Bild: Pixabay

Eifer-sucht? Heimge-sucht!

Den Gott, der uns Liebe schenkt, kränken wir unendlich, wenn wir ihm sein Geschenk mit Hartherzigkeit gegen andere, ebenfalls unendlich viel geliebte Menschen auf dieser Erde vergelten. Das ist der „Eifer“ des eifernden Gottes. Und im Wort „heimsuchen“ steckt der Wunsch Gottes, dass wir wieder zu ihm nach Hause kommen.

Die Tafeln der Zehn Gebote auf Hebräisch
Die Tafeln der Zehn Gebote auf Hebräisch (Bild: Clker-Free-Vector-ImagesPixabay)
#predigtBittgottesdienst für den Frieden am Volkstrauertag, den 13.11.88 um 9.30 Uhr in Heuchelheim und um 10.30 Uhr in Reichelsheim

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Wir hören den Text zur Predigt aus dem 2. Buch Mose – Exodus 20, 1-6:

1 Und Gott redete alle diese Worte:

2 Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.

3 Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

4 Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis (d. h. hier Abbild) machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist:

5 Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen,

6 aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.

Liebe Gemeinde!

Ich muss heute viermal reden, zweimal in der Kirche und zweimal auf dem Friedhof. Volkstrauertag, so heißt dieser Tag, der so viele Menschen auf den Friedhof führt, wenn auch bei uns nicht so viele in die Kirche. Doch obwohl ich meine Gedanken auf zwei verschiedene Ansprachen verteilen konnte, hat mich bei der Vorbereitung der Predigt und der Rede so viel bewegt, dass es mir schwergefallen ist, eine Auswahl aus all dem zu treffen, was ich gerne hätte sagen wollen oder was wohl nötig wäre zu sagen.

Ich habe mich dafür entschieden, hier im Gottesdienst über das 1. Gebot zu predigen, das 1. Gebot, wie es in der Bibel steht, in der ausführlichen Form, einschließlich Bilderverbot und einschließlich der harten Worte des „eifernden Gottes“.

Was geht in uns vor, wenn wir das hören:

Ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen,

6 aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.

Was ist das für ein Gott, den uns die Bibel hier vor Augen malt? Ein strafender, ein grausamer Gott, der die Kinder und Kindeskinder von Übeltätern in Sippenhaft nimmt? Der alttestamentliche Gott der Rache, dem im Neuen Testament der liebende Gott Christi entgegentritt? Lädt nicht ein Text wie dieser dazu ein, uns abzugrenzen vom Volk der Juden – in dem Sinne, dass dieses Bild von Gott heute für uns Christen überholt ist?

Und da sind wir bei einem Thema, das uns in der vergangenen Woche wohl alle mehr oder weniger beschäftigt hat, beschäftigen musste, ob wir wollten oder nicht: bei der Erinnerung an die Judenpogrome vor 50 Jahren. Dass deutsche Männer, Kinder und Frauen, die zugleich Juden waren, damals schon vieler Rechte beraubt waren, ohne dass es nennenswerte Proteste gegeben hatte, dass nun die nackte Gewalt gegen das Eigentum, die Unversehrtheit und das Leben der Juden offen ans Tageslicht zu treten begann, wieder unter dem schweigenden Zusehen der meisten Nicht-Betroffenen, das hatte seine Gründe nicht nur in einer allgemeinen Grundstimmung, die gegen die Juden gerichtet war, gespeist z. B. aus schlechten Erfahrungen mit geschäftstüchtigen und schlitzohrigen Händlern oder Geldverleihern, nein, es gab auch religiöse Gründe für die Zurückhaltung der Christen, als es darum ging, sich für die Juden einzusetzen. Die Christen haben die Juden nicht direkt gehasst, aber die Juden galten doch als das abtrünnige Volk Gottes, das alleinverantwortlich schien für den Tod Jesu und das von den Christen in der Rolle als Kinder Gottes abgelöst worden sei. Schon im Mittelalter hatte es immer wieder Verfolgungen der Juden gegeben, als es galt, einem Sündenbock die Schuld für bestimmte Missstände oder Epidemien, z. B. die Pest, in die Schuhe zu schieben. Zugleich war es für die damalige Staatskirche unerträglich, dass es Menschen gab, die sich dem allgemeinen Glauben der Christenheit widersetzten, die ihren jüdischen, von Mose gegebenen Gesetzen nach wie vor gehorchten, wie es seit Jahrhunderten gewesen war.

