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Zukunftstraum

Wir sehnen uns nach einem glücklichen Leben – kommen aber nicht zur Ruhe. Wir sehnen uns nach einem langen Leben – wissen aber nicht, wie unsere Zukunft aussehen kann. Wir sehnen uns nach Frieden – aber wir fühlen uns machtlos gegen die Schraube von Feindbild, Angstmacherei und Gegengewalt.

Martin Luther Kings Portrait vor amerikanischer Flagge mit zerrissener Kette und geöffnetem Vogelkäfig
Martin Luther Kings Traum von Freiheit für Menschen aller Hautfarben (Bild: Pixabay)
Gottesdienst am 3. und 4. Adventssonntag, den 11. und 18. Dezember 1983 in Heuchelheim, Beienheim und Reichelsheim
Lieder (EKG): 9, 1-4; 6, 1-3; 7, 1-3; 11, 1-4
Schriftlesung: Markus 11, 1-10

1 Und als sie in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage und Betanien an den Ölberg, sandte er zwei seiner Jünger

2 und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt. Und sobald ihr hineinkommt, werdet ihr ein Füllen angebunden finden, auf dem noch nie ein Mensch gesessen hat; bindet es los und führt es her!

3 Und wenn jemand zu euch sagen wird: Warum tut ihr das?, so sprecht: Der Herr bedarf seiner, und er sendet es alsbald wieder her.

4 Und sie gingen hin und fanden das Füllen angebunden an einer Tür draußen am Weg und banden’s los.

5 Und einige, die dort standen, sprachen zu ihnen: Was macht ihr da, dass ihr das Füllen losbindet?

6 Sie sagten aber zu ihnen, wie ihnen Jesus geboten hatte, und die ließen’s zu.

7 Und sie führten das Füllen zu Jesus und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf.

8 Und viele breiteten ihre Kleider auf den Weg, andere aber grüne Zweige, die sie auf den Feldern abgehauen hatten.

9 Und die vorangingen und die nachfolgten, schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn!

10 Gelobt sei das Reich unseres Vaters David, das da kommt! Hosianna in der Höhe!

Predigt: Jesaja 52, 7-12

7 Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!

8 Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und rühmen miteinander; denn alle Augen werden es sehen, wenn der HERR nach Zion zurückkehrt.

9 Seid fröhlich und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der HERR hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst.

10 Der HERR hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, daß aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.

11 Weicht, weicht, zieht aus von dort und rührt nichts Unreines an! Geht weg aus ihrer Mitte, reinigt euch, die ihr des HERRN Geräte tragt!

12 Denn ihr sollt nicht in Eile ausziehen und in Hast entfliehen; denn, der HERR wird vor euch herziehen und der Gott Israels euren Zug beschließen.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

Liebe Gemeinde!

Der Text, den wir hörten, ist so vielschichtig, dass ich ihn auf verschiedene Weise nacherzählen und erläutern und Verbindungen zu unserer Gegenwart herstellen möchte.

Zuerst auf die Weise, dass ich historisch, geschichtlich an die Sache herangehe. Was war denn eigentlich geschehen, und wer erzählt nun wem von diesen Boten, die eine freudige Nachricht bringen?

Wenn wir uns in diese Zeit versetzen, einige Jahrhunderte vor der Geburt Jesu, dann leben wir als verbannte Juden, fern der Heimat, in Babylon, ausgeliefert den babylonischen Machthabern. Dann ist unsere Sehnsucht, einmal wieder in das Land Israel zurückkehren zu dürfen, Jerusalem wiedersehen, wiederaufbauen zu können. Doch wir glauben kaum noch, dass sich diese Hoffnung je erfüllen wird. Lange Jahrzehnte schon liegt Jerusalem in Trümmern, ist auch der Tempel zerstört, scheint der Glaube an den Gott Israels, der zugleich der Gott der ganzen Welt ist, sich als kraftlos erwiesen zu haben. Nun hören wir einen Mann, der anfängt, Gott zu loben. Einen, der sich schon in die Zeit hineinversetzt, wenn unsere Sehnsucht erfüllt sein wird. Einen Propheten, der es wagt, Mut und Freude und Kraft auszustrahlen – obwohl doch Jerusalem noch in Trümmern liegt, obwohl doch die Unterdrückung hier in Babylon noch anhält, obwohl doch alles sinnlos scheint, was man hoffen und tun könnte.

Wir wissen von diesem Mann heute nicht einmal den Namen. Da das, was er verkündete, in den Kapiteln 40 bis 55 des Jesajabuches aufgeschrieben worden ist, nennt man ihn den zweiten Jesaja. Ich werde von ihm im folgenden einfach als von Jesaja sprechen.

