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Der äußere und der innere Mensch

Was meint Paulus mit seiner Unterscheidung zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen? Es gehört zum Leben dazu, dass man auch in die Lage kommen kann, in der man, ob man will oder nicht, „anderen zur Last fällt“, oder, besser ausgedrückt: die Kräfte der anderen braucht und beansprucht – genauso wie man selbst bereit war, sich für die anderen einzusetzen.

Der innere Mensch symbolisch: ein Mann öffnet sein Hemd, und man sieht "innen drin" eine blühende Landschaft
Was meint Paulus mit der Unterscheidung des inneren vom äußeren Menschen? (Bild: Alexas_FotosPixabay)

Im Namen Gottes, der uns als Vater begegnet, im Sohn und durch den Heiligen Geist. Amen.

So spricht Gott, der Herr (Jesaja 43, 1):

Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!

Mit diesen Worten können wir den schweren Weg antreten, der vor uns liegt: Abschied zu nehmen von Frau O., die im Alter von [über 50] Jahren nach schwerer Krankheit gestorben ist.

Fürchte dich nicht, sagt Gott. Nicht weil es keinen Grund zur Furcht gäbe. Sondern weil er die Furcht dieser Welt überwunden hat. Nicht weil er uns wie durch Zauberei aus allen Sorgen, Problemen und Zwängen heraushöbe. Sondern weil er uns in dem allen nicht allein lässt.

Vater im Himmel, zeig uns, was es heißt, dass du uns nicht allein lässt, nicht im Leben und nicht im Sterben und nicht einmal im Tod. Zeig uns, was es heißt, dass du unsere Furcht überwinden hilfst, unsere Furcht vor dem Leiden, unsere Furcht vor dem Tod, unsere Furcht vor dem Abschiednehmen, unsere Furcht vor dem Alleinsein, unsere Furcht vor Verzweiflung und Sinnlosigkeit, unsere Furcht vor den Leben. Gott, hilf uns den Weg der Trauer zu gehen, schenke uns Menschen, die uns begleiten und vor denen wir uns so zeigen können, wie wir sind. Lass uns den Schmerz darüber aushalten, was wir mit Frau O. verloren haben, und mach uns dankbar für das, was uns mit ihrem Leben geschenkt war. Amen.

Liebe Trauergemeindel

In der Bibel ist der Brief eines Mannes überliefert, der schwer unter Verfolgungen, unter Krankheit und anderen Bedrängnissen leiden musste. Es war der Mann, der den christlichen Glauben in Europa und Kleinasien ausgebreitet hat, der Apostel Paulus, und er schrieb in einem seiner Briefe (2. Korinther 4, 16) unter anderem den Satz:

Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.

Auf diesen Satz bin ich aufmerksam geworden, als ich über das Leben und Sterben von Frau O. nachgedacht habe; ich meine, an ihr wurde die Wahrheit dieses Satzes deutlich und lebendig. Frau O. hat sehr bewusst gelebt und hat sich auch sehr bewusst mit ihrem Sterben auseinandergesetzt. Ihr Leben war ein erfülltes Leben in dem Sinne, dass ihr „innerer Mensch“ auf seinem Weg bis zu dem ihr eigenen Ende und Ziel sich entfalten und wachsen konnte, auch wenn ihr „äußerer Mensch“ vielen Lebenseinschränkungen und Bedrückungen unterworfen war, zum Schluss bis hin zu starken Schmerzen und zunehmendem Verfall.

Mit der Unterscheidung von innerem und äußeren Menschen ist keine Trennung beider voneinander beabsichtigt und auch keine Abwertung dessen, was ein Mensch äußerlich erlebt und erfährt. Paulus geht es nicht wie manchen Philosophen darum, aus der schlechten Wirklichkeit auszusteigen und in die Welt des rein Geistigen zu flüchten. Sondern Erneuerung des inneren Menschen bedeutet für ihn gerade, sich der bedrückenden Wirklichkeit stellen zu können und dabei nicht den Mut zu verlieren. Diese Fähigkeit ist mir auch an Frau O. aufgefallen: allem ins Auge sehen zu können, sich nichts vormachen zu wollen und doch bis zum Schluss nicht die Hoffnung und den Lebensmut zu verlieren.

