung wirft er die Verstrickung in dunkle Geschäfte mit Rom vor, dem pharisäisch-rabbinischen Judentum die Blindheit gegenüber der Chance, die Weltordnung im Vertrauen auf den Messias zu überwinden.

Wenn diese Deutung zutrifft, hätten sich sowohl Johannes als auch sein ursprüngliches Publikum angewidert von der Unterstellung abgewendet, der messianische Kampf des Lichtes gegen die Finsternis könnte irgendetwas mit den Mysterien der Göttin Demeter gemeinsam haben.

Spätere Heidenchristen allerdings könnten der Auffassung gewesen sein, dass Jesus tatsächlich ganz allgemein die Finsternis des Todes durch das Licht des ewigen, jenseitigen Lebens überwindet – und darin im Wettstreit mit einer heidnischen Göttin Demeter dieser selbstverständlich himmelhoch überlegen ist. Eine solche Überlegenheit könnten diese Heidenchristen in folgendem Umstand bestätigt sehen (276):

Während der johanneische Jesus sich selbst mit dem Brot, der Speise, die von den Gläubigen verzehrt wird, gleichsetzt, fehlt die parallele Behauptung im Demeter-Kult. Das Kykeon [der Genuss des Gerstentranks] ahmt lediglich die Handlungen der Göttin nach und schafft so eine Verbindung zwischen ihr und den Gläubigen, aber die Göttin selbst wird nicht in dem Getränk materialisiert. Die johanneischen Gläubigen, die das Brot essen, das Jesus repräsentiert, nehmen also noch direkter Anteil als die Eingeweihten des Demeter-Kults.

6.4 Jesus als überlegener Sieger im Wettstreit mit dem griechischen Gott Dionysos?

Bild des griechischen Gottes Dionysos mit Weintrauben im Haar, einem Krug in der Hand und einem Knochen, den er offenbar abnagt
Der griechische Gott Dionysos (Bild von Gordon JohnsonPixabay)

Ausführlicher beschäftigen Sie sich mit (271) einem anderen antiken Gott:

Der Dionysos-Kult hatte keinen festen Standort und wurde während der hellenistischen Zeit im gesamten Mittelmeerraum praktiziert, insbesondere an den Grenzen der griechischen Welt, d. h. in Kleinasien.

Nach Peter Wick <67> (280) „kann die allgemeine Bedeutung und der Einfluss von Dionysos für die griechisch-römischen Welt nicht überschätzt werden.“ Ihm zufolge (279f.)

ist nicht nur der Bericht von Kana, sondern höchstwahrscheinlich das gesamte Johannesevangelium in einen subtextuellen Diskurs mit dionysischen Traditionen verwickelt. … Er behauptet, dass das gesamte Evangelium auf implizite Weise die Verehrung dieses Gottes bestreitet, indem es Jesus als den wahren Sohn Gottes darstellt, der Dionysos in jeder Hinsicht überlegen ist. Der Autor des Evangeliums ist Wick zufolge ein in der Schrift verwurzelter Jude, der aus einem hellenistischen Milieu heraus argumentiert und die Identität seiner Gemeinschaft stärken will.

Durch archäologische Beweisführung versuchte Wilfried Eisele <68> nicht nur nachzuweisen (280), dass „Johannes 2 auf dionysische Motive antwortet und Jesus als den siegreichen Rivalen des griechischen Weingottes darstellt“, sondern auch (281), dass

andere Motive der Kanaerzählung gut belegten Motiven der Dionysos-Tradition entsprechen. Dazu gehören neben dem Wein auch die Hochzeit, die Mutter und die Jünger. Die Hochzeit, mit Jesus als dem wahren Bräutigam, spielt auf Dionysos als Bräutigam an, sichtbar z.B. im Bild der Hochzeit des Dionysos mit Ariadne. <69> Die Mütter, d. h. Semele, sowie Nymphen, die für Dionysos mütterliche Aufgaben übernehmen, und die Mutter Jesu, spielen wichtige Rollen im Leben ihrer Söhne. Schließlich spielt der Abschied der Jünger von der weinseligen Hochzeitsgesellschaft auf die dionysischen Prozessionen an.

In Ihrer eigenen Studie (282) konzentrieren Sie sich darauf,

Johannes 6 mit besonderem Augenmerk auf die Verse 51-58 im Licht der dionysischen Traditionen zu lesen. In 6,51-58 fordert Jesus den Verzehr von Brot, Blut und Leib und bezieht diese drei Dinge auf sich selbst, indem er sagt: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben; und das Brot, das ich für das Leben der Welt geben werde, ist mein Fleisch“ (6,51). Dieser Gedanke wird in den folgenden Versen noch verstärkt. Die Zuhörer Jesu müssen nicht nur sein Fleisch essen, sondern auch sein Blut trinken (6,53).

Zunächst analysieren Sie das Vokabular dieses Abschnitts genauer. Wie bereits oben erwähnt, verwendet Johannes zum einen (283) an Stelle des im Zusammenhang mit dem Abendmahl üblicherweise verwendeten Wortes sōma, „Leib“, das Wort sarx, „Fleisch“, das normalerweise „das Gewebe, das die Knochen eines (menschlichen oder tierischen) Körpers bedeckt“, bezeichnet, und zum andern (282) das außergewöhnliche Verb trōgein für „essen“. Letzteres definieren Sie mit „fressen, schlingen oder kauen, schmatzend und mit Genuss essen“, und erwähnen (Anm. 536), dass es „hauptsächlich für pflanzenfressende Tiere im Sinne des deutschen Wortes ‚fressen‘ verwendet wird, aber auch für Menschen“. In Ihren Augen beabsichtigt Johannes mit beidem „eine bewusste Betonung der Realität des physischen Essens“, was bereits Rudolf Bultmann annahm. <70>

Wie soll man sich das aber vorstellen? Johannes kann doch nicht meinen, dass Jesus von denen, die an ihn glauben, tatsächlich gefordert hat, ihn wortwörtlich zu zerfleischen, sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken! Auf derartige Vorstellungen werden Sie später zurückkommen, aber natürlich gehen Sie nicht wirklich davon aus, die johanneische Gemeinde hätte solche abstoßenden Rituale durchgeführt. Vielmehr hatten Sie ja bereits oben das physische Kauen des Fleisches Jesu und das Trinken seines Blutes dann doch schlicht und einfach auf den Genuss des Abendmahls bezogen – ganz entgegen dem Befund, dass der johanneische Jesus ein solches Ritual überhaupt nicht einsetzt.

Für einen so harmlosen Vorgang einen dermaßen provokativen Begriff wie trōgein, „kauen, fressen“, zu benutzen, bleibt dann immer noch unerklärt. Viel besser passt die Deutung, die Ton Veerkamp vorschlägt und auf die ich in Abschnitt 5.3 bereits ausführlich eingegangen bin, dass Johannes mit diesen provokativen Worten zeigen will, worauf die Nachfolge eines Messias hinauslaufen kann, dessen fleischliche Existenz von den Römern auf brutale und blutige Weise geschunden und vernichtet wird. Die Anteilnahme an diesem Fleisch, dieser jüdisch-messianischen Existenz, die bisherigen messianischen Vorstellungen total entgegensteht, beschreibt der johanneische Jesus wie so oft in Worten, die zu Missverständnissen Anlass geben, denn jeder Jude müsste sie als einen unerhörten Verstoß gegen das Bluttabu der Tora begreifen.

Interessant ist, dass nicht seine Hauptgegner, die pharisäisch-rabbinischen Juden, ihm deswegen Vorwürfe machen. Vielmehr sind es (6,60.66) „viele seiner Schüler“, die sich auf Grund dieser „bösen Rede“ von ihm abwenden. Nach Ton Veerkamp <71> deutet das darauf hin, dass Johannes sich in der internen Schulung seiner eigenen Gruppe zu Äußerungen in einer sektiererischen Sprache hinreißen lässt, die ihren zahlenmäßigen Bestand mehr und mehr dezimiert.

Ich übergehe die von Ihnen (287) festgestellten Parallelen zwischen Dionysos als dem Gott des Weines und „Jesus als dem Versorger mit Wein bei der Hochzeit zu Kana in Johannes 2“, auf die ich bereits im Abschnitt 3.2 eingegangen bin.

6.5 Jesu Fleisch kauen entsprechend der Theophagie des Gottes Dionysos?

Herausfordernder finde ich Ihren Versuch (288), die Vorstellung des Gottes Dionysus als eines Stiers mit dem Johannesevangelium in Verbindung zu bringen:

Von besonderem Interesse bei der Untersuchung von Johannes 6,51-58 ist das Ritual des Verzehrs von Stierfleisch. Dies scheint ein weit verbreiteter Brauch in den dionysischen Mysterien sowie in anderen Mysterienkulten gewesen zu sein. <72> Ein Stier (oder manchmal auch andere Tiere) wurde in einem besonderen Ritual geopfert, das das Zerreißen des lebenden Tieres (Sparagmos) und anschließend ein Festmahl aus rohem Fleisch (Omophagie) beinhaltete.

Ich beschränke mich darauf, auf das Ergebnis dieser Untersuchung einzugehen (292):

Ob die Anhänger des Dionysos tatsächlich Omophagie betrieben oder ob es sich dabei eher um einen Mythos als um ein tatsächliches Ritual handelt, bleibt umstritten, und eine endgültige Entscheidung in dieser Frage ist für die vorliegende Studie nicht erforderlich. Es genügt, ist aber gleichzeitig wichtig, festzustellen, dass das rituelle Essen von rohem Fleisch in mehreren Quellen über einen langen Zeitraum in verschiedenen Gebieten der griechisch-römischen Welt auftaucht und dass daher sowohl der oder die Autoren als auch das ursprüngliche Publikum des Johannesevangeliums sehr wahrscheinlich mit dieser Idee vertraut sind.

Das impliziert Ihnen zufolge weiterhin (292), „dass der oder die Autoren des vierten Evangeliums ebenso wie sein ursprüngliches Publikum wahrscheinlich eine gewisse Vertrautheit mit den Vorstellungen von Sparagmos und Omophagie im Sinne von Theophagie besaßen”. Sie versuchen zu zeigen (293),

dass Dionysos nicht nur mit Wein/Trauben und dem Stier (sowie mit anderen Tieren) in Verbindung gebracht wird, sondern dass er mit ihnen identifiziert wird. Die Idee der Theophagie, in diesem Fall in Form von rohem Fleisch und Wein, der als Trankopfer gereicht wird, ist in der dionysischen Tradition eindeutig vorhanden. Dies gilt auch dann, wenn der Gott oder die ihn repräsentierenden Elemente nicht tatsächlich geopfert werden. Es ist schwer vorstellbar, dass die Teilnehmer, wenn sie den Stier töteten und sich das besondere Menü aus rohem Fleisch gönnten, nicht daran dachten, den Gott, den der Stier repräsentierte, zu töten und zu verzehren. <73>

Mit solchen Ritualen bringen Sie nun (294) „die besondere Formulierung in Johannes 6,51-58“ im Sinne einer „Jesuphagie“ in Verbindung:

Johannes 6, wo es heißt, dass wahre Anhänger Jesu sein Fleisch kauen und sein Blut trinken müssen, um das ewige Leben zu erlangen, könnte eine Anspielung auf die Idee der dionysischen Theophagie sein. Der johanneische Jesus ermahnt seine Zuhörer, sein Fleisch (sarx, nicht sōma) zu essen/zu kauen (trōgein, nicht esthiein/phagein) und sein Blut zu trinken. In der gleichen Rede setzt sich Jesus selbst mit Brot gleich, das seine Gläubigen essen sollen. Diejenigen, die an Jesus glauben, müssen ihn essen (6,57).

Allerdings stellen Sie sogleich fest, dass Jesus doch nicht buchstäblich den Verzehr von rohem Fleisch fordert; das Kauen seines Fleisches vollzieht sich vielmehr im Essen des Abendmahlsbrotes als Zeichen wahren Glaubens an Jesus:

Während man glaubt, dass die Anhänger des Dionysos tatsächlich rohes Fleisch verzehren, das den Gott repräsentiert, sei es in der Realität oder nur in der literarischen Darstellung, führt Johannes die Idee, das Göttliche auf Erden zu essen, auf eine abstraktere Ebene. In derselben Rede, in der er seine Zuhörer auffordert, ihn zu kauen und sein Blut zu trinken, setzt sich Jesus auch mit Brot gleich (ho artos de hon egō dōsō hē sarx mou estin, Johannes 6,51). Diejenigen, die das Brot kauen, essen Jesus, und das ist das Zeichen des wahren Glaubens an ihn.

Ihre Interpretation der Metaphern, die hier eine Rolle spielen, erscheint mir etwas verworren, aber vielleicht liegt es an mir, dass ich Ihnen nur schwer folgen kann:

Wahrscheinlich spielt die sehr anschauliche Sprache des Textes auf dionysische Praktiken und Vorstellungen von der Einverleibung eines Gottes (Theophagie) an. Theophagie ist ein kultisches Motiv, und als solches bezieht sie sich nicht auf den locum tenens der Gottheit, d. h. ein Tier, sondern auf den Gott selbst, der als anwesend vorausgesetzt wird. In Johannes 6,51-58 durchbricht jedoch die drastisch direkte Formulierung vom Kauen des Fleisches die Metapher. Die johanneische Essentialisierung untergräbt die metaphorische Sprache. Zugleich stellt die Verlagerung auf das Brot als Träger der Essenz eine neue Metaphorisierung dar.

Die bildhafte Sprache der Passage soll auf die dionysische Theophagie anspielen. Der Gott, in diesem Fall also Jesus, müsste also leibhaftig in dem rituell verzehrten Tier anwesend sein. Allerdings ist mit keinem Wort von einem solchen Tier, etwa einem Stier, die Rede, dessen Fleisch tatsächlich gegessen werden könnte. Besteht die Sprengung der Metapher vom Kauen des Fleisches genau darin, dass dieses Tier fehlt? Meinen Sie mit johanneischer Essentialisierung, dass Johannes vom tatsächlichen Essen des Fleisches Jesu zu reden scheint? Am Ende scheinen Sie davon auszugehen, dass Johannes zu guter Letzt das Brot als neue Metapher wählt, in dem Jesus leibhaftig gegenwärtig ist. Sprengt er also die anstößige Metapher, um dann doch zu einer gewöhnlicheren überzugehen?

Nun ist es aber im Johannesevangelium genau umgekehrt – nicht die Brot-Metapher folgt der Fleisch-Metapher und schwächt sie sozusagen ab. Der rituelle Vollzug des Kauens von rohem Fleisch wird nicht in die harmlosen Bahnen des Empfangs von Abendmahlsbrot umgelenkt. Vielmehr erwächst die Brot-Metapher aus einem Midrasch zum biblischen Manna und geht in die provokative Fleisch-Metapher über, die – wie gesagt – die konkrete leiblich-verletzlich-sterbliche Existenz des Messias unter der Römischen Weltordnung meint. Buchstäblich wird hier gar nichts gegessen, weder der Messias noch das rohe Fleisch eines Tieres noch das Abendmahlsbrot, um sich Jesus als Gott mit seinen göttlichen Kräften einzuverleiben. Vielmehr fordert der johanneische Jesus seine Anhänger drastisch-metaphorisch-provokativ dazu auf, radikal dem Messias Jesus zu folgen, der die Römische Weltordnung dadurch überwindet, dass er sich am Kreuz der Römer zerfleischen lässt und so das wahre Gesicht der Pax Romana und ihres Kaisers als (8,44) eines Menschenschlächters aus Prinzip zu erkennen gibt.

Sie dagegen gehen davon aus, dass der johanneische Jesus von seinen Anhängern den Genuss der Elemente des Abendmahls gefordert haben muss, damit sie ihn entsprechend einer dionysischen Einverleibung eines Gottes in sich aufnehmen und dadurch ewiges Leben erhalten (300):

In seiner Rede vom Brot des Lebens deutet Jesus an, dass er sich besonders im Brot manifestiert. Er ist nicht nur im Augenblick dieser Rede unter den Jüngern, sondern er ist auch im Brot gegenwärtig. Der johanneische Jesus bittet die Gläubigen, ihn nicht nur in seiner menschlichen Gestalt zu erkennen und anzunehmen, sondern auch in seiner Manifestation unter ihnen in Form von Brot. Das Brot stellt sein Fleisch dar, und diejenigen, die an ihn glauben, sollen davon essen und damit Jesus in sich aufnehmen. Ebenso werden sie sein Blut trinken. Auf diese Weise ist Jesus unter denen, die essen und trinken, gegenwärtig, und durch dieses Essen und Trinken erlangen die Gläubigen das ewige Leben.

Später fassen Sie diesen Punkt noch einmal in anderer Form zusammen (367):

Wenn das Evangelium insgesamt darauf abzielt, den Glauben an Christus und den Zusammenhalt unter seinen Anhängern zu stärken, dann sind Berichte und Reden über Essen, Trinken und Mahlzeiten ein wichtiges Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. … Wann immer Brot und Wein konsumiert werden, wird auf die Geschichten und Reden, die diese Elemente enthalten, angespielt. Die Einnahme der Elemente diente den Gläubigen wahrscheinlich dazu, eine Verbindung mit dem göttlichen Jesus herzustellen. Gleichzeitig hätte das gemeinsame Verzehren dieser Elemente, die mit von den Teilnehmenden geteilten Bedeutungen und Assoziationen aufgeladen waren, in hohem Maße dazu beigetragen, ihre Gruppenidentität zu definieren und ihre Verbundenheit zu stärken.

Ich wiederhole meinen oben geäußerten Einwand: Wenn das stimmen sollte, müsste doch gerade der johanneische Jesus ein Ritual wie in den Synoptikern oder bei Paulus einsetzen. Stattdessen verbindet Jesus keineswegs das Kauen des Fleisches mit rituellem Brotgenuss, und vom Wein ist im Zusammenhang mit dem Trinken des Blutes überhaupt nicht die Rede. Hier geht es nicht um die Einverleibung eines Gottes, sondern darum, auf den Messias zu vertrauen und ihm nachzufolgen in seiner fleischlichen und buchstäblich vom römischen Militär zerfleischten Existenz.

Interessant ist, dass Sie später (302) Ihre Haltung gegenüber der angeblichen rigorosen Forderung des johanneischen Jesus, sein Fleisch und Blut rituell im Abendmahl zu verzehren, ebenfalls zugunsten des Glaubens an Jesus relativieren:

Der johanneische Jesus beharrt auf der Realität seines Fleisches und seines Blutes. Aber auch wenn das ewige Leben unter der scheinbar strengen Bedingung des Verzehrs von Jesu Fleisch und Blut versprochen wird (wiederholt in 6,50-58), ist der Glaube an Jesus im Hauptteil der Rede V. 35-50 relevant. „Wahrlich, ich sage euch: Wer glaubt, hat das ewige Leben“ (6,47; vgl. 6,63-64: „Der Geist ist es, der Leben gibt; das Fleisch ist nutzlos. Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und Leben. Aber unter euch gibt es einige, die nicht glauben“). Am Ende betont Jesus die Notwendigkeit des Glaubens, um das ewige Leben zu erlangen.

6.6 Ist Jesus ein sterblich-unsterblicher Super-Dionysos oder der jüdische Messias?

Unter der Überschrift (295) „Epiphanien und das Zusammenspiel zwischen Göttlichkeit und Menschlichkeit“ wollen Sie noch weitere Parallelen zwischen dem johanneischen Jesus und Dionysus erkennen, nämlich insofern er „ein Gott der Epiphanie“, der Offenbarung, ist (295f.):

Im Gegensatz zur jüdischen Tradition traten die griechischen Götter regelmäßig als anthropomorphe Figuren auf. Von allen griechischen Gottheiten war es Dionysos, der sich am häufigsten unter den Menschen zeigte. <74> Er war der Gott, der am unmittelbarsten präsent war, sozusagen der deus praesentissimus. <75> … Dionysos ist der Gott, der „seine Größe durch die Wunder, die seine Anwesenheit begleiten, und durch seine großartigen Gaben an die Menschen offenbart“. <76> Epiphanien des Dionysos sind häufig und tauchen in Mythen und Literatur über mehrere Jahrhunderte hinweg reichlich auf.

Als das Besondere bei Dionysus stellen Sie heraus (297), dass er „die Fähigkeit hat zu sterben, obwohl man ihn sich generell als unsterblich vorstellte“. Er ist „der Nachkomme des höchsten griechischen Gottes und einer menschlichen Mutter“, muss aber (298) nach Albert Henrichs [15] als „ein Gott im wahrsten Sinne des Wortes“ angesehen werden (298f.):

Als ein Gott, und als solcher wurde er in der Antike wahrgenommen, teilt Dionysos das „zusammenhängende Konglomerat dreier Eigenschaften: Unsterblichkeit, übermenschliche Macht und die Fähigkeit zur Selbstoffenbarung, die ein inhärentes Korrelat der anthropomorphen Erscheinung der griechischen Götter ist.“ [18]

Henrichs führt dies weiter aus: „Während die gemeinsame menschliche Gestalt die physische Trennung von Göttern und Sterblichen minimiert, wird die existenzielle Distanz zwischen ihnen durch die Unsterblichkeit und Macht des Gottes maximiert. Im Fall von Dionysos erhält jedoch jedes dieser göttlichen Vorrechte eine besondere Bedeutung, weil es die Göttlichkeit von Dionysos ausnahmsweise und paradoxerweise in seinem augenscheinlichen Menschsein definiert. Was die Epiphanien des Dionysos auszeichnet, ist nicht nur ‚ihre physische Unmittelbarkeit“ …, sondern auch ihre trügerische menschliche Qualität, die die normalen Erwartungen des griechischen Anthropomorphismus übersteigt.“ [18]

Daraus ergibt sich für Sie (299) eine „Reihe auffälliger Parallelen zwischen Dionysos und dem johanneischen Jesus.“

Ohne auf den gesamten Gelehrtenstreit über die Menschlichkeit und/oder Göttlichkeit Jesu in diesem Evangelium einzugehen, steht fest, dass a) Jesus göttlichen Ursprungs ist, <77> b) dass es eindeutige Zeugnisse für seinen göttlichen Status gibt, aber auch für die Tatsache, dass er inkarniert ist, und c) dass er sarx ist und in menschlicher Gestalt unter Menschen erscheint. Andere Stellen leugnen zwar nicht die göttliche Abstammung Jesu, weisen aber darauf hin, dass er keine vollständige Gottheit ist, indem sie die Vorstellung von Jesus als einem göttlichen Vermittler betonen, der eher ein Bote Gottes als eine Gottheit selbst ist. <78> Natürlich ist er auch inkarniert, Fleisch geworden, ein menschliches Wesen. Ungeachtet der Zweideutigkeit der johanneischen Darstellung fällt auf, dass das Evangelium mit dem Bekenntnis zu Jesus als Gott beginnt und endet, und das ist wahrscheinlich die wichtige Botschaft.

Ist es also möglich, dass Johannes Vorstellungen, die er von Dionysus her kannte, auf Jesus übertragen hat (299f.)?

Aus den dionysischen Traditionen geht hervor, dass die johanneische Vorstellung von einem Gott, der auf der Erde erscheint und mit den Menschen verkehrt, keineswegs neu ist. Auch die Vorstellung einer göttlichen Gestalt, die stirbt und wieder zum Leben erwacht, ist keine Besonderheit der Evangelien. Jesus und Dionysos teilen die miteinander verwobene Entsprechung von „Mordopfer“ und „unsterblicher Sterblicher“. So wie Dionysos ein unsterblicher Sterblicher ist, der den menschlichen Tod erfahren hat und dessen Leben durch die Macht der Götter wiederhergestellt wird, wird Jesus getötet und durch die Macht Gottes wieder auferweckt. Durch diese Auferstehung bestätigt die „endgültige Unsterblichkeit seinen göttlichen Status“. [27] Darüber hinaus haben sowohl Jesus als auch Dionysos einen göttlichen Vater und eine menschliche Mutter.

Oberflächlich gesehen trifft das alles zu. Die Frage ist aber, ob das, was Johannes über Jesu Göttlichkeit und Menschlichkeit zu sagen weiß, in demselben Sinne zu verstehen ist wie die Aussagen der griechischen Mythen über Dionysos. Mir fällt auf, dass Sie mit keinem einzigen Wort auf die abgrundtiefe Unterscheidung zwischen dem Gott Israels und den griechischen Göttern eingehen. <79>

Jesus ist in den Augen des jüdischen Messianisten Johannes definitiv kein Gott wie Dionysos, sondern er verkörpert in seinem Fleisch als dieser jüdische Mensch, als Rebell gegen Rom und das pharisäisch/rabbinische Judentum das befreiende Wort, ja, sogar den befreienden NAMEN des Gottes Israels. Alles, was an ihm göttlich ist, hat er vom VATER, er selbst ist kein Gott. Indem Thomas ihn trotzdem so nennt, schreibt er ihm, als dem bar enosch, dem Menschensohn, der zum VATER aufsteigt und den NAMEN des VATERS verkörpert, den Titel zu, den sich der römische Kaiser anmaßt. Man versteht nichts von der Gottbestimmtheit Jesu, wenn man nicht von den jüdischen Schriften her nachbuchstabiert, was es bedeutet, dass Jesus das von Gott gesandte Wort, Licht und Leben ist, der Prophet, der zweite Isaak, der König Israels, der Sohn Gottes, der Menschensohn, die Verkörperung des Gottesnamens egō eimi, ICH WERDE DA SEIN – mit einem Wort: der Messias des Gottes Israels. Die Ehre dieses Messias besteht darin, dass ganz Israel Befreiung und Gerechtigkeit erfährt; dazu muss der Messias Israel sammeln und das weltweite Sklavenhaus der Römischen Weltordnung überwinden. Als Mensch ist Jesus vollkommen Fleisch, sterblich. Nach Johannes wird er nicht einmal neben dem VATER im Himmel auf einem Thron sitzen; sein Aufsteigen zum VATER, das „noch nicht“ vollendet ist, so lange die Weltzeit, die kommen soll, noch nicht angebrochen ist, steht symbolisch für die Übergabe der Inspiration der Treue Gottes an seine Schüler und für die Überwindung jeder herrschenden Gewalt-Weltordnung durch die Solidarität der agapē.

Durch ihre intensive Beschreibung des sich inkarnierenden und sterbenden Gottes Dionysos wird mir allerdings verständlicher, wie leicht eine heidenchristliche Lektüre des Johannesevangeliums Jesus von seinem jüdischen Wurzelgrund lösen und ihn stattdessen von griechischen Göttermythen her zu einem christlichen Super-Dionysus umstylen konnte, der dem hellenistischen Zeitgeist entsprach. Diese grandiose Fehlinterpretation des Johannesevangeliums ist offenbar, wie sich an Ihren Ausführungen ablesen lässt, bis heute nicht überwunden.

6.7 Jesus ist Gottes Sohn, aber jüdisch verstanden, nicht heidnisch-dionysisch

Betrachten wir Ihren letzten Satz, den ich oben zitiert habe, genauer (300), dass „sowohl Jesus als auch Dionysos einen göttlichen Vater und eine menschliche Mutter haben“, wird deutlich, dass die Vorstellungen über göttliche Vaterschaft in der griechischen Mythologie und in der jüdischen Bibel diametral voneinander zu unterscheiden sind. Sich die Zeugung Jesu vom Gott Israels in der gleichen Weise vorzustellen wie die Schwängerung der menschlichen Frau Semele durch den olympischen Gott Zeus, wäre in den Augen eines jüdischen Messianisten gotteslästerlich. Gottes Sohn in den jüdischen Schriften bleibt ganz und gar Mensch, sei es als das Volk Israel (Exodus 4,22) oder als der König Israels (Psalm 2,7), und er ist von Gott damit beauftragt, seinen befreienden Willen in die Tat umzusetzen. Von diesem jüdischen Verständnis her begreift Johannes Jesu Gottessohnschaft; der Messias Jesus ist Gottes Sohn als der zweite Isaak, der „Einziggeborene“, monogenēs, <80> bzw. als die Verkörperung des Volkes Israel, und überall, wo Johannes vom VATER Jesu spricht, umschreibt er damit den unaussprechlichen befreienden Gottesnamen JHWH.

Im Übrigen haben sich in Ihre Erläuterungen zu den Eltern Jesu in Anm. 611 eine ganze Reihe von Fehlern eingeschlichen:

Dionysos ist der Nachkomme des olympischen Zeus und der menschlichen Semele; Jesus ist der Sohn Gottes (ek tou theou, Johannes 1,13). Während ein menschlicher Vater im Evangelium nirgends auftaucht, gibt es eine menschliche Mutter. Es ist jedoch zu bemerken, dass von allen Evangelien Johannes die Rolle der menschlichen Mutter Jesu am stärksten herunterspielt.

  1. Johannes 1,13 bezieht sich gar nicht speziell auf Jesus, sondern auf die symbolisch verstandene Herkunft aller Gottgeborenen, kann also keineswegs als Beleg für eine biologische Gottessohnschaft Jesu dienen.
  2. Dass ein menschlicher Vater Jesu nirgends im Evangelium erscheint, ist definitiv falsch. Zwar gewährt Johannes ihm keinen persönlichen Auftritt, aber Josef wird in 1,45 und 6,42 namentlich als menschlicher Vater Jesu erwähnt, ohne eine Jungfrauengeburt auch nur anzudeuten. Demzufolge ist Jesus laut Johannes biologisch gesehen sogar eindeutiger ganz und gar Mensch als bei Matthäus oder Lukas.
  3. Auch darf man Johannes nicht unterstellen, die Bedeutung der Mutter des Messias gegenüber anderen Evangelisten herunterzuspielen. Das Gegenteil ist der Fall. Während alle Synoptiker <81> Passagen überliefern, die kritisch gegenüber Maria eingestellt sind und ihre Rolle gegenüber der Schülerschaft Jesu relativieren, spielt die Mutter des Messias im Johannesevangelium mehrfach eine geradezu entscheidende Rolle: Sie ist bei der messianischen Hochzeit zu Kana als erste zur Stelle, <82> und zwar als Repräsentantin eines Israel, darauf bedacht ist, den Willen des Messias zu erfüllen. Weiter gehört sie zu denjenigen, die den Kern der ursprünglichen messianischen Gemeinde bilden (siehe oben Abschnitt 3.4). Schließlich erscheint sie unter dem Kreuz Jesu und repräsentiert das Israel, das dem Geliebten Jünger als dem Repräsentanten der messianischen Gemeinde anvertraut wird. <83>

6.8 Auch Jesu Eschatologie ist jüdisch, nicht heidnisch-dionysisch zu interpretieren

Außerdem sollen Ihnen zufolge (301) „die beiden Traditionen“, die mit dem johanneischen Jesus und Dionysos zusammenhängen, auch „eschatologische Vorstellungen teilen“.

Hier ist wieder bezeichnend, dass Sie vollkommen darauf verzichten, die Bedeutung der johanneischen Eschatologie näher zu erläutern. Sie schreiben lediglich:

Das Essen des Brotes, das Jesus darstellt, ist eine Voraussetzung für den Erhalt des ewigen Lebens. Jesus verspricht denen, die von seinem Fleisch essen und von seinem Blut trinken, wiederholt das Geschenk des Lebens (6,50-58).

Was „ewiges Leben“ bedeutet, scheinen Sie ohne weitere Diskussion mit einem jenseitigen Leben nach dem Tod im Himmel gleichzusetzen (siehe oben Abschnitt 5.2). Zumindest beschreiben Sie als Parallele zu dieser johanneischen Eschatologie für Dionysos, dass er unter den griechischen Göttern derjenige ist,

der (abgesehen von Hades) am meisten mit dem Tod assoziiert wird. Er hat Macht über den Tod, was ihn zu einem Erlöser für seine Eingeweihten im Jenseits macht.

Wenn Sie johanneische Vorstellungen, die aus einem jüdischen Kontext stammen, von einem heidnisch-griechischen Kontext her interpretieren, verwundert es nicht, dass beide übereinzustimmen scheinen. Was wäre aber, wenn Ton Veerkamp mit seiner Einschätzung Recht hätte, dass zōē aiōnios für einen jüdischen Messianisten nichts mit einer Vertröstung auf ein himmlisches Jenseits zu tun haben kann? Ich erlaube mir, seine Auslegung von Johannes 6,40 ausführlich zu zitieren: <84>

„Jeder, der den SOHN [den Sohn des Menschen, bar enosch] beachtet [theōrōn], ihn sieht, wie er wirklich ist, und ihm vertraut, wird das Leben der kommenden Weltzeit erreichen, und Jeschua wird ihn aufstehen lassen am Tag der Entscheidung“ – an jenem Tag, wo „das Gericht sich setzt und endlich die Bücher geöffnet werden“ (Daniel 7,10), dem Tag des Sohnes des Menschen am Tag, an dem endlich Recht geschieht. An diesem Tag können die, die sich durch die Vision dieses Sohnes leiten lassen, aufrecht stehen – alle, auch „die Toten in ihren Gräbern“ (5,28). Der Sinn des definitiven Gerichts ist, dass die Menschen aufgerichtet und nicht, dass sie zugrunde gerichtet werden. Das – und nur das – ist der Wille Gottes.

Der Ausdruck eschatē hēmera bedeutet wörtlich „letzter Tag“ oder, in gehobener Sprache, „jüngster Tag“. Nur war die Vorstellung eines „letzten Tages“, nach dem kein weiterer Tag mehr kommt, bei den Judäern jener Tage unmöglich. Ewigkeit als Gegensatz zur befristeten Zeit (Tage) ist eine christliche, keine jüdische Vorstellung.

Im Koran ist jener Tag, der bei Johannes „letzter Tag“ heißt, der Tag des Gerichtes. In fast jeder der 114 Suren des Korans kommt dieser Tag vor. Danach beginnt eine neue Zeit, in der jene Probleme definitiv gelöst worden sind, die unser Leben bestimmen und belasten.

Im TeNaK [der hebräischen Bibel] ist dieser Ausdruck bekannt: be-ˀacharith ha-jamim, „in der Späte der Tage“, übersetzt Martin Buber, die Griechen übersetzen ep‘ eschatō(n) tōn hēmerōn bzw. en tais eschatais hēmerais. Und wenn es wirklich um einen „letzten Tag“ geht, dann einfach um den letzten Tag einer bestimmten Reihe von Tagen, etwa der Sukkotwoche, Nehemia 8,16. Einen absolut letzten Tag kennt der TeNaK nicht. Aber er kennt sehr wohl Tage, an denen sich Entscheidendes ereignen wird, zum Guten (Deuteronomium 4,30) oder zum Bösen (Ezechiel 38,16).

Dass Tote wieder leben können, ist eine traditionelle Vorstellung; ein sehr drastisches Beispiel ist die Vision aus dem Buch Ezechiel. Der Prophet wurde gefragt, ob die vielen Knochen, die in einer weiten Ebene herumlagen, wieder aufleben können:

und es waren da sehr viele von ihnen, sehr verdorrt waren sie …
Menschenkind, werden diese Knochen leben?
Er sagte: „Mein Herr, EWIGER, du weißt es!“ (Ezechiel 37,2f.)

Es sind die Reste von Menschen, die nicht beerdigt wurden, Menschen, denen ein würdevoller Abschluss des Lebens verweigert wurde, Opfer der Vernichter Israels. „Werden diese Knochen leben?“ Es kann nicht sein, dass diese umsonst gestorben sind. Es ist die ewige Frage aller, die trauern müssen um die, die ermordet wurden, die lange vor ihrer Zeit sterben mussten.

Dieser Gedanke aus dem Buch Ezechiel hat seit der makkabäischen Zeit viele beschäftigt. Die Peruschim [Pharisäer] gehörten zu ihnen, sie rechneten fest mit der Auferstehung von den Toten. Und das geschieht an jenem Tag, wo das „Gericht sich setzt und Bücher geöffnet werden“, nach den Tagen der tierischen Herrschaft der Weltmächte. Dann kommen die Tage des Menschen, die völlig andere Tage sein werden, aber eben irdische Tage bleiben werden. Der letzte Tag ist der Tag jener Entscheidung, die alle Tage neu machen wird, er ist der letzte Tag in der Reihe der Tage der Unmenschlichkeit.

