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Trauer und Frieden

Wenn wir am Volkstrauertag den Anlass zur Trauer ernst nehmen, nämlich die Mahnung der Gefallenen und Umgekommenen, den Frieden künftig zu erhalten und auszubauen – dann können wir auch Mut fassen, indem wir auf Zeichen der Hoffnung hinweisen: Freiwilligendienst in einem Friedensdienst. Auf einen Andersdenkenden verstehend zugehen. Keine Rache der neuen Machthaber in Nicaragua an ihren bisherigen Gegnern.

Eine Friedenstaube fliegt zu einem kahlen Baum auf einer Insel
Kann die Friedenstaube landen in einem unwirtlichen Land? (Bild: cocoparisiennePixabay)

Gedenkfeier zum Volkstrauertag am 16. November 1980 auf dem Friedhof in Heuchelheim um 13.00 Uhr, in Reichelsheim um 14.00 Uhr

Liebe Zuhörer!

In Heuchelheim stehen wir heute zum ersten Mal am neuen Gedenkstein für die Toten der Weltkriege. 35 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs noch Gedenkstätten zu errichten – ist das denn überhaupt noch sinnvoll?

(Wieder einmal stehen wir in Reichelsheim auf dem Friedhof, um der Toten der vergangenen Kriege zu gedenken. Gedenktage, die sich jährlich wiederholen, können zur Routine werden, zur Pflichtübung, die nun einmal zum Jahresablauf dazugehört. Aber es kann auch anders sein:)

Der Volkstrauertag kann – auch mehr als eine Generation nach dem letzten Krieg auf dem Boden unseres Landes – ein immer neuer Anstoß sein, die ernste Frage nach unserer Verantwortung für den Frieden nicht zu verdrängen. Wir denken an Menschen, die nicht aufgrund unabwendbarer Schicksalsschläge oder eines natürlichen Todes gestorben sind, sondern aufgrund von Kriegen, die Menschen verantwortet und mitverantwortet haben. Menschen rüsten immer wieder zum Krieg oder zur Verteidigung, lassen immer wieder das Misstrauen zwischen den Völkern wachsen, tun nicht genug, um die sozialen Brennpunkte der Erde durch Abbau der Ungerechtigkeit zu entschärfen, sehen immer wieder den Krieg doch noch als das letzte Mittel, um etwas vermeintlich noch Schlimmeres zu verhüten. Und Menschen, die das alles tun oder zulassen, meinen immer wieder, dass der einzelne ja doch zu schwach sei, als dass er für den Frieden und gegen das Wettrüsten etwas ausrichten könne.

Aber es ist ein Hoffnungszeichen, dass der Volkstrauertag als Gedenktag noch lebendig ist. Im Vergleich etwa zum 17. Juni, der kaum als Gedenktag akzeptiert und empfunden wird, ist der Volkstrauertag für viele noch ein Anlass, den Bezug zu einem traurigen Teil unserer Geschichte nicht zu verlieren, um bewusster in die Zukunft gehen zu können. Wer trauern kann, bleibt gerade nicht an der Vergangenheit kleben; wer den Anlass zur Trauer verdrängt, ist vielleicht eher verurteilt, vergleichbar Schreckliches noch einmal zu erleben.

In diesem Jahr haben viele Zweifel gehabt, ob unser Volk überhaupt zu gemeinsamer Trauer fähig ist. Als das Bombenattentat auf dem Münchner Oktoberfest geschehen war, ging der Rummel und die Gaudi weiter, nur unterbrochen von einem Tag der Trauerfeierlichkeiten. Wahlkämpfer missbrauchten den Anschlag zur Sündenbocksuche. Nur wenige dachten selbstkritisch nach, warum nach den Jahren des Terrors linker Splittergruppen nun auch eine Spielart des Terrors von rechts stärker zu werden beginnt. Ob es nun Anschläge auf Ausländerheime oder Familienberatungszentren waren – liegen die tieferen Ursachen des Terrorismus in der Unduldsamkeit mit Andersdenkenden, in einer unterschwelligen Ausländerfeindlichkeit, in einer unzureichenden Einübung unserer Jugendlichen in demokratisches Verhalten oder worin sonst begründet? Am Volkstrauertag verdienen jedenfalls auch diese jüngsten Opfer von sich politisch verstehenden Gewalttaten unsere Trauer und unser Gedenken.

Seid fröhlich mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden.