Frau O. hat es in ihrem Leben vielfach nicht leicht gehabt. Durch die Vertreibung verlor sie ihre alte Heimat; als ihre Eltern starben, ließ sie auch ihre zweite Heimat zurück und zog hierher ins Haus ihrer Eltern, das diese sich nach dem Krieg aufgebaut hatten. Frau O. hat intensiv gelebt und war zu intensiven Beziehungen fähig; und auch das bedeutete: wiederholt Abschied nehmen müssen, Trauer durchstehen müssen oder auch Konflikte bewältigen müssen. Härteste Arbeit war ihr Los schon als junge Frau, als sie mit ihren Kindern allein da stand und in einer Fabrik Knochenarbeit leisten musste. Diese Beispiele zeigen ein wenig, wie es um den „äußeren Menschen“ von Frau O. stand, bis hin zu ihrer Krebskrankheit und ihrem Sterbebett.

Und der „innere Mensch“? Mit dem inneren Menschen reagieren wir auf das, was mit uns äußerlich vorgeht. Und wenn wir dem nicht gewachsen zu sein glauben, dann machen wir uns innerlich zu, wagen nicht wirklich zu fühlen, was in uns vorgeht. Vielleicht schaffen wir uns eine Ersatzwelt, die uns wenigstens zeitweise seelisch zu überleben hilft: zum Beispiel das Vertrauen auf die eigene Kraft und Leistung, zum Beispiel die manchmal unrealistische Hoffnung auf beständige Gesundheit, oder einfach die Verdrängung unbequemer Konflikte, bedrückender Probleme und quälender Ahnungen.

Das meiste davon hat Frau O. nicht nötig gehabt. Sie war ein Mensch, der zugleich intensiv nachgedacht und auch tief gefühlt hat. Sie kannte Liebe und Zorn, Freude und Trauer, Vertrauen und Angst, Verantwortung und Schuld. Sie ging da hindurch, anstatt die unangenehmen Gefühle wegzudrängen, und konnte auf diese Weise in ihrem inneren Menschen Wege gehen und eine Reife erleben, die anderen verschlossen bleibt.

Diese inneren Wege sind für Frau O. zumindest in den letzten Jahren eng mit ihrem Glauben verknüpft gewesen. Ihr Glaube war nicht ein unveränderlicher Bestandteil ihres Seelenlebens neben vielen anderen, sondern eine lebendige Beziehung zu Gott, die mit allen anderen Bereichen ihres Lebens zu tun hatte. Lebendige Beziehung zu Gott – das bedeutete: Vertrauen, aber auch Kämpfe mit inneren Zweifeln; Geduld, aber auch die Frage, ob der „liebe Gott böse“ sei; das Bewusstsein, in jedem Fall von Gott getragen zu sein, auch wenn sein Wille unverständlich oder grausam erscheint.

In solchen Gegensätzen bewegt sich der „innere Mensch“ und wird dabei doch nicht zerrissen, wenn er sich von Gott getragen weiß, sondern kann auf einem Weg weitergehen und wachsen, der ungeahnte Erfüllung verheißt. Dass dies gerade dann der Fall sein kann, wenn unser äußerer Mensch zerfällt, wie Paulus sagt, oder wenn die Bahn unseres Lebens entsprechend dem Sonnenlauf den Zenit überschritten hat und sich dem abendlichen Untergehen und Sterben zuneigt – das ist uns vielfach ein ungewohnter Gedanke. Die Erfahrung des Paulus, nicht müde zu werden, oder wie er nach einer modernen Bibelübersetzung (GNB) sagt (2. Korinther 4, 16):

Darum verliere ich nicht den Mut

– diese Erfahrung hat Frau O. aber gerade auch dann gemacht, wenn andere nur noch das Ende sehen oder am liebsten gar nicht mehr hinschauen würden. So hat sie sich, als sie um ihre Krebskrankheit wusste, einer Selbsthilfegruppe für Krebskranke angeschlossen, um gemeinsam diese Jahre besser bewältigen zu können.