Wie gesagt, der Wille des VATERS sei es, dass jeder, der den Sohn in Betracht zieht (theōrōn), zum Leben der kommenden Weltzeit gelangt oder, anders gesagt, dieser Sohn ihn am Entscheidungstag aufstehen lässt – eben zu jenem „aufrechten Gang“, von dem Levitikus 26,13 redet und der erst wirklich Leben ist. Auferstehung zum Leben der kommenden Weltzeit hat also mit einer messianischen Theorie, von theōrein, genau in Betracht ziehen, zu tun. Freiheit ist eine Theorie, die eine Praxis ist, die Praxis dessen, der seinen Lebensgang, seine halakha, mit diesem Messias geht, ihn „in Betracht zieht“ bei allem, was er tut.

Es bestürzt mich, dass Sie mit keinem Wort auch nur andeuten, dass die johanneische Eschatologie auch anders als heidnisch-griechisch interpretiert werden könnte.

Dasselbe trifft zu für Ihren Verweis (302) auf bestimmte Gegensatzpaare religiöser Vorstellungen, die in beiden Traditionen vorkommen:

Die in den dionysischen Zeugnissen zu findenden Konstellationen von Leben/Tod und Licht/Dunkelheit sind auch im vierten Evangelium von Bedeutung: Jesus als Leben kommt am klarsten in Johannes 11,25, 14,6 (vgl. 6,48 u.a.) zum Ausdruck; Jesus als Licht in 9,5; das Licht, das der Finsternis entgegengesetzt ist, erscheint z.B. in 1,5 und 3,19; die Kombination von Leben und Licht ist im Prolog in Johannes 1,4 zu finden. Der Anspruch auf Wahrheit ist ein weiterer Begriff, den Jesus mit Dionysos teilt, am deutlichsten in Johannes 14,6, obwohl weitere Beispiele in Johannes 6,55; 7,18; 8,14; 8,26 zu finden sind. Die dionysische und die johanneische Tradition teilen also eschatologische Hoffnungen und bieten Mittel und Rituale an, die diesen Hoffnungen entsprechen.

Oben war ich im Abschnitt 6.3 bereits darauf eingegangen, dass der Gegensatz Licht-Finsternis in den biblischen Schriften eine ganz andere – nämlich befreiungspolitische – Rolle spielt als in der griechischen Mythologie (oder auch der Gnosis). Auch darüber, ob alētheia einem griechischen Verständnis von „Wahrheit“ entspricht oder jüdisch die „Treue“ des Gottes Israels meint, müsste man diskutieren. <85> Dass ein Vertreter Roms wie Pilatus mit einer solchen „Treue“ nichts anfangen kann, ist plausibel, da sie keine politische Kategorie der herrschenden Weltordnung darstellt. <86>

6.9 Verfolgungsmaßnahmen für Jesus-Nachfolger wie für Dionysos-Anhänger?

Schließlich (303) vergleichen Sie „die Unterdrückung der Anhänger des Dionysos und die johanneische Vorstellung von der Verfolgung der Jesus-Anhänger“. Dabei geht es um den so genannten Bacchanalienskandal, der zur Zeit der Abfassung des Johannesevangeliums bereits fast 3 Jahrhunderte zurücklag und zu dem es zwei Quellen gibt, eine „ausführliche Erzählung von Titus Livius, Ab urbe condita 39.8.3-19.19.7, auf etwa 20-15 v. Chr. datiert“, und „eine Inschrift von Tiriolo (Kalabrien), datiert auch 186 v. Chr., die den senatus consultum de bacchanalibus [Senatsbeschluss über die Bacchanalien] bezeugt.“ Beide Quellen bestätigen, dass der römische Staat daran interessiert war, Gruppierungen, die als für die öffentliche Ordnung oder die Interessen des Staates gefährlich eingestuft wurden, streng zu kontrollieren und unter Umständen mit Verfolgungsmaßnahmen zu sanktionieren.

Sie ziehen daraus den Schluss (305):

Die Anhänger des Dionysos, die an den Bacchanalien teilnahmen, wurden unterdrückt und zuweilen sogar verfolgt. Der Gedanke der Verfolgung kommt im vierten Evangelium deutlich zum Ausdruck. Der johanneische Jesus und Dionysos teilen die Identität, als Gottessohn abgelehnt, ausgestoßen und bekämpft zu werden. <87> Im Gegensatz zu Dionysos hat der johanneische Jesus jedoch noch keinen triumphalen Erfolg in der Welt. Jesus prophezeit seinen Jüngern die Verfolgung, möglicherweise bis zum Tod. Jesus selbst stirbt am Kreuz, angeklagt wegen der Selbstproklamation als Gott.

Leider ist mir der Vortragstext von Ekkehard Stegemann bisher nicht zugänglich, so dass ich nicht weiß, ob er, auf den Sie in Ihrer Anmerkung 626 verweisen, die Identität von Jesus und Dionysus als Gottessöhnen in weniger formaler Weise als Sie miteinander vergleicht.

6.10 Hatte Pilatus Angst, Jesus als Gott in menschlicher Verkleidung zu verkennen?

Zur Anklage Jesu auf Grund seiner „Selbstproklamation als Gott“ merken Sie an (Anm. 627):

Pilatus hält Jesus nicht für schuldig, einen öffentlichen Aufruhr verursacht zu haben, und weist die Ankläger auf die Menschlichkeit des Angeklagten hin: idou ho anthrōpos („Hier ist der Mensch!“ Johannes 19,5). Diese Aussage löst auf Seiten der Juden den Vorwurf aus, Jesus habe sich selbst als Gott verkündet (ti hyion theou heauton epoiēsen, 19,7). Die Angst, die diese Aussage bei Pilatus auslöst, scheint im Vergleich zu derjenigen der Juden eher numinos zu sein. Pilatus hat zuvor keine Furcht gezeigt. Es ist wohl eher die Furcht, dafür bestraft zu werden, dass er den Sohn Gottes in dem Angeklagten nicht erkannt hat, so wie Pentheus einst Dionysos nicht erkannte und dieses Versagen mit seinem Leben bezahlte. Offenbar spürt Pilatus, dass Jesus irgendwie über das Menschliche hinausgeht, auch wenn er sterben kann. [Stegemann, 10]

Hier ist aber zu fragen, ob Johannes als jüdischer Messianist tatsächlich auf eine numinose Furcht des Pilatus anspielt, er könne möglicherweise Jesus als Gott in menschlicher Verkleidung, dem Dionysus vergleichbar, verkannt haben. Wäre eine solche Furcht außerdem nicht eher ein Grund, Jesus eben nicht zu verurteilen? Aber eine solche Parallele zu den in Matthäus 27,19 mitgeteilten Bedenken der Frau des Pilatus hat Johannes definitiv nicht im Sinn; Johannes 19,7 soll ja umgekehrt dazu dienen, von Pilatus ein Todesurteil zu erpressen. Nach Ton Veerkamp schüren die Priester in Pilatus keine numinose, sondern eine sehr diesseitige politische Furcht: <88>

Die Beschuldigung, Jeschua habe sich für den Sohn Gottes ausgegeben, ist auch für Römer sehr viel ernster als die Beschuldigung, Jeschua hielte sich für den König der Judäer. Mit der Tora hat Pilatus nichts zu tun, wohl aber mit einem, der die göttliche Würde für sich beansprucht. Dieses Recht hat nur der oberste Dienstherr des Pilatus, der Kaiser des Römischen Reiches, der reale „Sohn Gottes“, einer wie-Gott. Die Furcht des Pilatus ist nicht magisch-religiösen, sondern politischen Ursprungs. Er muss um so mehr fürchten, dass hinter diesem Gefangenen mehr steckt als irgendein lokaler Narr. Vielleicht ist er doch jemand, der als „Gottes Sohn“ den Kaiser herausfordert und hinter dem eine ernst zu nehmende politische Bewegung steht. Dann würde der Kaiser ihn, Pilatus, haftbar machen, dass er einen Widersacher des Kaisers selbst laufen ließ.

6.11 Kann der Jude Johannes Jesus als einen Gott wie Dionysos dargestellt haben?

In Ihrer Zusammenfassung des Kapitels 6 (306) weisen Sie durchaus darauf hin, dass das Johannesevangelium „in einer jüdischen Gedankenwelt verwurzelt und von den Traditionen der Christusgläubigen durchdrungen ist“, aber zugleich bleiben Sie davon überzeugt, dass

es auch anderen Traditionen ausgesetzt war, die im Umfeld der johanneischen Gemeinde einen hohen Stellenwert hatten. Das lässt darauf schließen, dass das johanneische Mahlverständnis durchaus von anderen Traditionen, z. B. aus den Mysterienkulten, beeinflusst worden sein könnte.

Ich bleibe nach wie vor skeptisch, ob ein jüdischer Messianist die ihm vertrauten und in ihrer Bedeutung unumstößlichen Heiligen Schriften des TeNaK durch beliebige Versatzstücke aus dem ihm zutiefst verhassten Heidentum ergänzen konnte.

Adele Reinhartz dagegen begreift den Autor des Johannesevangeliums als nicht so stark im Judentum verwurzelt, sondern als einen im Grunde schon heidenchristlichen Prediger, der zwar jüdisches Gedankengut aufgreift, aber nicht, um ihm treu zu bleiben, sondern um das Judentum im Namen des Gottessohnes Jesus Christus all seiner Heilsgüter zu enterben. <89> Einem solchen antijüdischen Johannes wäre auch zuzutrauen, sich nicht nur im Judentum, sondern auch in heidnischen Mysterienkulten wie in einem Selbstbedienungsladen nach einer passenden Ausstattung für seinen Protagonisten einer neuen Religion umzusehen.

Als christliche Exegeten müssen wir also prüfen, welche Sichtweise wir einem ursprünglichen Johannesevangelium zutrauen und was das jeweilige Ergebnis für die Frage bedeuten würde, ob und wie wir über das Johannesevangelium überhaupt noch predigen können.

Ein Johannes, für den Jesus auf Grund der „Speisung der Volksmengen“ praktisch ununterscheidbar wäre von göttlichen Fruchtbarkeitsspendern der Heiden wie Demeter und Dionysus, hätte nichts mehr zu tun mit den biblischen Propheten Elia, der gegen Baal und Aschera kämpfte, und Elisa, der Israel mit zwanzig Gerstenbroten sättigte. Und ein Johannes, der Jesu provokative Rede vom Kauen seines Fleisches (307) analog zur dionysischen Theophagie verstanden hätte, müsste sich vollkommen von jeder Bindung an die jüdische Tora gelöst haben:

Durch den Verzehr des rohen Fleisches des Tieres zusammen mit dem Wein, die beide die Gottheit repräsentieren, hatten die Anhänger Anteil an den Lebenskräften ihres Gottes. Sie nahmen den Gott und seine Kräfte im Wesentlichen in sich auf und verwischten so die Grenzen zwischen Gottheit, Menschheit und dem Opfer.

Um nichts davon geht es Johannes. Weder um buchstäbliches Essen von rohem Fleisch, nicht einmal um einen rituellen Abendmahlsgenuss von Brot und Wein, noch um Anteilhabe an vitalen göttlichen Kräften. Jesus wird nicht als Gott verzehrt, um die Grenzen zwischen Gott und Mensch zu verwischen. Dass Jesus eins mit seinem VATER ist, bedeutet die vollkommene Übereinstimmung dieses jüdischen Menschen Jesus (der einen menschlichen Vater und eine menschliche Mutter hat) mit dem befreienden Willen des Gottes Israels. Diese Übereinstimmung geht so weit, dass Jesus sich sogar in seinen egō eimi-Worten (ICH WERDE DA SEIN) als Verkörperung des NAMEN selbst bezeichnen kann. Aber eben nicht, um die Sphären von Gott und Mensch zu vermischen, sondern um Gottes Ehre zu verwirklichen, die in der Sammlung und Befreiung Israels aus dem weltweiten Sklavenhaus der Römischen Weltordnung besteht.

Ein heidenchristliches Publikum, das von solchen jüdisch-messianischen Hintergründen nichts mehr weiß, mag allerdings (308) „in einigen Passagen des Evangeliums Anspielungen auf den griechischen Gott gehört haben“. Wie gesagt, es ist offensichtlich, dass das Johannesevangelium schon bald nicht mehr jüdisch-messianisch, sondern griechisch-heidenchristlich und vielleicht sogar krass heidnisch interpretiert worden ist.

Sie allerdings wollen diese Anspielungen bereits auf den Verfasser des Johannesevangeliums selbst beziehen. Und Sie diskutieren zwei Möglichkeiten, wie Johannes das gemeint haben könnte:

Einige Gelehrte haben behauptet, Jesus sei Dionysos in jeder Hinsicht überlegen. <90> Wenn das zutrifft, könnte das Evangelium einem missionarischen Zweck gedient haben. Es ist jedoch möglich, dass die Anspielungen des johanneischen Jesus auf Dionysos nicht auf der Ebene der Konkurrenz, sondern auf einer Ebene des Vergleichs liegen. <91>

Die dionysischen Attribute, die Johannes für seine Darstellung Jesu übernimmt, mögen nicht dazu da sein, um auszudrücken, dass Jesus Dionysos übertrifft. Es ist möglich, und vielleicht sogar wahrscheinlicher, dass die Anspielungen dazu dienen, die Interpretation von Jesus als dem wahren Sohn Gottes zu unterstützen.

Interessant ist, dass Sie die erste Option mit folgendem Argument anzweifeln:

Wenn Jesus und Dionysos als Rivalen zu verstehen wären, warum sollte der Text die Rivalität oder die vermeintliche Überlegenheit Jesu in verschlüsselter Form diskutieren und das Thema nicht offen ansprechen?

Dasselbe Gegenargument räumen Sie dann aber auch gegenüber der von Ihnen bevorzugten Option ein, dass Johannes mit dem Hinweis auf Dionysus einem Publikum, das über Erfahrungen mit Mysterienkulten verfügte, hätte bestätigen wollen, dass Jesus wirklich ein Gott wie Dionysus war:

Dies wirft natürlich wieder die Frage auf, warum Johannes auf versteckte Weise auf Dionysos anspielt, anstatt das Thema direkt anzusprechen.

Diesem selbst erwähnten Einwand begegnen Sie folgendermaßen (308f.):

Der Grund dafür könnte in der Schwierigkeit liegen, auf heidnische Tradition zurückzugreifen. <92> Dionysos ist eine eindeutig heidnische Gottheit und als solche für die Christusgläubigen wahrscheinlich ein Tabu. Eine heidnische Gottheit konnte kaum als direkter Bezugspunkt dienen, so heterogen die Bewegung der frühen Christusgläubigen auch war. So wie Dionysos um seine Akzeptanz bei den Menschen kämpfen musste und so wie seine Anhänger unter Verfolgung litten, so leiden auch die Anhänger Jesu. Die Anspielungen auf Dionysos mögen den ängstlichen Anhängern als Trost dienen, bei Jesus, dem wahren Sohn Gottes, zu bleiben.

Diese Argumentation wäre nur dann nachvollziehbar, wenn Johannes wirklich kein jüdisch-messianisch denkender und empfindender Mensch gewesen wäre, also keine Skrupel gehabt hätte, seinem mit Mysterien vertrauten Publikum den Messias Jesus als einen Gott anzupreisen, von dem man genau so viel erwarten kann wie von Dionysos – wenn nicht sogar noch weitaus mehr! Mit der letzten Ergänzung meines Satzes verwerfe ich ebenfalls eine missionarische Option, die Jesu Besonderheit lediglich in einer Überbietung der dionysischen göttlichen Kräfte erblickt.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Johannes durch die Hintertür ein so krasses Heidentum in eine jesus-messianische Gemeinde einschmuggeln wollte, wie es sich in den dionysischen Mysterien widerspiegelt. Dann hätte er, der Jude, einen heidnischen Gott auf dieselbe Stufe wie den Gott Israels stellen müssen. Wie hätte er die Göttlichkeit Jesu, die er doch von den jüdischen Schriften her versteht, mit dionysischen Vorstellungen untermauern sollen, ohne die Treue des Gottes Israels zu verraten?

Dass in einer ursprünglichen johanneischen Gemeinde das Empfinden, verfolgt zu werden, mit der viele Jahre zurückliegenden Verfolgung der Dionysos-Anhänger verbunden gewesen sein könnte, schließe ich ebenfalls aus. Die Vorwürfe, auf Grund derer ein Ausschluss aus der Synagoge erfolgt, beziehen sich mit keinem Wort auf die provokativen Tabubrüche des Fleischessens und Bluttrinkens (diese führen lediglich zur Dezimierung der Jesusanhänger), sondern auf Übertretungen der Tora, eine Heilung am Sabbat und die Selbstgleichsetzung Jesu mit dem Gott Israels.

6.12 Ironische Anspielungen eines jüdischen Messianisten auf heidnische Mysterien

In meinen Augen gibt es allerdings noch eine dritte Möglichkeit, wie man erklären könnte, dass Johannes durchaus über dionysische Mysterienkulte Bescheid weiß und auch auf sie anspielt, allerdings ohne sie gutzuheißen, geschweige denn sie in irgendeiner Weise auf Jesus übertragen zu wollen: Er kann es in ironisch-übersteigerter Form getan haben, um mit dem Mittel des Missverständnisses zu provozieren!

Dabei bleibt er dennoch vorsichtig genug, um deutlich werden zu lassen, dass er Jesu Wirken keineswegs heidnisch-dionysisch, sondern jüdisch-messianisch versteht. Ein Publikum, das sich in den jüdischen Schriften auskennt, muss auf den ersten Blick wahrnehmen, dass lediglich formale Übereinstimmungen bestehen: der Wein zu Kana bezieht sich auf die messianische Hochzeit des Gottes Israel und wird nicht mit Jesus identifiziert; das Gerstenbrot bei der Speisung der 5000 erinnert deutlich an die Ernährung Israels durch Elisa, bei der am Ende noch ein Rest übrig bleibt; die Eschatologie des zōē aiōnios bezieht sich auf das ewige Leben der kommenden Weltzeit, die Auferstehung Jesu auf das Aufsteigen des Menschensohnes zum VATER, hinter dem sich der befreiende NAME des Gottes Israels verbirgt.

Als der johanneische Jesus sich mit dem himmlischen Manna, dem Brot des Lebens, vergleicht, und diese Metapher mit seinem Fleisch, seiner konkreten jüdischen Existenz als dieser Messias, der in die Hände der römischen Menschenschlächter (8,44) überliefert wird, verbindet, scheint er es allerdings zu übertreiben. Seine Lust, Missverständnisse zu provozieren, <93> mag ihn dazu verführen, die krasse Sprache der Mysterienkulte zu wählen, um zu zeigen, wie empörend und abscheulich es sich für Juden anhören muss, dass sein Weg als Messias nicht auf die triumphale Eroberung des Jerusalemer Königsthrons hinausläuft, sondern auf die Auslieferung seines Fleisches an Geißelung, Dornenkrone und blutige Kreuzigung. Indem Jesus (6,55) sein Fleisch und sein Blut als wahre Speise und wahren Trank bezeichnet, redet er provokativ von der radikalen Nachfolge auf seinem messianischen Weg.

Es verwundert nicht, dass solche Worte in diesem Fall, an seine Jünger gerichtet, zu verständnislosen Reaktionen sogar in diesem engsten Kreis führen, ja, dass ihm viele den Rücken kehren. Dass Jesus, wie Sie meinen, seine Anhänger deswegen zu einem Ritual der Jesuphagie verpflichten will, um ihren Kreis bewusst auf eine Elite von Eingeweihten zu begrenzen, ist auszuschließen, da Jesus den Anstoß (6,60-61), den viele Schüler an seiner Rede nehmen, in 6,62 ausdrücklich auf die Art und Weise bezieht, in der der Menschensohn zum VATER aufsteigen wird, nämlich die Kreuzigung. Und die Art, in der er in 6,63 die Bedeutung des Fleisches dadurch relativiert, dass nur durch das Vertrauen auf den Gott Israels wie in Ezechiel 37,6 durch seinen Geist die toten Knochen mit Fleisch überzogen und zu neuem Leben erweckt werden können, zeigen für in jüdischem Sinne Eingeweihte, dass es Jesus nicht wortwörtlich genommen um ein abscheuliches heidnisches Ritual geht, sondern letztendlich um die Belebung Israels in der kommenden Weltzeit.

6.13 Zwei Wörter von der jüdischen Bibel her begreifen: sklēros und skandalizein

Eine weitere Bestätigung dafür, dass die anstößigen Worte über das Kauen von Jesu Fleisch und das Trinken seines Blutes tatsächlich in einem jüdischen Kontext zu verstehen sind, bieten die Begriffe sklēros in Vers 6,60 und skandalizein in Vers 6,61. Sie selber deuten diese Wörter (112) sehr allgemein im Sinne von „schwierig“ bzw. „ärgern“:

Viele der Jünger beklagen sich, dass die Lehre Jesu schwierig ist, und sie fragen sich, wer sie annehmen kann (Sklēros estin ho logos houtos. tis dynatai autou akouein; Johannes 6,60). Jesus fragt sie, ob es sie ärgert (Touto hymas skandalizei; 6,61) und was geschehen würde, wenn sie den Menschensohn dorthin aufsteigen sähen, wo er vorher war.

Nach Ton Veerkamp <94> muss man die beiden Wörter von der Schrift her verstehen. Er übersetzt die Verse 6,60-62 folgendermaßen:

6,60 Viele unter seinen Schülern, die zuhörten, sagten:
„Böse ist dieses Wort, wie kann einer da zuhören?“
6,61 Jeschua wusste selbst, dass seine Schüler darüber murrten,
er sagte zu ihnen:
„Ist das für euch ein Stolperstein?
6,62 Was denn, wenn ihr beobachtet,
wie bar enosch, der MENSCH, aufsteigt
dorthin, wo er vordem war?

Dazu erläutert er: <95>

Sklēros bedeutet nicht „schwer zu verstehen“. Es bedeutet eher „unzumutbar“. Wir finden das Wort in der griechischen Fassung von Genesis 21,11. Sara hatte von Abraham verlangt, er sollte seinen Sohn Ismael mit seiner Mutter in die Wüste schicken. Der Erzähler kommentiert: wa-jeraˁ ha davar meˀod be-ˁene ˀavraham, griechisch sklēron de ephanē to rhēma sphodra enantion Abraam: „Das Wort (Saras) sollte in Abrahams Augen Böses bewirken.“ Aber dann sagt Gott, dass es bezüglich der Mutter (Hagar) und ihres Sohnes (Ismael) „nichts Böses bewirken wird“ (ˀal-jeraˁ, griechisch mē sklēron). Genauso wird die Rede Jesu, scheinbar böse, in Wahrheit doch nichts Böses bewirken.

Viele Schüler Jesu halten allerdings das, was er in seiner Brotrede gesagt hat, für <96>

böse und verbohrt, realitätsblind, fanatisch. Das ist nicht schwierig, keine schwierige Theologie, nein, das ist für „viele Schüler“ Jeschuas fanatisches Sektierergeschwätz!

Natürlich empfinden auch sie den Ausdruck Fleisch essen, Blut trinken als eine böse Provokation, aber das ist nicht die Hauptsache. Jeschua weiß genau, was sich abspielt. Er stellt diese Schüler in die Gesellschaft der murrenden Judäer. Er weiß, dass sie die Rede nicht nur als skandalös in unserem Sinne des Wortes, sondern als Stolperstein (mikhschol) oder eine Falle (moqesch) empfinden, als höchst schädlich für die messianische Sache. Diese Worte stehen hinter dem griechischen Wort skandalon. Wenn sie aber, sagt Johannes, diese Rede als Skandal und als politischen Stolperstein empfinden, was wäre erst, wenn sie beobachten, dass der MENSCH aufsteigt? Der Stolperstein ist gerade die Art, in der der Aufstieg stattfinden wird: die Kreuzigung.

6.14 Noch einmal der Bissen Brot für Judas: Geht es um Satanophagie?

Zurück zu Ihrem Buch. In einem Exkurs (309) stellen Sie auch den Bissen (13,26-27), den Jesus Judas überreicht, worauf der satanas in ihn hineinkommt, als ein Ritual der „Satanophagie“, also einer Einverleibung des Teufels, dar:

Judas nimmt den Bissen und damit den Satan in sich auf, der wie die Finsternis und der Tod auf der negativen Seite der binären Gegensätze steht.

Im Zusammenhang mit der Frage, ob Johannes das Abendmahlsritual kennt, war bereits angemerkt worden, dass Judas der einzige wäre, der das Abendmahl von Jesus überreicht bekommt und zu sich nimmt. Nach Gary Burge <97> jedoch wurde „dieses Essen zu einer Gemeinschaft nicht mit Jesus, sondern mit Satan“.

Aber meint Johannes mit seinem Satz „dass Satan in Judas eingeht (eisēlthen eis ekeinon ho satanas, Johannes 13:27)“, wirklich, „dass der Satan körperlich in Judas eindringt“? Muss man überhaupt, wie Sie es offenbar tun, schon für Johannes ein Verständnis des Satans oder Teufels im Sinne einer dämonischen, überweltlichen Macht voraussetzen? Oder kann Johannes im Anschluss an die jüdischen Schriften mit dem satan oder diabolos nicht auch den politischen Widersacher des Gottes Israels meinen, der sich zur Zeit des Johannes im römischen Kaiser, dem Führer dieser Weltordnung, verkörpert? <98>

7. Das Fleisch von Jesus kauen

Wie bereits in Abschnitt 4.2 dargestellt, betrachten Sie den Schrumpfungsprozess der johanneischen Gemeinde im Laufe des Evangeliums nach anfänglichem Massenzulauf als Folge der provokativen Äußerungen Jesu in Johannes 6. In Ihrem siebten Kapitel untersuchen Sie (312) „die sehr anschauliche Beschreibung des Kauens von Jesu Fleisch und des Trinkens seines Blutes“, die in Ihren Augen einen „Wendepunkt“ des bewussten Rückzugs der Gruppe auf eine immer engere und exklusivere Mahlgemeinschaft darstellt, nun auch noch in einem anderen Zusammenhang.

7.1 Reagiert Johannes 6,52-58 auf Anklagen gegen Christusgläubige wegen Kannibalismus?

Kann es sein, so fragen Sie, dass die Verse 6,51-58 „Anspielungen auf kannibalistisches Verhalten im wörtlichen Sinne“ widerspiegeln?

Das ist insofern nicht vollkommen abwegig, als tatsächlich einige „Quellen aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. Christusgläubige beschuldigen, Ritualmorde zu begehen, gefolgt vom Verzehr von Menschenfleisch und inzestuösem Verkehr.“ Sie fassen Ihre eingehende Beschäftigung mit diesen Quellen folgendermaßen zusammen (319f.):

Im ersten Jahrhundert finden sich in Werken heidnischer Autoren Vorwürfe gegen Christen, die mutmaßliche Anschuldigungen des Kannibalismus enthalten. Innerhalb von nur zwei Jahrhunderten wachsen die Vorwürfe und Anschuldigungen von unspezifischen Verbrechen, von denen Tacitus berichtet, zu detaillierten Beschreibungen ritueller Kindermorde in den Werken von Tertullian und Minucius Felix. Die Berichte über „thyestische Mahlzeiten“ und „ödipalen Geschlechtsverkehr“ <99> wurden im Laufe der Zeit miteinander verbunden und schließlich untrennbar. Interessanterweise tauchen solche Behauptungen fast ausschließlich in Werken von Apologeten auf, die vermutlich auf heidnische Anschuldigungen reagierten.

Aus (320) „anthropologischen Erörterungen über ‚Kannibalismus‘“ entnehmen Sie einerseits die Differenzierung „zwischen ‚exo‘- und ‚endo‘-Kannibalismus, je nachdem, ob es sich bei der gegessenen Person um einen Außenstehenden oder ein Mitglied der Gruppe handelt, die die Anthropophagie ausübt“, andererseits den Zweifel „an der Existenz tatsächlicher Vorkommnisse von Anthropophagie. In vielen, wenn nicht den meisten Fällen, wird Anthropophagie nicht wirklich praktiziert, sondern sie ist ein reiner Mythos.“ Aus Letzterem ziehen Sie den Schluss (321):

Die Erzählungen über Menschenopfer und Menschenfresserei sind keine Berichte über tatsächliche Ereignisse, sondern ein Zeichen im Rahmen von Diskursen über Zivilisation und Barbarei sowie über frommes und „abergläubisches“ Verhalten. Dem Trend in diesem Bereich folgend, werde ich die Anklagen als Ausdruck sozialer Beziehungen betrachten, die das symbolische Stereotyp der Anthropophagie als verleumderisches Etikett verwenden.

Kann es nun sein, so fragen Sie (322), dass sich in Johannes 6 Vorwürfe der „Anthropophagie“ widerspiegeln?

Zum Johannesevangelium hat Albert Harrill dieses Thema kürzlich in einem Artikel mit dem Titel „Kannibalistische Sprache im vierten Evangelium und griechisch-römische Parteienpolemik <100> (Johannes 6:52-66)“ erforscht. …

Harrill zeigt, wie „die Anthropophagie in der antiken Polemik dazu diente, einen Gegner oder eine Gruppierung in Kategorien des Anderen zu brandmarken, der nicht nur den Staat, sondern auch die Normen der Sprache selbst umstürzte.“ Er argumentiert: „Wir sollten die kannibalistische Sprache in Johannes 6,52-66 im sozialen Kontext dieses Hin- und Herfeuerns von Beschimpfungen zwischen den Synagogenautoritäten und der sektiererischen johanneischen Gemeinschaft interpretieren“, und er behauptet, dass „der johanneische Autor das kulturelle Tabu des Kannibalismus in positiver Weise als Mittel zur Selbstdefinition seiner Gemeinschaft aufwertete, um Außenseiter auf die falsche Fährte zu locken und die Eingeweihten auszusortieren, ‚die nicht glaubten‘ (6,64)“ [156, 136].

In seiner Argumentation geht Harrill davon aus, dass es Kannibalismusvorwürfe gegen die johanneischen Christusgläubigen gibt, und dass diese Vorwürfe von den Juden kommen. [150]

Obwohl Sie (323) mit Harrills Argument einverstanden sind, „dass es in Johannes 6 um Sektierertum geht“, bezweifeln Sie zu Recht

dass das vierte Evangelium auf jüdische Vorwürfe des christlichen Kannibalismus zur Zeit der Abfassung des Evangeliums antwortet. Der Text des Evangeliums enthält keine Belege für diese Behauptung.

Wie bereits oben angemerkt, spielen sich Johannes zufolge die Aussagen Jesu über das Kauen seines Fleisches und das Trinken seines Blutes im eigenen Jüngerkreis ab; nirgends gehen judäische Gegner darauf ein.

Ich füge die Frage hinzu, warum Johannes, falls solche Vorwürfe gegen seine Gemeinde erhoben worden wären, darauf ausgerechnet mit Provokationen hätte antworten sollen, die diese Vorwürfe geradezu zu bestätigen scheinen. In der Regel würde man doch eher jeden solchen Verdacht weit von sich weisen und auf missverständliche Äußerungen lieber verzichten.

7.2 Spielt Johannes 6 auf eine mit Fleisch- und Blutgenuss besiegelte verschworene Gemeinschaft gegen die Juden an?

Sie selber ziehen es vor,

die untersuchte Passage vor einem anderen Hintergrund zu lesen: nämlich dem von Gruppen in der griechisch-römischen Welt, deren Mitglieder Menschenopfer darbrachten und anschließend das Opferblut tranken und das Opferfleisch aßen. Die Mitglieder der johanneischen Gemeinde dürften mit dieser Art von Ritualen, die mit dem Essen zusammenhängen, vertraut gewesen sein. Da die Verbrüderung <101> mit Blut und Leib in der Antike ein weit verbreiteter Topos war, hätten die Mitglieder der johanneischen Gemeinde leicht Anspielungen auf solche Praktiken erkennen können, wenn sie Johannes 6 bei ihren gemeinsamen Mahlzeiten gehört oder gelesen hätten.

Dazu gehen Sie unter anderem (324) auf drei Quellen ein, die sich auf das „Ende des ersten Jahrhunderts, ungefähr zeitgleich mit dem Johannesevangelium“ beziehen, „bei dem die Mitglieder einer Gruppe rituell mit menschlichem Blut umgehen und Teile eines menschlichen Leichnams berühren oder sogar verzehren, um das Band ihrer Gruppe zu besiegeln oder zu erneuern.“ Plutarch berichtet über eine Verschwörung junger Römer, die ein fremdes Opfer ermorden, Publius Papianus Statius über geopferte Kinder in der Familie des Charops. Und Josephus wehrt sich gegen Unterstellungen Apions, es hätte Menschenopfer im Tempel von Jerusalem gegeben, und zwar auf Grund (326)

eines unerhörten Gesetzes der Judäer, wonach sie alljährlich einen griechischen Ausländer fangen, ihn ein Jahr lang mästen, ihn im Wald töten, seinen Körper rituell opfern, dann von seinen Eingeweiden essen und schwören, Feindschaft gegen die Griechen zu hegen. <102> Anders als in den vorhergehenden Quellen ist hier nicht von Blut die Rede, sondern ausschließlich vom Verzehr des menschlichen Fleisches eines Opfers, das als Hellene bezeichnet wird. Die Juden verzehren in diesem Bericht also rituell ein Mitglied einer bestimmten anderen Ethnie, um ihren Hass gegen diese zu besiegeln.

Aus der Beobachtung einer Vielzahl weiterer Berichte über ähnliche Vorfälle und Praktiken ziehen Sie folgenden Schluss (329f.):

Da in der griechisch-römischen Welt über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten in verschiedenen Quellen eine ähnliche Reihe von Handlungen auftaucht, kann man von einem Topos sprechen. In jeder dieser Quellen ist es eine bestimmte Gruppe von Menschen, die einen Menschen tötet oder zumindest einen toten Körper oder Teile davon nimmt und rituelle Handlungen an ihm vollzieht. Manchmal ist mit dieser Gruppe ein ganzes Volk gemeint, in anderen Fällen eine kleinere Gruppe, aber in jedem Fall dient das Ritual ausdrücklich der Besiegelung oder Erneuerung eines Eides oder einer verbindlichen Absicht. Der Topos des Verzehrs von Blut und Leichenteilen taucht in Berichten über Gruppen auf, die eine Bindung besiegeln, oder er erscheint als eine periodisch wiederholte Praxis, um eine bestehende Gruppe zu festigen und ihre Grenzen gegen Außenstehende zu erneuern.

Jetzt wird deutlich, warum Sie mehrfach betont haben, dass es angeblich auch im Johannesevangelium um eine streng exklusivistische Gruppe geht, die sich immer mehr auf sich selbst zurückzieht (330):

Im Licht dieser Quellen gibt es auffällige Parallelen zwischen Johannes 6, in dem der Verzehr von Fleisch und Blut Jesu die Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Gruppe Jesu ist, und dem Topos der Praktiken, die bestimmten Personenkreisen in der griechisch-römischen Welt zugeschrieben werden. Wie auf der Erzählebene des vierten Evangeliums gezeigt wurde, bilden diejenigen, die es wagen, das Fleisch zu essen und das Blut ihres Führers und Gründers zu trinken, schließlich eine exklusivistische Gruppe, eine Sekte, die sich von „den Juden“ abgrenzt.

Ihre folgende Formulierung weist allerdings auf ein entscheidendes Problem Ihrer Argumentation hin:

Das Essen des Fleisches Jesu und das Trinken seines Blutes – was auch immer das entsprechende Ritual tatsächlich beinhaltet haben mag – schafft und stärkt eine eng zusammenhängende Gruppe von Anhängern Jesu.