Wer hätte für möglich gehalten, dass es mitten in unserem Jahrhundert der Aufklärung und der Fortschritts noch einmal einen derartigen Rückfall ins Mittelalter hätte geben können, sogar noch in einer ins Unermessliche gesteigerten Form? Noch 50 Jahre später fällt es schwer, sich klarzumachen, dass hier ein ganzes Volk, eine ganze Religionsgemeinschaft, systematisch ausgerottet werden sollte, und dass die Pläne dazu wirklich nach und nach in die Tat umgesetzt wurden, nicht ohne manchmal sozusagen zu testen, wie weit man gehen könne, ohne dass die Bevölkerung protestieren würde. Die Reichspogromnacht war solch ein gigantischer Test – in dieser Nacht war der Zug abgefahren, der über verschiedene Stationen in die Vernichtungslager führte, aber dort nicht Halt machte, sondern zum Schluss wie ein Bumerang auch den Untergang des Deutschen Reiches als einige Nation bewirkte.

Erst ein paar Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Christen in Deutschland, sich über ihre Beziehungen zu den Juden Gedanken zu machen. Als wir auf unserer letzten Dekanatssynode in Stammheim einen Vortrag des Oberkirchenrats i. R. Dr. Herbert zum Thema „1938 – 1988 Kirche und Antisemitismus damals und heute“ hörten, da erwähnte er auch, wie nach dem Krieg die Christen langsam aus der grausamen Geschichte der Judenvernichtung zu lernen anfingen. 1950 wurde auf einer Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland in Weißensee zum erstenmal ein Schuldbekenntnis der Christen gegenüber den Juden abgelegt; die Niederlage und Teilung Deutschlands mit dem unendlichen Leid von Zerstörung und Not und Vertreibung wurde als Gottes Gericht gedeutet. Zum erstenmal zeichnete sich eine christliche Umkehr im Verhältnis zu den Juden ab: ein „brüderliches Verhältnis“ zu den Juden wurde gesucht. Die fast 2000-jährige Antihaltung der Christen gegenüber den Juden verstand man endlich als Irrweg, die Juden wurden als ältere Schwestern und Brüder der Christen anerkannt. Der jüdisch-christliche Dialog begann und hat mittlerweile auch in der Weise Früchte getragen, dass wir Christen durch die jüdische Bibelauslegung manche Hilfe erfahren, unseren eigenen Glauben genauer zu begreifen. Und die Erkenntnis ist gewachsen, dass wir nicht nur einzelne Geschichten aus dem Alten Testament für uns Christen übernehmen können, sondern dass die Sendung Jesu ohne sein Wurzeln in der Überlieferung Israels gar nicht denkbar gewesen wäre. Jesus war nicht der Überwinder, sondern der Vollender des jüdischen Glaubens. Zwar gab es überall in der biblischen Überlieferung auch Vorstellungen von Gott, die später verändert oder durch andere Vorstellungen abgelöst wurden, auch schon lange Zeit vor Jesus; grundsätzlich ist jedenfalls der Gott der Juden kein anderer als unser Gott. Juden und Christen haben beide das gleiche 1. Gebot:

2 Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich … aus der Knechtschaft geführt habe.

3 Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Wir beten den gleichen Gott an wie die Juden und haben die gleichen Zehn Gebote, die bis heute von den Konfirmanden zu lernen sind und die sogar von vielen Zeitgenossen, die sonst nicht viel von der Kirche halten, als nützliche Richtlinien menschlichen Verhaltens angesehen werden.

Mitten zwischen den Zehn Geboten aber steht nun dieses schwierige Wort, das wir gern nur den Juden überlassen würden. Aber es ist ein Satz des Gottes, den auch wir Christen verehren:

Ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen,

6 aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.

Um diesen Satz zu verstehen, ist es gut, genau hinzuschauen. Das ist auch etwas, was uns jüdische Bibelausleger lehren. „Manchmal steckt der Teufel im Detail“, sagen wir. Doch auch Gott steckt im Detail. Auch das Wesen Gottes lässt sich oft nur richtig erschließen, wenn wir die Einzelheiten eines Bibeltextes genau betrachten.