So sagt es der Apostel Paulus (Römer 12, 15). Wer nicht mit den Traurigen weinen kann, kann vermutlich auch mit dem Fröhlichen nicht lachen. Wer sich der Trauer verschließt, dem Mitleiden mit den Opfern verschließt, der begräbt vielleicht eine heimliche Traurigkeit oder Angst in seinem Innern, die sich dort anstaut und sich in Depressionen nach innen oder in Aggressionen nach außen entladen kann. Wer Anlässe zur Trauer – und das bedeutet oft auch zum Eingeständnis eigener Mitverantwortung – verdrängt, ist möglicherweise auch nicht frei genug zu intensivem Erlebnis von Freude. Vielleicht hat deshalb das oberflächliche Vergnügen, das man kaufen kann, Hochkonjunktur; vielleicht konnte auch deshalb das Oktoberfest nicht einfach abgebrochen werden. Wer hätte auch den Schaustellern den Geschäftsausfall ersetzt?

Gewiss – Freude und Trauer liegen oft hart nebeneinander; und es muss jeder selbst seinen Weg finden, mit dieser Wirklichkeit umzugehen und dabei beides zu seiner Zeit ernstnehmen zu können. Sonst stumpfen wir ab, sonst geht unsere Menschlichkeit verloren.

Viel mehr gilt dies noch für unsere Situation in einer Welt, die vor Waffen strotzt, die in einem ständigen Prozess des Wettrüstens befangen ist, die Vernichtungswaffen zur vielfachen Zerstörung der Erde lagert. Wir leben unser Leben mit seinen Höhen und Tiefen – auf einem Pulverfass. Atomfehlalarme des vergangenen Jahres zeigen erschreckend deutlich, wie nahe die Welt schon einem versehentlich ausgelösten Dritten Weltkrieg war. Aber wir verdrängen diese Gefahren meistens. Wahrscheinlich könnten wir ohne diesen Selbstschutz kaum leben. Aber trotzdem: gelegentlich sollten wir uns daran erinnern, damit wir auch wirklich alles tun, um das Pulverfass vielleicht doch einmal zu entschärfen.

Im letzten Jahr fragte ich anlässlich der gleichen Feier auf dem Reichelsheimer Friedhof: Wo werden wir im nächsten Jahr am Volkstrauertag in der Frage des Friedens stehen? Wir haben ein Jahr erlebt, das uns die Gefährdung des Friedens in der Welt sehr deutlich vor Augen geführt hat. Wir brauchen nur an die Krisenherde Afghanistan, Iran, später Iran-Irak und jetzt Polen zu denken, an die Verhärtung im Verhältnis zwischen Ost und West, unter dem besonders der zwischenmenschliche Kontakt im Reiseverkehr mit der DDR leidet. Gespräche zwischen den Beteiligten am Entspannungsprozess der 70er Jahre werden schwieriger.

Und doch sind Gespräche, die noch so zäh geführt werden, mit Denkpausen, mit unendlicher Geduld mit Rückschlägen, immer noch der einzig denkbare Weg, den Frieden dauerhaft zu erhalten. Abgrenzung, Nicht-mehr-miteinander-Reden, Kalter Krieg, und das Wie-du-mir-so-ich-dir-Denken können leicht zu einer unkontrollierbaren Entwicklung führen, die der zerbrechliche Weltfrieden nicht verträgt.

Wenn wir am Volkstrauertag den Anlass zur Trauer ernst nehmen, nämlich die Mahnung der Gefallenen und Umgekommenen, den Frieden künftig zu erhalten und auszubauen – dann können wir auch Mut fassen, indem wir auf einige Zeichen der Hoffnung hinweisen. Z. B. wenn jemand einen Freiwilligendienst in einem Friedensdienst tut. Oder wenn einer auf seine eigentlich so verständliche Rache verzichtet. Oder wenn einer auf einen Andersdenkenden verstehend zugeht. Oder wenn einer bei einem Trauernden in seiner Verzweiflung ausharrt. Wenn Opfer eines Anschlages rasch unbürokratische Hilfe erhalten. Oder wenn nach einem politischen Umsturz in einem Land die neuen Machthaber einmal nicht Rache nehmen an ihren bisherigen Gegnern, sondern – wie in Nicaragua geschehen – ihren Folterern verzeihen und sie in die neue Gesellschaft einzugliedern versuchen.

Solche Hoffnungszeichen brauchen Unterstützung. Wenn jeder von uns ein bewusster Friedensstifter wird, gibt es mehr davon. Davon wird unser künftiger Friede mit abhängen. Dazu mahnen uns die Toten der vergangenen Kriege, um die so schmerzlich getrauert wurde und wird.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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