Das Problem besteht darin, dass gerade Johannes nicht einmal von einem Ritual mit Brot und Wein berichtet – abgesehen von dem Bissen, den Jesus ausgerechnet dem Verräter Judas überreicht – und erst recht von keinem rituellen Genuss von Jesu Fleisch und Blut im wortwörtlichen Sinn nach Jesu Kreuzigung weiß. In allen Quellen aus der griechisch-römischen Welt, die Sie zitiert haben, geht es dagegen um irgend einen realen Umgang mit dem Fleisch oder Blut eines Mordopfers.

Weiter betonen Sie nochmals gegen Harrill [135],

dass Johannes 6,51-58 keine Antwort auf unausgesprochene Vorwürfe von Seiten der Juden ist. … Vielmehr könnte es umgekehrt sein: Die provokative Rede löst das Verlassen „vieler Jünger“ (Johannes 6,66) und den Entschluss „der Juden“ aus, Jesus zu töten (7,1, vgl. 5,18).

Richtig daran ist, dass Jesu provokative Sprache tatsächlich dazu führt, dass Jesusanhänger ihn verlassen. Aber im Konflikt mit den Ioudaioi, „Juden“ oder „Judäern“, die Jesus töten wollen, spielt der Vorwurf, gegen Speisegebote oder das Bluttabu der Tora verstoßen zu haben, nirgends eine Rolle.

Schließlich spitzen Sie Ihre These über eine „johanneische Verbrüderung über Fleisch und Blut“ insofern zu, als Sie sie mit einer grundsätzlichen Abgrenzung von „den Juden“ verbinden:

Jesus ist ein Mordopfer; es sind „die Juden“, so Johannes, die für dieses Verbrechen verantwortlich sind. Der Mord an Jesus schweißt seine Anhänger zusammen. Diejenigen, die an Jesus teilhaben, sind Teil von ihm, so wie er Teil des Vaters ist, und dadurch gewinnen sie das Leben.

Hier lassen Sie jede Differenzierung im Blick auf die Verantwortung für Jesu Tod und die vielfältigen Widersprüche, in die der johanneische Jesus verwickelt ist, vermissen. Erst eine heidenchristlich geprägte dualistische Lektüre des Johannesevangeliums sieht Jesus in einem antagonistischen Gegensatz zu „den Juden“, während Johannes selbst sehr unterschiedliche Konfliktlagen zwischen Jesus und der priesterlichen Elite, pharisäisch-rabbinischen Juden, zelotisch-militärisch agierenden Juden und eigenen Schülern, die sich enttäuscht von ihm abgewandt haben, beschreibt und daneben auch (11,45; 12,11) von „vielen Juden“ spricht, die auf Jesus vertrauen.

Für Johannes ist es zwar unverzeihlich, dass Judäer mit Rom kollaborieren, um den Messias des eigenen Volkes aus dem Weg zu räumen; das ändert aber nichts daran, dass Jesus hauptsächlich in einem unüberbrückbaren Gegensatz zur Römischen Weltordnung steht und vom Repräsentanten dieses kosmos hingerichtet wird.

Leider erwägen Sie nicht einmal die Möglichkeit, dass die johanneische Gemeinde eine sektierische Gruppe politischer Prägung gewesen sein könnte, deren Mitglieder nicht die Verschmelzung mit einem heidnisch zu verstehenden Gott anstrebten, um ewiges Leben im Jenseits zu erhalten, sondern dem Messias Israels auf seinem Weg folgen wollten, dessen Fleisch – also genau diese jüdische Existenz als der Verkörperung des befreienden NAMENS des Gottes Israels – am Römischen Kreuz ermordet wird. Es ist genau dieser Mord am Messias Israels, durch den in den Augen des Johannes die herrschende Weltordnung bloßgestellt und der Weg frei gemacht wird, um sie zu überwinden und die kommende Weltzeit anbrechen zu lassen.

7.3 Übertreibt Johannes rituelle Abendmahlspraktiken in polemisch-ironischer Absicht?

Dann verweisen Sie (331) auf

einen offensichtlichen Unterschied zwischen Johannes 6 und den Beschreibungen der Enklaven <103> in den verschiedenen Quellen. Im Gegensatz zu den meisten der angeführten Quellen ist das Opfer, an dessen Fleisch und Blut sich die Gruppe laben soll, bei Johannes kein Fremder oder Feind. Vielmehr handelt es sich um ein Mitglied der Gruppe, nämlich um den Anführer selbst, Jesus – das ultimative Opfer. Dieser Unterschied entkräftet jedoch nicht die vorgebrachte Argumentation. Dass die Person oder Gestalt, um die sich eine Gruppe schart und mit der sich die Gruppe identifiziert, die Quelle von Fleisch und Blut sein kann, ist ebenfalls ein vertrauter Topos. Der Gedanke des heilbringenden Verzehrs des Gründers, selbst wenn er von anderen getötet wird, ist aus den frühesten Traditionen der Christusgläubigen bekannt.

Dazu nennen Sie 1. Korinther 11 als Beispiel (331f.):

In der Darstellung des Paulus werden Brot und Leib, Wein und Blut direkt mit Jesus in Verbindung gebracht. Die Adressaten des Paulus werden aufgefordert, Jesu zu gedenken, wenn sie das Ritual vollziehen. Die positive Konnotation des Gedenkens an das Essen und Trinken eines ermordeten Stifters ist also keine johanneische Erfindung. Der Bericht des Johannes ist jedoch mehr als eine bloße Wiederholung dieses Gedankens. Durch die Verwendung einer sehr anschaulichen Sprache, einschließlich sarx statt sōma und trōgein statt esthiein, veranschaulicht Johannes das Ritual viel deutlicher. Er antwortet nicht unbedingt auf unausgesprochene Kannibalismusvorwürfe, sondern greift wahrscheinlich auf den bekannten Topos des Verzehrs von Menschenfleisch und -blut in bestimmten Personenkreisen zurück. Mit dieser sehr bildhaften Sprache spielt Johannes auf deren Ritual an und verwendet dieses Motiv in Form einer positiven Aufwertung.

So überzeugend dieses Argument auf den ersten Blick wirkt, gebe ich doch zu bedenken, dass Johannes eben kein Abendmahlsritual einsetzt. Wenn er es getan hätte, dann hätte er sicher wie Paulus (1. Korinther 11,25), Markus (14,24), Matthäus (26,28) und Lukas (22,20) den biblischen Rückbezug auf das „Blut des Bundes” von Exodus 24,8 nicht außer Acht gelassen.

Das bringt mich auf eine andere Idee. Kann es sein, dass Johannes in Kenntnis von kannibalischen Praktiken die ihm ebenfalls bekannten Riten anderer messianischer Gemeinden provokativ übertreibt, gerade um dem Missverständnis entgegenzuwirken, es handle sich dabei um Mysterienkulte? Schleudert er ihnen die Frage entgegen, ob sie tatsächlich den Messias essen wollen, so wie die Heiden in ihren abscheulichen Ritualen? Ihr esst das Brot des Lebens, trinkt das Blut des Bundes? Dann esst tatsächlich sein Fleisch, trinkt tatsächlich sein Blut, Jesus wird ja ermordet, geschlachtet am römischen Kreuz, verraten und ausgeliefert von Menschen aus seinem eigenen Volk. Wer ihm nachfolgt, läuft Gefahr, dasselbe Schicksal zu erleiden! Wollt ihr tatsächlich eins sein mit diesem Fleisch, mit diesem blutigen Ende am Kreuz? Einer solchen kritischen Haltung gegenüber dem Abendmahl entspricht, dass das einzige, was bei Johannes einem Ritual nahe kommt, die Fußwaschung ist, bei der Jesus seinen Schülern als Sklave dient.

7.4 Dient das Mittel der Ironie einer heidnischen oder jüdischen Johannes-Lektüre?

Entscheidend für die Interpretation von Johannes 6 ist also, ob das Evangelium als Dokument eines jüdischen Messianismus oder einer heidnischen Mysterienreligion verstanden wird. Sie stempeln es als unrettbar heidnisch ab, indem Sie schreiben (332):

Die wörtliche Bedeutung kann durchaus als Anspielung auf Enklaven verstanden werden, die menschliches Blut verzehrten, um ihre Gruppenidentität zu festigen, oder die das Fleisch ihres Stifters aßen, um so eine Einheit mit ihrem Stifter zu schaffen und das ewige Leben zu erlangen. Johannes spielt auf die Bindungsfunktion des gemeinschaftlichen Verzehrs von Fleisch und Blut an und wertet die Tatsache, dass das Opfer der Gründer der Gruppe ist, positiv auf, eine Vorstellung, die ihm aus den frühesten Traditionen der Christusgläubigen vertraut ist.

Das Kauen des Fleisches Jesu dient letztlich dazu, diejenigen zu unterscheiden, die den Mut haben, sich der von Johannes beschriebenen Gruppe Jesu anzuschließen und in ihr zu bleiben, und diejenigen, die dies nicht tun. In diesem Licht könnte Johannes 6 erklären, dass die wahren Nachfolger Jesu diejenigen sind, die das Fleisch Jesu kauen und sein Blut trinken, um das ewige Leben zu erlangen. Sie sind diejenigen, die es wagen, hörbar und sichtbar zu zeigen, dass sie zur Gruppe Jesu gehören.

Auch Sie fragen sich allerdings, wie ich es eben getan habe,

ob dies ein weiteres Beispiel für johanneische Ironie sein könnte. Das Signal dafür wäre in Johannes 6,63 zu finden, wo Jesus erklärt: „Der Geist ist es, der Leben gibt; das Fleisch ist nutzlos. Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und Leben.“ Zunächst schildert Johannes die Anhänger Jesu als eine eng verbundene Gruppe, die sich durch den Verzehr seines Fleisches und Blutes um ihren Führer schart. Aber am Ende sagt Jesus, dass das Fleisch nutzlos ist und dass es in Wirklichkeit der Geist ist, der Leben gibt. Letztlich sind es die Worte, die zählen; nur die Worte sorgen für das ewige Leben; es ist der Geist, der Leben schenkt. Mit Blick auf Johannes 6,63 können die vorangegangenen Verse mit einem ironischen Unterton gelesen werden.

Abgesehen davon, dass Jesus das Fleisch nicht für wirklich „nutzlos“ hält, sondern ihm unter Bezug auf Ezechiel 37,5-6 seinen biblischen Stellenwert zuordnet, indem ihm nur durch den göttlichen Geist, pneuma, hebräisch ruach, Leben eingehaucht wird, weist tatsächlich die Betonung der Inspiration durch göttlichen Geist darauf hin, dass es hier nicht um ein heidnisches Ritual der Blutsbruderschaft geht, sondern dass Johannes ironisch provoziert und sogar noch seine Kritik an oberflächlicher Eucharistie durch Anspielungen auf heidnische Rituale auf die Spitze treibt.

Mit Ihren Überlegungen zur johanneischen Ironie (333)

schließt sich der Kreis zu der Frage, ob Johannes 6 wörtlich oder metaphorisch verstanden werden sollte. Die Analyse der wörtlichen Bedeutung im Licht der Berichte über die römischen Enklaven zeigt, dass gerade diese Passage letztlich tatsächlich ein metaphorisches Verständnis erfordert, demzufolge Jesus seine Anhänger nicht zur Anthropophagie ermutigt, sondern vielmehr die Bedeutung der spirituellen Ebene betont.

Insofern ziehen Sie Ihre Identifikation johanneischer Vorstellungen mit heidnischen Fleisch-und-Blut-Praktiken wieder zurück, wenngleich Sie betonen:

Die vorgeschlagene Interpretation dieses Kapitels zeigt jedoch auch, dass man die Anspielungen auf diese Enklaven übersieht, wenn man sich dafür entscheidet, die wörtliche Bedeutung von vornherein zu ignorieren.

Tatsächlich bin ich Ihnen dankbar für diese Hinweise, da es wirklich sein kann, dass Johannes von solchen zeitgenössischen Hintergründen her auf Ideen für seine provokativ-ironische Kritik an messianischen rituellen Praktiken gekommen ist.

Allerdings zeigt das, was Sie über das Ziel der Ironie bei Johannes sagen, dass wir uns keineswegs darüber einig sind, was er wirklich meint:

Die Ironie besteht darin, dass der Evangelist die wahre Bedeutung enthüllt, indem er sie zunächst verbirgt. <104> … Wichtiger als die genaue Definition der Ironie und ihre Verwendung in diesem Abschnitt ist ein anderer Aspekt: Die ironische Zweideutigkeit in diesem Kapitel dient als Mittel, um das einzig wahre Verständnis der Botschaft Jesu zu unterscheiden. Johannes 6,63 weist darauf hin, dass, wie in der gesamten Rede vom Brot des Lebens, die wahren Jünger Jesus verstehen und die Juden diejenigen sind, die ihn nicht verstehen.

Gerade „das einzig wahre Verständnis der Botschaft Jesu“ kann jedoch kaum durch eine ironische Zweideutigkeit herausgestellt werden, und selbst wenn Johannes das gemeint haben sollte, beurteilen zumindest heutige Exegeten die Frage sehr unterschiedlich, worin denn nun die Wahrheit der Botschaft Jesu besteht. Geht es um jenseitiges ewiges Leben für eine exklusive Schar von rituell initiierten Christen, die die Juden ihrer Heilsgüter enterben? Oder geht es um radikalen jüdischen Messianismus mit dem Ziel der Überwindung der Römischen Weltordnung? Sie vertreten deutlich die erstere Position (334):

Das Kauen des Fleisches Jesu und das Schlucken seines Blutes werden zu den entscheidenden Voraussetzungen, um das ewige Leben zu erlangen, ein Mittel, um Mitglied der Jesuscrew zu werden.

Und Sie verbinden diese Auffassung mit der Vermutung, dass

Johannes sich sehr wohl an eine Zuhörerschaft wenden mag, die sich bereits vom Judentum distanziert hat oder aus einem ganz anderen, nämlich heidnischen, Umfeld stammt. Die Anspielungen wären in erster Linie von einem Publikum aufgenommen worden, das mit dem Topos der Verbrüderung durch menschliches Fleisch und Blut vertraut war. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie tatsächlich menschliches Blut oder Fleisch zu sich nahmen. Das Brot und der Wein, die mit Jesus in Verbindung gebracht werden, können durchaus als Platzhalter gedient haben; schließlich setzt sich Jesus selbst mit dem Brot gleich, das vom Himmel herabgekommen ist. Die Rede kann dazu dienen, denjenigen, die bereits zu der Gruppe derer gehören, die „das Fleisch Jesu kauen,“ zu versichern, dass sie das Richtige tun und dass es wichtig ist, dass sie sich weiterhin um ihren Führer scharen.

Dass es in der gesamten Brotrede um eine klare Gegenüberstellung von „wahren Jüngern“ und „den Juden“ geht, die Jesus verstehen bzw. nicht verstehen, stimmt allerdings schon deshalb nicht, weil unterschiedliche Gruppierungen angesprochen werden – von zelotischen Juden, die Jesus gegen seinen Willen zum König machen wollen, über rabbinische Juden, mit denen er über das himmlische Manna streitet, bis hin zu Jesu eigenen Schülern, von denen sich auf Grund seiner „bösen Rede“ über das Fleisch des Messias viele von ihm abwenden. Gerade Johannes 6,63 bezieht sich nicht auf „die Juden“, sondern auf „seine Schüler“. In meinen Augen erklärt nur eine jüdisch-messianische Lektüre des Johannesevangeliums das differenzierte Bild, das Johannes von den Konflikten Jesu mit seinen diversen Gegnern zeichnet. Das hinderte die schon bald heidenchristlich dominierte Kirche nicht daran, alle diese Konflikte im Sinne einer einzigen christlich-jüdischen Feindschaft dualistisch glattgebügelt zu interpretieren.

Sie dagegen wiederholen auch in Ihrer abschließenden Zusammenfassung Ihrer Ergebnisse zu diesem Thema Ihre Auffassung (364), dass die Juden als die

archetypischen Gegner Jesu und seiner Anhänger in der Erzählung das Angebot Jesu nicht nur nicht annehmen, sondern von den Behauptungen Jesu und seiner Aufforderung, sein Fleisch zu kauen und sein Blut zu trinken, so abgestoßen sind, dass sie ihren Entschluss, ihn zu töten, festigen. Diejenigen jedoch, die an Jesus glauben – die ihn mit Hilfe des Fleisches oder des lebendigen Brotes als Platzhalter für ihn verzehren – können sicher sein, das ewige Leben zu erlangen.

Dazu wiederhole ich, dass es mehr als fraglich ist, ob Johannes in einem so allgemeinen „archetypischen“ Sinne alle Juden als Feinde Jesu ansieht. Dem steht entgegen, dass Jesus und alle seine Schülerinnen und Schüler, seine Mutter und seine Brüder, selber Juden sind, dass auch „viele Juden“ auf Jesus vertrauen und dass selbst seine jüdischen Gegner sehr unterschiedlichen Gruppen angehören.

Außerdem führt jedenfalls nicht ausdrücklich die Aufforderung zum Fleischessen und Bluttrinken, an der (6,60) der engere Kreis der Schüler Jesu Anstoß nimmt, zur Entscheidung judäischer Gruppierungen, Jesus töten zu wollen. Bereits in 5,18 werden andere Gründe genannt, nämlich die Sabbatübertretung und die Gleichsetzung mit Gott, und die Hohenpriester unter der Führung des Kaiphas beschließen in 11,47-53 den Tod Jesu aus politischen Erwägungen.

8. Jüdisch-heidnische Multikulturalität in der johanneischen Gemeinde?

Im Rückblick auf Ihre Kapitel 5 bis 7, in denen Sie Johannes 6 besondere Aufmerksamkeit geschenkt und dabei vor allem die Verse 51-58 „vor einer Reihe verschiedener Hintergründe“ gelesen haben, stellen Sie zusammenfassend fest (364f.):

Es wurden Anspielungen auf eucharistische Traditionen festgestellt und Anklänge an Motive aus Mysterientraditionen herausgearbeitet. Dieselbe Passage kann im Kontext angeblicher Vorwürfe des Kannibalismus gelesen oder dem Topos anthropophagischer Verhaltensweisen in der griechisch-römischen Welt insgesamt gegenübergestellt werden, und aus Quellen über Enklaven, die sich über den Verzehr von Menschenfleisch und -blut zusammenschließen, ergeben sich auffällige Entsprechungen.

Im Blick auf diese verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten plädieren Sie dafür (365),

sehr kritisch und vorsichtig bleiben, wenn es darum geht, die Gültigkeit, d.h. die „Wahrheit“ seiner oder ihrer Interpretation zu beanspruchen. … Alle diese Interpretationen sind bis zu einem gewissen Grad möglich und plausibel, aber keine von ihnen kann für sich in Anspruch nehmen, die einzig wahre zu sein, und es bleibt eindeutig Raum für noch mehr Interpretationen, als in der vorliegenden Arbeit entwickelt wurden.

Daran mag ich gerne anknüpfen und darauf hoffen, dass Sie meine kritischen Anmerkungen und die jüdisch-messianische Lektüre des Johannesevangeliums von Ton Veerkamp als ebenfalls möglich und plausibel in Erwägung ziehen.

Ihre unmittelbar folgende Einschätzung mag ich allerdings nicht teilen:

Neben dieser eher enttäuschenden Erkenntnis lassen sich aber auch positivere Bewertungen dieses Phänomens anführen. Was für moderne Bibelwissenschaftler frustrierend (oder erstaunlich!) sein mag, kann für das ursprüngliche Publikum tatsächlich eine integrierende Wirkung gehabt haben. Unabhängig davon, ob die Menschen, die sich am Tisch versammelten, aus dem Judentum oder dem Heidentum stammten, hatten sie die Möglichkeit, Merkmale im Text mit einer oder mehreren Ideen, Traditionen und Konzepten in Verbindung zu bringen, die ihnen aus anderen, vielleicht früheren Zugehörigkeiten vertraut waren. Der facettenreiche Charakter des Johannesevangeliums in Bezug auf seine vielfältigen intertextuellen Beziehungen legt nahe, dass das Evangelium die Qualität und Fähigkeit besitzt, Menschen mit heidnischem Hintergrund ebenso anzusprechen wie solche mit jüdischem Hintergrund.

Eine solche quasi multikulturelle Addressierung des Johannesevangeliums würde allerdings voraussetzen, dass beteiligte Juden ihren angestammten Monotheismus bereits relativiert hätten oder – wahrscheinlicher noch – dass in einer heidenchristlich dominierten Kirche jüdische Skrupel kaum noch eine Rolle spielten. Setzt man allerdings voraus, wie ich es tue, dass Johannes ein jüdischer Messianist mit einem rigorosen Vertrauen allein auf den befreienden Gott Israels war, dann hätte er Jesu Gottessohnschaft keinesfalls analog zum Gottmenschentum des heidnischen Gottes Dionysos begriffen, dessen Wunderkräfte sich seine Anhängerschaft auf dem Wege einer Theophagie einverleibt. Allenfalls hätte er mit ironischem Abscheu auf derartige Riten, Praktiken und Glaubensformen Bezug nehmen können, um die Nachfolge eines Messias, dessen Leib von römischen Soldaten zerfleischt wird, mit provokativen Worten als etwas ganz und gar nicht Harmloses darzustellen und das keinesfalls mit einem heidnischen Mysterienkult verwechselt werden darf.

Auch Sie stellen allerdings fest, indem Sie in eine ganz andere Richtung gehen, dass Juden offenbar doch nicht ganz so einfach in eine multikulturelle Johannesgemeinde zu integrieren sind (365-66):

Für diejenigen, die einen jüdischen Hintergrund haben, können jedoch einige zusätzliche und besondere Schlussfolgerungen gezogen werden.

Die Art und Weise, wie das Evangelium die Außenseiter der Tischgemeinschaft darstellt, mit wachsender Feindseligkeit zwischen Jesus und seinen Anhängern einerseits und den Juden andererseits, legt nahe, dass Mitglieder der johanne­ischen Gemeinde mit jüdischem Hintergrund auf eine bewusste Distanzierung von „den Juden“ hingearbeitet hätten, d.h. von denen, die nicht an Jesus als den Messias glaubten. Eine Art bewusster, vielleicht sogar erklärter Bruch mit dem ethnos, „Volk“, der Juden wäre wohl eingeleitet worden, denn es ist kaum anzunehmen, dass Jesus-Anhänger jüdischer Herkunft sich mit den „bösen“ Juden, die die Mahlgemeinschaft im vierten Evangelium bedrohten, hätten verbünden wollen. Die Konflikte zwischen den Eingeweihten der Mahlszenen und den Außenseitern verweisen auf eine dahinter stehende Gemeinschaft ursprünglicher Adressaten, die sich an einem wichtigen Punkt ihrer Entwicklung befindet. Es ist wahrscheinlich, dass bereits eine gewisse Distanzierung stattgefunden hat, aber wie in vielen Fällen ist der nächste Nachbar der größte Feind und muss daher verunglimpft werden. Dies wäre eine Erklärung für die Feindseligkeit gegenüber den Juden.

Für Johannes spielt es jedoch gar keine Rolle, dass die „die ‚bösen‘ Juden“ von einer „Mahlgemeinschaft“ Jesu ausgeschlossen sein bzw. für diese eine Bedrohung darstellen sollen. Vielmehr sind es Schüler Jesu, die an Jesu provokativer Rede in 6,51-58 Anstoß nehmen, und gerade der Verräter Judas gehört zum engsten Jüngerkreis.

Die Konflikte mit „den Juden“ im Johannesevangelium haben also nicht mit einer Bedrohung der Tischgemeinschaft zu tun, sondern es geht um innerjüdische Streitigkeiten zwischen messianischen Juden und vor allem toratreuen Rabbinen darüber, ob Jesus der Messias ist, ob er sich erlauben darf, im Namen des Gottes Israels zu sprechen oder am Sabbat Werke zu verrichten. Mit zelotisch orientierten Juden wird auch darüber gestritten, in welcher Weise Jesus der König Israels ist und wie er als der gekreuzigte und zum VATER aufsteigende Menschensohn die Römische Weltordnung überwindet. Um all diese Konflikte zu begreifen, ist eine intensive politisch-kontextuelle Lektüre des Johannesevangeliums auf dem Hintergrund der jüdischen Schriften als der Großen Erzählung von der Befreiung Israels notwendig. <105>

Ein solcher innerjüdischer Streit mag mit harten Bandagen ausgefochten werden, er impliziert allerdings noch keine anti-jüdische Abgrenzung vom Judentum oder von Israel an sich. Ursprünglich ist Johannes trotz aller Konflikte immer noch daran interessiert, ganz Israel einschließlich Samarias und der Juden der Diaspora in der messianischen Gemeinde zu sammeln. Erst als der Bruch mit dem rabbinischen Judentum unheilbar geworden ist und die johanneischen Messianisten, um nicht als Splittergruppe unterzugehen (Johannes 21), sich der größeren messianischen Bewegung „unter Petrus“ anschließen, gehen sie in einer schon bald heidenchristlich dominierten Kirche auf. Und erst in dieser wird aus dem ursprünglich innerjüdischen Konflikt ein absoluter christlich-jüdischer Gegensatz werden.

9. Verrat bei Tisch

In Ihrem 8. Kapitel beschäftigen Sie sich (336) mit „dem Motiv des Verrats im Zusammenhang mit Mahlszenen“. Es fällt Ihnen auf, dass „Judas vor dem eigentlichen Verrat nur in Mahlszenen erscheint“. Das heißt: „Das Motiv des Verrats im Johannesevangelium kennzeichnet die Mahlzeiten als gefährdete Situationen“. Nun fragen Sie sich (336f.),

auf welche Weise das Motiv des Verrats im literarischen Text des Evangeliums das reale Leben der ursprünglichen historischen johanneischen Zuhörerschaft angesprochen haben könnte. In Bezug auf das Verratsmotiv stellt sich die Frage, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, dass die damit bei Johannes verbundene Vorstellung von Angst und Unsicherheit eine Entsprechung in der Geschichte hat, oder ob es sich um ein rein literarisches Motiv handelt.

Dabei beschränken Sie das Motiv des Verrats nicht nur auf den in der Antike als besonders abscheulich empfundenen Bruch einer Freundschaft und Mahlgemeinschaft, sondern beschäftigen sich auch (338) mit

dem anschließenden Prozess, bei dem das unschuldige Opfer Jesus zum „Spielball“ der jüdischen Feinde wird, die mit dem römischen Statthalter Pilatus kollaborieren. Historisch gesehen haben jedoch die Römer Jesus mit der römischen Methode der Kreuzigung getötet. Diese Spannung muss im Hinblick auf ihre Bedeutung für das ursprüngliche Publikum untersucht werden, das den Bericht über den Verrat hört, möglicherweise bei einem gemeinsamen Essen. Beide Gruppen von Akteuren in der Erzählung, die Juden und die Römer, müssen unter die Lupe genommen werden. Ich werde zunächst die Möglichkeit erörtern, dass die Juden historisch gesehen Christusgläubige verfolgten, und dann das Motiv des Verrats vor dem sozialen Hintergrund des römischen Imperiums untersuchen. Insbesondere die periodischen Verbote von freiwilligen Zusammenschlüssen werden als historischer Hintergrund diskutiert, vor dem das Verratsmotiv bei Johannes beleuchtet werden kann.

9.1 „Furcht vor den Juden“ erwächst aus der Bedrohung durch die Römische Weltordnung

Zur Frage (339), „ob an der Darstellung der Furcht vor den archetypischen jüdischen Gegnern im vierten Evangelium ein Körnchen Wahrheit dran ist“, die sich auf die “aposynagōgos-Bezüge (Johannes 9,22; 12,42; 16,2) … als Hauptquelle“ bezieht, zitieren Sie Stephen Wilson, <106> der

zu dem Schluss kommt, dass „es genügend Beweise aus verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gibt, die darauf hindeuten, dass Juden sich den Christen auf verschiedene Weise widersetzten und dass dies zu Tod und körperlicher Bestrafung (selten), Vertreibung, Gerüchteküche und Ähnlichem führte.“ [175]

Wilson wendet sich also dagegen, das Ausmaß dessen zu übertreiben, was christliche Gruppierungen als Verfolgung beschrieben, und schreibt wörtlich (340):

„Was von jüdischen Behörden als Disziplinarmaßnahme angesehen wurde, kann von den Christen als Verfolgung empfunden worden sein, so dass nicht nur das, was geschah, sondern auch das, was als geschehen wahrgenommen wurde, von Bedeutung war. Die Art und Weise, wie die Realität rezipiert, erinnert und manipuliert wurde, hat eine ebenso tiefgreifende Wirkung auf die christlichen Gemeinschaften wie die Realität selbst. Auch wenn die Schlussfolgerung, dass Juden Christen belästigten und behinderten, von Bedeutung ist, so ist sie doch nicht das Wichtigste, was wir berücksichtigen müssen.“ [176]

Eine sehr ähnliche Einschätzung vertritt Ton Veerkamp, <107> wenngleich er davon ausgeht, dass man die Gruppierung, in der das Johannesevangelium entstand, noch nicht als Christen, sondern als messianische Juden bezeichnen sollte. Wenn diese Messianisten die Synagoge als Ort provokativer Proklamationen des Messias Jesus benutzten, konnte die Führung einer Synagoge durchaus zu Recht die Unruhestifter vor die Tür setzen, um ihren stets prekären Rechtsstatus als religio licita nicht zu gefährden. Dadurch wiederum verloren die Ausgeschlossenen ihren Schutz durch die Synagoge und mögen den Verantwortlichen zum Vorwurf gemacht haben, sie zu Unrecht und völlig grundlos tödlichen Gefahren auszusetzen. Eine solche Sicht der Dinge stimmt auch mit der Einschätzung von Micha Brumlik <108> zusammen (340f.):

Nach Micha Brumlik spiegeln die aposynagōgos-Passagen ein traumatisches Ereignis in der Erfahrung der johanneischen Gemeinde wider. Er bestreitet jedoch die Wahrscheinlichkeit einer aktiven Verfolgung der johanneischen Christusgläubigen durch Juden in der Zeit von 70-135 n. Chr., weder in Judäa noch in der Diaspora. Brumlik argumentiert, dass die Juden selbst unter dem Druck der Römer bedrängt wurden und kaum die Macht hatten, andere Gruppen zu verfolgen, und dass es keine stichhaltigen Beweise in der sozio-politischen Realität des vierten Evangeliums gibt.

Ekkehard W. Stegemann <109> ergänzt:

Auch wenn die jüdischen Reaktionen nie über Beleidigungen oder Verfluchungen von Christusgläubigen hinausgingen, ist es möglich, dass öffentliche Äußerungen solcher Aussagen zu Repressalien durch die Römer führten und somit als Denunziationen wirkten. Es ist daher wahrscheinlich, dass die Angst vor Verrat durch die Juden in der johanneischen Gemeinde lebendig und stark war. [116-17] Insbesondere das wiederholte aposynagōgos-Motiv für das Bekenntnis zu Jesus als Messias spricht für diese Ansicht. Aber die Furcht vor den Juden allein hätte kaum so feindselige Projektionen hervorrufen können, wie sie im vierten Evangelium zu finden sind. [118]

Damit hat Stegemann sicher Recht; Veerkamp geht, um diese Feindseligkeit zu erklären, davon aus, dass der messianische Jude Johannes politisch gegen das rabbinische Judentum polemisiert, indem er ihm vorwirft, der römischen Weltordnung in die Hände zu spielen, ähnlich wie in seinen Augen bereits die priesterliche Elite Judäs zur Zeit Jesu mit Rom kollaboriert hat, um Jesus aus dem Weg zu räumen.

Jedenfalls sind die Konflikte Jesu mit verschiedenen Gruppierungen der Juden alle dem Grundproblem untergeordnet, dass die Römische Weltordnung ein weltweites Sklavenhaus darstellt, unter dem sich die Juden wie einst in Ägypten geknechtet fühlen. Spannend finde ich in diesem Zusammenhang Ihre Erörterung

der Möglichkeit, dass die Furcht der Juden in der Erzählung eine Furcht vor den Römern einschließt. Das Phänomen der Angst, das mit den johanneischen Mahlszenen verbunden ist, betrachte ich im Zusammenhang mit Quellen, die von Versammlungen der frühen Christusgläubigen zeugen und römische kaiserliche Maßnahmen widerspiegeln. Mahlzeiten von Vereinigungen in der griechisch-römischen Welt untersuche ich als historische Entsprechungen zu den johanneischen Mahlszenen.

9.2 Freiwillige Vereinigungen im Römischen Reich und ihre Beschränkungen

Zunächst betrachten Sie die Frage kritisch (342), welche Art von Gemeinschaften die „entstehende Christenheit“ und insbesondere die johanneische Gemeinde gebildet hat. Lange Zeit „war es üblich, die Gemeinden früher Christusgläubiger und Versammlungen von Judäern/Juden als Sekten zu bezeichnen“ <110> und solche „Gemeinden“ sehr stark von Synagogen „und dem Rest der antiken Gesellschaft <111>” abzugrenzen.

Andere haben die Nützlichkeit der Kategorie „Sekte“ in Frage gestellt und kritisiert. Das Problem des „Sektenansatzes“ ist nicht nur die Typologie als solche, sondern die Tendenz, die Exklusivität und die Abgrenzung von der Gesellschaft als Ganzes überzubetonen, und die mangelnde Beachtung von Belegen, die auf eine komplexere Situation in Bezug auf die Beziehungen zwischen Gruppe und Gesellschaft hinweisen. <112>

Inzwischen (343) spricht viel dafür

dass Gruppen von Judäern/Juden und Christusgläubigen an den gemeinsamen Formen der Identitätskonstruktion und -aushandlung der Antike teilhatten. Es wurde gezeigt, dass Synagogen und Gemeinden auf verschiedenen Ebenen sehr viele Gemeinsamkeiten mit anderen Vereinen aufwiesen, da sie denselben zivilen Rahmen teilten.

Dazu zitieren Sie ausführlich (Anm. 712) Philip Harland [211]:

„Im Großen und Ganzen waren Vereine, Synagogen und Gemeinden kleine, nicht obligatorische Gruppen, die ihre Mitglieder aus verschiedenen möglichen sozialen Netzwerken innerhalb der Polis beziehen konnten. Alle konnten entweder relativ homogen oder heterogen in Bezug auf die soziale und geschlechtliche Zusammensetzung sein; alle führten regelmäßige Zusammenkünfte durch, die eine Vielzahl miteinander verbundener sozialer, religiöser und anderer Zwecke beinhalteten, wobei sich eine Gruppe von der anderen in den Besonderheiten der Aktivitäten unterschied; alle waren auf verschiedene Weise von allgemein akzeptierten sozialen Konventionen wie Wohltätigkeit für finanzielle Unterstützung (z. B. einen Versammlungsort) und der Entwicklung von Führungsstrukturen abhängig; und alle konnten zumindest in gewissem Maße externe Kontakte, sowohl positive als auch negative, mit anderen Einzelpersonen, Wohltätern, Gruppen oder Institutionen im zivilen Kontext unterhalten.“

Demzufolge hätte sich eine johanneische Gruppe nach ihrem Rauswurf aus der Synagoge sehr schnell eigenständig organisieren können, wie sich zuvor schon andere messianische Gruppierungen als ekklesia von der Synagoge getrennt hatten (vgl. Matthäus 16,18 und 18,17, Apostelgeschichte 8,3 und die Paulusbriefe).