Jesaja also versetzt uns in die so heißersehnte Stadt Jerusalem, in den Zeitpunkt, als die Nachricht endlich laut werden kann: Gott zeigt sich als Herr der Welt; in Jerusalem, auf dem Berg Zion, darf er wieder angebetet werden; Gottes Volk Israel darf wieder in sein Land zurückkehren. Diese Freudenbotschaft verkünden die leichtfüßigen Boten; von den Wächtern Jerusalems wird sie jubelnd aufgenommen; und selbst die Trümmer der heiligen Stadt werden mit in die Freude einbezogen: sie bleiben nicht mehr Symbol der Zerstörung und des Endes.

Woher nimmt Jesaja diese Zuversicht? Zwei Dinge kommen bei ihm zusammen: politische Weitsicht und ein tief verwurzelter Glaube. Jesaja weiß darum, dass die Macht der Babylonier im Sinken begriffen ist, dass der Perserkönig Kyros sich gegen Babylon durchzusetzen scheint. Er weiß, dass Kyros anders mit unterworfenen Völkern umgeht als die Babylonier: dass er ihnen so weit wie möglich ihre Eigenart lässt. Daraus schöpft er die Hoffnung, dass Kyros den Israeliten wieder erlauben werde, nach Jerusalem zurückzukehren und den Tempel wieder aufzubauen. Das ist später auch tatsächlich geschehen. Jesaja sieht das aber nicht nur als einen machtpolitischen Vorgang, er sieht in dem allen Gottes Hand am Werk. Er hofft nicht mehr darauf, dass aus dem Volk Israel selbst ein mächtiger Herrscher hervorgehen werde, der die Babylonier besiegt. Sondern er sieht in dem Ausländer, dem Fremdherrscher Kyros ein Werkzeug Gottes. Der wird es möglich machen, dass man in Jerusalem wieder Gott anbeten kann und dass im Grunde Gott selbst wieder als König nicht nur Jerusalems, sondern der ganzen Welt anerkannt werden kann.

Jesaja sieht alles schon vor sich, wie es sein wird in Jerusalem: der Herr hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst. Doch noch sind wir, wenn wir noch einen Augenblick uns in die Zuhörer Jesajas hineinversetzen, in Babylon, und Jesaja ruft nun uns zu: „Fort, fort! Zieht weg von hier! Verlasst Babylon! Trennt euch von allem Fremden und haltet euch rein. Diesmal sollt ihr nicht in Hast und Eile ausziehen, als müsstet ihr fliehen!“ Jesaja fordert uns also dazu auf, uns für den Aufbruch bereit zu machen, in aller Ruhe. Wir sollen uns rein halten von allem, was die Babylonier uns vielleicht noch einzureden versuchen, sollen auf die Stimme der Hoffnung hören und nicht auf die der Resignation. Wir sollen uns nicht abfinden mit der schrecklichen Vergangenheit und trostlosen Gegenwart, sondern wir sollen zugehen auf eine herrliche Zukunft.

Ich habe einmal diesen Weg gewählt, uns hineinzuversetzen in die ursprünglichen Hörer des zweiten Jesaja, damit wir ein wenig spüren, welche Sehnsucht auf der einen Seite und welche Hoffnungslosigkeit auf der anderen Seite damals da gewesen sind, und wie Jesaja da mitten hinein seine Freudenbotschaft hineinruft.

Ich sehe in unserer heutigen Welt eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten mit der Lage der Juden damals. Ich sehe uns auch gefangen zwischen Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit.

Wir sehnen uns nach einem glücklichen Leben – kommen aber nicht zur Ruhe, fühlen uns einsam und unverstanden, verstehen die sich so rasch verändernde Welt nicht mehr. Wir sehnen uns nach einem langen Leben – wissen aber nicht, wie unsere Zukunft aussehen kann angesichts des Waldsterbens, der Energiekrise, der tödlichen Gefahren, die der technische Fortschritt in sich birgt. Wir sehnen uns nach Frieden – aber wir nehmen teil oder sind machtlos gegen die sich immer weiter drehende Schraube von Misstrauen und Abschreckung, Drohung und Gegendrohung, Feindbild, Angstmacherei und Gegengewalt.

Könnten wir es uns ausmalen, ähnlich wie es der Prophet Jesaja tat, dass unsere Zukunft einmal herrlich sein wird? Der schwarzamerikanische Pfarrer Martin Luther King hat es vor anderthalb Jahrzehnten gewagt: „Ich habe einen Traum…“, hat er gesagt, dass eines Tages die Rassentrennung überwunden sein werde, dass Frieden einkehren werde. Wenig später wurde er ermordet.

Sind also solche Träume Schäume? Ist der Prophet Jesaja ein utopischer Spinner, ein gefährlicher Träumer? Sind alle die heute auf einem Weg, den man nur belächeln oder bekämpfen kann, die sich für Frieden aktiv einsetzen wollen? die für die Erhaltung unserer Umwelt kämpfen? die glauben, dass unsere Jugend noch zu retten ist? Wer hat heute den politischen Weitblick – die sogenannten Realisten oder die Anhänger einer Utopie?