Also erst einmal ist in diesem Text gar nicht von einem grausamen, brutalen oder auch nur strafenden Gott die Rede. Gott ist ein „eifernder“ und ein „heimsuchender“ Gott, so ist der genaue Wortlaut. Es ist eigentümlich, dass wir diese Worte bei oberflächlichem Hinhören nur als Strafe oder Grausamkeit deuten. In dem Wort „eifern“ steckt aber zunächst etwas ganz anderes, das Interesse eines liebenden Gottes, eine Anstrengung und ein Einsatz für sein geliebtes Volk, die bis zum äußersten gehen. Die Menschen, die er gerade aus der Sklaverei befreit hat, will er nicht wieder in selbstgemachter Unfreiheit versinken sehen, sie sind ihm wichtig und er erregt sich darüber, wie sie ihm und seinen menschenfreundlichen Weisungen wieder untreu werden. Wenn wir daran denken, dass das Gottesvolk schon um das Goldene Kalb herumtanzt, während Mose auf dem Berg noch die Gebote empfängt, haben wir einen Eindruck von der Zwiespältigkeit, in der sich das Volk Israel befindet. Es will Gottes Volk sein, aber kaum fühlt es sich von ihm einmal vorübergehend verlassen, schon macht es sich einen Ersatzgott.

Das Gottesvolk der Christen ist in diesem Punkt nicht anders gewesen, durch seine ganze Kirchengeschichte hindurch. Vor 50 Jahren wurde Hitler für viele so etwas wie ein Ersatzgott. Es gab ja sogar Hausaltäre mit seinem Bild oder Lobeshymnen ihm zu Ehren. Und vor allem gab es ein völkisches Gottesbild. Der einzelne galt nichts, das deutsche Volk oder die arische Rasse war alles, dem man alles zu opfern hatte. Auch Christen, die sog. „Deutschen Christen“ hatten das ganz klar in ihrem Programm stehen, so z. B. schon 1932 bei Wahlen zum Kirchenvorstand, ich zitiere: „Wir bekennen uns zu einem bejahenden artgemäßen Christusglauben, wie er deutschem Luthergeist und heldischer Frömmigkeit entspricht… Wir sehen Rasse, Volkstum und Nation uns von Gott geschenkte und anvertraute Lebensordnungen, für deren Erhaltung zu sorgen uns Gottes Gesetz ist. Daher ist der Rassenvermischung entgegenzutreten.“ Weiter stand im Programm der „Deutschen Christen“ zu lesen: „Wir fordern den Schutz des Volkes vor den Untüchtigen und Minderwertigen… In der Judenmission sehen wir eine schwere Gefahr für unser Volkstum…, solange die Gefahr der Rassenverschleierung und Bastardierung besteht… Wir wollen eine evangelische Kirche, die im Volkstum wurzelt und lehnen den Geist eines christlichen Weltbürgertums ab.“ Auch der Pfarrer von Reichelsheim war zu jener Zeit ein „Deutscher Christ“ gewesen, der in der Kirchenchronik das Hitlerjahr 1933 begeistert feierte. Von heute aus kann man nur schwer begreifen, wie auch in der Kirche eine derartige Begeisterung für Hitler aufkommen konnte. Sie widerspricht jedenfalls dem ersten Gebot – Gott duldet keine anderen Götter neben sich, auch nicht ein Volk oder eine Rasse oder einen starken Führer.

Aber es wäre zu einfach, nur mit dem Finger in die Vergangenheit zu zeigen. Wie ist das heute mit dem 1. Gebot? Haben wir noch andere Götter neben dem einen Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde? So offensichtlich wie damals wird heute kein falscher Gott neben den wahren Gott gesetzt. Kritisch wird es, wenn wir uns fragen, woran wir uns denn im Lebensalltag wirklich halten und auf wen unser Vertrauen setzen im Leben und im Sterben. Wirklich ausschließlich auf Jesus Christus?