Die Zahl (344) solcher „freiwilliger Vereine verschiedener Art“ war erstaunlich hoch. „Listen bekannter Vereinigungen umfassen zwischen 1200 und 2500 Einträgen.” Interessant für Ihre Fragestellung sind die Beschränkungen, denen sie im Römischen Reich unterworfen waren (346):

Vereine waren in der Antike weit verbreitet und bildeten den wichtigsten Rahmen für Zusammenkünfte, die über familiäre Veranstaltungen hinausgingen. Die römische Politik schränkte jedoch zeitweise die Gründung und das Bestehen von freiwilligen Vereinen ein. In ihrer Untersuchung über die Entwicklung der collegia und ihre Beschränkungen durch das römische Recht von 64 v. Chr. bis 200 n. Chr. weist Wendy Cotter darauf hin, dass das Verbot von freiwilligen Gesellschaften und ihre Auflösung ein unbestrittenes Recht und eine häufig angewandte Politik der römischen Kaiser war. Sie argumentiert, dass die Zugehörigkeit zu einem nicht anerkannten Verein eine „sehr reale Gefahr“ darstellte. <113> Daraus ergeben sich zwei Fragen: (1) Gefährdeten die römischen Beschränkungen für Vereine die Mahlversammlungen der frühen Christgläubigen im Allgemeinen? (2) Kann dies im johanneischen Verratsmotiv im Besonderen zum Ausdruck kommen?

Für die johanneische Zeit kann man knapp zusammengefasst sagen (249):

Die römischen Behörden waren misstrauisch gegenüber jeder Art von Menschenansammlung, die nicht in aller Öffentlichkeit stattfand, unabhängig davon, welcher Tätigkeit die Mitglieder nachgingen.

9.3 Der Status christusgläubiger Gruppen im Unterschied zur jüdischen Synagoge

Für „Christusgläubige“, die sich entweder aus eigenem Antrieb von der Synagoge lösten oder aus ihr ausgestoßen wurden, konnte sich dadurch eine bedrohliche Situation ergeben, dass ihre Versammlungen nicht wie das „Judentum von den römischen Vereinsverboten ausgenommen war“ (350):

Durch ihr Verhalten, d. h. die Nichtteilnahme an staatlichen Kulten, machten sich die Christusgläubigen gewissermaßen zu Ausgestoßenen der Gesellschaft, indem sie deren traditionelle Frömmigkeitsmerkmale ablehnten. Anders als die Juden konnten die heidnischstämmigen Christusgläubigen ihr Verhalten nicht einmal mit den Traditionen ihrer Vorfahren rechtfertigen.

Ausführlich gehen Sie (351) auf einen „Briefwechsel zwischen Statthalter Plinius und Kaiser Trajan“ etwa zwei Jahrzehnte nach der Zeit des Johannesevangeliums ein, der „Belege für den Umgang der Römer mit Vereinigungen enthält“. <114> Aus ihm geht hervor (355f.), dass es

unangemessen wäre, davon auszugehen, dass christliche Gruppen systematisch aufgespürt und ihre Versammlungen verfolgt wurden. Das Vorgehen gegen Christgläubige war kein polizeiliches Vorgehen aus eigenem Antrieb, und eine Polizei im heutigen Sinne gab es damals ohnehin noch nicht. <115> Vielmehr handelte es sich um ein Vorgehen auf Grund privater Beschuldigungen. Prozesse gegen Christgläubige setzten eine Anklage voraus. Nur auf eine solche Anklage hin hielt der Magistrat in Anwesenheit beider Parteien eine cognitio ab. Gab es keinen Ankläger, konnte das Verfahren automatisch eingestellt werden [Sherwin-White and Plinius, 778–779].

9.4 Zur Lokalisierung des Johannesevangeliums in Kleinasien oder Transjordanien

Interessant für die geographische Lokalisierung der Entstehung des Johannesevangelium finde ich Ihre Bemerkungen über Kleinasien (356):

Aus dem westlichen Kleinasien gibt es Belege dafür, dass verschiedene freiwillige Vereine, darunter einige Synagogen und Versammlungen von Christusgläubigen, in der römischen Polis ein recht ruhiges und unproblematisches Leben nebeneinander führten und dass zwischen den verschiedenen Gruppen vielfältige Beziehungen bestanden.

Dazu ergänzen Sie in Anm. 763: <116>

Philip Harland zeigt dies in seiner Untersuchung des sozialen und kulturellen Lebens in dieser Region auf. Konkret bietet er eine Einschätzung und einen Vergleich von Ephesus als Ort verschiedener Vereine, Synagogen und Versammlungen im Rahmen der griechischen Stadt oder Polis unter römischer Herrschaft in Kleinasien. Sein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Bedeutung kaiserlicher Kulte, Ehrungen und Verbindungen für die Außenbeziehungen und das Innenleben dieser Gruppen. Anhand von umfangreichem epigraphischem Material und Artefakten argumentiert Harland, dass die oft behaupteten Spannungen und Konflikte in einem anderen Licht zu sehen sind, und übt damit Kritik an der Tendenz der Forschung, Spannungen, Konflikte und Trennungen zu betonen, während andere Aspekte der Beziehungen zwischen Gruppen und Gesellschaft vernachlässigt werden.

Ich zitiere Sie zu diesem Punkt so ausführlich, weil ich mich frage, ob diese Sicht eines relativ konfliktfreien Mit- oder Nebeneinanderlebens verschiedener Gruppierungen in Ephesus nicht geradezu der Annahme entgegensteht, dass das Johannesevangelium genau hier in Kleinasien entstanden sein könnte, wie es beispielsweise Adele Reinhartz erwogen hat. <117>

Sie selbst haben tatsächlich an anderer Stelle (44) eine andere Theorie zur Lokalisierung des Johannesevangeliums in Erwägung gezogen, die „die konfliktreiche Situation des entstehenden Christentum gegenüber dem Judentum richtig beschreibt und berücksichtigt“:

Hinweise auf das nördliche Transjordanien, genauer gesagt auf Gaulanitis, Batanea und Trachonitis oder den südlichen Teil des Reiches von Agrippa II., stützen sich auf das Argument, dass die johanneische Gemeinde überwiegend aus Judenchristen bestanden haben muss, dass ihre Sprache Griechisch war und dass sie in einem ethnisch gemischten Umfeld gelebt haben muss, das von Juden dominiert wurde, die die politische Macht innehatten, wie es für dieses Gebiet der Fall gewesen wäre. <118>

9.5 Das Johannesevangelium als eine anti-imperialistische Erzählung gegen Rom

Zurück zu Ihrem Hauptgedankengang (356):

Dennoch war der Glaube an Jesus als Christus zuweilen gefährlich, wie gezeigt wurde, und in einigen Fällen sogar der römischen Verfolgung ausgesetzt, insbesondere wenn es einen Ankläger gab. Es lässt sich nicht endgültig empirisch nachweisen, dass Johannes bewusst auf solche Realitäten der römischen Herrschaft reagiert, aber bestimmte Elemente im Johannesevangelium stimmen mit Praktiken überein, die die Römer im Umgang mit Christusgläubigen anwandten.

Es ist möglich, dass Johannes seine Leser gegen eine drohende römische Verfolgung stärken wollte.

Zur Begründung verweisen Sie zunächst auf Johannes 11,48 (356f.):

Die Hohenpriester und die Pharisäer diskutieren, wie sie mit Jesus umgehen sollen, der viele Zeichen tut, was in ihren Augen eine Gefahr darstellt. Sie beschließen, dass: „Wenn wir ihn so weitermachen lassen, werden alle an ihn glauben, und die Römer werden kommen und sowohl unser Heiligtum als auch unser Volk vernichten“ (11,48). Die Sorge gilt nicht Jesus direkt, sondern den Römern.

Lance Byron Richey <119> (357) sieht das Johannesevangelium in einer scharfen Auseinandersetzung mit der „Römischen Reichsideologie“, indem zum Beispiel

Johannes Schlüsselwörter, die sich auf die Macht und Göttlichkeit Jesu beziehen, mit der kaiserlichen Terminologie teilt, wie „Retter der Welt“ und „Sohn Gottes“. Die Verwendung eines solchen Vokabulars dient dazu, Begriffe der augusteischen Kaisersprache zu übertragen und sie Jesus Christus zuzuschreiben.

Zugleich geht er vom aposynagōgos-Motiv her davon aus, dass zur Zeit des Johannesevangeliums „bereits ein Bruch mit dem Judentum stattgefunden hatte“. Das heißt, die johanneische Gemeinde musste die Römer als größte Bedrohung ansehen, zumal „sie im Gegensatz zu den Juden nicht von einer gesetzlichen Ausnahmeregelung profitieren konnten“.

Daraus ergibt sich eine Sicht der johanneischen Passionserzählung, die Ihrer folgenden Behauptung über die Darstellung des Pilatus in den Evangelien (Anm. 695) allerdings entschieden entgegensteht:

Von allen Versionen stellt Johannes Pilatus am deutlichsten als Funktionär des jüdischen Willens dar, der keinen eigenen Willen und keine eigene Macht hat.

Ton Veerkamp <120> hat überzeugend begründet, dass sich letzten Endes Pilatus als der gewieftere Politiker erweist, indem er der judäischen Elite das Bekenntnis zum römischen Kaiser abnötigt; ähnlich argumentiert Lance Byron Richey [156] zum Tauziehen zwischen Pilatus und den Hohepriestern im Streit über die Verurteilung Jesu (357f.):

Richey vertritt die Auffassung, dass die Passionsgeschichte eher als antiimperiale Erzählung denn als antisemitische Hetzschrift gelesen werden sollte. Seine Argumentation stützt sich auf mehrere Passagen, die „grundlegende Gegensätze zwischen Christus und Caesar sowie zwischen den johanneischen Christen und ihren römischen Verfolgern“ aufzeigen. <121>

9.6 Griff Johannes führende Juden wegen ihrer Kollaboration mit Rom an oder brauchte er die Juden als Feindbild für Christusgläubige?

In Ihrer Zusammenfassung des Kapitel 8 stellen Sie schließlich die Frage (360):

Wenn das Römische Reich für die Christusgläubigen bedrohlich war, bleibt zu fragen, warum das Evangelium den Verrat und die Furcht nicht in erster Linie als Furcht vor den Römern, sondern als Furcht vor den Juden darstellt. Eine Möglichkeit der Argumentation ist, dass die Darstellung des vierten Evangeliums widerspiegelt, dass die johanneischen Christusgläubigen die Zusammenarbeit zwischen Juden und der römischen Obrigkeit tatsächlich zu ihrem Nachteil erlebt haben. Es handelt sich also um eine Rückprojektion in die Zeit Jesu. Oder das ganze Motiv ist fiktiv und wird für die Handlung des Evangeliums benötigt. In diesem Fall übernimmt Judas das notwendige Bindeglied zwischen den Juden als den Übeltätern in der Erzählung und der historischen römischen Obrigkeit, die die Macht hatte. Die Juden, die Ungläubigen in der Sicht des Johannes, werden folglich mit dem negativen Pol im dualistischen Weltbild des Evangeliums in Verbindung gebracht.

Ich neige eindeutig der ersteren Option zu, die Ton Veerkamp sehr gut begründet hat, wenn er dabei auch deutlich macht, dass man nicht allen Vorwürfen, die Johannes gegenüber dem rabbinischen Judentum erhebt, zustimmen muss. <122>

Im Übrigen stimmt es gar nicht, dass das Motiv des Verrats im Johannesevangelium ausschließlich mit den Juden verbunden ist, was Sie mehrfach betonen. Über Judas hatten Sie bereits zuvor gesagt (338), dass er „als der Verräter handelt und Jesus an ‚die Juden‘ ausliefert“, und denselben Gedanken betonen Sie hier erneut (358):

Judas, der in einer Mahlszene öffentlich als Verräter identifiziert wird, verkauft Jesus an die Juden. Diese Tat bündelt die im gesamten Evangelium wachsenden Spannungen zwischen Jesus (samt seinen Anhängern) und den Juden.

Tatsächlich erscheint jedoch das Wort paradidōmi, „ausliefern, übergeben,“ das Johannes für den Verrat verwendet,

  • 9mal ohne Bezeichnung derer, denen Jesus ausgeliefert wird: 6,64.71; 12,4; 13,2.11.21; 18,2.5; 21,20);
  • 3mal wird Jesus Pilatus ausgeliefert: 18,30.35; 19,11;
  • nur 2mal erfolgt die Auslieferung tatsächlich an die Judäer: 18,36; 19,16; dabei ist aber nicht Judas derjenige, der die Übergabe vollzieht, und anschließend sind es trotzdem (19,23) die Soldaten des Pilatus, die Jesus kreuzigen, und es ist eindeutig Pilatus (19,19-22), der das Heft in der Hand behält;
  • 1x übergibt Jesus selbst im Tode seine Inspiration an seine Schüler, was mit demselben Wort bezeichnet wird.

Im Klartext: Nirgendwo erwähnt das Johannesevangelium auch nur ein einziges Mal, dass Judas „Jesus an die Juden verkauft“. Weder ist von einem Deal des Judas mit den Priestern die Rede wie in Markus 14,10-11, Matthäus 26,14-16 oder Lukas 22,4-6 noch von einer Auslieferung ausschließlich an die Juden. Vielmehr führt Judas nach Johannes 18,3 eine Truppe an, an deren Spitze eine römische Kohorte, speira, steht. Dann erst folgen die Beamten, hypēretai, der Hohenpriester und Pharisäer. Johannes geht also nicht von einem einfach gestrickten dualistischen Gegensatz zwischen Jesus und „den“ Juden aus, sondern sieht Jesus in einem Hauptwiderspruch zum Römischen kosmos. <123>

Doch obwohl Sie eben noch selbst die Bedeutung der römischen Bedrohung für die johanneische Gemeinde hervorgehoben haben, stellen Sie die Konfliktlage des Johannesevangeliums dualistisch vereinfacht dar (359):

Die johanneische Gemeinde mit ihrer ausgeprägten Identität hätte zwischen Insidern und Outsidern unterschieden. Dies wird durch die erzählerische Entwicklung der Gruppe nahegelegt und durch die Verwendung von Dualismen und Absolutheitsansprüchen im Evangelium unterstützt. Die Interaktionen zwischen Mitgliedern der johanneischen Gemeinschaft und Außenseitern könnten von solchen Ansprüchen beeinflusst worden sein, und sie haben wahrscheinlich Spannungen hervorgerufen. Ein Verrat innerhalb der Gemeinschaft könnte eine Brücke zu den Außenstehenden schlagen und so die Stabilität der Gemeinschaft stören.

Ich nehme an, dass es hier nicht um Dualismen geht, sondern um die Frage des Vertrauens auf den Messias Israels, der hauptsächlich im Kampf mit der Römischen Weltordnung als dem absoluten Gegenspieler, diabolos, des Gottes Israels steht, und mittelbar auch mit Priestern, Zeloten, rabbinischen Juden, die auf unterschiedliche Weise mit Rom kollaborieren oder Rom in die Hände spielen.

Immerhin machen Sie darauf aufmerksam (360), dass die

historische Beziehung zwischen der johanneischen Gemeinde und „den Juden“ nur extrapoliert werden kann. Das Johannesevangelium wurde in einer Zeit verfasst, in der sich Juden und Christusgläubige noch nahestanden, aber das Evangelium deutet darauf hin, dass sie bereits einen gewissen Bruch vollzogen hatten. Wahrscheinlich erschienen die engsten Nachbarn den frühen Christusgläubigen als ihre größten Feinde. Die Schuldzuweisung an die Juden könnte den anhaltenden Trennungsprozess zwischen johanneischen Christusgläubigen und Juden widerspiegeln. Vielleicht war das Judentum immer noch eine attraktive Option für Heiden oder Christusgläubige und bildete einen Grund für den Evangelisten zu betonen, dass Jesus allein das Heil bringt. <124> Oder vielleicht extrapoliert Johannes einfach, um zu rechtfertigen, dass seine Gemeinschaft von Christusgläubigen nichts mit der jüdischen Gemeinschaft zu tun hat, der der Glaube an Jesus als den Messias fehlt.

Die Attraktivität des Judentums auch für Heidenchristen war aber ein Problem, das eher die Gemeinden paulinisch-lukanischen oder auch matthäischen Ursprungs betraf, während Johannes den Heiden eher reserviert gegenüberstand.

Insofern muss gefragt werden, worin denn genau die Nähe des Johannesevangeliums zum jüdischen Umfeld bestand. Nach Ton Veerkamp fühlte sich die johanneische Gruppe selbst noch Israel und den jüdischen Traditionen verpflichtet, und Johannes argumentierte jüdisch-messianisch, wenngleich anti-rabbinisch, anti-zelotisch, anti-priesterlich, und das Ganze vor dem Hintergrund einer einer prinzipiell anti-römischen Haltung. Wenn das zutrifft, empfindet gerade Johannes noch keinen absoluten Gegensatz zwischen Christen und Juden, sondern von seinem absoluten Vertrauen auf den Messias Jesus her klagt er andere jüdische Strömungen des Abfalls vom Gott Israels und der Unterwerfung unter den römischen diabolos an.

Schließlich erwägen Sie noch (361) die Möglichkeit

dass Johannes eher eine Entfremdung von den umgebenden Juden und Römern herbeiführte, als dass er eine historische Situation wiedergab. In jedem Fall hätten die johanneischen Christusgläubigen, die die Geschichte bei einem gemeinsamen Essen lasen, wahrscheinlich so gehört, dass sie in ihr eigenes Leben hineinspricht. Es gibt kaum etwas Verbindenderes als einen gemeinsamen Feind. Der Feind oder die Feinde in der Geschichte, die in den Mahlszenen zu sehen sind, könnten durchaus diese Wirkung gehabt haben.

Eine solche Position entspricht der von Adele Reinhartz vertretenen propulsion theory, die sie in ihrem Buch Cast Out of the Covenant dargelegt hat, derzufolge das Johannesevangelium nicht auf Grund von Ausstoßungserfahrungen aus der Synagoge eine Feindseligkeit gegenüber Juden entwickelt, sondern umgekehrt ein Feindbild braucht, um die eigene Identität als neue Religion, die das Judentum enterben will, zu stärken. <125> Wenn Adele Reinhartz damit Recht haben sollte – welche Konsequenzen müsste das in Ihren Augen für die Bedeutung des Johannesevangelium im Christentum haben? Dürfte ein dermaßen anti-jüdisches Evangelium im biblischen Kanon bleiben? Auf welche Weise könnte in christlichen Kirchen über Johannes gepredigt werden?

10. Jesus auf Diät?

In einem Anhang (368) behandeln Sie „das Thema der Enthaltsamkeit Jesu in Bezug auf irdische Nahrung“ und „diskutieren deren Auswirkungen auf die Frage nach der physischen Natur Jesu und ihr Wechselspiel mit Jesu göttlicher Natur“.

10.1 Beweist es Jesu Enthaltsamkeit, wenn er als Gastgeber und nicht als essend oder trinkend dargestellt wird?

Dass Sie zur Begründung seiner angeblichen Enthaltsamkeit hauptsächlich auf „seine Rolle als Gastgeber, der selbst nicht teilnimmt“ hinweisen, greift meines Erachtens aber zu kurz; eine solche Argumentation müsste auch aus einer Gastgeberin wie Martha (12,2), von der nicht ausdrücklich gesagt wird, dass sie isst oder trinkt, eine enthaltsame Frau machen; gerade dieser Vers deutet im Übrigen darauf hin, dass „ihm“, nämlich Jesus, zu Ehren dieses Mahl veranstaltet wird. Grammatikalisch könnte sich autō auch auf Lazarus beziehen, wie Sie (Anm. 773) bemerken; dagegen spricht aber, dass Lazarus im zweiten Teil des Verses ausdrücklich als Gast dieses Mahls „mit ihm“ genannt wird. Warum sollte Johannes ein Mahl erwähnen, das für Jesus ausgerichtet wird, wenn er davon ausging, dass Jesus auf irdische Nahrung nicht angewiesen war?

Interessant ist, dass Sie jetzt (369), um die Enthaltsamkeit Jesu zu belegen, ausgerechnet ein Argument heranziehen, das Ihrer Annahme widerspricht, auch die johanneische Gemeinschaft hätte eine rituelle Abendmahlsgemeinschaft gepflegt. Tatsächlich stimmt es, dass Johannes 13

im Gegensatz zu den synoptischen Berichten über das Letzte Abendmahl das Essen und Trinken nicht betont. Ob Jesus oder überhaupt jemand bei einer der beiden Mahlzeiten isst oder trinkt, wird nicht erwähnt. Dennoch tritt Jesus als Gastgeber auf, indem er den Jüngern demonstrativ die Füße wäscht.

Wenn es hier aber um Jesu angebliche Enthaltsamkeit ginge, müsste Johannes auch seine Jünger als enthaltsam darstellen wollen. Wie gesagt, straft Johannes eher das rituelle Abendmahl als solches mit Missachtung und ersetzt es durch eine Handlung Jesu, die klarer verdeutlicht, worin die von Jesus geforderte Nachfolge in Form des freiwilligen Sklavendienstes der gegenseitigen agapē, Solidarität, besteht.

Dass Johannes auch in der letzten Mahlszene 21,1-14 nicht erwähnt, dass Jesus selber etwas isst, hat ebenfalls nichts mit grundsätzlicher Enthaltsamkeit zu tun, sondern damit, dass Johannes nicht wie Lukas (24,41-43) einen besondern Akzent darauf legt, Jesu leibliche Auferstehung zu belegen.

10.2 Das Wasser am Jakobsbrunnen und seine symbolische Bedeutung

Die (370) Beschreibung der Szene am Jakobsbrunnen sehen Sie selber als „die zweideutigste Reihe johanneischer Passagen, die sich auf die Versorgung mit Essen und Trinken beziehen“.

Aus „Jesu Bitte an die samaritanische Frau um etwas zu trinken“ in Johannes 4,6-7 schließen Sie, „dass Jesus an diesem Punkt seiner Reise nicht nur müde, sondern auch durstig ist“, aber trotzdem wird nicht dargestellt,

ob er das Getränk erhalten hat und, wenn ja, ob er es getrunken hat. Stattdessen sagt Jesus der samaritanischen Frau, dass das Wasser, das er ihr geben wird, im Gegensatz zu dem Wasser, das sie regelmäßig aus dem Brunnen schöpfen muss, den Durst für immer stillen wird. Das anschließende Gespräch zeigt, dass Jesus das von ihm erbetene Getränk in Wirklichkeit gar nicht braucht: Er selbst ist in der Lage, Wasser zu geben, das dem Wasser der weltlichen Existenz weit überlegen ist. In diesem Fall scheint die ursprüngliche Bitte Jesu um Wasser nur ein Vorwand gewesen zu sein, um die Frau in ein Gespräch zu verwickeln und ihr das Wasser des ewigen Lebens anzubieten.

Richtig daran ist, dass Jesu Bitte um Wasser tatsächlich den Anlass zu einem Gespräch über die Bedeutung lebendigen Wassers im eschatologischen Sinn bildet. Aber ist Eschatologie wirklich in einem spiritualisiert-jenseitigen Sinn zu verstehen oder nicht vielmehr politisch-diesseitig? Jedenfalls spricht auch hier nichts dafür, dass Jesus physisch kein Wasser nötig hätte. Nicht nur er, sondern (4,13) jeder, der von dem Wasser trinkt, das Jesus anbietet, wird physisch wieder Durst haben. Es geht also um die symbolische Bedeutung von Wasser, die mit der Hoffnung auf das Leben der kommenden Weltzeit zu tun hat.

Ton Veerkamp <126> schlägt folgende Deutung dieses Wassers vor:

Wenn Israel das Wasser trinkt, das der Messias ihm geben wird, das der Messias ist, werde es bis zur kommenden Weltzeit nicht mehr dürsten, das heißt nicht länger in einer ausweglosen politischen Lage verharren. So werden die Menschen in der kommenden Weltzeit für sich eine reale Perspektive sehen, und das werde ihnen eine Kraft geben, durchzuhalten bis in jene neue Weltepoche, in der alle Probleme definitiv gelöst sein würden.

Die Frau ist unschlagbar nüchtern. Für sie wäre wirklich eine neue Epoche gekommen, wenn die Maloche der Frauen, das Schöpfen von Wasser aus einem tiefen Brunnen und das Schleppen des Wassers vom Brunnen ins Dorf, einmal aufhört. Wasser im Überfluss ist ein Traum der messianischen Zeit, es ist der Traum des Paradieses des Korans fast in jeder seiner 114 Suren. …

Jeschua bezieht sich auf das Lied jeßußum midbar, „Jauchzen soll die Wüste“, Jesaja 35. Alle entscheidenden Wörter in Johannes 4,13ff. kommen auch in jenem Lied vor. Darin heißt es:

Dann werden die Augen der Blinden geöffnet,
geöffnet die Ohren der Tauben.
Dann wird wie ein Hirsch der Humpelnde tanzen (jedaleg, haleitai),
jubeln die Zunge der Stummen.
Denn es brechen hervor in der Wüste die Wasser (majim, hydata),
und die Flüsse in der Steppe.
Die glühende Öde wird zum Wasserpfuhl,
das Durstige (zimmaˀon, gē dipsōsa) zu Quellen des Wassers (le-mabuˀe majim, pēgē hydatos).

Weder die Frau am Brunnen Jakobs noch die Schüler und die Judäer konnten einsehen, dass das, was Jesaja ausspricht, eine reale Perspektive in der römischen Zeit sein könnte. Die Schüler haben damit bis zuletzt die größte Mühe, und die Frau kann nur an das denken, was sie tagtäglich machen muss, Wasser schleppen. Für sie gilt zunächst und nicht zu Unrecht die Mühsal des täglichen Lebens; sie sieht nicht, dass die Mühsal unter den herrschenden Bedingungen nicht abgeschafft werden kann, wenn die Bedingungen nicht von Grund auf geändert werden.

Dies nur als Hinweis darauf, in welcher Weise eine Auslegung des Abschnitts mit angemessenem Schriftbezug die Augen für die tiefere Bedeutung dessen, was Johannes meinen mag, öffnen kann.

10.3 Übersehene Gesichtspunkte in der Erzählung vom Jakobsbrunnen

Ich nutze die Gelegenheit der Beschäftigung mit der samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen für drei kleine Exkurse, in denen ich auf von Ihnen übersehene Gesichtspunkte hinweise, die durch eine Auslegung von den jüdischen Schriften her zu beleuchten wären.

10.3.1 Jesus „müht sich ab“, um das Werk der Propheten Israels zu vollenden

Ihr Hinweis (370), dass in 4,6 „Jesus an diesem Punkt seiner Reise nicht nur müde, sondern auch durstig ist“, lässt einen wesentlichen Gesichtspunkt außer Acht. Ob Jesus durstig ist, spielt nämlich ausdrücklich weniger eine Rolle, als dass er kekopiakōs ist, also nicht einfach müde, sondern „abgemüht von der Wegstrecke“. Dasselbe Wort benutzt Jesus in 4,38 noch zwei Mal, um zu beschreiben, dass seine Schüler ernten werden, „worum nicht sie sich abgemüht haben, andere haben sich abgemüht“.

Ton Veerkamp fragt: <127>

Wer sind diese anderen? Es sind die Propheten Israels, und die messianische Bewegung sah in Jeschua auch den letzten und definitiven „Propheten“. Hier schließt sich der Kreis der Erzählung:

Jeschua saß „abgemüht durch die Wegstrecke“ (kekopiakōs) am Brunnen, andere haben sich „abgemüht“ (kekopiakasin). Jeschua sieht sich in einer Reihe mit den Propheten. Einer von ihnen sagte, Jesaja 49,4:

Ich aber habe gesagt: „Ich habe mich ins Leere bemüht (jagaˁthi, ekopiasa).
Für Chaos und Nebel all meine Kraft verbraucht.
Aber mein Recht liegt im NAMEN, mein Wirken in meinem Gott.“

Damit spielt Johannes in 4,38 auf das Werk der Propheten Israels an, das Jesus in seinen Augen fortsetzt.

10.3.2 Die Frau am Jakobsbrunnen als Repräsentantin der Erzmütter Rebekka und Rahel

Schwerwiegender ist allerdings, dass Sie völlig übersehen, wer die Frau am Jakobsbrunnen tatsächlich ist. Sie beschreiben sie lediglich (126) als „eine individuelle Person, die eine Frau und eine Fremde einer anderen Volksgruppe ist“, und behaupten:

Was Jesus der Frau in der metaphorischen Sprache der Nahrung anbietet, steht im Prinzip allen Menschen offen. Niemand ist von diesem Angebot ausgeschlossen; es steht Männern und Frauen gleichermaßen offen, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit.

Genau diese Schlussfolgerung, die ja wohl belegen soll, dass das Johannesevangelium nicht in erster Linie auf ein jüdisches, sondern vor allem ein heidnisches Publikum ausgerichtet war, <128> fällt in sich zusammen, wenn man sich klarmacht, dass die Frau nicht einfach von fremder Nationalität ist. Vielmehr repräsentiert sie das nichtjudäische Israel der zehn Nordstämme, deren Königreich mit der Hauptstadt Samaria vor Jahrhunderten durch die Assyrer von der Landkarte ausradiert worden war und deren samaritanische Nachfahren mit den zeitgenössischen Judäern in extremer Weise verfeindet sind. Die Symbolik des Jakobsbrunnens und der Austausch mit der Frau über Jakob sollte eigentlich unübersehbar deutlich machen, dass Johannes diese Frau mit den beiden Stammmüttern Israels, Jakobs Mutter und Lieblingsfrau, Rebekka und Rahel identifiziert. <129>

Wenn das so ist, dann haben wir hier ein wichtiges Indiz für Ton Veerkamps Überzeugung, dass Johannes keineswegs wie Paulus, Lukas oder auch Matthäus in jeweils unterschiedlicher Zuspitzung an einer Heidenmission interessiert ist, sondern an der Sammlung ganz Israels, einschließlich Samarias. <130>

Wer Johannes 4 aufmerksam liest, stellt fest, in welcher Weise Jesus sich genau hier als der Messias Gesamtisraels profiliert, indem er als Versöhner der verfeindeten Judäer und Samaritaner auftritt. Nicht zufällig bildet den Höhepunkt des Gesprächs mit der Samaritanerin seine erste Offenbarung als die Verkörperung des befreienden NAMENS des Gottes Israels: egō eimi ho lalōn soi, „ICH BIN ES, der mit dir redet,“ indem er mit ihr rede, wirkt JHWH sein Versöhnungs- und Befreiungswerk zugunsten von ganz Israel, bestehend aus Samaritanern und Judäern. <131>

10.3.3 Samarias Heiratssituation als Metapher für die Unterdrückung durch Weltmächte

Weiterhin (108) bemerken Sie zwar am Rande, dass Jesus „die Frau in ein Gespräch über ihre Ehesituation verwickelt“ und dieses „Gespräch in der Aussage gipfelt, dass Jesus ein Prophet ist“, aber Ihnen ist offenbar nicht bewusst, worauf diese von Jesus verwendete Heiratsmetapher anspielt. Jedenfalls gehen Sie mit keinem Wort darauf ein, dass es hier nicht um ein schmutziges kleines Geheimnis einer samaritanischen Dorfschlampe geht – wie sollte ein Verhalten, wie es ihr die meisten Exegeten unterstellen, eigentlich der dörflichen Öffentlichkeit verborgen geblieben sein? – sondern dass Jesus seine Diskussion mit der stolzen Nachfahrin von Rebekka und Rahel hier zu dem Punkt hinleitet, an dem sie die Solidarisierung eines Judäers mit dem seit Jahrhunderten von der Unterdrückung durch fünf verschiedene Weltmächte (pente gar andras, „fünf Männer“) geprägten Schicksal ihres samaritanischen Volkes wahrnehmen kann – bis hin zur Gegenwart, in der die Weltmacht Rom nicht nur ebenfalls als Herrgott, baˁal, eine versklavende Herrschaft über Samaria, sondern heute auch über Judäa ausübt. <132>

Da Sie von diesen Zusammenhängen nicht die geringste Spur wahrnehmen, sehen Sie (109) hier als „die Hauptbotschaft des Evangeliums“ lediglich bestätigt, dass es nicht „viele Juden“, sondern „eine große Zahl von Samaritanern“ ist, die „an Jesus glauben“:

Diejenigen, die an ihn glauben, haben die Chance, das ewige Leben zu erlangen und damit für immer zu Jesus zu gehören, so dass sie als „Kinder Gottes“ gelten können.

Auf diese Weise wird aus realpolitischen Hoffnungen religiöse Vertröstung.

10.4 Jesu Speise als Metapher für sein Tun des Willens dessen, der ihn gesandt hat

Ein zweites Mal geht es Ihnen zufolge am Schauplatz des Jakobsbrunnens um (370f.)

das zweideutige Bild der Nahrungsaufnahme Jesu. Während Jesus und die Samariterin über lebendiges Wasser sprechen, sind die Jünger Jesu in die Stadt gegangen, um Lebensmittel zu kaufen (Johannes 4,8). Als sie zurückkommen, drängen sie Jesus, etwas zu essen. Doch Jesus kommt der Aufforderung nicht nach, sondern erklärt, dass er etwas zu essen hat, von dem sie nichts wissen. Die Jünger nehmen diese Aussage wörtlich und fragen sich, ob jemand anderes Jesus Essen gebracht hat. Ihr Erstaunen könnte darauf hindeuten, dass er die Speisen und Getränke, die sie ihm bringen, in der Tat zu sich nimmt. An dieser Stelle geht es Jesus jedoch nur um die metaphorische Bedeutung von Nahrung. Er erklärt, dass seine Nahrung dazu dient, den Willen dessen zu tun, der ihn gesandt hat, und sein Werk zu vollenden. Die Tatsache, dass Jesus keine Nahrung – physische, irdische, verderbliche Nahrung – braucht, wird durch die Ablehnung der von den Jüngern angebotenen Nahrung deutlich. In beiden Gesprächen – mit der Samariterin und mit den Jüngern – weicht der Hinweis auf die physische Nahrung, d. h. auf die Substanzen, die zur Erhaltung des körperlichen Lebens erforderlich sind, bald der Rede von der geistigen Nahrung durch eine metaphorische Neudefinition von Wasser und Nahrung. In den besprochenen Passagen wird Jesus als derjenige dargestellt, der den anderen irdische Nahrung und die unvergängliche Speise und den unvergänglichen Trank gibt, die zum ewigen Leben führen.

Aber wieder bestätigt, wie Sie selbst bemerken, die Frage der Jünger, ob er etwas zu essen will, dass Jesus normalerweise durchaus Nahrung zu sich nimmt. Dass Jesus im Gespräch mit ihnen auf das Essen verzichtet, das sie gekauft haben, beweist nicht, dass er als Mensch, der er ist, grundsätzlich nicht darauf angewiesen wäre. Allerdings nutzt Jesus offenbar jede Gelegenheit, um von der alltäglichen, gängigen Bedeutung bestimmter Worte ausgehend diese im Zusammenhang mit den Zielen seiner Sendung durch den VATER symbolisch auszulegen.

10.5 Welche Bedeutung hat der saure Wein, den Jesus am Kreuz trinkt?

Bezeichnend ist es Ihnen zufolge, dass

Jesus eine einzige Ausnahme von seiner eigenen Enthaltsamkeit macht: im Augenblick vor seinem Tod. In Johannes 19,27-29 ist Jesus am Kreuz und dem Tod nahe; er hat Durst, nimmt den sauren Wein (oxos), der ihm angeboten wird, und stirbt. <133>

Zuvor (18,11) hatte Jesus zu Petrus in metaphorischem Sinn gesagt: „Soll ich nicht den Kelch trinken, den mir der Vater gegeben hat?“ Nun (372) wird die

metaphorische Bedeutung im unmittelbar bevorstehenden Tod Jesu am Kreuz wörtlich umgesetzt. Dieser Übergang von der metaphorischen zur wörtlichen Bedeutung steht im Gegensatz zu anderen Gelegenheiten, bei denen das Evangelium mit der wörtlichen Bedeutung beginnt und dann auf die metaphorische Ebene übergeht.

