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Am Fuß eines Vulkans

Wir wissen, dass wir auf einem Pulverfass von Massenvernichtungsmitteln sitzen, das schon durch einen Computerfehler gezündet werden kann. Aber wir sehen keinen Anlass, wenigstens einen Teil unserer Kraft und Zeit dafür einzusetzen, um Auswege aus der Gefahr zu finden. Wir wollen weiterleben wie bisher, wie die Leute in Kolumbien am Fuße des Vulkans. Wie es für uns ausgeht, ist offen.

Ein Vulkan in Costa Rica
Wer am Fuß eines aktiven Vulkans wohnt, muss auf einen Ausbruch gefasst sein (Bild: PublicDomainPicturesPixabay)

Ansprache zum Volkstrauertag am 17. November 1985 in Heuchelheim um 11.30 Uhr, in Reichelsheim am Ehrenmal um 14.00 Uhr
Einleitende Musik (Musikverein Reichelsheim)
Prolog (Lilly Nohl)
Begrüßung (1. Vorsitzender des VdK, Werner Coburger)
Liedvorträge (Gesangverein Liederkranz)
Ansprache (Pfarrer Helmut Schütz):

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!

Wir gedenken heute, 40 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, der Opfer von Krieg und Gewalt in unserer Zeit: der Soldaten, die in den beiden Weltkriegen gefallen, ihren Verwundungen erlegen oder in Kriegsgefangenschaft gestorben sind, der Frauen, Kinder und Männer, die durch Kriegshandlungen, auf der Flucht oder bei der Vertreibung aus ihrer Heimat ihr Leben lassen mussten. Wir gedenken all derer, die unter der Gewaltherrschaft Opfer ihrer Überzeugung oder ihres Glaubens wurden, und all derer, die getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten oder einer anderen Rasse zugerechnet wurden. Wir gedenken der Männer und Frauen und Kinder, die in der Folge des Krieges und wegen der Teilung Deutschlands und Europas ihr Leben verloren. Wir trauern mit den Familien und Freunden um die Gefallenen und Toten all der Völker, die unter beiden Weltkriegen gelitten haben. Wir trauern mit den Angehörigen um die Opfer des Terrorismus, der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage. Wir trauern, doch wir leben in der Hoffnung auf Versöhnung der Völker und auf Frieden in der Welt.

Doch wie kann eine derartige Hoffnung heute realistisch sein? Hoffnung auf Frieden? Frieden ist ein Reizwort, reden wir lieber nicht drüber, sonst gibt es nur Streit. Hoffnung auf Versöhnung der Völker? Das wäre schön, aber das Misstrauen zwischen den Machtblöcken sitzt tief und ist kaum zu erschüttern.

Für Christen kann die Hoffnung auf Frieden und Versöhnung nur mit dem beginnen, was die Bibel Buße oder Umkehr nennt. Buße hat zwei Seiten: Selbsterkenntnis und Neubeginn mit Gott. Das Wort, mit dem Vertreter des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland vor 40 Jahren sich zu ihrer Mitverantwortung für die Schrecken des Zweiten Weltkriegs bekannten, drückt beides aus und hat bis heute seine Bedeutung nicht verloren: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Müssen nicht wir heute noch viel mehr als vor 40 Jahren eingestehen, dass Bekenntnis und Glaube, Gebet und Liebe unter uns nur in ganz geringem Maß lebendig sind? Wer wirklich den Frieden will, wird von der Bibel zuerst einmal aufgerufen: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2. Korintherbrief 5, 20) Von dem Frieden her, den Er schenkt, erhalten unsere menschlichen Schritte zum Frieden die Richtung, die Kraft, die Beharrlichkeit und den langen Atem.