Mit vielem verstand es Frau O. aber auch zeitlebens, allein fertig zu werden. Sie dachte eher an andere als an sich selbst. Sie jammerte und klagte nicht, um anderen nicht zur Last zu fallen. Sie machte sich weniger Sorgen um ihren bevorstehenden Tod als um die Zukunft ihrer Kinder. So bewundernswert solch eine Haltung ist, stark und selbstlos, so birgt dieser Teil ihrer Persönlichkeit doch die Gefahr, sich selbst und dann auch andere zu überfordern. Das hat Frau O. noch zum Schluss ihres Lebens lernen müssen, dass es auch in Ordnung sein kann, einmal nur der Empfangende und nicht der Gebende zu sein. Es gehört zum Leben dazu, dass man auch in die Lage kommen kann, in der man, ob man will oder nicht, „anderen zur Last fällt“, oder, besser ausgedrückt: die Kräfte der anderen braucht und beansprucht – genauso wie man selbst bereit war, sich für die anderen einzusetzen. So wurde in den letzten Lebenswochen von Frau O. in der geborgenen Atmosphäre eines Hospizes und in der Gemeinschaft mit den engsten Angehörigen die Erfahrung möglich, trotz und in allem Schmerz noch die Verbundenheit mit den geliebten Menschen zu spüren und als ein großes Glück zu genießen, sowie mit dem Leben abschließen und bewusst Abschied nehmen zu können (auch wenn die Hoffnung immer noch wach blieb), und schließlich es nicht nur als Last zu empfinden, wenn man auf die Hilfe und Zuwendung der anderen angewiesen ist.

Nun geben wir Frau O. dahin. Sie ist getrost gestorben, im Vertrauen, dass sie von Gottes Liebe gehalten bleibt, von dem gleichen Gott, der auch uns nicht allein lässt, so lange uns unser irdisches Leben anvertraut ist. Wir stehen nun vor der Aufgabe, unser Leben zu leben und mit der Trauer um Frau O. gut umzugehen. Diese Aufgabe sieht für jeden von uns anders aus; sie ist um so schwerer und schmerzhefter, je mehr wir sie geliebt haben oder von ihr geprägt worden sind, je enger unsere Beziehung zu ihr war. Es ist gut, wenn wir einander nicht allein lassen in all dem, was in uns vorgeht. Es ist gut, wenn wir Menschen finden, denen wir uns öffnen können mit dem, was uns belastet, denn sonst tun wir uns selbst weh und helfen damit doch niemandem.

Frau O. würde uns vielleicht zurufen: „Was macht ihr euch so viele Gedanken um mich? Ihr müsst doch euer Leben leben!“ Doch es ist natürlich und gut, jetzt die Trauer su spüren, dass sie uns fehlt; und es ist wichtig, auf dem Weg der Trauer auch die Augenblicke zu durchleben, in denen man schwach ist und Hilfe braucht, in denen man sich sogar einmal gehen lassen kann, gehalten von einen vertrauten Menschen. Der Tod ist ein harter Schock für unseren äußeren Menschen, auch mit dem Tod eines geliebten Angehörigen oder Freundes stirbt ein Teil von uns mit. Sie fehlt jeden in anderer Weise. Und Ihnen allen wünsche ich etwas, was Frau O. selbst erfahren durfte: nicht mutlos zu werden, obwohl ihr äußerer Mensch zerfiel, sondern am inneren Menschen von Tag zu Tag erneuert zu werden. Oder, um den Satz des Paulus noch einmal in einer neuen Übersetzung zu hören (2. Korinther 4, 16 – GNB):

Darum verliere ich nicht den Mut. Die Lebenskräfte, die ich von Natur habe, werden aufgerieben: aber das Leben, das Gott mir schenkt, erneuert sich jeden Tag.

Lasst uns beten mit den Worten aus Psalm 23:

1 Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.

2 Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.

3 Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.

4 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.

5 Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.

6 Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.

Amen.

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