Während Jesus die Frau am Jakobsbrunnen zwar um Wasser gebeten hatte, „aber nur als Vorwand, um ein Gespräch zu beginnen, in dem er der Frau das Wasser des ewigen Lebens anbieten kann“, bittet er am Kreuz um

den sauren Wein und nimmt ihn für sich selbst. Im Wissen, dass alles zu Ende ist, und um die Schrift zu erfüllen, drückt Jesus seinen Durst aus. Diesmal, an der Schwelle zum Tod, braucht Jesus den Trank für sich selbst und trinkt wie ein leibhaftiges menschliches Wesen. <134>

Es gibt aber auch Kommentatoren, die

sich mit der Vorstellung unwohl zu fühlen scheinen, dass Jesus in diesem entscheidenden Moment durstig war. Hodges schlägt vor, dass der saure Wein wie ein Gift wirkt und dass Jesus, indem er den oxos trinkt, gleichsam die Sünde der Welt auf sich nimmt. <135>

Sie halten (372f.) diese Erklärung aber für „nicht überzeugend, denn das Evangelium erklärt, dass die Kreuzigung – nicht Gift – die Ursache für Jesu Tod ist“.

Ton Veerkamp <136> plädiert wiederum dafür, die Erwähnung des oxos am Kreuz Jesu in anderer Weise von den jüdischen Schriften her zu interpretieren. Er ruft den Bezug auf die Psalmen 42,2-4 und 69,22 in Erinnerung, aber nicht, um eine Vergiftung Jesu zu beweisen, sondern um den Durst des Messias nach dem Gott Israels auszudrücken und darauf hinzuweisen, dass der Tod des Messias die Befreiung Zions und den Wiederaufbau der Städte Judas bewirken wird (Psalm 69,36-37).

Für Sie ist das Trinken Jesu des oxos am Kreuz letzten Endes lediglich einer der beiden einzigen wirklichen Belege für „Jesu Körperlichkeit“:

Die einzige eindeutige und ausdrückliche Nahrungsaufnahme Jesu ist das unmittelbare Vorspiel zum grundlegendsten Zeugnis seiner Körperlichkeit, nämlich seinem Tod.

Am Rande gehen Sie (Anm. 780) allerdings doch auf weitere Stellen ein, „die Jesu Körperlichkeit betreffen“, nämlich dass „Jesus vom Reisen ermüdet sein soll (kekopiakōs, Johannes 4,6)“ und dass er gemäß 11,35 wohl Tränen vergossen hat. Indem Sie erwägen, ob die „vielen anderen Fälle, in denen Jesus Emotionen zeigt, wohl sowohl menschliche als auch göttliche Dimensionen haben“, <137> scheinen Sie anzunehmen, dass Johannes Jesu Göttlichkeit – analog zu heidnischen Göttern wie Dionysos – an Hand von äußeren Merkmalen zu bestimmen versucht und nicht allein von daher, dass er vollkommen den befreienden Willen des Gottes Israels verkörpert.

10.6 Ist Jesus in göttlicher Bedürfnislosigkeit nur auf spirituelle Nahrung angewiesen?

Zusammenfassend (373) äußern Sie zunächst doch vorsichtig einen Zweifel an Ihren bisherigen Schlussfolgerungen in diesem Kapitel:

Vielleicht bedeutet das Schweigen des Evangeliums über den Verzehr von Speisen und Getränken durch Jesus einfach, dass er während seines irdischen Lebens wie jeder andere Mensch aß und trank.

Dann aber konstruieren Sie aus Jesu vollkommener Übereinstimmung mit dem Willen des VATERS doch wieder eine angeblich göttliche Bedürfnislosigkeit Jesu, die ihn dazu nötigt, lediglich übernatürliche, spirituelle Nahrung zu sich zu nehmen (373f.):

Aber das Fehlen von Hinweisen auf seine Teilnahme an physischer Nahrungsaufnahme und die Konzentration auf Essen und Trinken als Metaphern für den Glauben, der zum ewigen Leben führt, deuten darauf hin, dass Jesus, der Sohn Gottes, keine irdische Nahrung benötigt, weil er sich ausschließlich von dem Willen dessen ernährt, der ihn gesandt hat. Mit anderen Worten: Jesus hält eine ganz besondere Diät ein, die vom Vater diktiert wird und nicht von den normalen körperlichen Bedürfnissen der Sterblichen.

Eine solche Vorstellung von der Göttlichkeit Jesu würde zwar zu einer spiritualisierten, kosmologischen Deutung des Johannesevangeliums passen, wie sie schon bald in der heidenchristlich dominierten Kirche üblich wurde. Aber sie passt nicht zur jüdisch-messianischen Vorstellungswelt des ursprünglichen Johannes. In seinen Augen ist Jesus ganz und gar Mensch und gerade als solcher der Sohn des Gottes Israels; er ist eins mit dem VATER, indem er dessen NAMEN, also sein befreiendes Wirken für Israel, verkörpert. <138>

10.7 Engel in den jüdischen Schriften, die keine menschliche Nahrung zu sich nehmen

Weiterhin (376) beschäftigen Sie sich mit der Art und Weise, wie von der „Nahrungsaufnahme und -vermeidung durch übermenschliche Wesen in der jüdischen Schrift“ die Rede ist. Einerseits wird etwa in Psalm 78,23-25 oder der Weisheit Salomos 16,20 das den Israeliten in der Wüste von Gott gegebene Manna als „Engelspeise“ beschrieben. Andererseits mehren sich im Laufe der Zeit die Quellen, die davon ausgehen (377), „dass göttliche Boten weder Essen noch Trinken zu sich nehmen, während sie sich unter Menschen aufhalten“. Während (376) in „Genesis 18,8 die drei ‚Männer‘, die Abraham besuchen, die Nahrung essen, die er ihnen vorsetzt,“ (377) neigen „spätere Interpretationen und Übersetzungen von Genesis 18,8“ mehr und mehr dazu, „zu betonen, dass die himmlischen Besucher keine irdische Nahrung zu sich nehmen,“ zum Teil mit bizarr wirkenden Schilderungen, etwa im Testament Abrahams 4,10, von „einem ‚alles-fressenden Geist‘, der anstelle [des Engels] Michael essen wird,“ oder in einer weiteren Ausarbeitung derselben Schrift (Testament Abrahams, Rezension A (Lange Rezension), 6,4-5), in der „Sara Abraham informiert, dass das geschlachtete Kalb nach dem Essen auferstanden ist, was bedeutet, dass die Engel nicht wirklich gegessen haben“.

Besonders beschäftigen Sie sich (378) mit dem Buch Tobias, in dem das in Ihren Augen wohl „eindrucksvollste Beispiel eines nicht auf Nahrung angewiesenen übermenschlichen Wesens, das auf der Erde weilt“, vorkommt, nämlich „der göttliche Bote Raphael“. Dieser „erscheint auf der Erde unter dem Namen Asarja als Mensch verkleidet“, um einem Menschen namens Tobias und seiner Familie im Auftrag Gottes zu helfen (379):

Raphael enthüllt schließlich seine wahre Identität und seinen Namen und betont zur Bestätigung seiner engelhaften Identität, dass er weder gegessen noch getrunken hat; nur durch eine Vision ist er ihnen als essend erschienen: „Nehmt zur Kenntnis, dass ich nichts gegessen (oder getrunken) habe; was ihr gesehen habt, war eine Vision.“ Dann steigt Raphael wieder in den Himmel auf. Während er auf der Erde weilt, hat Raphael also das Aussehen eines gewöhnlichen jungen Mannes und scheint auch ein normales menschliches Verhalten an den Tag zu legen. Aber wie der Schluss der Geschichte zeigt, ist Raphael in Wirklichkeit ein nicht-körperliches Wesen, das nicht wie die Menschen auf Nahrung angewiesen ist.

10.8 Ist Jesus für Johannes ein übernatürliches Wesen wie der Engel Raphael?

Ihrer direkt an diese Sätze anschließenden Behauptung kann ich allerdings nicht zustimmen (379):

Die Parallelen zum johanneischen Jesus sind offensichtlich.

Für mich ist absolut nicht unmittelbar einleuchtend, dass Johannes sich Jesus als ein übernatürliches Wesen in der Art wie Raphael vorstellt. Nirgends lässt er eine Bemerkung fallen von der Art, in der Raphael seine himmlische Identität durch den Hinweis bestätigt, dass er keine menschliche Nahrung braucht.

Sie sehen aber noch drei weitere Parallelen:

Aber die Ähnlichkeiten enden nicht mit ihrer Abstinenz von menschlichem Essen und Trinken. Erstens schildert Johannes Jesus als einen vom Vater Gesandten, der vom Himmel herabsteigt und nach Beendigung seiner irdischen Mission wieder in den Himmel aufsteigt. <139> In ähnlicher Weise ist Raphael vom Himmel herabgestiegen und wird, wie er nach der Enthüllung seiner Identität ankündigt, zu demjenigen zurückkehren, der ihn gesandt hat…

Tatsächlich steigt Jesus wie Raphael vom Himmel herab und wieder hinauf, und zwar gesandt vom Gott Israels, mit einem klaren Auftrag. Aber in unübersehbarem Unterschied zu Raphael ist Jesus nirgends im Johannesevangelium ein angelos.

Johannes benutzt überhaupt das Wort angelos von allen Evangelisten am seltensten: einmal (1,51) im Bezug auf Jakobs Himmelsleiter, einmal (12,29), als das Volk die Stimme Gottes mit derjenigen eines Engels verwechselt, und einmal (20,12), als Maria Magdalena zwei Engel im Grab Jesu sitzen sieht, die Jesu leere Grabstätte an der Kopf- und Fußseite bewachen und Maria fragen, warum sie weint. Nirgends spielt bei Johannes ein Engel eine so aktive Rolle wie bei etwa bei den Synoptikern in der Geburtsgeschichte Jesu oder als Verkündiger der Auferstehungsbotschaft.

Verzichtet Johannes vielleicht deswegen weitgehend auf den Auftritt von Engeln, weil Jesus für ihn der wahre Engel vom Himmel ist? Nein, gerade das ist er nicht! Es hätte Johannes nicht viel gekostet, Jesus auch diesen Titel beizulegen, aber er tut es nicht, wohl aus gutem Grund.

In den Augen des Johannes ist Jesus alles mögliche Andere – Messias, Menschensohn, König Israels, als Einziggeborener der zweite Isaak, Befreier, Gottes Sohn, ja, sogar die Verkörperung des NAMENS des Gottes Israels – aber das alles ist Jesus nicht als übernatürliches Wesen, unberührbar von jedem Schmerz, sondern als der Sohn Josefs von Nazareth, als dieser sterbliche, verletzbare Mensch, sarx, der gedemütigt und von Rom – als Mutterschaf Gottes, amnos, hebräisch rahel (Johannes 1,29.36 unter Rückgriff auf Jesaja 53,7) – geschlachtet wird. Allenfalls bestätigt also die Parallele zu Raphael, dass Jesus eindeutig von jüdischen Vorstellungen her zu interpretieren ist.

Insofern stimme ich auch folgendem von Ihnen in Anm. 796 angeführten Zitat von Vincent Skemp <140> nur in einer Hinsicht zu:

„Eine solche Sprache, die im vierten Evangelium in 7,33 auftaucht (vgl. 13,36), ist am besten als ein Echo innerhalb einer kulturellen Intertextur zu verstehen; sie ist ein Aspekt der komplexen johanneischen Christologie, deren Vokabular in Offenbarungstexten wie Tobias 12,20 wurzelt, wo ein übernatürliches Wesen den himmlischen Hofstaat Gottes aufsucht.“

Richtig daran ist, dass im Johannesevangelium tatsächlich zahlreiche Echos aus der „kulturellen Intertextur“ der jüdischen Schriften mitzuhören sind, wozu auch das Beispiel Raphaels als eines Gesandten Gottes zählen mag, der wieder zu dem emporsteigt, der ihn gesandt hat. Aber man darf den entscheidenden Unterschied nicht übersehen: Jesus kehrt eben nicht als übernatürliches Wesen aus eigener Kraft wie Raphael in den himmlischen Hofstaat zurück, sondern sein Aufsteigen vollzieht sich in der Form, dass er von der römischen Weltordnung gekreuzigt wird, ganz und gar als Mensch, der Schmerzen erleidet und stirbt. Von einer Rückkehr Jesu in einen wie auch immer gearteten himmlischen Hofstaat ist nirgends im Johannesevangelium die Rede.

Auch die zwei weiteren Parallelen zwischen Raphael und dem johanneischen Jesus (380), die Ihnen wichtig sind, dass beide „irdische Nahrung zum Verzehr für andere bereitstellen“, indem sie „Anweisungen für einen erfolgreichen Fischfang (Tobias 6,3; Johannes 21,6)“ geben, und dass „beide göttlichen Akteure ihre Worte und Taten für andere aufzeichnen lassen,“ belegen in meinen Augen nicht, dass Jesus als übernatürliches Wesen gesehen werden muss. Wie bereits gesagt, bezieht sich Jesu Speisung der 5000 viel deutlicher auf den Propheten Elisa, der als Ernährer Israels auftritt und kein Engelwesen ist. Und auch die Begriffe graphein und biblion („schreiben“ und „Buch“) kommen nicht nur im Buch Tobias vor, sondern beziehen sich auch in anderen biblischen Texten darauf, dass Menschen im Auftrag Gottes Gesetzestexte (Deuteronomium 17,18; 31,9, Josua 24,26; 1. Samuel 10,25) oder denkwürdige Ereignisse (Exodus 17,12; Esther 9,20) oder Worte Gottes (Jeremia 30,2; 43,2; Jesaja 30,8; Maleachi 3,16) in ein Buch schreiben sollen.

Daher widerspreche ich nochmals klar und deutlich Ihrer Schlussfolgerung:

Die Parallelen zwischen Raphael und dem johanneischen Jesus sind eindeutig. Auch wenn nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, dass Johannes Tobias kannte und bewusst darauf zurückgriff, lassen die engen Parallelen darauf schließen, dass der vierte Evangelist mit der Tradition vertraut war, dass göttliche Wesen keine irdische Nahrung zu sich nehmen, auch wenn sie in menschlicher Gestalt erscheinen. Indem er auf dieses Motiv zurückgreift, behauptet das Evangelium also, dass Jesus wie Raphael ein göttliches und nicht-körperliches Wesen war, das von oben herabgestiegen ist und wieder aufsteigen wird.

Selbst wenn Johannes das Buch Tobias kannte, was ich nicht ausschließe, zeigt gerade der Verzicht auf die Identifikation Jesu mit einem Engel, dass Jesus in den Augen des Johannes eben durch und durch ein Mensch war – und eben als solcher der Messias, der zweite Isaak, der Sohn des Gottes Israels.

Und genau das wissen Sie nur zu genau auch selbst, indem Sie unmittelbar im Anschluss nochmals eingehen auf den

einen entscheidenden Unterschied zwischen dem nicht auf Nahrung angewiesenen göttlichen Boten Raphael und dem johanneischen Jesus, der sich vom Willen des Vaters ernährt: die einzige Gelegenheit, bei der Jesus tatsächlich mit dem Mund Nahrung zu sich nimmt.

10.9 Ist Jesus nach Johannes ganz Mensch, ganz Gott oder beides – und inwiefern?

Diesem Problem, dass Jesus nach Johannes durchaus am Kreuz ein Getränk, oxos, zu sich genommen hat, widmen Sie einen ganzen weiteren Abschnitt in Ihrem letzten Kapitel (381):

Die Frage, die wir uns nun stellen müssen, betrifft die Bedeutung dieser Darstellung – Jesu Abstinenz von Essen und Trinken außer in seinen letzten Momenten – für die Christologie des Evangeliums.

Indem das Johannesevangelium Jesus am Kreuz trinken lässt, hebt es die menschliche Seite Jesu hervor. Seine Anfälligkeit für den Tod unterscheidet ihn von Raphael und anderen ähnlichen göttlichen Boten. Im Gegensatz zu Raphael, der zwar menschlich erscheint, aber in Wirklichkeit nicht körperlich ist, steigt der präexistente Jesus nicht nur vom Himmel herab, sondern wird auch körperlich, wie sein einziger Trank und sein anschließender Tod zeigen.

Im Grunde bestätigen Sie dadurch meine gesamten Einwände gegen Ihre in diesem Kapitel vorgetragene Annahme. Dennoch sind Sie nach wie vor der Meinung:

Die johanneische Darstellung der Körperlichkeit Jesu ist also alles andere als geradlinig. Einerseits wird Jesus als quasi-göttliche Gestalt dargestellt, die sich von himmlischer Speise ernährt, andererseits verweist der Trank vor dem Tod auf seine Körperlichkeit und Menschlichkeit.

10.10 Eine Kontroverse zwischen Rudolf Bultmann und Ernst Käsemann

Spannend finde ich in Ihrer (Anm. 799) knapp vorgetragenen Sicht der Menschlichkeit und Göttlichkeit Jesu im Laufe der Geschichte besonders ihre Auseinandersetzung mit den Positionen von Rudolf Bultmann und Ernst Käsemann. Ich selber würde von Ton Veerkamp her Bultmann Recht geben im Blick auf „die Überzeugung, dass Jesus vollständig menschlich war“, was er Ihen zufolge vor allem mit Johannes 1,14 begründet:

Bultmann betont, dass das Wort, indem es Fleisch wurde und unter uns „wohnte“, ganz und gar menschlich wurde und keine Göttlichkeit besaß. Bultmann argumentiert, dass „der Offenbarer nichts … als ein Mensch“ ist, und dass er in „purer Menschlichkeit … der Offenbarer“ ist. <141>

Im Unterschied zu Bultmann betont Ton Veerkamp <142> allerdings, dass zur Menschlichkeit Jesu im „Fleisch“, sarx, die ganz bestimmte Existenz dieses jüdischen Mannes gehört.

Weiter führen Sie aus (Anm. 799):

Dagegen behauptet Bultmanns ehemaliger Schüler Ernst Käsemann unter Berufung auf denselben Vers das Gegenteil: dass der johanneische Jesus völlig göttlich ist, ein „Gott, der auf Erden wandelt“. Käsemann begründet das, indem er den Schwerpunkt auf die zweite Hälfte des Verses legt, auf die Herrlichkeit, die sich im Sohn des Vaters offenbart: „Bedeutet die Aussage ‚Das Wort ist Fleisch geworden‘ wirklich mehr, als dass es in die Welt der Menschen hinabgestiegen ist und dort mit dem irdischen Dasein in Berührung kam, so dass eine Begegnung mit ihm möglich wurde? Steht diese Aussage nicht völlig im Schatten des Bekenntnisses ‚Wir sahen seine Herrlichkeit‘, so dass sie daraus ihren Sinn erhält?“; und „Johannes ist unseres Wissens der erste Christ, der das irdische Leben Jesu nur als Kulisse für den Durchgang des Gottessohnes durch die Menschenwelt und als Schauplatz des Einbruchs der himmlischen Herrlichkeit verwendet. Jesus ist der Menschensohn, weil in ihm der Sohn Gottes zu den Menschen kommt“. <143>

An dieser Argumentation, die der Ihrigen nahekommt, ist bezeichnend, dass sie sich vor allem auf die Betonung der göttlichen Ehre, doxa, des Gottes- und Menschensohnes Jesus stützt. Wenn aber die Ehre des Gottes Israels darin besteht, dass Israel lebt und befreit wird, wie Ton Veerkamp <144> in seiner Auslegung von Johannes 12,27-33 unter Bezug auf Psalm 115 entfaltet, und Jesu Göttlichkeit ohnehin strikt jüdisch verstanden werden muss, dann spricht gerade „der Einbruch der himmlischen Herrlichkeit“ nicht für eine doketisch zu begreifende nur scheinbare Menschlichkeit und reine Göttlichkeit Jesu, sondern sie unterstreicht, dass Jesus als der zweite Isaak und als die Verkörperung Israels zugleich der Sohn des Gottes Israels ist und dessen befreienden NAMEN verkörpert.

Sie selber zitieren Marianne Meye Thompson <145> (Anm. 799), die „in ihrer Verteidigung der Menschlichkeit des johanneischen Jesus Käsemanns Interpretation in Frage stellt, dass ein wahrhaft menschlicher Jesus mitfühlend, barmherzig, gütig und dem Schmerz und Leiden der Welt ausgesetzt sein müsste“. Dabei wundert es mich, dass man dem johanneischen Jesus all diese Eigenschaften absprechen kann. Auf jeden Fall sättigt er die Hungernden, heilt er den Lahmen und Blinden, weckt er den verwesenden Lazarus auf. Aber Recht zu geben ist Thompson jedenfalls, wenn sie zur Begründung der Menschlichkeit Jesu besonders auf die Faktoren eingeht,

die den Menschen einerseits von den Tieren und andererseits von Gott unterscheiden: Geburt, Familie, Lebensvollzug und Tod. Thompson behauptet, dass Jesus diese Merkmale aufweist und mit dem Rest der Menschheit teilt, indem sie argumentiert: „In der Sprache und im Denken des vierten Evangeliums entsprechen diese Kategorien Jesu menschlicher Herkunft und seinem Fleisch, die zusammen seine Beziehung zu anderen menschlichen Wesen und den Realitäten dieser materiellen Welt beschreiben; seinen ‚Zeichen‘, die den Brennpunkt seines Wirkens in dieser Welt bilden; und der Passionsgeschichte, in der das Ende seines Lebens erzählt wird.“ [7-8]

10.11 Erzählungen von Essen und Trinken und ihre Bedeutung für Jesu Körperlichkeit

In der Diskussion (381f.) über die „Gegenwart und Natur des körperlichen Menschseins Jesu“ fehlt Ihnen zufolge bis heute

eine einheitliche und gründliche Untersuchung der narrativen Hinweise auf die Körperlichkeit Jesu. Ein wichtiger Indikator dieser Art sind die Hinweise auf körperliche Nahrung in Form von Essen und Trinken.

Offenbar um diese Lücke zu füllen, spitzen Sie nochmals Ihre bisherigen Erkenntnisse aus Ihrem letzten Kapitel folgendermaßen zu (382f.):

Wenn im Evangelium von Essen und Trinken die Rede ist, wird die unvergängliche Nahrung der irdischen Nahrung gegenübergestellt, und das Wasser, das den Durst für immer löscht, dem gewöhnlichen Wasser, das den Durst nur vorübergehend stillt. Das erste Element jedes Paares wird ausschließlich von Jesus zur Verfügung gestellt, und auch nur unter der Bedingung, dass der Empfänger an ihn glaubt. Diese Dichotomie zwischen irdischer und himmlischer/spiritueller Speise wird jedoch in mehrfacher Hinsicht durchbrochen: Jesus fungiert als Gastgeber für andere und stellt zu Beginn seines Dienstes (Johannes 2), in der Mitte seines Dienstes (Johannes 6) und sogar nach seinem Tod (Johannes 21) erlesenen Wein sowie Brot und Fisch im Überfluss zur Verfügung. Diese Handlungen unterstreichen die Rolle Jesu als Gastgeber und Versorger nicht nur mit himmlischen, sondern auch mit irdischen Speisen und Getränken. Jesus ist bei allen Mahlszenen anwesend, wobei in den meisten Fällen nicht erwähnt wird, dass er Speisen oder Getränke zu sich nimmt. In den anderen Szenen spielt er die irdische Nahrung herunter, indem er die ihm von seinen Jüngern angebotenen Speisen ablehnt. In einer letzten Szene hat er Durst und nimmt dann vor seinem Tod ein irdisches Getränk zu sich.

Dazu betone ich wiederum nochmals, dass nicht die Bedeutung irdischen Essens als solchem heruntergespielt wird, als ob der göttliche Jesus nicht darauf angewiesen wäre. Schon gar nicht spricht Jesus als Überbietung irdischer Speise von übernatürlicher, jenseitiger, spiritueller Nahrung, die ein ewiges Leben im Himmel garantiert, sondern vom Leben Israels in Freiheit und Gerechtigkeit in der Weltzeit des Friedens, die gemäß den Verheißungen der Propheten kommen soll.

Mit (383) „dieser zweideutigen Darstellung“, die „sich nicht gut mit der Schwarz-Weiß-Behandlung anderer Themen im Evangelium verträgt,“ <146> begründen Sie „eine nuanciertere Perspektive“ gegenüber den Auffassungen Bultmanns oder Käsemanns, die Jesus unter Berufung auf John 1,14 als entweder „ausschließlich menschlich“ oder „ausschließlich göttlich“ verstehen (383f.):

Alles deutet darauf hin, dass der menschgewordene Logos seine göttliche Natur während seines gesamten Aufenthalts in der Welt beibehält. Dennoch nimmt Jesus im Gegensatz zu anderen übermenschlichen Wesen, die vom Himmel herabsteigen, die grundlegende Körperlichkeit an, die der menschlichen Existenz eigen ist. Der eine Schluck Flüssigkeit macht auf ergreifende Weise deutlich, dass Jesus im Augenblick seines Todes ganz und gar körperlich menschlich ist. Das Trinken des sauren Weins dient als buchstäbliches Mittel, um die Sterblichkeit Jesu zu betonen. Es ist in der Tat sein Tod, der seine Körperlichkeit endgültig und unwiderruflich festschreibt. Von dem Moment an, in dem er „Fleisch geworden“ ist und unter den Menschen weilt, hat Jesus einen menschlichen Körper, den man anfassen kann (z. B. die Salbung in Johannes 12,3), und er tut menschliche Dinge wie gehen, sprechen und sogar Gefühle zeigen (z. B. weinen um Lazarus in 11,35). Doch der volle körperliche Zustand wird erst am Kreuz sichtbar, als Jesus den oxos mit dem Mund zu sich nimmt und stirbt. Erst im Tod, der durch einen ihm gereichten Trank eingeleitet wird, wird die volle Körperlichkeit Jesu und damit seine volle Menschlichkeit sichtbar. Es ist ein Zustand, den er auch nach seiner Auferstehung beibehält, wie seine Einladung an Thomas, seine Wunden zu berühren, zeigt (20,27). <147>

Jener eine und einzige Trank ist die paradoxe Voraussetzung und das erzählerische Indiz dafür, dass der johanneische Jesus schließlich den Willen desjenigen erfüllt, der ihn gesandt hat.

Was soll ich dazu sagen? Alles, was Sie hier beschreiben, ab dem Wort „dennoch“ im zweiten Satz, bestätigt Jesu wahre Menschlichkeit. Nirgends liefern Sie auch nur ein einziges Indiz dafür, „dass der menschgewordene Logos seine göttliche Natur während seines gesamten Aufenthalts in der Welt beibehält.“ Dass Jesus fast nie als essend und trinkend beschrieben wird und einmal das von seinen Schülern gekaufte Essen verweigert, um stattdessen metaphorisch von der Speise zu reden, die darin besteht, den Willen des VATERS zu erfüllen, reicht als Beleg für seine göttliche Natur keinefalls aus.

Der jüdisch-messianische Evangelist Johannes beschreibt Jesus definitiv nicht als übernatürliches Himmelswesen wie Raphael, sondern als den Menschen schlechthin nach Daniel 7 („Menschensohn“) der als Israels König und Befreier (sōtēr) zugleich das Mutterschaf Gottes (Jesaja 53) und Gottes Sohn in jüdischem Sinn verkörpert. Erst als die göttliche Natur Jesu im Johannesevangelium von griechisch-mythologischen, -philosophischen oder -gnostischen Begriffen her interpretiert wurde, konnte man vergessen, wie jüdisch-menschlich und gerade auf diese Weise vollkommen vom Gott Israels bestimmt Johannes den Messias Jesus proklamiert hat.

10.12 Behält Jesus seine göttliche Natur oder ist er Gottes Sohn, indem er ganz und gar der jüdische Messias ist?

In Ihrer abschließenden Zusammenfassung versuchen Sie im letzten Abschnitt Ihres Buches (385) die „völlig paradoxe Natur“ Jesu noch einmal etwas anders zu belegen:

Einerseits stirbt er, was nur für einen Menschen möglich ist, andererseits ist er vom Vater gesandt: Er ist vom Himmel herabgestiegen und dorthin zurückgekehrt, und das bezeugt seine Göttlichkeit. Um diese Figur, den zwischen himmlischen und irdischen Speisen hin- und herpendelnden Jesus Christus, schart sich die johanneische Gemeinde – und um diese Figur drehen sich auch ihre Mahlzeiten, ihre Geschichten und ihr theologischer Diskurs.

Diese Darstellung macht einmal mehr deutlich, dass Sie Adele Reinhartz’ kosmologische Deutung des Johannesevangeliums teilen, derzufolge Jesus (mehr griechisch verstandener Gottmensch als jüdischer Gottes- und Menschensohn) nur vorübergehend diese Welt besucht und anschließend in den Himmel zurückkehrt. Das Eigentliche, was Jesus den Menschen in der johanneischen Gemeinde anzubieten hat, besteht dementsprechend aus einer himmlischen Speise, womit vermutlich spirituelle Erfahrungen und ein Platz im Himmel nach dem Tod gemeint sein mag.

Demgegenüber bestehe ich darauf, dass Johannes (383) die Göttlichkeit des „inkarnierten logos“ auf jüdische Weise versteht, nämlich so, dass Jesus als der Messias des Gottes Israels dessen devarim als „Worte“ im Sinne von befreienden Machttaten oder Tatworten vollkommen verkörpert und in die Tat umsetzt.

Und ich halte Ihnen vor, dass Sie mit keinem Wort darauf eingehen, in welcher Weise von den jüdischen Schriften her Jesu Herabkommen und wieder Aufsteigen zum Himmel zu begreifen ist. In den Augen des Evangelisten Johannes

  • ist Jesus der vom Himmel herabkommende Menschensohn gemäß Daniel 7,
  • und zwar als der exemplarische MENSCH, ein Herrscher mit menschlichem Gesicht an Stelle der bestialischen Herrscher aller Weltreiche,
  • zugleich als Repräsentant der Heiligen des Höchsten, also des Volkes Israel,
  • der die Herrschaft im kommenden Äon übertragen bekommt
  • und der auf die Erde herabsteigen muss, um wieder aufzusteigen, indem der Menschensohn durch die Hinschlachtung am Kreuz der Römer „erhöht“ wird,
  • aber nicht, um sich im Himmel in Gemeinschaft mit den Seelen derer, die an ihn glauben, zur Ruhe zu setzen,
  • sondern um ein zweites Passah des Exodus aus dem weltweiten Sklavenhaus der herrschenden Weltordnung, des kosmos, heraufzuführen,
  • indem er einerseits die Menschenfeindlichkeit dieser Weltordnung und ihres Führers, des Kaisers, des Menschenschlächters aus Prinzip, bloßstellt
  • und andererseits in seinem Aufsteigen zum VATER die Inspiration der Treue des Gottes Israels denen übergibt, die ihm vertrauen und ihm nachfolgen,
  • indem sie wiederum durch die Praxis ihrer Solidarität, agapē, die kommende Weltzeit der Freiheit, der Gerechtigkeit, des Friedens für Israel inmitten der Völker tätig erwarten.

Das letzte Wort in meiner Besprechung Ihres Buches gebe ich Ton Veerkamp, <148> der in seiner Auslegung von Johannes 3,13-14 deutlich macht, wie Jesus „den Lehrer Israels“, nämlich Nikodemus, „in den Schriften Israels, mit Midraschim“ unterweist:

Das tut er mit einem Hinweis auf Daniel 7: „Denn niemand ist in den Himmel aufgestiegen, wenn nicht der, der aus dem Himmel absteigt, der bar enosch, wie ein Mensch.“ …

Johannes … verknüpft Daniel 7 mit Numeri 21. Freilich verfremdet er Daniel 7,11f. … Der in den Himmel aufgestiegen ist, der also vor dem „Fortgeschrittenen an Tagen“ steht, ist jetzt der, der aus dem Himmel abgestiegen ist. Das ist das Neue bei Johannes. Der sogenannte „Menschensohn“ ist bei Johannes zu einer irdischen Gestalt, eben „Fleisch geworden“, heißt es im Prolog.

Bei Daniel ist die Erhebung des MENSCHEN die Ausstattung mit der „Regierungsmacht, der Würde und dem Königtum“. In der Vision wird nicht gesagt, wie das geschehen wird. Es wird lediglich angedeutet, dass dieser bar enosch identisch ist mit „dem Volk der Heiligen der Höchsten“, Israel. Johannes beschreibt das Wie. Prinzipiell wird die Erhebung oder der Aufstieg des bar enosch, des MENSCHEN, als Abstieg geschehen, als „Fleischwerdung“, als konkrete politische Existenz, die am Kreuz der Römer endet und enden muss. So wie die Lage jetzt ist, kann die Erhöhung des MENSCHEN, also Israels, nur durch die Niederlage hindurch gedeutet werden. Die Verfremdung von Daniel 7 ist die Aktualisierung der Vision: Aufstieg ist Abstieg, Abstieg ist Aufstieg. Damit man sich das veranschaulichen kann, bringt Johannes einen weiteren Midrasch, diesmal über Numeri 21,4-9:

Die Seele des Volkes wurde kleinmütig auf dem Weg.
Das Volk redete gegen Gott und gegen Mosche:
„Warum habt ihr uns hinaufgeführt aus Ägypten?“

Der Gott sandte Schlangen, die das Volk bissen. Viele starben. Das Volk bekennt, dass es in die Irre gegangen war, und drängt Mosche, zu beten. Er betet. Dann heißt es:

Und der NAME sagte zu Mosche:
„Mache dir eine Giftschlange,
hefte sie an eine Stange.
Es wird geschehen:
Jeder Gebissene, der hinsieht,
bleibt am Leben.“
Mosche machte eine Schlange aus Kupfer,
heftete sie an die Stange.
Es geschah:
Biss eine Schlange einen Mann,
und der Mann sah die Schlange an,
blieb er am Leben.

Ursache der Katastrophe mit den Schlangen war das Murren des Volkes gegen die Führung, die es aus dem Sklavenhaus hinausführte. Macht das Volk die Befreiung rückgängig und verspielt es seine Freiheit, dann ist die Folge der Untergang. Die Symptome des Untergangs sind die Giftschlangen, deren Biss tödlich ist. Mosche macht nun auf Geheiß seines Gottes ein Sinnbild der tödlichen Folgen einer verspielten Freiheit. Die verspielte Freiheit ist die Giftschlange. Sie wird angeheftet an einer Stange, unschädlich gemacht. Das Bild der festgemachten Schlange zu betrachten, heißt begreifen, dass die Unfreiheit nicht länger eine Verlockung ist. Wer sich das vor Augen führt, wer sich dessen bewusst wird, was verspielte Freiheit ist, der wird geheilt. Bei den meisten Kommentatoren spielt der Hinweis auf diese Torastelle keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Wengst verweist darauf, dass es

nicht die kupferne Schlange ist, die Heilung verschafft – auch nicht Mose; sie ist vielmehr ein Zeichen, das auf Gott als den alleinigen und wirklichen Retter verweist. Indem Johannes den ‚erhöhten‘ Menschensohn in diese biblische Entsprechung stellt, gibt er den gekreuzigten Jesus als Zeichen zu verstehen, das auf Gott weist. Sich an dieses Zeichen zu halten und ihm zu folgen, heißt: das Herz dem Vater im Himmel unterwerfen … <149>

Solche klassischen Formeln christlicher Orthodoxie verfehlen den Sinn des Midrasch. Was ist denn „Gott“ anders als der, der sich in Israel nur als „der aus dem Sklavenhaus hinausführende“ benennt. Einen anderen NAMEN hat er nicht. Israel, soviel meint Johannes zu wissen, befindet sich heute im Sklavenhaus Roms. Zu dem von den Römern, von denen, die Israel in ihrem weltweiten Sklavenhaus halten, hingerichteten, ans Folterinstrument Kreuz „gehefteten“ bar enosch, MENSCHEN, muss Israel hinaufblicken, um sich bewusst zu machen, was mit ihm wirklich geschieht. Das „Bild der kupfernen Schlange“, das „Kreuz“, ist drastische politische Schulung. Von den christentümlichen Kreuzidyllen ist noch kein Mensch besser, geschweige denn „heil“, geworden.