Gut, dass es den Volkstrauertag gibt. Denn sonst würden wir noch seltener mit der Nase darauf gestoßen, wie bedroht unser Friede ist und wie sehr wir uns der lähmenden Resignation widersetzen müssen, mit der wir uns einreden: Wir können ja doch nichts für den Frieden tun. Aber warum sollen wir uns denn eigentlich immer mit dieser Frage beschäftigen, wo doch so wenig dabei herauskommt? Läuft nicht seit Jahren bei uns alles einigermaßen gut? Hat nicht unsere Bundeswehr seit 30 Jahren ihren Auftrag, den Krieg zu verhindern, gut erfüllt? Werden nicht in dieser Woche auf höchster Ebene neue Gespräche begonnen, die dem Frieden dienen können? Gewiss können wir dankbar sein für die Bewahrung des Friedens bis zum heutigen Tag, und auch für alle Anstrengungen auf dem Weg zum Frieden, die von Politikern unternommen werden. Aber jeder sollte sich selber eindringlich die Frage stellen, ob das schon genug ist, ob wir die Arbeit für den Frieden nur den anderen überlassen können.

Ein Ereignis dieser Tage hat mich sehr betroffen gemacht: Der Vulkanausbruch in Kolumbien. Sechs Meter hohe Schlamm-Massen haben ganze Dörfer und eine Stadt von der Landkarte verschwinden lassen. Unvorstellbares Leid hat Zehntausende in diesem Landstrich getroffen. Doch man sagt, das Unglück sei vorhersehbar gewesen. Seit drei Monaten gab es Anzeichen für einen neuen Ausbruch des Vulkans. Aber die Bevölkerung widersetzte sich einer Evakuierung, weil man die Ernte nicht im Stich lassen wollte. Das ist es, was mich vor allem erschüttert an dieser Katastrophennachricht: sie ist wie ein Gleichnis für unsere Situation. Wir wissen, dass wir auf einem Pulverfass von Massenvernichtungsmitteln sitzen, das schon durch einen Computerfehler, ohne dass irgendjemand einen Krieg will, gezündet werden kann. Wir wissen um die Schrecken, die ein Dritter Weltkrieg mit sich bringen würde. Aber wir sehen keinen Anlass, wenigstens einen Teil unserer Kraft und Zeit dafür einzusetzen, um Auswege aus der Gefahr für uns zu finden. Wir wollen so weiterleben wie bisher, wie die Leute in Kolumbien am Fuße des Vulkans. Wie es für uns ausgehen wird, ist noch offen.

Der Atomphysiker Carl-Friedrich von Weizsäcker hat die Christen der Welt dazu aufgerufen, ein Konzil des Friedens einzuberufen. Es sollte eine ökumenische Versammlung aller Kirchen sein, und die Kirchen sollten lernen, sich in der Friedensfrage zu verständigen. Sie sollten auf einem Konzil des Friedens in gemeinsamer Verantwortung ein Wort sagen, das die Menschheit nicht überhören kann. Ich denke, so ein Konzil ist unterstützenswert. Zugleich sollten wir überall, wo es sich ergibt, dem Gespräch über den Frieden nicht ausweichen. Hier am Ort fängt der Friede an, da entscheidet es sich, ob wir uns voreinander verschließen, ob wir einander misstrauen, ob wir schwierige Fragen grundsätzlich nicht ansprechen. Dabei ist die Frage des Friedens nur eine von vielen Fragen, die zusammengehören: wir können sie nicht trennen von der Frage nach einem sinnvollen Leben, nach dem guten Miteinander der Konfessionen, nach einem lebendigen Glauben in den Kirchengemeinden. Wir können nur dann gemeinsam heiße Eisen anpacken, wenn genügend Vertrauen da ist, dass niemand den anderen für bestimmte Zwecke missbrauchen will.

Wir haben Umkehr bitter nötig. Denn auch wir leben bildlich gesprochen am Fuße eines Vulkans. Und wir wissen aus uns selber nicht, wie wir seinen Ausbruch verhindern können. Frieden können wir nicht aus eigener Kraft schaffen. Als Christ sage ich Ihnen und mir selbst ein Wort der Bibel (2. Korinther 5, 20):

„Lasst euch versöhnen mit Gott!“

Er hat denen Kraft und Zuversicht verheißen, ja er hat sogar die glücklich gepriesen, die sich um den Frieden mühen. Er lässt uns Trauer und Betroffenheit ertragen und begleitet uns auch auf den Durststrecken im Einsatz für den Frieden.

Liedvortrag (Gesangverein Liederkranz)
Kranzniederlegung (Vertreter der Stadt Reichelsheim)
Lied vom guten Kameraden (Musikverein Reichelsheim)

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