Bild: Familie Treblin/Ebling

Antisemitismus und Holokaust

Heinrich-Treblin
Heinrich Treblin

Im Anschluss an die Rede des Friedenspreisträgers Martin Walser ist ein verwirrender und den Frieden zwischen Juden und Nichtjuden in unserem Land erheblich gefährdender Disput entbrannt, dessen Ursache nicht zuletzt in einer fatalen Vermischung unterschiedlichster Argumente und Unklarheit über die jeweils vertretenen Standorte zu suchen ist. Hier soll versucht werden, etwas Klarheit in diese Gesprächssituation zu bringen.

1) Völlig übersehen wird bei allen Gesprächsteilnehmern, dass der Antisemitismus, den der Jude Bubis bei Walser anklagt, wie auch der ihm vorausgehende „christliche“ Antijudaismus von Ursprung an etwas mit der besonderen Rolle des Volkes Israels als von Gott auserwähltes Volk zu tun hat. Mit dieser Berufung, im Dienste des lebendigen Gottes „Licht der Völker“ zu sein, d. h. der Gesamtheit der vom Gott abgefallenen Völker den Willen Gottes, nämlich die Vergebung des barmherzigen Gottes zu verkündigen, war notwendig die Feindschaft der heidnischen Völker gegen Israel verbunden, die sich gegen die Aufdeckung ihrer Sünde und Umkehr zu Gott wehrten. Sie empfanden bis zum heutigen Tage die behauptete „Erwählung“ als „Überheblichkeit“ (so spricht Horst Mahler lt. „Spiegel“ davon, dass „der Anspruch der Juden, das von Gott auserwählte Volk zu sein, notwendig von Ablehnung der Juden durch die anderen Völker, die sich nach der jüdischen Lehre als ‚nicht auserwählte‘ begreifen müssen“, begleitet ist. Hier ist nicht verstanden, dass Israels Erwählung nicht eine Auszeichnung dieses Volkes um einer besonderen Tüchtigkeit willen war, sondern eine schwere Last, ein Dienstauftrag, der den Juden nur Feindschaft und Leid einbrachte. Als „leidenden Gottesknecht“ haben schon die Propheten Israel und hat sich dann auch Jesus gesehen. Fromme Juden aller Zeiten bis zum Holokaust unserer Tage haben die andauernde Unterdrückung und Verfolgung durch die Heidenvölker stets in diesem Lichte gesehen. Ertragen konnte dieses Volk diese ihm auferlegte Last nur durch die Hoffnung, dass Gott einmal sein Friedensreich aufrichten und allem Leid ein Ende bereiten werde. Dazu werde Gott seinen Messias senden.

2) Gerade aber diese Messiashoffnung sollte die Feindschaft gegen die Juden noch potenzieren und zu einem Bruderkrieg innerhalb des einen Gottesvolkes ausarten! Nachdem zunächst ein Teil des jüdischen Volkes in Jesus den erwarteten Messias gekommen sah, dieser in den politischen Wirren dieser Zeit als Störenfried von den herrschenden jüdischen und römischen Instanzen hingerichtet worden war, standen sich nun zwei Gruppen von Juden feindlich gegenüber, die beide den Anspruch erhoben, das rechte Volk Gottes zu sein. Verschärft wurde die Situation, als die nun „Christen“ genannte Gruppe unter dem Einfluss des Paulus starken Zulauf von ehemaligen Heiden erhielt, auch das Zeichen der Beschneidung ablegte. Der nun im ganzen römischen Reich einsetzende Rivalitätskampf zwischen Juden, Judenchristen und Heidenchristen führte schließlich dazu, dass mit der Anerkennung des Christentums als römische Staatsreligion die Christen mehr und mehr ihren Charakter als verfolgtes Gottesvolk in der Tradition Israels verloren, die Rolle der bisherigen heidnischen Verfolger übernahmen, deren Opfer nun allein die Juden wurden. Am Ende dieser Entwicklung steht der Holokaust, der mitten in einer scheinchristlichen Welt, der unter aktiver Beteiligung vieler getaufter Christen oder passivem Zuschauen der anderen geschehen konnte.

3) Voraussetzung für ein sinnvolles Gespräch aller Beteiligten über Ursache und anzustrebende Überwindung des Antisemitismus wäre, dass sich jeder über seine Rolle, seine Position in diesem Dialog klar wird. Juden sollten sich auf die mit ihrer Erwählung zum Licht der Völker ursprünglich auferlegte Rolle besinnen und nicht versuchen, „wie die anderen Völker zu sein“. Das hat man zwar schon im alten Israel öfter versucht bis hin zu der Assimilierung der europäischen Juden im 19. Jahrhundert. Es ist immer schief gegangen. Die „Christen aller Konfessionen und Schattierungen, von den bewusst an Jesus Christus orientierten bis zu den noch oberflächlich einer restchristlichen Zivilreligion zuneigendem Westler sollten sich ernsthaft mit der Botschaft des Christus Jesus, nach dem sie sich nennen, beschäftigen. Dann würden sie erkennen, wie weit sie ihr Christsein im Geiste der Bergpredigt aufgegeben haben und längst zu selbstherrlichen gewalttätigen Heiden geworden sind. Statt ihre Mitbrüder, die Juden zu verfolgen, wäre es geboten, sie um Vergebung für alles ihnen angetane Böse zu bitten und brüderlich-solidarisch an ihrer Seite die Feindschaft der gottlosen Welt zu erleiden. Heute gälte es, den eigenen Schuldanteil an Judenverfolgung oder mangelnder Solidarität mit diesem Volle zu bekennen statt „die Keule des Holokaust“ nur gegen andere zu schwingen. So könnten vielleicht auch Juden von heute offen zugeben, dass der Jude Jesus damals zu Unrecht von der jüdischen Obrigkeit zum Tode verurteilt worden ist. Zugleich aber könnten Juden und Christen erkennen, dass die „messianische“ Sendung Jesu nicht schon die erhoffte erneuerte Welt bedeutet, sondern die beginnende Erneuerung der Herzen durch gegenseitige vergebende und mit-leidende Liebe, um so gemeinsam auf die Vollendung seines Friedensreiches durch Gott selber zu warten.

4) Was bedeutet das alles nun für das alltägliche Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in unserer modernen Welt? Da gilt es sich klarzumachen, dass es kein „reines“ Judentum oder „Christentum“ gibt. Beides sind ambivalente Größen. So wenig Juden, Christen und Heiden heute getrennt voneinander jeweils in einem eigenen Land leben und so gewiss sie sich durch vielerlei Kompromisse in Glaubensvorstellungen und Lebensweise einander angenähert haben, so wahr kann es heute nur darum gehen, das faktische Judentum, Christentum und Heidentum in jedem einzelnen von uns selbst zu erkennen und voneinander zu unterscheiden. Gottes Geist allein kann bewirken, dass wir, solange diese Welt währt, nach Möglichkeit dem Geist der Feindschaft absagen und versuchen, das Böse durch Gutes im Geiste der Versöhnung zu überwinden.

H. Treblin

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