Johannes verfremdet den bar enosch Daniels in ein zu Tode gefoltertes, elend zu Grund gehendes Menschenkind. Der hohe Repräsentant Roms führt den gedemütigten, der Lächerlichkeit preisgegebenen Jeschua ben Joseph aus Nazareth dem Volk vor: „Da, der MENSCH“ – bar enosch – so sieht der Mensch aus, wenn er in unsere Hände fällt. Er scheint zunächst der absolute Gegensatz zu Daniels machtvoller Gestalt bar enosch zu sein. Was aber die Niederlage des Messias ist, das ist für Johannes der Ausgangspunkt für die Befreiung der Welt von der Ordnung, die auf ihr lastet. Die Verknüpfung von Daniel 7 mit Numeri 21 ist das Ende aller politischen Illusionen, die das zelotische Abenteuer suggeriert.

Die Verfremdung von Daniel 7 löst eine Frage, um die nächste ungelöste – unlösbare? – Frage aufzurufen: Wie kann so eine befreite Welt entstehen? Die Christen, Nachfolger der Messianisten vom Schlage Johannes, machen aus dem Kreuz eine wahrhaft narrow escape aus dem irdischen Leben ins himmlische, nach dem Tod. „Apple pie in the sky, Life for you after you die“, verhöhnte der radikale Führer der Schwarzen in den USA, Malcolm X, die lähmende Welt der pietistischen Spirituals: Kampf dem Christentum, das aus dem Kreuz und seiner angeblichen Heilungskraft ein reines Placebo macht. Auf die Frage, wie aus der Niederlage ein Sieg werden kann, haben wir keine Antwort. Aber wir müssen sie stellen. <150>

Darf ich hoffen, dass Sie solchen Fragestellungen, die Ton Veerkamp zum Johannesevangelium aufwirft, eine Chance in der wissenschaftlichen Diskussion einräumen?

Pfarrer i. R. Helmut Schütz

Anmerkungen

<01> Esther Kobel, Dining with John. Communal Meals and Identity Formation in the Fourth Gospel and its Historical and Cultural Context, Leiden: Brill 2011. Alle im folgenden Text in runden Klammern (…) angegebenen Seitenzahlen oder Verweise auf Anmerkungen ohne weiteren Hinweis beziehen sich auf die jeweils folgenden Zitate (von mir ins Deutsche übersetzt) aus diesem Buch gemäß dem Seitenlayout im pdf-Nachdruck der Universität Basel. Sind solche Zitate als eigener Absatz eingerückt, werden sie blau hervorgehoben. Zitierte Anmerkungen aus Ihrem Buch werden mit der Nummer der Anmerkung eingeleitet. Griechische oder hebräische Wörter gebe ich mit einer einfachen deutschen Umschrift wieder.

Eckig eingeklammerte Zahlen im Fließtext […] verweisen auf Seitenzahlen von zitierten Werken anderer Autoren.

<02> Adele Reinhartz, Cast Out of the Covenant: Jews and Anti-Judaism in the Gospel of John (Lanham: Lexington Books-Fortress Academic, 2018), 10, Anm. 23, und 143, Anm. 50.

<03> Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung, ist im Internet offen zugänglich. Zitate aus diesem Werk erhalten eine rote Hervorhebung und werden durch einen Link zum jeweiligen Abschnitt in der Internetpublikation belegt (mit der Angabe des jeweiligen Absatzes, wobei der gesamte dem Abschnitt vorangestellte Bibeltext als 1. Absatz gezählt wird). Zusätzlich wird auf eine der folgenden ursprünglichen Quellen hingewiesen, auf Grund derer das Gesamtwerk zusammengestellt ist: Veerkamp 2006 = Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, I. Teil: Johannes 1,1-10,21, in: Texte & Kontexte 109-111, 2006, Veerkamp 2007 = Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, II. Teil: Johannes 10,22-21,25, in: Texte & Kontexte 113-115, 2007, und Veerkamp 2015 = Ton Veerkamp, Das Evangelium nach Johannes. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen, 2., grundlegend überarbeitete Auflage, in: Texte und Kontexte Sonderheft Nr. 3 (2015).

<04> Zu den Widersprüchen, in die Jesus (von Veerkamp Jeschua genannt) im Johannesevangelium verstrickt ist und zur Übersetzung von Ioudaioi mit „Juden“ oder „Judäer“ vgl. Ton Veerkamp, Widersprüche, Abs. 1-6 (Veerkamp 2015, 6-7).

<05> (Anm. 66):

Adele Reinhartz, The Word in the World: The Cosmological Tale in the Fourth Gospel, SBLMS, vol. 45 (Atlanta: Scholars Press, 1992), besonders 16-28. Vgl. Adele Reinhartz, Befriending the Beloved Disciple: A Jewish Reading of the Gospel of John (New York: Continuum, 2001), 34-36.

Das letztere Buch ist von Esther Kobel auch ins Deutsche übersetzt worden: Adele Reinhartz, Freundschaft mit dem Geliebten Jünger. Eine jüdische Lektüre des Johannesevangeliums, Zürich 2005, 40-42.

<06> Vgl. meine Buchbesprechungen Otherworldly Word or Overcoming the World Order? und Jesu Busenfreund: Freundschaft mit Adele Reinhartz. In der ersteren unterscheide ich in folgenden Abschnitten drei verschiedene Arten einer Kosmologie: Cosmology of world negation, Cosmology of world affirmation und Cosmology of liberation struggle against the world order.

<07> Vgl. dazu Ton Veerkamps Auslegung von Johannes 1,11 im Abschnitt Das Licht und die Weltordnung, 1,9-11, Abs. 7 (Veerkamp 2006, 16):

Das Wort kam in das Eigene. Die Kommentare behandeln das Eigene in der Regel als ein Synonym für Welt. Aber es ist nicht die Welt, erst recht nicht die Weltordnung. Es geht um das, was das Eigene des Messias unter den Bedingungen der Weltordnung ist: das judäische Volk. Die Eigenen sind die, die im Evangelium Ioudaioi genannt werden, die Judäer, „Juden“ in den gängigen Übersetzungen. Dieses Volk nimmt seinen eigenen Messias nicht an. Das ist der Konflikt, der das ganze Evangelium bestimmt, der Kampf um Anerkennung des Messias durch das eigene Volk.

<08> Vgl. dazu Ton Veerkamp in seiner Anmerkung 35 zu Johannes 1,9:

Kosmos ist sowohl „Welt“ wie auch „Weltordnung“. Bei Johannes ist kosmos in erster Linie ho kosmos houtos, „diese Weltordnung“. Das Wort bezeichnet das, was bei den Rabbinern ˁolam ha-se, „diese Weltzeit“, genannt wird. Es ist eine politische Kategorie: die herrschende Weltordnung, eben das römische Imperium. Wo bei Johannes davon geredet wird, dass der kosmos befreit werden wird, ist nicht die Welt in seiner jetzigen Ordnung, sondern der menschliche Lebensraum gemeint, die Welt wird ja befreit von der Ordnung, die auf ihr lastet, 4,42! Das griechische kosmos – es hat kein eigentliches Äquivalent in der hebräischen Schrift – bedeutet „(harmonische) Ordnung, Schmuck (Kosmetik)“. Hier bedeutet es sowohl Lebensraum als auch jene Ordnung, die die Ordnung der einzelnen Völker und eben vor allem die Ordnungen Israels bedroht. Das Schlechte an der Welt ist bei Johannes nicht die Welt an sich, sie ist das Objekt der Solidarität Gottes, 3,15. Schlecht ist die Ordnung, unter der sie leiden muss. Daher gibt es keine „gnostische“, vielmehr eine „politische“ Kosmologie bei Johannes, der wir durch die alternierende Übersetzung „Welt“ und „Weltordnung“ Rechnung zu tragen versuchen.

Vgl. außerdem meinen Beitrag Johannes – Evangelium einer neuen Schöpfung.

<09> Wo sich Johannes mit dem Wort patēr auf Gott als den VATER des Messias Jesu bezieht, weise ich durch die Hervorhebung in Großbuchstaben darauf hin, dass er diese Umschreibung für den befreienden und Recht schaffenden NAMEN (hebräisch JHWH) des Gottes Israels verwendet. Wo in meinem Text das Wort „NAME“ in Großbuchstaben auftaucht, ersetzt es ebenfalls (analog zur hebräischen Bezeichnung ha-schem = „der Name“) das Tetragramm JHWH, das wegen der Unverfügbarkeit Gottes nicht ausgesprochen wird.

<10> (Anm. 208):

Scholtissek hat diese Ausdrücke gründlich untersucht. Seine Theologie der „Immanenz“ stützt sich auf eine detaillierte Analyse von Johannes 1,1-18; 6; 13,31-14,31; 15,1-17; 10 und 17, und den Johannesbriefen. Klaus Scholtissek, In ihm sein und bleiben: Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS, vol. 21 (Freiburg i. Br.: Herder, 2000).

<11> Der dritte Tag. Der Messias, 1,35-42, Abs. 9 (Veerkamp 2006, 38).

<12> Anm. 125 zur Übersetzung von Johannes 3,16 (Veerkamp 2015, 26).

<13> Lazarus, 11,1-16, Abs. 10 (Veerkamp 2007, 12-13).

<14> Herr und Lehrer als Sklave, 13,1-17, Abs. 5.

<15> „Du bist der Lehrer Israels, und das verstehst du nicht?“, 2,23-3,21, Abs. 32-45.

<16> (Veerkamp, Anm. 132):

Ton Veerkamp, Weltordnung und Solidarität oder Dekonstruktion christlicher Theologie. Auslegung und Kommentar (= Texte & Kontexte 71/72 (1996)), 35ff.

<17> (Veerkamp, Anm. 133):

In der Auslegung des ersten Johannesbriefes wurde nachgewiesen, dass das Wort monogenēs den Zusammenhang mit Genesis 22 zwingend voraussetzt, ebd., 97. Das Wort kennen wir in der griechischen Fassung der Schrift „der Siebzig“ (LXX) als ein Wort für „einziges Kind“, das Kind Jeftahs (Richter 11,34) bzw. Raguëls und Tobits (Tobit 3,15; 6,14; 8,17). Im Buch Weisheit Salomos bedeutet das Wort einzigartig. Drei Stellen in den Psalmen haben jachid; dort bedeutet es einzig (22,20; 35,17) oder einsam (25,16). Das Wort monogenēs fehlt in Genesis 22,2. Dort hat die griechische Fassung: „Nimm deinen Sohn, den geliebten, den du liebst.“ In der hebräischen Fassung aber lesen wir: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst.“ Warum die LXX das Wort deinen einzigen, jechidkha, ersetzt durch deinen geliebten (ˀohavka) mag vielleicht daran gelegen haben, dass die alten Übersetzer im Alexandrien des 3. Jh. v.u.Z. eine andere Vorlage hatten. Aber die Vulgata hat nicht dilectum tuum, ˀohavkha, sondern unigenitum, jachid. Johannes hat höchstwahrscheinlich beim Wort monogenēs an Genesis 22 gedacht.

<18> (Anm. 471 und 472):

Jeffery Horace Hodges, “Food as Synecdoche in John’s Gospel and Gnostic Texts.” Ph.D. Thesis, University of California, Berkeley, University Microfilms International: Ann Arbor 1996/97, 177.

<19> (Anm. 473):

Wilfried Eisele, “Jesus und Dionysos: Göttliche Konkurrenz bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–11),” ZNW 100, no. 1 (2009), 7.

<20> (Anm. 485):

Raymond Edward Brown, The Gospel According to John, AncB. Garden City: Doubleday, 1966-1970, 2:669-572. Vgl. Rudolf Karl Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 21. Aufl. KEK. Vol. 2. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986, 407: „Es ist nun für das Verständnis entscheidend, daß die Rede den Weinstock nicht in den Blick faßt hinsichtlich seiner Frucht, hinsichtlich des Weines, den er spendet, sondern nur als den Baum mit seinen Ranken, die von ihm mit Lebenskraft durchströmt werden, von ihm ihre Kraft zu Wachstum und Fruchtbringen erhalten und getrennt von ihm verdorren: der Weinstock ist der Lebensbaum.“

<21> Messianische Hochzeit, 2,1-11 (Veerkamp 2006, 44-49).

<22> Messianische Gemeinde, 2,12 (Veerkamp 2006, 49).

<23> Eine Wertschätzung, die Sie an anderer Stelle bestreiten, siehe Abschnitt 6.7.

<24> Ton Veerkamp, Aufstieg nach Jerusalem, 7,1-10, Abs. 7-9 (Veerkamp 2006, 129):

Für Johannes waren die Brüder – die messianische Gemeinde Jerusalems – Sympathisanten der militanten zelotischen Bewegung gewesen. Die Auseinandersetzung zwischen Jeschua und seinen Brüdern dreht sich um das Wort kairos. Das Wort kommt bei ihm nur hier vor. Johannes meidet sonst das Wort. Er redet lieber von hōra, Stunde. Offenbar war für ihn das Wort kairos mit einem zelotischen Virus infiziert. Hier muss er das Wort kairos verwenden. Für die Militanten ist der kairos immer da; immer suchen die Zeloten die Gelegenheit, die Zeit „reif“ (hetoimos, bereit) zu machen, den finalen Kampf zu führen.

Es gab gerade in der Diaspora Menschen mit militanten Anschauungen. Ihr Krieg gegen Rom (115-117) endete ebenfalls in einer Katastrophe. Jeder Messianismus lebt ständig in der Versuchung, die Zeit abkürzen zu wollen. Jeschuas Einwurf besteht in der Partikel oupō, „noch nicht“. Dieses politische „noch nicht“ hören wir bei Johannes siebenmal, das letzte Mal in 20,17.

Auch die Auferstehung Jeschuas steht unter dem Vorbehalt des „noch nicht“. Maria aus Magdala wird von Jeschua zu seinen Brüdern geschickt mit der Botschaft: „Ich, Jeschua, steige auf zu meinem VATER und eurem VATER, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ Erst dann kann der Aufstieg beginnen, er ist noch nicht abgeschlossen: „Noch bin ich nicht (oupō) zum VATER aufgestiegen.“ Auch die Auferstehung ist keine Legitimation für den zelotischen kairos. Maria aus Magdala wird genau zu den Brüdern Jeschuas geschickt, die offenbar immer noch mit Kairos-Analysen beschäftigt sind. Auch für das Jahr 100 gilt: „noch nicht!“; es galt für jeden Zeitpunkt zwischen den Jahren 60 und 100.

<25> Das andere Zeichen in Galiläa: Dein Sohn lebt, 4,43-54, Abs. 13 (Veerkamp 2006, 93).

<26> Vgl. Ton Veerkamp, Am See von Tiberias, 21,1-25 (Veerkamp 2007, 128-132).

<27> (Anm. 252):

Jodi Magness, The Archaeology of Qumran and the Dead Sea Scrolls. Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 2002, 126.

<28> Eine Vorbemerkung, Abs. 1-5 (Veerkamp 2006, 27).

<29> Vom Messias, 7,11-52, Abs. 30 (Veerkamp 2006, 136).

<30> Intermezzo: Eine Probe aufs Exempel, 7,53-8,11, Abs. 10 und 13 (Veerkamp 2006, 137-38).

<31> (Anm. 367):

Jonathan A. Draper, “The Holy Vine of David Made Known to the Gentiles through God’s Servant Jesus: ‘Christian Judaism’ in the Didache,” in Jewish Christianity Reconsidered: Rethinking Ancient Groups and Texts, ed. Matt A. Jackson-McCabe (Philadelphia: Fortress Press, 2007), 257–283. Philadelphia: Fortress Press, 2007, 258.

<32> (Anm. 371):

Auch die Adressaten des Johannes erscheinen als Reben des Weinstocks (Johannes 15,5) und sind somit organisch mit Jesus, dem Weinstock Davids, verbunden. In der Didache hingegen werden die Adressaten mit dem Weinstock in Verbindung gebracht, aber nicht mit ihm gleichgesetzt: „Die Heiden sind nicht der ‚Weinstock Davids‘, sondern kommen nur in Verbindung mit ihm, ‚lernen ihn kennen durch Jesus, den Knecht/Sohn Gottes‘. Sie erfüllen die Prophezeiung, dass sich die Heiden im eschatologischen Zeitalter mit Israel verbinden werden.“ [Draper, 272–273].

<33> So jedenfalls Ton Veerkamp, Lazarus, 11,1-6, Abs. 2-4 (Veerkamp 2007, 11):

Lazarus ist die griechische Form des hebräischen Namens Eleasar (Elˁasar). Der Name bedeutet Gott hilft: Eleasar kommt in der Schrift mehr als siebzigmal vor. In fast 70 Prozent der Fälle ist Eleasar der Name eines Priesters, des ältesten Sohnes und Nachfolgers Aarons, Numeri 20,26ff. Nach Aarons Tod führten Mosche und Eleasar das Volk durch die Wüste. Eleasar war Zeuge, als Mosche Josua in sein Amt als seinen Nachfolger einführte (Numeri 27,18). Josua (Jeschua) und Eleasar waren die Nachfolger Mosches und Aarons.

Nach dem Nachkommen Eleasars, Zadok, wurden die führenden Priester in Jerusalem genannt: bene Zadoq, Sadduzäer. Nach 2 Samuel 8,17 war Zadok Davids Staatspriester. Johannes geht hinter diesen Zadok auf den Stammvater Eleasar zurück, vom Staatspriestertum zum priesterlichen Volk des Wüstenzuges. Das ist ein Verfahren, das wir gut kennen. Der Prophet Jesaja geht in seiner Ankündigung der neuen Monarchie hinter David zurück auf dessen Vater Isai: „Dann fährt ein Reis auf aus dem Strunk Isais“, Jesaja 11,1.

Lazarus aus Bethanien, aus dem theologischen, nicht geographischen Ort, wo einst Jochanan taufte. Dieser Lazarus verkörpert durch seinen Namen das Priestertum, die führende politische Schicht in Judäa. In der aktuellen politischen Verfassung Judäas ist die Priesterschaft die Repräsentation des ganzen Volkes. Es geht um die tödliche Erkrankung eines Menschen, der, wie wir hören werden, die „exemplarische Konzentration“ Israels ist. Es geht für Israel um Leben und Tod. „Es war einer krank, Lazarus von Bethanien.“

Zum Stichwort „exemplarische Konzentration“ erläutert Veerkamp in Anm. 347:

Diesen Ausdruck verdanke ich dem niederländischen Professor für Altes Testament Han Renckens. In seinem Buch De godsdienst van Israel, Roermond/Maaseik 1962, 62, schreibt er: „Es ist ein genuin biblisches Verfahren um das, was ein langsames Wachsen gewesen ist, sozusagen zu konzentrieren in einer bestimmten Person in einem bestimmten Zeitpunkt … Abraham ist mehr als eine historische Gestalt, er ist eine biblische Gestalt; das heißt: er ist die exemplarische Gestalt des Volkes Gottes und des gläubigen Menschen aller Zeiten. Kurz: er ist der Vater des Glaubens“. Ähnlich wie Paulus verfährt auch der Koran mit Abraham als chanif, dem „Rechtgeleiteten“, Paradigma aller Muslime.

<34> Nach Ton Veerkamp, Das Zeichen der Ernährung Israels. Ein Missverständnis, 6,5-15, Abs. 12-15 (Veerkamp 2006, 112) erhält bei Johannes sowohl „der Berg“ (nicht „ein Berg“!) von 6,3 als auch der „See von Tiberias“ (der tatsächlich wie bei Markus und Matthäus ein „Meer“, thalassa, und kein „See“, limnē, wie bei Lukas ist) eine besonders zugespitzte Bedeutung, nachdem Jesus sich durch die Speisung der 5000 als Ernährer Israels erwiesen hat. Zelotisch denkende Juden, die Jesus (6,14) als den Propheten sehen, der in die Welt kommt, wollen ihn dazu

zwingen („rauben“, steht hier wortwörtlich), als König die politische Verantwortung zu übernehmen. Elisa setzte Könige ein (und in blutiger Weise ab), weil das zu seinem Auftrag gehört. Aber niemals war in Israel der Prophet selber König. Jeschua handelt also, wie ein Prophet in Israel handeln muss. „Er wich aus, zum Berg hin, er allein.“ Also drei Dinge geschehen.

„Er wich aus (anachōrēsen)“, er war zwar ein Anachoret, aber kein frommer Einsiedler. Er geht nicht auf den Berg, „um zu beten“, wie es bei den Synoptikern heißt. Der Messias ist ein König, wie wir in Kapitel 12 hören werden, aber eben nicht ein König unter – und nach! – den herrschenden Verhältnissen. Sein Ausweichen war eine politische Aktion.

„Er allein“, monos, heißt es dann. Wir hatten den Messias als Propheten, als Elia. Hier haben wir den Messias als Mosche. Jetzt wissen wir, um welchen Berg es sich handelt, warum hier ein bestimmter Artikel steht: „Zu dem Berg hin (eis to oros)“, heißt es. Der Berg von Vers 6,3 war auch dort schon bekannt. Der Messias besteigt den Berg allein. Er ist Mosche, Exodus 24,2.

Was tut Israel, wenn Mosche allein auf dem Berg ist? Israel wirft sich vor das goldene Kalb hin. Was tut die messianische Gemeinde, wenn Jeschua allein auf dem Berg ist? Sie müht sich ab, vergebens, sieht kein Land. Die andere Seite des Schilfmeers, des Jordans ist unerreichbar. Jedenfalls wird hier mit einer Art von Messianismus abgerechnet, die sich vom politischen Ziel einer von Rom unabhängigen Monarchie leiten lässt. Eine unabhängige Monarchie ist es unter den Königen aus dem Haus des Judas Makkabäus gewesen. Sie konnte nichts anderes werden als ein Königreich wie alle anderen auch. Solange sich am Zustand der Weltordnung als solcher nichts wirklich ändert, konnte man realpolitisch auch gar nichts anderes erwarten als königliches business as usual. Das Katastrophenjahrhundert 63 v.u.Z. (Einnahme Jerusalems durch die Römer unter Pompeius) bis 70 u.Z. (Zerstörung der Stadt durch die Römer unter Titus) muss immer die notwendige Folge einer Politik sein, die die Menschen von Johannes 6,14 vom Messias erwarten: ein König und alles wird gut. Nichts wurde gut, auch mit einem König Jeschua würde nichts gut geworden sein.

Im folgenden Abschnitt lCH WERDE DASEIN, 6,16-25, Abs. 2-4.6-8 (Veerkamp 2006, 113-14), stellt Ton Veerkamp dar, wie Johannes im Unterschied zu Markus und Matthäus keine Stillung des Sturms berichtet und dennoch den Gang des Messias über das Meer hoffnungsvoll, aber realpolitisch-realistisch deutet:

Was geschieht mit Israel ohne den Messias? Es wird finster. Diese Finsternis ist nicht die normale Folge von Tag und Nacht. In diesem Zusammenhang ist es unsinnig, abzuwinken und zu sagen, es sei spät geworden, und sie haben halt schlechtes Wetter. Die Synoptiker meiden das Wort skotia, Finsternis. Johannes hatte einen Grund, gerade das bei ihm so wichtige Wort einzusetzen. Zwei wichtige Handschriften ahnen die Gefahr der Verharmlosung und ersetzen „Finsternis war schon“ durch „Finsternis hat sie überwältigt“ (katelaben, nach 1,5). Für diese Handschriften war die Finsternis eine feindliche, aktive Macht. Auch wenn wir ihre Lesart nicht übernehmen, leitet der hinter der Lesart stehende Gedanke weiter. Wir denken an Genesis 1,2:

Die Erde war zum Tohuwabohu geworden (hajetha, egeneto):
Finsternis über Chaos (choschekh ˁal pene thehom, skotos epanō tēs abysson),
Gotteswind brütend über dem Antlitz der Wasser.

Die Schüler befinden sich in einer Lage, die aussichtsloser war als die, in die Israel während der Abwesenheit Mosches geraten war. Sie sind in jenem Zustand, in dem die Erde war, bevor das erste Wort erklang und das erste Licht erschien. Dieser See ist ihnen zu jenem thehom von Genesis 1,2 geworden, einem brodelnden Chaos, aufgepeitscht durch den Sturm. Auf diesem See, durch dieses Chaos, ging Jeschua seinen Gang. Die Halakha des Messias findet nur durch dieses brodelnde Chaos der herrschenden Weltordnung (kosmos) statt, in der Nähe ihres Bootes. Er beruhigt sie nicht, er sagt vielmehr: „ICH WERDE DASEIN, habt keine Angst.“ …

Matthäus und Markus lassen Jeschua das Meer beruhigen: „Ducke dich“, sagt er, und damit zeigt sich, was Schöpfung immer heißt: das stets drohende Chaos nicht zum Zuge kommen lassen. Für Johannes ist das offenbar zu blauäugig. Es wird nicht hell, der Wind legt sich nicht, und das Meer tobt wie gehabt. Es herrschen römische Verhältnisse und daran wird sich sobald wenig ändern.

Die Schüler sind fünfundzwanzig oder dreißig Stadien – sechs Kilometer – vorangekommen, kein Land zu sehen. Aber sie beobachten, wie auf diesem tosenden Chaosmeer der Messias Jeschua „seinen Gang geht“. Das macht ihnen Angst. Nicht, weil sie glauben, er wäre ein Gespenst, ein phantasma, wie Markus und Matthäus sagen; Johannes vermeidet das Wort. Angst macht ihnen die Vorstellung, dass der Messias „seinen Gang geht“, ohne dass sich an den äußeren Umständen etwas ändert.

Jeschua sagt: „ICH WERDE DASEIN, habt keine Angst.“ Was auch immer geschieht, das, was in Exodus 3,14 zu Mosche gesagt wurde, bleibt. Der NAME lautet: „ICH WERDE DASEIN!“ Deswegen ist die Angst zwar verständlich, aber unbegründet. Sie wollten ihn ins Boot nehmen, aber erzählt wird nicht, dass Jeschua zu ihnen ins Boot stieg. Trotzdem kommen sie sofort und genau dort ans Land, wohin sie wollten, ohne den Messias!

<35> Vgl. die Informationen über Tiberias in Wikipedia:

Nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 wurde die Stadt bald das geistige und religiöse Zentrum der Juden. Ende des 2. Jahrhunderts erklärte Schimon ben Jochai die Stadt für „rein“, und mit Anfang des 3. Jahrhunderts nahm Tiberias mit dem Sitz des Sanhedrin und einer berühmten Jeschiwa einen weiteren Aufschwung. Hier wurde gegen 210 die Mischna fertiggestellt, bis um 400 entstand die Gemara und bis ca. 450 wurde hier der Palästinische Talmud vollendet sowie der masoretische Text des Alten Testaments festgestellt

<36> lCH WERDE DASEIN, 6,16-25, Abs. 9 (Veerkamp 2006, 114):

Tiberias wurde von Herodes Antipas gegründet und zu seiner Hauptstadt gemacht. Tiberias kommt nur bei Johannes vor. Nur er nennt den großen See in der Jordansenke östlich von Galiläa „Meer von Tiberias“. Für Johannes ist Tiberias „in der Nähe des Ortes, wo sie das Brot gegessen und der Herr das Dankgebet gesprochen hatten.“ Wenn der Ort erwähnenswert sein soll, dann nur wegen des Zeichens der Ernährung Israels.

<37> Vgl. dazu meinen Gottesdienst Maria Magdalena sieht Jesus am 4. April 2010, unter Bezug auf Gedanken von Jane Schaberg in ihrem Buch The Resurrection of Mary Magdalene (2002) und in meiner Buchbesprechung Jesu Busenfreund: Freundschaft mit Adele Reinhartz dem Abschnitt Maria Magdalenas Vision Jesu und Elisas Vision von der Himmelfahrt Elias.

<38> Vgl. dazu Veerkamp, Noch nicht, 20,11-18, Abs. 10-12 ((Veerkamp 2007, 119):

Beim Tod am Kreuz beginnt unaufhaltsam die Ehrung des Messias, beginnt unaufhaltsam der Aufstieg zum VATER. Wir haben das bei der Besprechung 12,28ff. gesehen. Der Tod und die Auferstehung sind aber keine Vollendung. Das Perfekt, das Johannes für vollendete Tatsachen verwendet, wird hier bestimmt durch das noch nicht: „Noch bin ich nicht hinaufgestiegen“ (oupō anabebēka). Das Perfekt ist, wie wir gesehen haben, bei Johannes die Wiedergabe einer in der Vergangenheit abgeschlossenen Handlung. Das noch nicht bezieht sich nicht auf das Verb selber, sondern auf die Zeitform, auf das Perfekt; nicht das Aufsteigen selber, sondern das Perfekt wird negiert.

Mit dieser negativen Botschaft wird Maria aus Magdala als erste Evangelistin zu den Brüdern Jeschuas geschickt: „Noch bin ich nicht zum VATER hinaufstiegen“, Perfekt, aber dann doch mit der entscheidenden positiven Botschaft: „Ich steige auf“, Präsens. …

Das Präsens ist ein semitisches Präsens, es deutet eine Handlung an, die begonnen wurde und die bis in die Zukunft fortdauert. Auch wenn das Grab Jeschua nicht halten kann, bleibt er, der Lebende, dennoch ein Toter, eine lebende Leiche, die man nicht berühren darf – beides! Deswegen wäre das Perfekt fehl am Platze. Die Bewegung zum VATER beginnt am Tag eins. Das ist das Einzige, aber es ist alles. Es gibt keine Garantien, aber am Tag eins ist die Todesgeschichte der herrschenden Weltordnung wieder offen.

In seiner Auslegung von Johannes 12,34-36, Wer ist dieser bar enosch, MENSCH? 12,34-36, Abs. 10 (Veerkamp 2007, 36) hatte Veerkamp dazu erläutert:

Einstweilen hat sich der Messias in die Verborgenheit zurückgezogen. Für jenes Israel, das die Menge der Judäer repräsentiert, bleibt er verborgen. Auch unsere christlichen Osterfeste werden diese Verborgenheit nicht aufheben. Die Verborgenheit ist endgültig. Nicht nur für die Weltordnung und für die Judäer, sondern auch für die messianische Gemeinde. Der Messias wird sich verabschieden. Was bleibt, ist die Inspiration, die von ihm ausgehen wird. Ob das unsere Fragen beantwortet, darüber muss jede neue Generation neu nachdenken.

<39> Der vierte Tag. Der MENSCH, 1,43-51, Abs. 10-21 (Veerkamp 2015, 21, und Veerkamp 2006, 41-44).

<40> (Veerkamp, Anm. 99):

Eine Zurechtweisung an die Adresse des Markus bzw. Matthäus, die Jeschua den Feigenbaum verfluchen lassen (Markus 11,12f. par.)? Lukas hat diesen Passus wohl mit Absicht weggelassen. Zum Bild Feigenbaum vgl. Micha 4,4 und Sacharja 3,10.

<41> (Anm. 399):

E.g. Rudolf Karl Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 21. Aufl., KEK, vol. 2 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986), 176.

<42> (Anm. 400):

Bauernfeind and Kittel, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 236–237.

<43> Der Streit unter den Judäern, 6,52-59, Abs. 5-7 (Veerkamp 2006, 122).

<44> (Anm. 417):

Maarten J. Menken, “John 6:51c-58: Eucharist or Christology,” in Critical Readings of John 6, ed. R. Alan Culpepper, Bibl.-Interpr.S (Leiden: Brill, 1997), 183–204.

<45> (Anm. 429):

Craig S. Keener, The Gospel of John: A Commentary. 2 vols. Peabody: Hendrickson Publishers, 2003, 689–691.

<46> „Du bist der Lehrer Israels, und das verstehst du nicht?“, 2,23-3,21, Abs. 10-13 (Veerkamp 2006, 55-56).

<47> Eine böse Rede, 6,60-66, Abs. 5-9 (Veerkamp 2006, 123-24).

<48> (Anm. 434):

Peder Borgen, Bread from Heaven: An Exegetical Study of the Concept of Manna in the Gospel of John and the Writings of Philo. Leiden: Brill, 1965.

<49> Kein Hunger mehr, kein Durst mehr. Der entscheidende Tag, 6,30-40, Abs. 3-10 (Veerkamp 2006, 116-17).

<50> (Anm. 440):

Angelika Strotmann, “Die göttliche Weisheit als Nahrungsspenderin, Gastgeberin und sich selbst anbietende Speise,” in “Eine gewöhnliche und harmlose Speise?“: Von den Entwicklungen frühchristlicher Abendmahlstraditionen, ed. Judith Hartenstein (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2008), 131-156.

<51> (Anm. 422):

James D.G. Dunn, „John 6: A Eucharistic Discourse?“ NTS 17, no. 3 (1971): 328–38, 337.

<52> (Anm. 423):

Dass Johannes die Einsetzungsworte wegen einer disciplina arcanorum verschweigt, wurde beispielsweise von R. M. Ball, „Saint John and the Institution of the Eucharist“, JSNT, no. 23 (1985), 65, vorgeschlagen.

<53> (Anm. 445 und 446):

Jeffery Horace Hodges, „Food as Synecdoche in John’s Gospel and Gnostic Texts.“ Ph.D. Thesis, University of California, Berkeley, University Microfilms International: Ann Arbor 1996/97, 514-574.

<54> (Anm. 457 und 461):

John Christopher Thomas, Footwashing in John 13 and the Johannine Community. Sheffield: JSOT Press, 1991, 42-55.

<55> Scholion 6: Zur klerikal-sakramentalen Deutung der Brotrede, vor allem 6,52-59, Abs. 6-7 (Veerkamp 2006, 126).

<56> (Veerkamp, Anm. 247):

Vgl. Ton Veerkamp, Der mystifizierte Messias – das mystifizierte Abendmahl. Abendmahltexte der messianischen Schriften, in: Texte und Kontexte 25 (1985), 16-42.

<57> (Anm. 487):

John N. Suggit, „The Eucharistic Significance of John 20.19-29“, Journal of Theology for Southern Africa, no. 16 (1976).

<58> Anm. 541 zur Auslegung von Johannes 19,30 (Veerkamp 2015, 140):

Paredōken to pneuma. Die Synoptiker haben an dieser Stelle exepneusen (Markus, Lukas) oder aphēken to pneuma (Matthäus), also: „entgeistete“ oder „entließ seinen Geist“. Paradidonai wird bei Johannes nur für „ausliefern an die Feinde“ gebraucht (Subjekte: Judas Iskariot, die Nation, die führenden Priester, Pilatus). Pneuma haben wir immer mit „Inspiration“ übersetzt. Wir müssten, um konsequent zu sein, mit „er lieferte seine Inspiration aus“ übersetzen. Der Bezug ist von Johannes sicher gewollt: die Protagonisten dieser Weltordnung „liefern“ einen Menschen seinen Feinden „aus“, Jeschua dagegen gibt seine Inspiration in die Hände seiner Schüler (liefert sie aus), das ist der Sinn seines Weggehens, 16,7! Wegen der negativen Bedeutung von „ausliefern“ müssen wir hier mit „übergeben“ übersetzen. Konsequent hören wir in 20,22: labete to pneuma hagion, „nehmt an die Inspiration der Heiligung“. Das „Übergeben der Inspiration“ findet seine Vollendung im „Annehmen der Inspiration“.

Dazu weiter Ton Veerkamp in seiner Auslegung von Johannes 20,22, Die geschlossenen Türen, 20,19-23, Abs. 1 und 6-10 (Veerkamp 2015, 147) und (Veerkamp 2007, 123):

20,22 Als er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagt ihnen:
„Nehmt an Inspiration der Heiligung.