Mit Gottvertrauen zu leben, ist auch heute unter Christen eine Seltenheit. Von Gott so viel für sich zu erwarten, dass man sich z. B. nach dem Gottesdienst sehnt, das ist nur die Sache einer Minderheit in der Kirche. Nichts als Arbeit und Mühe von früh bis spät, Geldverdienen, sich einen Bereich zu schaffen, in dem man von niemandem gestört wird, das sind vielleicht die wichtigsten Ersatzgötter unserer Tage. Vielleicht ist man sich dessen noch nicht einmal bewusst, einem falschen Gott anzuhängen. Vielleicht hat man durchaus seinen Glauben, zahlt seine Kirchensteuer und würde nichts auf die Kirche kommen lassen. Aber trotzdem sagt man im Alltag Sätze wie diese: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ „Ohne Ellbogen kommt man in unserer Gesellschaft nicht durch.“ „Zu viel Abrüstung macht doch nur den Gegner stärker.“ „Wir können uns keine Asylanten mehr leisten.“ Es gibt viele Glaubenssätze, die sich eigentlich mit dem Glauben an den Gott der Gerechtigkeit und der Liebe nicht vertragen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass gerade der liebende Gott auch Liebe von uns erwartet. Der Gott, der uns wirklich lieb hat, mutet uns auch eine Menge zu, nämlich dass wir unser Leben ganz nach seinem Willen ausrichten. Und das heißt u. a. auch, dass der Gott, dem an uns unendlich viel gelegen ist, auch der Gott der Aussiedler und Asylanten ist, der Gott der Behinderten und AIDS-Kranken, der Gott der Russen und Amerikaner, der Gott der Afghanen und Rumänen, der Gott der Kurden und Nicaraguaner, der Gott der Chilenen und Südafrikaner. Der Gott, der uns seine Liebe schenkt, ist zugleich der, den wir unendlich kränken, wenn wir ihm sein Geschenk mit Hartherzigkeit gegen irgendwelche unter seinen anderen, ebenfalls unendlich viel geliebten Menschen auf dieser Erde vergelten.

Das ist der „Eifer“ des eifernden Gottes; fern dagegen ist ihm primitive Eifersucht. Wenn wir uns Ersatzgötter machen, schaden wir uns selbst und der menschlichen Gemeinschaft auf unserer Erde, wir legen uns und unseren Mitmenschen damit Steine in den Weg.

Gott lässt sich nicht spotten, heißt es in der Bibel. Der eifernde Gott sucht die Missetaten der Väter heim. Was heißt das nun? Es heißt nicht unbedingt, dass Gott sich vornimmt: weil dieser oder jener etwas Böses getan hat, darum strafe ich nun ihn, seine Kinder und Kindeskinder. Das wäre eine Vorstellung von Sippenhaftung, die nicht zu Gott passt. Es ist anders, nämlich so: Wenn Menschen von den Geboten Gottes abfallen, dann hat das Folgen, böse Folgen. Und von diesen Folgen sind auf ganz natürliche Weise mehrere Generationen in Mitleidenschaft gezogen. So wie die Judenverfolgung letztlich zum Untergang des Deutschen Reiches führte, mit allen Folgen für ganze Familien, vom Urgroßvater bis zum kleinsten Baby.

Aber nun kommt das Besondere an der jüdischen und auch der christlichen Sicht dessen, was wir mit dem Wort „Strafe“ oder „Gericht Gottes“ bezeichnen. Auch in den bösen Folgen eines bösen Verhaltens können Juden oder Christen eine Heimsuchung Gottes erkennen. In dem Wort „heimsuchen“ steckt ja die Chance zur Umkehr, der Wunsch Gottes, dass wir wieder zu ihm nach Hause kommen möchten, auch wenn uns eine schreckliche Geschichte von ihm getrennt hat.

Gott will niemanden vernichten, kleinkriegen, demütigen. Nicht aus Rachsucht ist er ein eifernder und heimsuchender Gott. Sondern aus Gnade! Denn nur erkannte, bereute, vergebene Schuld ist wirklich bewältigt. Das erfahren wir auch im menschlichen Miteinander. Dem, der ein Geständnis ablegt, der aus einem Fehler lernt, dem versagen wir nicht den Respekt, auch wenn er die Konsequenzen seines Verhaltens tragen muss.

Das Volk Israel war ein Volk gewesen, das manche nationale Katastrophe als ein Gericht Gottes verstand. Die Propheten waren scharfe Kritiker der israelitischen Könige, wenn sie Ausbeutung, Unterdrückung und die Anbetung fremder Götter im Land zuließen. Wenn wir das Wort von der „Heimsuchung“ ernstnehmen, dann können wir die Propheten so verstehen: Dass das Volk Israel von den Babyloniern in die Verbannung geführt wurde, bedeutete nicht die Verdammung des Gottesvolkes, bedeutete auch nicht, dass Gott sein Volk allein ließ oder seine Macht verloren hätte. Nein, dieser Gott ist so gerecht, so stark, so groß, dass er sogar seinem eigenen Volk als unvoreingenommener Richter gegenübertritt. Aber in diesem Gericht bleibt er doch der gnädige Gott. Nie verlässt er sein Volk ganz, nie entzieht er ihm die alten Verheißungen. Und hier ist es wieder wichtig, genau hinzusehen: Gott sucht wohl die „Missetat der Väter heim bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen“, das ist also genau die Zahl der Generationen, die zu Lebzeiten der Ältesten noch unter den Folgen Ihrer Taten zu leiden haben. Daneben steht aber das andere Wort, dass Gott „Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.“ Der Segen Gottes ist also viel größer als sein Fluch, die Gnade durchdringt und überkleidet die Folgen des Versuchs der Menschen an Gott und seinen Geboten vorbei leben zu können.

Wer in unserem Jahrhundert noch behauptet hat, dass Gott mit der millionenfachen Judenvernichtung das alte Gottesvolk habe strafen wollen, der geht am Sinn des Wortes Gottes vollkommen vorbei. Denn seit der Zeit, da Israel als Volk an den Geboten Gottes vorbeigelebt hatte, sind Jahrhunderte vergangen; und es heißt nicht, dass Gott die Sünde der Väter weiter als bis in die dritte oder vierte Generation heimsucht.

Aber auf unser Volk bezogen müssen wir uns schon vor Augen halten, dass gerade erst knapp zwei Generationen vorbei sind, seit in unserem Land der Ungeist des Rassenhasses wüten konnte. Und überall, wo man sich scheut, offen über diese Zeit zu sprechen, wo man versucht, das alles jetzt endlich zu vergessen, da entsteht eine gefährliches Verstummen, eine angespannte Atmosphäre, die von nicht ausgesprochenen Gefühlen und Gedanken erzeugt wird. Diejenigen, die mahnen, werden dann leicht als Unruhestifter gebrandmarkt. Es wird schwer, offen miteinander umzugehen. Man macht sich über das, was jemand erfahren hat, möglicherweise unzutreffende Vorstellungen. Wenn man bedenkt, dass es noch immer Familien gibt, in denen die Ereignisse des Dritten Reiches nie ein Thema waren, kann man sich vorstellen, was sich in unserem Volk angestaut haben mag an immer noch nicht eingestandenen Schuldgefühlen oder auch Schuldvorwürfen, andererseits aber auch an versteckter Trauer oder Angst.

Aus dem Konfirmandenunterricht weiß ich: Nur wenige Konfirmanden haben von ihren Eltern oder Großeltern etwas von dem erfahren, was im Dritten Reich geschehen war, was sie vielleicht sogar selbst miterlebt hatten. Was mich bestürzt hat, dass unter den gleichen Konfirmanden, dass unter euch jungen Leuten heute zum Teil schon wieder unbekümmert Juden- oder Türkenwitze erzählt werden, ohne einen Gedanken daran, dass sich dadurch Menschen verletzt fühlen könnten. Auf das Gedenken an die Reichspogromnacht in Schule und Fernsehen ist von den Konfirmanden, ist von euch ganz unterschiedlich reagiert worden. Einigen hängt das Thema zum Hals heraus, weil sie damit überfüttert wurden, andere sind betroffen von den Schilderungen des Schreckens, wieder andere haben noch nie Genaues erfahren, in der Schule heißt es: das nehmen wir erst im nächsten Jahr durch. Wo offenes, ehrliches Interesse und Betroffenheit herrscht, da ist auch ein fruchtbares Gespräch möglich, da geht es nicht darum, Hass oder Schuldgefühle zu erzeugen, sondern es geht um die Frage: Wie können wir dazu beitragen, dass unter uns nicht wieder solche Vorurteile gegen Minderheiten entstehen?

Es ist zwar altbekannt und verständlich, dass wir heftiger auf ein Unrecht reagieren, wenn es „die“ anderen verübt haben. Aber wir dürfen das bei uns auf keinen Fall wieder einreißen lassen, dass wir die Kritik an den Angehörigen bestimmter Gruppen von Menschen verallgemeinern. Dass wir den Namen dieser Gruppen dann sogar als Schimpfwort oder als Material für Witze missbrauchen.

Ein Zeichen der Hoffnung ist es, wenn stattdessen Aktionen für Minderheiten gestartet werden, die bei uns so etwas im Abseits stehen. Eine Lehrerin unserer Grundschule rief z. B. die Schüler dazu auf, ihre alten Spielsachen auszurangieren, um sie den Kindern in Familien von Aussiedlern oder Asylbewerbern zu schenken. Das kann schon viel bewirken an Verbundenheit und Freundschaft und Frieden.

Denn „Gott redete alle diese Worte: Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich… aus der Knechtschaft geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir… Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der… Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.“ Amen.

Und der Friede Gottes, der viel größer ist, als unser Denken und Fühlen erfassen kann, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken des Kommentars stimmen Sie seiner Veröffentlichung zu (siehe Datenschutzerklärung). Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.