Dann „inspiriert“ Jeschua seine Schüler körperlich, er haucht über sie. Das Verb emphysan kommt in den messianischen Schriften nur hier, Johannes 20,21, vor. In der griechischen Fassung der Schrift ist das Verb selten. Es steht für das hebräische Verb nafach. Das Verb bedeutet „blasen [mit dem Mund]“, und zwar mit zwei entgegengesetzten Effekten: beleben und verbrennen. Die ursprüngliche Bedeutung ist „[ein Feuer] anhauchen“, Jesaja 54,16; Hiob 20,26. Die Wut Gottes wird als Feuer gegen sein aufsässiges Volk angehaucht (Ezechiel 22,20f.). In Genesis 2,7 dagegen hören wir:

Der NAME, Gott, bildet die Menschheit als Staub vom Acker.
Er bläst (wa-jipach, enephysen) in ihre Nasenlöcher Hauch des Lebens.
Es wurde die Menschheit zur lebenden Seele.

Die eingeschüchterten Menschen in diesem verbarrikadierten Raum sind sozusagen Tote in einem Totenhaus. Sie müssen belebt werden. Die große Vision Ezechiel 37,1ff. wurde bereits bei der Besprechung 6,63 zitiert. Der Prophet wird vor ein Feld voll mit ausgedorrten Knochen geführt, und der NAME fragt ihn:

„Menschenkind, können diese Knochen wieder aufleben?“
Ich sagte: „mein Herr, EWIGER, du weißt es.“
So hat mein Herr, der NAME, gesagt:
„Sage aus als Prophet über diese Knochen, sagen sollst du zu ihnen:
‚Ihr ausgedorrten Knochen, hört das Wort des NAMENS!‘“
So sagt mein Herr, der NAME, zu diesen Knochen:
ICH bin es, ich lasse in euch Inspiration kommen, und ihr lebt auf!
Ich gebe euch Muskeln, ziehe Fleisch, spanne Haut über euch.
Ich gebe über euch Inspiration, ihr lebt auf, ihr erkennt:
ICH BIN ES, der NAME.

Nur von solchen zentralen Texten der Schrift können wir verstehen, was Jeschua hier tut. Er sagt: „Nehmt an Inspiration der Heiligung.“ Wir haben bei der Besprechung von 19,30 diese Stelle angekündigt: Jeschua „gab die Inspiration“. Hier, 20,22, haben wir die dazu entsprechende komplementäre Aufforderung: „Nehmt an …!“ „Die Inspiration ist es, die lebend macht, das Fleisch kann nichts dazu beitragen“, hörten wir in 6,63. Die bedrohte, verwundbare Existenz dieser eingeschüchterten Menschen, Fleisch, wird inspiriert und soll sich in messianische Existenz verwandeln. Das wird hier nicht erzählt, vorerst bleibt die Isolation, der geschlossene Raum. Erst als die Gruppe nach Galiläa geht, wird die Verwandlung zur Wirklichkeit. Die Inspiration, die ausgeht vom wundgeschlagenen und getöteten Messias, belebt diese Menschen und befähigt sie, ihre Mission zu erfüllen.

<59> Zur Auslegung von Johannes 21,18-19a schreibt Ton Veerkamp, Der Hirte, 21,15-19a, Abs. 14-20 (Veerkamp 2007, 134-35):

Die nachfolgenden Sätze haben ein großes Gewicht, denn sie werden so eingeleitet: „Amen, amen, sage ich dir“. Die Sätze werden durch die Anmerkung des Erzählers gedeutet. Sie weisen auf den Tod hin, mit dem Simon Petrus Gott ehren wird. Es gibt aber große Probleme mit der traditionellen Erklärung der Aussage, Petrus könne, solange er jung sei, sich gürten, wie er wollte, und gehen, wohin er wollte. Aber wenn er älter sein werde, werde er die Hände ausstrecken, ein anderer würde ihn gürten und dorthin tragen, wohin er nicht wolle.

Also, sagt man, als alter Mann würde er seine Hände ausstrecken, um sich ans Kreuz nageln zu lassen, und man würde ihn dorthin tragen, wohin er nicht wollte, nämlich, indem man das Kreuz aufrichtet, an dem er festgenagelt worden war. Nun ist von Kreuzigung nicht die Rede, und ein wirklich verlässliches Dokument über die Kreuzigung des Petrus ist bislang nicht aufgefunden worden.

Das „Ausstrecken der Hände“, ekteinein tas cheiras bedeutet niemals, „die Hände zur Fesselung ausstrecken“. In der Regel ist dies ein Zeichen der Macht, vor allem im Buch Exodus. Und wenn jemand bei den Synoptikern aufgefordert wird, die Hand auszustrecken, geschah das, um sie zu heilen, Markus 3,5 par. Peripatein übersetzen wir immer mit „den Gang gehen“. Gemeint ist mit diesem Verb der Gang mit dem Messias bzw. mit dem „Licht der Welt“, 8,12; 11,9f.; 12,35.

Die Gegensätze sind: „jung“ und „alt“ / „sich gürten“ und „sich von einem anderen gürten lassen“ / „den Gang gehen“ und „von einem getragen werden“ / „wollen“ und „nicht wollen“. Nur „die Hände ausstrecken“ hat keinen Gegensatzpartner, der Ausdruck steht für sich. „Alt sein, sich gürten lassen, getragen werden und nicht wollen“, bedeutet: nicht länger frei über sein Tun und Lassen verfügen zu können.

Man kann, wie Bultmann, diese „Weissagung“ ohne Zusammenhang mit dem Hirtenauftrag als selbständiges Logion behandeln. Das ist immer der bequemere Weg. Wir ziehen es vor, einen Text als etwas in sich Strukturiertes und Zusammenhängendes zu sehen.

Der Hirte kann nicht mehr seinen eigenen Gang gehen. Er wird gegürtet werden. Das Verb „sich gürten“ (zōnnynai, hagar) kommt in der Schrift 44mal vor. Das Objekt ist meistens Schwert oder Waffen, 16mal. Auch der Ausdruck „die Hände ausstrecken“ bedeutete häufig „die Hände ausstrecken nach dem Schwert“, vor allem in den Büchern Josua, Richter, Samuel. Nicht selten ist das Objekt von „gürten“ Priestergurt und Priesterschurze, achtmal. Sich umgürten mit dem Bußgewand des Sackleinens kommt sechsmal vor. Sich gürten ohne Objekt oder sich die Lenden gürten bedeutet: sich reisefertig machen (sechsmal). Aber nirgendwo ist „sich von einem anderen gürten lassen“ ein Synonym für „sich fesseln lassen“.

Als Simon jung war, ging er seinen eigenen, zelotischen Gang und „zog sein Schwert“, 18,10. Wenn er alt sein wird, wird er seine Hände ausstrecken, aber nicht nach dem Schwert, sich gürten lassen, aber nicht mit dem Schwert. Dann kann von einem eigenen, frei gewählten Weg nicht mehr die Rede sein. Er wird getragen werden durch jenen „Anderen“. Dieser „Andere“ ist der Messias. Der Messias ist der Hirte, der seine Seele einsetzt für die Schafe, bis zum Ende, bis zum Tod, wie erzählt wird. Jetzt ist Simon Petrus der Hirte. Er wird den Gang des messianischen Hirten gehen, mit der gleichen Konsequenz: bis zum Ende, bis zum Tod, mit dem er Gott ehren wird, wie der Messias durch seinen Tod Gott geehrt hat. Simon Petrus wird Gott durch den Tod ehren wie der Messias.

<60> (Anm. 500):

Walter Burkert, Ancient Mystery Cults. Cambridge: Harvard University Press, 1987, 12.

<61> (Anm. 502):

Hans-Josef Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult: Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief. NTA. Vol. 15. Münster: Aschendorff, 1982.

<62> Larry W. Hurtado, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids, Michigan: Eerdmans 2003, 146 (übersetzt von mir).

<63> (Anm. 509):

Vgl. Silke Petersen, „Jesus zum ‚Kauen‘? Das Johannesevangelium, das Abendmahl und die Mysterienkulte.“ In „Eine gewöhnliche und harmlose Speise?Von den Entwicklungen frühchristlicher Abendmahlstraditionen, hrsg. v. Judith Hartenstein, 105-130. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2008.: 123–124.

<64> Vgl. Adele Reinhartz, Cast Out of the Covenant: Jews and Anti-Judaism in the Gospel of John (Lanham: Lexington Books-Fortress Academic, 2018), und meine Besprechung dieses Buches unter dem Titel Jesus the Messiah: Liberation for all Israel.

<65> Die Seitenzahl 482 bezieht sich auf das Buch:

Helene P. Foley, The Homeric Hymn to Demeter: Translation, Commentary, and Interpretive Essays. Princeton: Princeton University Press, 1994.

<66> Das Leben und das Licht, 1,4-5, Abs. 8-9 (Veerkamp 2006, 13).

<67> (Anm. 527 und 528):

Peter Wick, „Jesus gegen Dionysos? Ein Beitrag zur Kontextualisierung des Johannesevangeliums“, Bib 85 (2004): 183-88.

<68> (Anm. 529 und 538):

Eisele, Wilfried. “Jesus und Dionysos: Göttliche Konkurrenz bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-11).” ZNW 100, no. 1 (2009), 26-28.

<69> (Anm. 531):

Eisele diskutiert auch das Motiv Jesu als des wahren Bräutigams in Johannes 2 in Verbindung mit der Metapher des Bräutigams in 3,22-29: ebenda, 8-9.

<70> (Anm. 538:)

Vgl. Rudolf Karl Bultmann, Das Evangelium des Johannes. 21. Aufl. KEK. Vol. 2. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986, 176: „Andrerseits wird in V. 54 der Anstoß dadurch gesteigert, daß das phagein durch das stärkere trōgein ersetzt ist: es handelt sich also um reales Essen, nicht um irgendeine geistige Aneignung.“

<71> Siehe dazu unten meinen Abschnitt 6.13.

<72> (Anm. 568):

Vgl. Walter Burkert, Ancient Mystery Cults. Cambridge: Harvard University Press, 1987, 110. Dionysus selbst wird von Sophokles „Stierfresser“ genannt (Fragmenta, 668.1). „Δionysou tou taurophagou“; Sophocles, Fragments, ed. LLoyd-Jones, Hugh, vol. 483, LCL (Cambridge, London: Harvard University Press, 1996), 320–321.

<73> (Anm. 589):

James George Frazer, The Golden Bough: A Study of Magic and Religion. London: MacMillan, 1988, 390.

<74> (Anm. 591):

Vgl. Richard Seaford, Dionysos. Gods and Heroes of the Ancient World. London: Routledge, 2006, 39–48. Siehe auch ältere Literatur zum Thema: Walter Friedrich Otto, Dionysos: Mythos und Kultus, Frankfurter Studien zur Religion und Kultur der Antike, Band 4 (Frankfurt a.M.: Klostermann, 1933), 71-81, widmet zwei Kapitel mit dem Titel „Die Mythen seiner Epiphanie“ (71-75) und „Der kommende Gott“ (75-81) dem Gott Dionysus, der seine Macht und seine Beweglichkeit in seinen Epiphanien entfaltet. Marcel Detienne, Dionysos at Large, Revealing Antiquity, Band 1 (Cambridge: Harvard University Press, 1989), entwickelt die offenbarende Gegenwart des Dionysos unter den Menschen, obwohl er er es vorzieht, von Parusie an Stelle von Ephiphanie zu sprechen. Er betont die regionalen Besonderheiten und die doppelte Natur der dionysischen Epiphanien.

<75> (Anm. 592):

Albert Henrichs, „‚He Has a God in Him‘: Human and Divine in the Modern Perception of Dionysos“, in Masks of Dionysus, Hrsg. Thomas H. Carpenter and Christopher A. Faraone, Myth and Poetics (Ithaca: Cornell University Press, 1993), 13–43: 19.

<76> (Anm. 594):

Hendrik Simon Versnel, Ter unus: Isis, Dionysos, Hermes. Three Studies in Henotheism. SGRR. Band 6, 1. Leiden: Brill, 1990, 165.

<77> (Anm. 608):

Zeugnisse für Jesu Göttlichkeit z. B. in Johannes 1,1.18; 3,16; 5,18; 10,30; 14,9; 20,28.

<78> (Anm. 609):

Z. B. in Johannes 5,19; 7,28; 12,49; 13,20; 17,3; 20,17.

<79> Vgl. dazu Ton Veerkamp, Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung © Institut für Kritische Theologie Berlin e. V. nach der in Berlin erschienenen Ausgabe © Argument Verlag 2013. Aus meiner Zusammenfassung der Hauptgedanken dieses Buches von Veerkamp zitiere ich einige Abschnitte, Die Struktur der Großen Erzählung, Abs. 2-3, und Die Sprache der Großen Erzählung, Abs. 1-3:

Nach Veerkamp begreift die Bibel Gott nicht als „höchstes Wesen“, sondern als die Beschreibung einer Funktion. Diese Definition erinnert an Martin Luthers Satz (Großer Katechismus, Auslegung des ersten Gebots, Bekenntnisschriften der evang.-lutherischen Kirche (BSLK) 560,22-24): “Worauf du nu … Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.” Ton Veerkamp meint also: „Es existiert kein Wesen Gott, so wie es kein Wesen, sondern nur die Funktion ‚König‘ gibt.“ Das Wort „Gott“ beschreibt, was in einer Gesellschaftsordnung „als zentrales Organisationsprinzip für Autorität und Loyalität“ funktioniert. Das ist gemeint, wenn man in der Antike fragte: „Was ist sein [Gottes] Name?“

In Israel ist dieser Name unaussprechlich, „der NAME ist ‚nur Stimme‘.“ Er hat keine Gestalt, man darf kein Bild von ihm machen und anbeten. Er ist gefüllt mit dem, was er tut; er führt aus dem Sklavenhaus, er befreit. Das altbekannte Wort „Gott“ bekommt einen neuen Namen, einen neuen Inhalt. „Der NAME ist die Chiffre für eine Grundordnung, welche die Sklaverei ausschließt, Ba‘al ist die Chiffre für eine Gesellschaft der großen Eigentümer, die Sklaverei zwingend voraussetzt.“

Trotzdem (56) kommt die Bibel nicht darum herum, den NAMEN in metaphorischer Redeweise als (vorwiegend männliche) Person auftreten zu lassen. Darum sind Missverständnisse unausbleiblich. „Tatsächlich war der Gott Jahu, der in Samaria und Jerusalem verehrt wurde, ein altorientalischer Gott wie alle anderen altorientalischen Götter, die Religion Israels prinzipiell keine andere als die altorientalischen Religionen auch.“

Aber es geschieht etwas mit der Metapher des Königs. Israels Gott wird nicht mehr in Analogie zu absolut herrschenden menschlichen Königen gedacht, sondern nur noch der NAME darf mit Recht „König“ genannt werden. Denn nur dieser wahre König versklavt nicht wie andere Könige, sondern er befreit von jeder Sklaverei. Wer die Bibel ernstnehmen will, muss beachten, dass hier nirgends Gott in eine Reihe mit menschlichen Herrschern gestellt werden soll, sondern jede Art der Herrschaft wird vom befreienden und Recht schaffenden Handeln Gottes her kritisiert. Das gilt auch für das alte Judäa, das „immer eine Klassengesellschaft war“.

Die Mehrheit der Bevölkerung verstand den NAMEN damals aber eher „normal“ wie jeden anderen Gott, und die Bibel kann bis heute so gelesen werden, als ob Gott ein Tyrann sei wie andere menschliche Herren. Aber so übertritt man das erste Gebot. „Aufgabe der Theologie ist es, solch falsches Bewusstsein aufzubrechen und Wissen herzustellen. Es war immer eine Minderheit, die den Widerspruch zwischen ‚Gott als Herrn‘ und dem NAMEN zur Sprache brachte und versuchte, eine völlig andere Politik einzuleiten. Das war das Geschäft der Propheten.“

<80> Vgl. dazu die Ausführungen von Ton Veerkamp, die ich in oben in Kapitel 2 zitiert habe.

<81> Markus 3,21.31-35; Matthäus 12,46-50; Lukas 8,19-21.

<82> Es ist nicht so, wie Sie schreiben (107), dass die „Mutter Jesu auch bei diesem festlichen Anlass anwesend ist“ (Hervorhebung von mir). Tatsächlich fehlt in 2,1 das Wort „auch“, die Mutter ist vielmehr als erste da, während Jesus und seine Jünger „auch“ eingeladen sind.

<83> Vgl. dazu Ton Veerkamp, Messianische Hochzeit, 2,1-11, Abs. 7-12 (Veerkamp 2006, 45-47):

Johannes führt eine weitere Person ein, die Mutter des Jeschua. Sie spielt eine Rolle, die keiner der anderen Evangelisten ihr zuerkannte. Bei Lukas ist sie die handelnde Person in der Zeugungs- und Geburtsgeschichte des Messias. Eine besondere Rolle erwächst ihr daraus nicht, ganz im Gegenteil: die Synoptiker weisen jeden Anspruch auf eine herausgehobene Funktion in der messianischen Gemeinde schroff zurück: „Wer ist schon meine Mutter, wer sind meine Brüder“, fragt der Messias. „Wer den Willen meines VATERS in den Himmeln tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“, Matthäus 12,50, vgl. Lukas 8,21 und Markus 3,23.

Bei Johannes spielt die Mutter gerade beim „Anfang der Zeichen“ eine entscheidende Rolle. Die Mutter Jeschuas gehört an erster Stelle zur Hochzeitsgesellschaft, Jeschua und seine Schüler wurden danach herbeigerufen. Gerade sie stellt einen gravierenden Mangel fest, der das Hochzeitsfest unmöglich macht: „Wein haben sie nicht.“ „Wein“ steht am Anfang des Satzes, er ist die Hauptsache. Gerade diese Hauptsache fehlt. Die Mutter Jeschuas steht also zwischen dem Messias mit seinen Schülern und der Hochzeitsgesellschaft. Sie vermittelt zwischen Israel und dem Messias.

Später tritt die Mutter noch einmal auf, unter dem Kreuz. Dort wird sie zur Mutter des Schülers gemacht, dem Jeschua in besonderer Weise solidarisch verbunden war, und dieser Schüler zum Sohn jener Frau. Johannes nennt niemals den Namen der Mutter Jeschuas. Bei ihm ist sie nur die Mutter des Messias. Sie muss in der messianischen Gemeinde, aus der das Johannesevangelium stammt, eine herausragende Rolle gespielt haben. In der Erzählung von der messianischen Hochzeit besteht ihre Rolle in der Vermittlung zwischen dem Messias und Israel. Sie ist aber nicht, wie die römisch-katholische Mariologie meint, der Prototyp der christlichen Kirche.

Jeschua sagt zu seiner Mutter: „Was ist zwischen mir und dir, Frau?“ Der Ausdruck ist aus der Schrift bekannt; er bedeutet, dass ein gemeinsames Anliegen zwischen zwei Personen in Frage gestellt wird (etwa in Richter 11,12; 2 Samuel 16,10; Josua 22,24; Jeremia 2,18). Seine Stunde, „die Stunde, um aus dieser Weltordnung heraus zum VATER überzugehen“ (13,1), sei noch nicht gekommen. Noch ist der Augenblick nicht da, wo dem Mangel an Wein abgeholfen wird, wo Israel wieder zu Israel wird, indem die Kluft zwischen Israel (die Mutter) und der messianischen Gemeinde (Jeschua und seine Schüler) zugeschüttet werden wird. Offenbar hat der Wein etwas mit der „Stunde“ zu tun. Das Ansinnen der Frau ist wie eine dringende Bitte in dieser Feststellung verborgen. Es ist eine Bitte wie die der Schüler, Apostelgeschichte 1,6: „Ob du in dieser Zeit das Königreich für Israel wiederherstellen wirst?“ Dort wurden die Schüler zurückgewiesen (Apostelgeschichte 1,6), wie hier die Mutter zurückgewiesen wird. „Noch nicht“, sagt Jeschua hier, und er wird es später Maria aus Magdala sagen, weil sie Jeschua wie einen Lebenden zu berühren sucht: „Noch bin ich nicht zum VATER hinaufgestiegen“ (20,17).

Die Anrede „Frau!“ (gynai) ist weder respektlos noch abweisend. Die Mutter des Messias hat auf das Entscheidende aufmerksam gemacht. Wein haben sie nicht, was sie haben, ist Wasser. Wasser ist lebensnotwendig, Wasser ist die Tora, es dient dazu, die zentralen Reinigungsvorschriften der Tora auszuführen.

Die Mutter Jeschuas, die sich das zentrale Problem des Hochzeitsfestes zu eigen gemacht hat, wendet sich an die Diensthabenden. Ihre Handlung interpretiert die Frage: „Was ist zwischen mir und dir?“ nicht als eine rhetorische, sondern als eine wirkliche Frage. Was habe ich, der Messias, mit diesem Israel zu tun? Sie beantwortet diese implizite Frage mit einer Aktion; sie sagt zu den Diensthabenden, sie sollen tun, was Jeschua ihnen sagen wird. Mit einem solchen Israel hat er allerdings etwas zu tun.

<84> Kein Hunger mehr, kein Durst mehr. Der entscheidende Tag, 6,30-40, Abs. 15-23 (Veerkamp 2006, 118-19).

<85> Ton Veerkamp setzt von den jüdischen Schriften her alētheia mit der „Treue“ Gottes gleich, vgl. seine Anmerkung 428 zu Johannes 14,6 (Veerkamp 2015, 108):

Der Weg, die Treue und das Leben ist der Gott Israels. Niemand findet den Weg dorthin, es sei denn durch den Messias.

<86> Was ist schon Treue? 18,28b-38a, Abs. 35 (Veerkamp 2007, 90).

<87> (Anm. 626):

Ekkehard W. Stegemann, Christus und Dionysos: Die Suche nach der Figur im Teppich des Johannesevangeliums, Evangelisch-Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Exegese und Theologie (Bochum: Ruhr Universität Bochum), 8–9.

<88> Da, der Mensch, 18,38b-19,11, Abs. 22 (Veerkamp 2007, 93-94).

<89> Adele Reinhartz, Cast Out of the Covenant: Jews and Anti-Judaism in the Gospel of John (Lanham: Lexington Books-Fortress Academic, 2018). Vgl. dazu meine Besprechung dieses Buches unter dem Titel Jesus the Messiah: Liberation for all Israel.

<90> (Anm. 628):

Peter Wick, „Jesus gegen Dionysos? Ein Beitrag zur Kontextualisierung des Johannesevangeliums“, Bib 85 (2004); Eisele, Wilfried. “Jesus und Dionysos: Göttliche Konkurrenz bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-11).” ZNW 100, no. 1 (2009), 1-28.

<91> (Anm. 629):

Thus the main argument proposed by Ekkehard W. Stegemann, Christus und Dionysos: Die Suche nach der Figur im Teppich des Johannesevangeliums, Evangelisch-Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Exegese und Theologie (Bochum: Ruhr Universität Bochum), 8–9.

<92> (Anm. 630):

Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium. Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, 151.

<93> Vgl. seine Anspielung auf den Abriss und Wiederaufbau des Tempels, mit dem er seinen eigenen Leib meint, in Johannes 2,19-21.

<94> Eine böse Rede, 6,60-66, Abs. 1 (Veerkamp 2015, 57).

<95> Anmerkung 237 zu Johannes 6,60 (Veerkamp 2015, 56).

<96> Eine böse Rede, 6,60-66, Abs. 2-3 (Veerkamp 2006, 123).

<97> (Anm. 634):

Gary M. Burge, The Anointed Community: The Holy Spirit in the Johannine Tradition. Grand Rapids: Eerdmans, 1987, 187.

<98> Vgl. dazu Ton Veerkamp, Anmerkung 290 zu Johannes 8,44 (Veerkamp 2015, 72):

Es kommt alles darauf an, das Wort diabolos/ßatan sachlich korrekt zu übersetzen. 32mal begegnet die hebräische Wurzel ßatan in der Schrift, 6mal als Verb, 26mal als Substantiv, 14mal allein in Hiob 1-2, dreimal in Sacharja 3. 7mal ist der ßatan eindeutig ein politischer Gegner (in 1/2 Samuel und 1 Könige); in den Psalmen bedeutet das Verb ßatan „befehden“; die Widersacher sind samt und sonders irdisch. In Sacharja 3 und im Buch Hiob fungiert der ßatan als Vertreter der Anklage am Gerichtshof Gottes. ßatan etc. wird meistens durch endiaballein, diabolos, diabolē übersetzt, also „durcheinanderwerfen“. 2mal wird antikeisthai gebraucht, „Widerstand leisten“, weiter haben wir epiboulos, „einer, der hinterlistig einen falschen Rat erteilt“. 3mal lassen die Übersetzer das Wort einfach stehen, ßatan (1 Könige 11). In diesen Fällen ist ßatan niemals das, was wir „Teufel“ nennen. 33mal kommt satanas in den Evangelien und in den apostolischen Schriften vor, 36mal das Wort diabolos. Der Befund schreibt nicht zwingend vor, auf die übernatürlichen Einwirkungen eines bösen Geistes zu schließen. Vielmehr ist das Wort politisch zu deuten. „Begehren des diabolos“ ist sachlich identisch mit der epithymia tou kosmou, 1 Johannes 2,17, der Raffgier der Weltordnung. Was Jeschua seinen Gegnern vorwirft, ist die Komplizenschaft mit Rom, deswegen ist Judas diabolos, „Feind“, 6,70; er ist der Prototyp eines Kollaborateurs.

<99> Dazu erklären Sie selbst (313f.):

Ödipus war der berühmte König, der seinen Vater tötete und mit seiner Mutter schlief. Thyestes war ein Held der griechischen Mythologie, der Gegenstand einer Tragödie von Seneca war. Thyestes rivalisiert sein Leben lang mit seinem Bruder Atreus, und Senecas Tragödie endet mit einem Bankett, bei dem Atreus seinem Bruder Thyestes ein Festmahl serviert, das aus dem Fleisch von Thyestes‘ eigenen Söhnen besteht.

<100> (Anm. 670):

J. Albert Harrill, „Cannibalistic Language in the Fourth Gospel and Greco-Roman Polemics of Factionalism (John 6:52-66),“ JBL 127, no. 1 (2008).

Die Übersetzung des Titels im Text stammt von mir, H. S.

<101> Die Formulierung „bonding over flesh and blood“ meint mehr als „Bindung über Fleisch und Blut“, daher lasse ich in meiner Übersetzung die deutsche „Blutsbruderschaft“ anklingen.

<102> (Anm. 677):

„et compraehendere quidem Graecum peregrinum eumque annali tempore saginare et deductum ad quandam siluam occidere quidem eum hominem eiusque corpus sacrificare secundum suas sollemnitates et gustare ex eius uisceribus et iusiurandum facere in immolatione Graeci, ut inimicitias contra Graecos haberent, et tunc in quandam foueam reliqua hominis pereuntis abicere“ (Contra Apionem 2.95); Flavius Josephus, The Life / Against Apion: With an English Translation, ed. H. St. J. Thackeray; LCL (London: Heinemann, 1976), 330.

<103> Das Wort „Enklave“ steht hier und im Folgenden nicht für einen vom eigenen Staatsgebiet umschlossenen Teil eines fremden Staatsgebietes, sondern ist die wörtliche Übersetzung von „enclave“, das Sie offenbar für eine von der Außenwelt abgeschottete, verschwörerische Gruppierung verwenden, innerhalb derer Fleisch- und Blutrituale vollzogen wurden.

<104> (Anm. 691):

Vgl. Gail O’Day’s Feststellung, dass „Ironie verdeckt, um zu enthüllen, verbirgt, um schließlich sichtbar zu machen“, in ihrem Buch Gail R. O’Day, Revelation in the Fourth Gospel: Narrative Mode and Theological Claim. Philadelphia: Fortress Press, 1986, 31.

<105> Vgl. dazu Anm. 79.

<106> (Anm. 699):

Zum Beispiel Stephen G. Wilson, Related Strangers: Jews and Christians, 70–170 C.E (Minneapolis: Fortress Press, 1995), 175.

<107> In seiner Auslegung von Johannes 16,2, Wenn er kommt, der Anwalt, Inspiration der Treue, 15,26-16,7, Abs. 5-11 (Veerkamp 2007, 61-63):

Die Synagoge war keine Kirche, keine Glaubensgemeinschaft. Sie war vielmehr gleichermaßen Ort der Versammlung und Organ der Selbstverwaltung, wo die Kinder Israels im Rahmen des von den Römern anerkannten Status‘ einer Ethnie mit ihrem zugelassenen Kult (religio licita) ihre Angelegenheiten selber regeln konnten (politeuma in Alexandrien). Das bedeutete einen nicht unbedeutenden Schutz vor behördlichen Maßnahmen und behördlicher Willkür. Das Maß an Autonomie variierte je nach Zeit, Stadt und Region. Der synagogale Status war etwas zwischen vollem Bürgerrecht und dem Status eines Fremden und Zugereisten.

Der Status war aber prekär; es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Privilegien eingezogen wurden und es von den Behörden geduldete oder gar veranlasste Vertreibungen und Pogrome gab, wie z.B. den Pogrom 37/38 in Alexandrien. Die Synagoge musste also darauf achten, dass Gruppen, die staatsfeindliche Anschauungen vertraten, nicht die Überhand gewannen.

Offenbar war die Führung der Synagoge an dem Ort, wo sich Johannes und seine Gruppe aufhielten, zu dem Schluss gekommen, diese stellen eine Gefahr für die Synagoge dar. Deswegen war es ihre Pflicht, solche Gruppen vor die Tür zu setzen. Die Führung der Synagoge, in deren Zuständigkeitsbereich die Gruppe um Johannes gehörte, vertrat die Richtung des rabbinischen Judentums, Johannes dagegen machte aus seiner Abneigung gegen diese Richtung keinen Hehl. Der Ausschluss war ein legitimer und politisch nachvollziehbarer Akt der synagogalen Führung. Das ist der Grund, den wir sehen können und sehen müssen, und deswegen ist das Wort „grundlos“ (chinnam, dōrean) fehl am Platze. Es gehört zur selbstverständlichen Pflicht nicht-jüdischer Exegeten, den Konflikt einmal von der Warte der Synagoge her nachzuvollziehen und nicht von vornherein Partei für „Jesus und die Apostel“ zu ergreifen. Wie gesagt, Johannes hält sich erst gar nicht bei der Suche nach den Gründen für den Ausschluss auf. Hier müssen wir keine Schüler des Johannes sein.

Wenn andererseits eine Gruppe aus der Synagoge ausgeschlossen wird, verliert sie Status und Schutz, und die Mitglieder dieser Gruppe müssen sich einzeln mit den römischen Behörden auseinandersetzen. Das bedeutete Lebensgefahr. Die Hinrichtung staatsfeindlicher Elemente war ein Akt politischer Loyalität, und eine solche Loyalität war damals ipso facto religiöser Natur. Wer sich an solcher Verfolgung beteiligt, leistet einen „öffentlichen Dienst“ (latreia) jenem Gott, der Staatsgott war.

Die Anhänger des rabbinischen Judentums beteiligten sich nach der Anschauung des Johannes an der Verfolgung. Dafür gibt es außerhalb des Evangeliums keinerlei Belege. Messianisten („Anhänger eines gewissen Chrestos“, schreibt der Gouverneur von Bithynien Plinius um 110 an Kaiser Trajan) wurden von Römern hingerichtet, Angehörige der judäischen Ethnie hatten diese Möglichkeit kaum, aber sie hatten die Möglichkeit der Denunziation. Ob sie von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hatten, können wir nicht wissen. Aber die Synagoge konnte niemanden töten. Mag es vielleicht Mord und Totschlag unter den verfeindeten Fraktionen gegeben haben, so geschah dies allenfalls privat und sicher nicht als „öffentlicher Dienst“ (latreia).

Jedenfalls erklären die politischen Folgen des Ausschlusses die Schärfe, mit der Johannes sich gegen das rabbinische Judentum wendet, und sie erklären auch, weswegen Johannes bei seinen Gegnern keine rationalen Gründe für ihre Haltung finden konnte. „Ihr sucht mich zu töten“, 7,19; 8,40; 8,59; 10,31; 11,53; 12,10, lautet der ständige Vorwurf. Dieser Vorwurf ist angesichts der bereits früh einsetzenden Verfolgung und Ermordung von Messianisten durch Rom offenbar nicht völlig haltlos; der Ausschluss bedeutete Lebensgefahr für die Ausgeschlossenen. „So etwas macht man nicht, es gibt keine vertretbaren Gründe für einen Ausschluss, der für die Ausgeschlossenen Lebensgefahr bedeutet“, so kann man den Vorwurf des Johannes umschreiben.

Freilich ist auch die politische Orientierung der Messianisten rational nachvollziehbar. Wenn unter römischen Verhältnissen die Lage der Kinder Israels innerhalb und außerhalb des Landes prekär ist, dann dürfen diese nicht darauf hoffen, Nischen zu finden, in denen sie überleben können, sondern dann brauchen sie eine völlig andere Welt. Das sagt Paulus nicht weniger deutlich als Johannes. Die Tatsache, dass zwischen Überleben und Weltrevolution keine Vermittlung ist, macht die Auseinandersetzung im wahrsten Sinne des Wortes tragisch. Wir können aus dem sicheren Abstand von zwei Jahrtausenden rationale Gründe auf beiden Seiten entdecken. Aber für die damals Betroffenen war eine rationale Auseinandersetzung offenbar nicht möglich.

<108> (Anm. 703):

Micha Brumlik, „Johannes: Das judenfeindliche Evangelium“, KuI 4, no. 2 (1989): 107-08.

<109> (Anm. 704):

Ekkehard W. Stegemann, “Die Tragödie der Nähe: Zu den judenfeindlichen Aussagen des Johannesevangeliums,” KuI 4, no. 2 (1989): 114-22.

<110> (Anm. 707):

Bryan Ronald Wilson, Patterns of Sectarianism: Organisation and Ideology in Social and Religious Movements, Heinemann Books on Sociology (London: Heinemann, 1967); Bryan Ronald Wilson, Religious Sects: A Sociological Study, World University Library (New York: McGraw-Hill, 1970); Bryan Ronald Wilson, Religion in Sociological Perspective (Oxford, New York: Oxford University Press, 1982); Bryan Ronald Wilson, The Social Dimension of Sectarianism: Sects and New Religious Movements in Contemporary Society (Oxford: Clarendon Press, 1990).

<111> (Anm. 708):

Wayne A. Meeks, The First Urban Christians: The Social World of the Apostle Paul, 2nd ed. (1983; reprint, New Haven, London: Yale University Press, 2003), 75-84. Vgl. Wayne O. McCready, „Ekklēsia and Voluntary Associations“, in Voluntary Associations in the Graeco-Roman World, Hrsg. John S. Kloppenborg and Stephen G. Wilson (London: Routledge, 1996), 59–73: 63-64, 70. McCready bestätigt, dass die ekklēsiai im Allgemeinen wie Vereine strukturiert und organisiert waren, aber er behauptet, dass sich die Christen dennoch durch eine Reihe von Merkmalen unterscheiden.

<112> (Anm. 709):

Zur Diskussion siehe zum Beispiel Philip A. Harland, Associations, Synagogues, and Congregations: Claiming a Place in Ancient Mediterranean Society (Minneapolis: Fortress Press, 2003), 177–95.

<113> (Anm. 722):

Wendy Cotter, „The Collegia and Roman Law: State Restrictions and Voluntary Associations, 64 BCE–200CE“, in Voluntary Associations in the Graeco-Roman World, Hrsg. John S. Kloppenborg and Stephen G. Wilson (London: Routledge, 1996), 74–89: 88.

<114> (Anm. 747):

Zwischen 111 und 113 n. Chr. schickte Plinius etwa sechzig Briefe an Trajan, in denen er über seine Taten berichtete und den Kaiser um Rat fragte. Diese sind in Buch X der Briefe des Plinius gesammelt.

<115> (Anm. 761):

Was die Provinzen anbelangt, so verfügten die städtischen Behörden, abgesehen von einigen Städten wie Lyon, Karthago und Alexandria, nur über eine sehr rudimentäre Polizei. Adrian Nicholas Sherwin-White and Plinius, The Letters of Pliny: A Historical and Social Commentary. Oxford: Clarendon Press, 1966, 777.

<116> Zur Quellengabe siehe Ihre Anm. 709:

Philip A. Harland, Associations, Synagogues, and Congregations: Claiming a Place in Ancient Mediterranean Society (Minneapolis: Fortress Press, 2003), 177–95.

<117> Adele Reinhartz, Cast Out of the Covenant: Jews and Anti-Judaism in the Gospel of John (Lanham: Lexington Books-Fortress Academic, 2018), xxxi und 131f., hält es im Zusammenhang ihrer „propulsion theory“ für möglich, dass Johannes als Redner auf einem Marktplatz in Ephesus aufgetreten sein kann, um ein heidnisches Publikum von der Enterbung jüdischer Heilsgüter durch den Gottessohn Jesus Christus zu überzeugen. Vgl. dazu meine Überlegungen in der Buchbesprechung zu Adele Reinhartz, Cast Out of the Covenant, im Abschnitt A Man Named John as the Implied Author of the Gospel of John.

<118> (Anm. 47):

Unterstützer des nördlichen Transjordanien [als Ursprungsgegend des Johannesevangeliums] sind zum Beispiel: Oscar Cullmann, Der johanneische Kreis: Sein Platz im Spätjudentum, in der Jüngerschaft Jesu und im Urchristentum; zum Ursprung des Johannesevangeliums (Tübingen: Mohr Siebeck, 1975); Günter Reim, „Zur Lokalisierung der johanneischen Gemeinde“, BZ 32, no. 1 (1988); Klaus Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus: Ein Versuch über das Johannesevangelium. 4th ed. 1981. Reprint. München: Chr. Kaiser, 1992.

<119> (Anm. 765):

Lance Byron Richey, Roman Imperial Ideology and the Gospel of John. The Catholic Biblical Quarterly Monograph Series. Washington: Catholic Biblical Association of America, 2007, 189.

<120> Ich zitiere dazu ausführlich seine Auslegung der Verse Johannes 19,12 und 19,15, zunächst Freund des Cäsars, 19,12-13, Abs. 1 u. 3-4 (Veerkamp 2015, 137, und Veerkamp 2007, 97):

19,12 Von da an versuchte Pilatus, ihn zu entlassen.
Die Judäer schrien, sie sagten:
„Wenn du den entlässt, bist du kein Freund des Cäsars.
Jeder, der sich selbst zum König macht,
steht im Widerspruch zum Cäsar.“

Die führenden Priester spielen nun ihre beste Karte aus, sie erpressen Pilatus genau dort, wo er erpressbar ist, seine Beziehung mit der römischen Zentrale, mit dem Kaiser. Ihr Argument ist bestechend einfach und logisch. Wer sich – offenbar gegen den Willen Roms – zum König macht, begibt sich in einen Widerspruch (antilegei) mit Rom, ist ein Feind des Cäsars. Wer den fast amtlichen Titel „Freund des Cäsars“ trägt, kann auf einträgliche Posten in den Provinzen hoffen. Wer jemanden unterstützt, der sich in Widerspruch mit Rom befindet, setzt seine Freundschaft mit dem Kaiser und so seine Funktion aufs Spiel. Einer, der jemanden entlässt, der sich Rom widersetzt, sei kein Freund des Cäsars, sagen seine Gegner vor dem Prätorium. Wenn die Selbstverwaltung auf ein Todesurteil besteht, müsse er, Pilatus, entsprechend handeln, sonst werden sie gegen ihn eine Beschwerde bei der Zentrale einreichen.

Er wird seine Gegner dafür, dass sie ihn in die Enge zu treiben versuchen, einen hohen Preis zahlen lassen. Sie wollen ein Gerichtsurteil? Nun, sie sollen es haben, aber anders als sie denken…

Im folgenden Abschnitt fällt Pilatus sein Urteil: König der Judäer, 19,14-22, Abs. 1-9 (Veerkamp 2015, 138, und Veerkamp 2007, 98-99):

19,15 Die aber schrien:
„Hinauf, hinauf, kreuzige ihn!“
Pilatus sagte ihnen:
„Euren König soll ich kreuzigen?“
Die führenden Priester antworteten:
„Wir haben keinen König, es sei denn der Cäsar.“

Jetzt zeigt Pilatus, dass er nun doch der ausgebufftere Politiker war. Er stellt sich einer Volksversammlung, die keine war. Die Peruschim, die offizielle Opposition, fehlen. Anwesend sind nur die priesterlichen Eliten und ihr Personal. Das Ganze ist ein demokratisch verbrämtes Schmierentheater.

Jetzt sagt er nicht: „Seht den Menschen“, jetzt sagt er: „Da, euer König“. Sie brüllen: „Hinauf, hinauf, kreuzige ihn.“ Pilatus verlangt die „demokratische“ Legitimation des Todesurteils: „Euren König soll ich kreuzigen?“ Er hat sie, wo er sie haben wollte. Die führenden Priester – nicht das Volk der Judäer – sagen: „Wir haben keinen König, es sei denn Cäsar.“ Was sie wohl nicht realisieren, ist, dass sie damit feierlich erklären, dass sie einen melekh ke-khol-ha-gojim, basileia tou kosmou toutou, einen König nach dieser Weltordnung haben wollen. Das ist der politische Preis, den Pilatus von ihnen fordert. Sie zahlen ihn.

Versuchen wir, den Vorgang zu begreifen. Jürgen Becker beschreibt Pilatus als einen, der „zwischen den Juden draußen und Jesus drinnen hin- und herlaufen“ muss. „Ein demonstratives Stück Lächerlichkeit! Mit den Juden kommt er nicht klar …“ [Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes. II. Kapitel 11-21, Gütersloh 31991, 664]. Genausowenig wie Petrus „feige“ ist, ist Pilatus „lächerlich“. Pilatus macht seinen „Job“ im Auftrag Roms nicht schlecht. Zwar lässt er einen Menschen, dem er kein Gewicht beimisst und den er eigentlich laufen lassen möchte, hinrichten, aber er erzwingt ein politisches Bekenntnis der judäischen Selbstverwaltung zu Rom. Der Kaiser würde mit ihm zufrieden sein. Wir neigen immer dazu, Politiker, die wir verabscheuen, lächerlich zu machen. Verständlich als psychisches Entlastungsinstrument, politisch oft unklug. Johannes nimmt Pilatus (Rom) sehr ernst. Die Auslegungen sollten das auch tun.

Johannes erzählt ein Ereignis, das mindestens zwei Generationen zurückliegt, und passt es in seine eigene politische Situation ein. Er will zwei Dinge klarmachen. Erstens, dass der Messias durch Rom hingerichtet oder ermordet wurde, also durch das, was er kosmos, Weltordnung, nennt. Zweitens, dass der Repräsentant dieser Weltordnung durch die politische Führung in Jerusalem dazu gedrängt wurde, einen innenpolitischen Gegner dieser Führung umzubringen. Die Führung tut das deswegen, weil sie Teil dieser von ihr bejahten Weltordnung ist: der Kaiser ist ihr König, und sie sind jetzt ein Element der kaiserlichen Weltordnung.

Johannes weiß, wie das Ränkespiel zwischen Priestern und römischer Behörde funktioniert, er weiß, was Politik ist: ein Feld, auf dem Argwohn, Zynismus, Theater, Massenmanipulierung die entscheidenden Faktoren sind: „Was ist schon Treue“, lässt er Pilatus fragen. Beide Parteien erreichen ihr Ziel: der Messias wird eliminiert, Pilatus zwingt die Selbstverwaltung zu einem Bekenntnis der unbedingten politischen Loyalität.

Der eigentliche Gewinner dieses üblen Spiels ist die römische Behörde. Die Priester haben mit ihrem Bekenntnis zu einem Goj als zu ihrem König – in flagranter Schändung der Tora [„Einsetzen sollt ihr, einsetzen einen König, den der NAME, dein Gott, erwählen wird. Aus der Mitte deıner Brüder magst du einen König über dich einsetzen. Du darfst dir nicht einen auswärtigen Mann über dich [als König] geben, der nicht dein Bruder ist“, Deuteronomium 17,15] – ihre Legitimation verspielt. Indem sie sich gegen den Messias entschieden haben, entschieden sie sich notwendig für Cäsar als ihren König und für Rom als ihren Gott. Notwendig: ein Drittes wird ausgeschlossen. So deutet Johannes das Verhalten der priesterlichen Führung. Sie haben sich aus dem Israel, das Johannes will, endgültig verabschiedet.

Ganz so einfach macht sich das Johannes nicht. Das Prinzip des „ausgeschlossenen Dritten“ würde bedeuten, dass jeder, der sich gegen den Messias entscheidet, sich ipso facto für die Weltordnung (kosmos) entscheidet. Es wäre eine Kleinigkeit gewesen, in seiner Erzählung des Todesurteils als Gesinnungsgenossen der Priester auch die Peruschim [Pharisäer] auftreten zu lassen. Auch die Peruschim lehnen Jeschua als Messias vehement ab. Auch sie wollen die Ausschaltung eines politischen Gegners, aber nicht zu dem Preis, dass sie das politische Bekenntnis mitsprechen müssen: „Wir haben keinen König, es sei denn Cäsar.“ Deswegen lässt Johannes sie hier nicht auftreten. Diese Leerstelle in seiner Erzählung ist vielsagend: Die Peruschim sind und bleiben politische Gegner im Kampf um Israel, aber sie sind nicht der Feind, sie gehören nicht ohne Wenn und Aber zum kosmos, zu Rom. Deswegen lässt Johannes sie aus dem Spiel. Nach der Verhaftung treten sie nirgendwo mehr auf.

Johannes kennt sich im politischen Geschäft aus, er weiß, was er sagen und was er nicht sagen muss. Erinnern wir uns an die Schilderung des Auftretens des Kaiphas, als er seine Kollegen im Sanhedrin für die Eliminierung Jeschuas zu gewinnen suchte, 12,50ff. Kein messianischer Schriftsteller hat die politischen Vorgänge zwischen Besatzungsmacht und kollaborierenden lokalen Eliten so gnadenlos ausgeleuchtet wie Johannes.

<121> (Anm. 766):

Die [von Richey] angeführten Passagen sind: (1) Johannes 18,36: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“. (2) 19,12: „Von da an versuchte Pilatus, ihn freizulassen, aber die Juden schrien: ‚Wenn du diesen Menschen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers. Jeder, der behauptet, ein König zu sein, stellt sich gegen den Kaiser.‘“ Und (3) 19,15: „Pilatus fragte sie: ‚Soll ich euren König kreuzigen?‘ Die Hohenpriester antworteten: ‚Wir haben keinen König außer dem Kaiser.‘“

<122> Vgl. das Zitat von Ton Veerkamp in meiner Anm. 107.

<123> Vgl. dazu meine Anmerkung 4 und mein Kapitel 1.

<124> (Anm. 768):

Vgl. das Kapitel „Gentile Attraction to Judaism in the Roman Empire“ in Michele Murray, Playing a Jewish Game: Gentile Christian Judaizing in the First and Second Centuries CE, Studies in Christianity and Judaism / Études sur le christianisme et le Judaïsme, Band 13 (Waterloo: Wilfrid Laurier University Press, 2004), 11–27.

<125> Vgl. dazu nochmals Adele Reinhartz, Cast Out of the Covenant: Jews and Anti-Judaism in the Gospel of John (Lanham: Lexington Books-Fortress Academic, 2018), und meine Besprechung dieses Buches unter dem Titel Jesus the Messiah: Liberation for all Israel.

<126> lm Land des Anfangs, 4,5-15, Abs. 13-17 (Veerkamp 2006, 78-79).

<127> Was heißt hier essen, 4,31-38, Abs. 10-12 (Veerkamp 2006, 88).

<128> Vgl. dazu Evidence in John’s Gospel for its Audience as Gentile Outsiders in meiner Kommentierung zu Adele Reinhartz‘ „propulsion theory“ (siehe meine Anm. 125).

<129> lm Land des Anfangs, 4,5-15, Abs. 2-12 (Veerkamp 2006, 76-78).

<130> Andere Indizien sind für ihn Johannes 10,16 oder 11,51-52, sowie die nur knappe Erwähnung von „einigen Griechen“ in 12,20, von denen nicht einmal gesagt wird, ob Jesus sie in seiner Jüngerschaft aufnimmt.

<131> lCH BIN ES, 4,25-30, Abs. 3 (Veerkamp 2006, 85-86):

Jeschua beendet das Gespräch. Wir hören zum ersten Mal in unserem Text die Worte: „ICH WERDE DASEIN, ICH BIN ES.“ 24mal werden wir im Johannesevangelium dieses egō eimi, „ICH WERDE DASEIN, ICH BIN ES“, hören, 24mal wird uns so die Offenbarung des NAMENS in Exodus 3,14, der Grund des prophetischen Selbstbewusstseins, in Erinnerung gerufen werden. Dieses Friedens- und Befreiungsgespräch des Messias mit der Frau am Jakobsbrunnen ist die „Seinsweise Gottes“ in Israel, und zwar jetzt. Für den Menschen, für den diese Worte fundamentale Bedeutung haben, fängt ein neues Leben an. Damit wird die Ankündigung bewahrheitet: „Vertraue mir, Frau, denn die Stunde [des weder – noch] kommt …, und das geschieht jetzt!“ In dem Augenblick, in dem Jeschua die Blockade: Judäer verkehren nicht mit Samaritanern, sondern sie schlagen sich gegenseitig tot, aufhebt, geschieht der NAME, geschieht Ich werde dasein, so wie ich dasein werde (Exodus 3,14). Der NAME geschieht im Reden, in diesem politischen Gespräch, wo ein Ausweg sichtbar wird, der noch nie war.

<132> Der Mann, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann, 4,16-19, Abs. 2-8.10-12 (Veerkamp 2006, 79-82):

Jeschua versucht den Durchbruch, jetzt will er politisch Tacheles reden: „Geh‘ und hole deinen Mann!“ Wir haben es mit einer Tochter Jakobs und nicht mit der schmutzigen Exegetenphantasie über eine Schlampe und ihren „enormen Männerverschleiß“ [so Exeget Schenke, zit. bei Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10 (ThKNT), Stuttgart 2000, 161] zu tun. Sie redet von „Jakob, unserem Vater“. Welchen Mann hat die Tochter Jakobs? Welchen Mann hat die Tochter Zions – Klagelieder 2,1 usw.? Anders gefragt: Welche Herrscher, welche Götter haben die beiden Völker gehabt?

Unter den herrschenden Bedingungen zwischen den beiden Völkern kann die Frau am Jakobsbrunnen die Aufforderung nur als eine Beleidigung auffassen: Auf einen groben Klotz gehört daher ein grober Keil: „Ich habe keinen Mann.“ Jeschua ist begeistert: „Richtig (kalōs) sagst du das.“ Das ist kein Sarkasmus, keine Bitterkeit. „Fünf Männer hast du gehabt und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. In dem, was du gesagt hast, steckt Vertrauenswürdiges.“ Wir müssen äußerst genau lesen. Touto alēthes (Substantiv) eirēkas. Ein paar Handschriften haben das verändert und schreiben das Adverb alēthōs. Nein, hier steht wörtlich: „Dies Vertrauenswürdige hast du gesagt“, denn das Wort alētheia bedeutet nicht Wahrheit, sondern Treue, ˀemeth. Dass es hier um den zentralen politischen Punkt geht, kann wohl kaum bezweifelt werden. Diese fünf Männer haben mit der politischen Lage Samarias zu tun gehabt. Die Ehe ist ein Symbol für das Verhältnis zwischen dem Gott Israels und dem Volk. Aber sie ist auch das Symbol für die Gewaltherrschaft des Königs:

Höre, Tochter, siehe, neige dein Ohr,
vergiss dein Volk und das Haus deines Vaters.
Hat ein König Lust an deiner Schönheit,
weil er dein Herr ist – verneige dich vor ihm (Psalm 45,11-12).

„Männer“ sind in Johannes 4 nicht irgendwelche individuellen Gatten, sondern baˁalim, Herrscher, Könige, vor denen das Volk von Samaria sich verneigen musste, die Könige Assurs und Babels, die Könige Persiens und der Griechen aus dem Süden (Ägypten) und dem Norden (Syrien), die Könige Judäas, ihre Ordnungen, ihre Götter. Die Frau sagt: „Ich habe keinen Mann“, und das heißt: „Ich erkenne die faktische Herrschaft, der wir uns zu beugen haben, nicht an. Ich vergesse nicht mein Volk und nicht das Haus meines Vaters! Ich habe keinen Mann (ˀisch), ich habe nur einen Herrn und Besitzer (baˁal).“ Johannes argumentiert auf der Linie des Propheten Hosea:

Es wird geschehen an jenem Tag, Verlautbarung des NAMENS.
du wirst rufen: „ˀischi, mein Mann“,
du wirst nicht mehr rufen: „baˁali, mein Herr und Besitzer“.

Die fünf „Männer“, die das Volk je gehabt, waren baˁalim. Die verhängnisvolle Geschichte dieses Volkes unter den fünf baˁalim macht aus der Tora Samaria eine Art von Gegentora, alle politische Organisation der Gesellschaft Samarias war das Gegenteil einer durch die Tora strukturierten Gesellschaft. Das Ganze ist jetzt auf die Herrschaft von dem, der „kein Mann“ ist, hinausgelaufen, die Herrschaft Roms; da ist gar keine Tora mehr möglich, weder für die Judäer, noch für die Samaritaner, wie wir hören werden. Tatsächlich ist sie gezwungen, eine Herrschaft anzurufen, der er, Jeschua, den Kampf angesagt hat und die sie, wie die jüngste Geschichte ihres Volkes zeigt, zurückweist. „Nein“, sagt er, „das ist nicht dein Mann, allenfalls dein Besitzer.“ Auf der Basis der gemeinsamen Ablehnung römischer Herrschaft, des römischen baˁal, ist politische Verständigung zwischen den beiden Völkern möglich. Deswegen lobt Jeschua den Satz der Frau: „Ich habe keinen Mann.“

Das Wort Jeschuas ist ein Bekenntnis zu einer Frau, die ihre politische Lage realistisch erkennt. Hier gibt es wirklich eine Plattform für ein Gespräch, eine politische wohlgemerkt. Das Bekenntnis der Menschen zum Messias beginnt mit dem Bekenntnis des Messias zu den Menschen. „Ich habe keinen Mann“ ist die schonungslose Einsicht in die erbärmliche politische Lage ihres Volkes. Sie weckt bei den Kommentatoren den Anschein, schamhaft irgendeine Schuld zuzugeben, klein beigeben zu wollen. Nichts ist weiter entfernt von der Wahrheit als solche Beichtvaterexegese. …

Jeschua hat die Lage auch für sie korrekt zusammengefasst, der, den sie hat, sei gar nicht ihr Mann. Sie reagiert völlig korrekt: „Ein Prophet bist du“, denn Propheten hatten in Israel immer die Aufgabe, die politische Lage wahrheitsgemäß zu deuten. Bei diesem Satz der Frau denken wir an die Erzählung vom Propheten Elisa und der Großfrau aus Schunem [ˀIscha gedola, wohl eine selbständige Grundbesitzerin nach Numeri 27 und 2 Könige 8,6] als analoge Kontrasterzählung. Auch diese Frau hatte einen Mann, der nicht ihr Mann war, 2 Könige 4,8ff., weil sie mit ihm keine Zukunft, keinen Sohn hatte. Elischas Dienstmann Gehasi bringt es auf den Punkt (V.14): „Sie hat keinen Sohn und ihr Mann ist alt.“ Sie bekommt ein Kind von ihrem Mann, nur weil Elischa es ihr zugesagt hatte. Als das Kind sterbenskrank wird, lässt der Mann das Kind zu seiner Mutter bringen; es ist offenbar nicht sein Kind. Das Kind stirbt, die Mutter geht zum Propheten: „Habe ich vielleicht ein Kind von meinem Herrn [Elisa] verlangt?“ (2 Könige 4,28.) Wir erfahren, wie der Prophet das Kind der Frau ins Leben zurückbringt.

Sie kam und fiel ihm [dem Propheten Elisa] zu Füßen,
sie verneigte sich vor ihm thischthachu, prosekynēsen) zur Erde,
sie nahm ihren Sohn auf und ging hinaus (2 Könige 4,37).

Die Großfrau aus Schunem hatte eine Zukunft, weil sie dem Propheten Elisa vertraut hatte. So weit sind wir hier noch lange nicht. Die Samaritanische durchschaut (theōrei) zwar, dass Jeschua Prophet ist, aber er bleibt Judäer. Sie ist das Analogon zu den großen Frauen Israels: Genau in dem Punkt, wo sie ihnen ähnlich ist, unterscheidet sie sich von ihnen.

<133> (Anm. 774):

Der oxos ist mit dem lateinischen posca zu identifizieren, einem preiswerten Alltagsgetränk auf Essigbasis, das stark mit Wasser verdünnt und mit Kräutern versetzt wurde. Es wurde in der Armee und von den städtischen Armen verwendet. Im griechischsprachigen Osten war posca zunächst nicht bekannt. Dies erklärt, warum in den Kreuzigungserzählungen oxos, „Essig“, verwendet wird: Im Griechischen gab es einfach keine genauere Entsprechung für das lateinische posca. Vgl. Andrew Dalby, Food in the Ancient World, from A to Z (London, New York: Routledge, 2003), 270.

<134> (Anm. 776):

Zur Frage, ob Jesu Durst in Johannes 19,28 wörtlich oder im übertragenen Sinn zu verstehen ist, vgl. Leonard Theodor Witkamp, „Jesus’ Thirst in John 19:28-30: Literal or Figurative?“ JBL 115, no. 3 (1996); Stephen D. Moore, Literary Criticism and the Gospels: The Theoretical Challenge (New Haven: Yale University Press, 1989), 159–70.

<135> (Anm. 777):

Das ist die übergreifende Hypothese in Hodges‘ Dissertation [Jeffery Horace Hodges. „Food as Synecdoche in John’s Gospel and Gnostic Texts.“ Ph.D. Thesis, University of California, Berkeley, University Microfilms International: Ann Arbor 1996/97]. Die Argumentation verläuft so, dass Jesus als himmlisches Geschöpf durch den Verzehr einer irdischen Substanz vergiftet wird – in gewisser Weise analog zu gnostischen Offenbarern. Hodges begründet dies mit der Erzählsequenz in Johannes 19,28-30 und mit dem Verweis auf die Heilige Schrift. Wie viele andere identifiziert auch Hodges die Schriftstelle als Ps 69,22. Nach seiner umstrittenen Interpretation (die sich auf semitische Parallelen stützt) ist der dort erwähnte Essig Gift.

<136> Dritte Szene: Das Ziel ist erreicht, 19,28-30, Abs. 5-10.13-14 (Veerkamp 2007, 105-07):

Johannes lässt den Messias nicht die erste Zeile des Psalms 22 beten: „Mein Gott, mein Gott, warum verlässt du mich?“ Er sagt vielmehr: „Ich habe Durst.“ Jeschua betet einen anderen Psalm. Die Kommentare verweisen alle auf Psalm 69. In V.22 hören wir: „Sie geben Gift in meine Nahrung, meinen Durst löschen sie mit Essig.“

Die Umstehenden hören das Wort „Durst“ und erfüllen die Schrift, indem sie einen Schwamm mit saurem Wein tränken und ihn Jeschua reichen… Eine wirklich einleuchtende Erklärung für den Gebrauch des Ysops finden wir nicht. Man muss aber auch an Psalm 42 denken (2-4):

Wie der Hirsch schmachtet nach dem Wasserlauf,
so schmachtet meine Seele nach Dir, Gott.
Meine Seele dürstet nach Gott, nach der Gottheit des Lebens.
Wann darf ich kommen, darf ich gesehen werden vor dem Antlitz Gottes?
Tränen sind mir zum Brot geworden, Tag und Nacht,
weil sie den ganzen Tag sagen: „Wo ist dein Gott?“

Das Dürsten hat im Johannesevangelium wie auch das Hungern eine spezielle Bedeutung. Wir hörten das Wort im Gespräch mit der samaritanischen Frau, Johannes 4,13ff., in der Rede über das Brot vom Himmel in der Synagoge zu Kapernaum, 6,35 und in der Rede Jeschuas während des Sukkotfestes, 7,37. Der Durst nach Gott erfüllt Jeschua ganz. Sein ganzes Leben war nie etwas anderes als Durst nach seinem Gott, dem Gott Israels. Johannes ruft uns beide Psalmen in Erinnerung. Psalm 69 endet so:

Denn Gott wird Zion befreien, Er wird die Städte Judas aufbauen;
Sie werden dort wiederkehren, sie werden sie ererben.
Der Samen Seiner Knechte wird sie als Eigentum haben,
die Seinen Namen lieben, werden dort wohnen.

Der Tod des Messias wird die Befreiung Zions und der Wiederaufbau Judas sein. Deswegen sagt Jeschua, „nachdem er den sauren Wein genommen hatte: tetelestai, das Ziel ist erreicht“. …

Um diesen Augenblick ging es. Der Messias erreicht das Ziel, das der Psalm 69 angibt: die Befreiung Zions. Der Tod ist nicht das Ende oder die Vollendung Jeschuas, dieser Tod ist das Ende Roms. Durch Jeschuas Tod wird „der Führer dieser Weltordnung hinausgeworfen“, 12,31. Jeschua hat in und durch diesen Tod hindurch Zukunft, denn sein Tod heißt, dass er seine Inspiration über- und weitergibt. Diese Inspiration wird dafür Sorge tragen, dass von Jeschua als Messias (Christus) durch die Jahrtausende hindurch die Rede sein wird und die Menschen in seinem Namen und durch diese Inspiration „Werke tun“, die „größer“ als Jeschuas Werke sein werden, 14,12. Rom hat aber keine Zukunft mehr.

Das sagt und hofft Johannes.

<137> (Anm. 780):

Stephen Voorwinde, Jesus’ Emotions in the Fourth Gospel: Human or Divine?, Library of New Testament Studies (London, New York: T&T Clark, 2005), 268–269.

<138> Vgl. Ton Veerkamp, Murren. Brot des Lebens, Fleischessen, 6,41-51, Abs. 5-6 (Veerkamp 2006, 120):

Johannes kennt keine Jungfrauengeburt, er kennt keine metaphysische Abkunft eines Gottwesens, das sich bloß in einer materiellen Hülle versteckt. Die irdische Mutter Jeschuas tritt an entscheidenden Stellen auf. Und dennoch ist er der, „der vom Himmel abgestiegen ist“. Einerseits irdischer Mensch mit irdischen Eltern zu sein, eine vergängliche und verwundbare Existenz zu führen, „Fleisch“ zu sein, und andererseits „abgestiegen vom Himmel“ zu sein, ist für Johannes kein Widerspruch. „Abgestiegen vom Himmel“ zu sein bedeutet, so vollkommen vom Willen Gottes durchdrungen zu sein, dass kein Raum mehr für eine Existenz ist, die von eigenen Anliegen angetrieben wäre.

Das ist außergewöhnlich, aber nicht einmalig. Vom Propheten vom Berg Karmel erfahren wir nicht einmal jenen Namen des Vaters, der in Israel immer zum eigenen Namen gehörte. Der Name dieses Propheten hat den NAMEN als einzigen, alles bestimmenden Inhalt: ˀEli-jahu, „mein Gott ist der NAME“. Und der Sohn eines gewissen Josephs aus Nazareth, Galiläa, hat als Namen die Befreiung Israels durch den Gott Israels. Jeschua als Kurzform von Je-hoschuaˁ, „der NAME befreit“. Das bedeutet für einen Text, der sich von der Schrift Israels her verstanden wissen will, „abgestiegen vom Himmel“.

<139> (Anm. 795):

Die Sendung ist ersichtlich in den Worten pempō, Johannes 4,34; 5,23.24.30.37; 6,37.38.39. 44; 7,16.18.28.33; 8,16.18.26.29; 9,4; 12,44.45.49; 13,20; 14,24; 15,21; 16,5 und apostellō, Johannes 3,17.34; 5,36.38; 6,29.57; 8,42; 10,36; 11,42; 17,3.8.18.21.23.25; 20,21. Der Abstieg findet sich in katabainō – als der Menschensohn in 3:13; als das Brot vom Himmel 6,33.38.41.42.50.51.58 – beides sind Metaphern für Jesus. Der Aufstieg erscheint as anabainō – als der Menschensohn in 3,13; 6,62; 20,17.

<140> (Anm. 796):

Vincent Skemp, “Avenues of Intertextuality Between Tobit and the New Testament,” in Intertextual Studies in Ben Sira and Tobit: Essays in Honor of Alexander A. Di Lella, O.F.M, eds. Jeremy Corley and Alexander A. Di Lella (Washington: Catholic Biblical Association of America, 2005), 43–70: 54.

<141> Rudolf Karl Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 21. Aufl. KEK. Vol. 2. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986, 40.

<142> Das Wort und die menschliche Wirklichkeit, 1,14, Abs. 7-8 (Veerkamp 2006, 20-21):

Johannes 1,14 sagt: Der Messias ist ein konkreter Mensch, und dieser Mensch macht die Wahrheit des Satzes Jesaja 40,6 aus: „Das Wort unseres Gottes steht in Weltzeit.“ Wie damals das Wort in den Worten des Mosche Gestalt annahm, so nimmt jetzt das Wort in der konkret-historischen Existenz eines ganz bestimmten Juden, der in den politischen und ideologischen Kämpfen seiner Tage eine ganz bestimmte Position vertrat, Gestalt an. Mit Friedrich-Wilhelm Marquardt sagen wir: Der Messianismus bekennt sich zu „Jesus dem Juden“. Das Wort wurde nicht Fleisch, nicht Mensch überhaupt, sondern jüdischer Mensch, und nicht – dabei einen Schritt weiter gehend als Marquardt – zum jüdischen Menschen überhaupt, sondern zu einem ganz bestimmten Juden, der in den konkreten politischen Auseinandersetzungen seines Volkes eine ganz bestimmte Stellung eingenommen hatte, eine Stellung, die ihn in einen tödlichen Gegensatz zu den Eliten seines Volkes und zu Rom als Besatzungsmacht brachte. Gerade bei Johannes ist der Messias als dieser konkrete Mensch leidenschaftlich Partei in diesen Auseinandersetzungen. Schüler eines solchen Messias zu sein, heißt bei Johannes: Kampfgefährte, Fleisch und Blut des Messias zu werden, „sein Fleisch zu essen, sein Blut zu trinken“, an seiner konkreten menschlichen Wirklichkeit und seinen politischen Kämpfen teilzuhaben und demzufolge von der herrschenden Weltordnung gehasst zu werden.

Johannes wehrt sich mit diesem Satz gegen eine Tendenz in den messianischen Gemeinden der Griechen. Die Geringschätzung des Fleisches führt dazu, einen Satz wie: „… Sohn, geworden aus dem Samen Davids nach dem Fleisch, aufgerichtet als Sohn Gottes nach der Inspiration der Heiligung …“ (Römer 1,4) de facto zu streichen. Die Herkunft aus dem „Samen Davids“, seine Verwurzelung im Volk Israel, spielte eine immer geringere Rolle. Eine Generation später ist das Bewusstsein dafür, dass der Messias ein Kind Israels war, so weit verschwunden, dass Marcion um 150 den christlichen Gemeinden die Abschaffung der Schrift nahelegen konnte.

<143> (Anm. 799):

Ernst Käsemann, The Testament of Jesus: A Study of the Gospel of John in the Light of Chapter 17, The New Testament Library (London: S.C.M. Press, 1968), Zitate 9-10, 13; vgl. pp. 8-9, 12- 13, 27, 73.

<144> Jetzt ist meine Seele erschüttert, 12,27-33, Abs. 5-11 (Veerkamp 2007, 33-34):

„Gerade deswegen bin ich in diese Stunde gekommen“, sagt Jeschua. Weswegen fragen wir? Wegen der Ehre des NAMENS. Die Ehre Gottes ist das lebende Israel. Jeschua hatte Martha am Grabe gesagt: „Wenn du vertraust, wirst du die Ehre Gottes sehen.“ Jeschua betet hier: „VATER, gib deinem Namen die Ehre!“ Hier ist an Psalm 115 zu denken:

Nicht uns, DU, nicht uns, nein, Deinem Namen gib die Ehre,
deiner Solidarität wegen, deiner Treue wegen.
Warum sollen die Völker sprechen:
„Wo ist denn ihr Gott?“
Unser Gott ist im Himmel,
Alles, was seinem Gefallen entspricht, das tut Er … (Verse 1-3)

Dieser Psalm besingt die Einmaligkeit des Gottes Israels, mokiert sich über die Nichtigkeit der Götter der Völker:

Ihre Holzklötze mit Silber und Gold, Machwerke von Menschenhänden.
Einen Mund haben sie und sprechen nicht,
Augen haben sie und sehen nicht … (Verse 4-5)

Das Lied endet mit den stolzen Zeilen:

Nicht die Toten preisen Dich, nicht, die absteigen in die Stummheit.
Nein, wir, wir segnen Dich, von jetzt an bis in Weltzeit. (Verse 17-18)

Die Menschen, die die Worte „gib deinem Namen die Ehre“ hören, kennen das Lied, das dritte Lied des großen Hallel des Paschafestes, auswendig. Gerade in einer Stunde, wo es um Leben und Tod geht, muss dieses Lied erklingen. Die Aufforderung Israels und des Messias war: „Gib deinem Namen die Ehre.“ Die Antwort ist: „Ich habe geehrt (am Grab des Lazarus), und ich werde weiter ehren (am Grab Jeschuas).“ Jeschua nimmt den bevorstehenden Tod an, deutet ihn aber als „Erhöhung“.

<145> (Anm. 799):

Marianne Meye Thompson, The Humanity of Jesus in the Fourth Gospel (Philadelphia: Fortress Press, 1988).

<146> Diese Zwiespältigkeit steht Ihnen zufolge (Anm. 800) in einem Widerspruch dazu, dass ansonsten „das Evangelium streng polarisierte Kategorien und binäre Gegensätze verwendet“, was Adele Reinhartz, Befriending the Beloved Disciple, 67, folgendermaßen beschreibt:

“One set consists of metaphors that describe contrasting states of being, such as light/darkness, life/death, from above/from below, being from God/not from God. The other set comprises contrasting activities, such as believing/not-believing, accepting/not accepting, doing good/doing evil, loving/hating. The first element of each pair is associated with Jesus. The second element of each pair is associated with the forces that oppose and reject Jesus or, more precisely, the claim that Jesus is the Christ, the Son of God.”

Vgl. dazu meine Kritik Compliant reading of the cosmological tale.

<147> In Anm. 801 gehen Sie nur am Rande auf Johannes 20,17 ein (Sie nennen irrtümlicherweise Vers 9), wo Jesus Maria Magdalena verbietet, ihn zu berühren. Vgl. dazu Adele Reinhartz, Freundschaft mit dem Geliebten Jünger. Eine jüdische Lektüre des Johannesevangeliums, Zürich 2005, 141ff., und das Kapitel Maria Magdalena und Jesus allein im Garten in meiner Besprechung ihres Buches.

<148> „Du bist der Lehrer Israels, und das verstehst du nicht?“, 2,23-3,21, Abs. 20-31.

<149> (Veerkamp, Anm. 131):

Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10 (ThKNT), Stuttgart 2000, 134.

<150> Die Fortsetzung dieses Textes – eine ebenfalls lesenswerte Auslegung von Johannes 3,16 – habe ich oben am Ende meines Kapitels 2 zitiert.

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