Ich kann alle gut verstehen, die meinen: da kann man doch nichts machen. Die Welt wird sich doch nicht ändern. Im Grunde meines Herzens neige ich dazu, zu resignieren, den Mut sinken zu lassen, mich auf solche Aufgaben zurückzuziehen, die einfacher zu bewältigen sind, und die großen Probleme für unlösbar zu halten.

Aber ich bin Christ, und Sie sind auch Christen. Der zweite Jesaja spricht auch zu uns, will auch uns aus unserer Mutlosigkeit herausreißen. Als Christen können wir nun das, was Jesaja sagt, noch auf eine zweite Weise verstehen: indem wir alles auf Jesus, den kommenden König, beziehen.

Dann können wir bei den Freudenboten an die Engel denken, die in der Weihnachtsnacht Frieden und Heil verkünden; dann tröstet und erlöst Gott sein Volk dadurch, dass er im Kind in der Krippe selber Mensch wird und das Menschsein auf seine Weise vorlebt. Dann kann alle Welt das Heil Gottes sehen: in diesem Kind und später dem Mann Jesus aus Nazareth. Jeder kann das Heil Gottes sehen – aber hier merken wir schon das entscheidende Problem: nicht jeder nimmt wirklich wahr, was er sieht. In unserem Land kennt jeder den Namen Jesus. Aber bei weitem nicht jeder lässt Jesus über sein Leben bestimmen. Bei weitem nicht jeder erkennt in Jesus den einen, durch den er glücklich werden und im Leben und im Sterben einen Halt finden kann.

Darum ist es wichtig, dass wir diese Geschichte nicht nur vom damaligen Volk Israel aus betrachten und auch nicht nur von Jesus aus. Die Geschichte betrifft auch uns, uns will sie anrühren, und wenn sie das nicht tut, könnten wir sie gleich wieder vergessen.

Stellen wir uns also die Füße der Freudenboten vor, die über die Berge zu uns herkommen – zu uns, ja zu jedem einzelnen von uns! Da sind wir jemandem wichtig, so wichtig, dass sich Füße in Bewegung setzen auf uns zu. Und zwar leichten Schrittes, weil sie eine frohe Nachricht bringen. Stellen wir uns vor: uns wird Frieden verkündigt! Der Friede ist da! In Jesus haben wir Frieden mit Gott – wir können aus diesem Frieden schöpfen. Uns wird Gutes gepredigt: Gutes zu tun ist möglich – und wenn alle anderen das Böse tun. Uns wird Heil verkündigt: Gott macht uns heil, wird auch die Welt heil machen – auch wenn wir nur Untergang und Abgrund vor uns sehen und sogar versucht sind, daran mitzuarbeiten. Uns wird gesagt: Gott ist König! Gott ist nicht machtlos, Gott ist ernstzunehmen, Gott ist der Herr, der einen anderen Weg zeigt, als dass wir mitmarschieren in den Untergang.

Stellen wir uns die Wächter vor, also alle diejenigen, die besser als andere aufpassen und wahrnehmen, was Gott uns sagen will: sie rufen mit lauter Stimme, können nicht schweigen, lassen sich vor Freude nicht unterkriegen. Solche Wächter sollen wir sein, die christliche Gemeinde, die zusammenkommt und nicht aufhört, Gott zu rühmen. Stellen wir uns vor, wie dann die Menschen aufmerksam werden, wie alle Augen es sehen, dass durch Gott etwas anders wird in der Welt dann, wenn wir uns verändern lassen durch ihn!

Verändern lassen? Wir sollen anders werden? Ja, die Juden in Babylon wären sicher nicht mehr nach Jerusalem zurückgekehrt, wenn sie sich vollkommen den Babyloniern angeglichen hätten. Und wir verlieren den Rest unserer Hoffnung, wenn wir völlig angepasst leben an das, was alle Welt tut und was „man“ auch tun soll. Vor Weihnachten ist es wichtig für uns zu fragen: müssen wir als Christen das alles mitmachen, was man den Weihnachtstrubel nennt? Müssen wir uns so abhetzen, dass wir gar nicht mehr still werden können, dass wir nichts mehr aufnehmen können von der echten Weihnachtsfreude? Gibt es nichts, was uns Christen unterscheidet von anderen Menschen Wir sollen nicht besser sein wollen als die anderen. Wir sollen nicht in Eile und in Hast geraten. Wir sollen zum ruhigen Hören bereit sein. Wir sollen manchmal den Mund halten, wenn über andere geredet wird. Wir sollen manchmal den Mund aufmachen, wenn Vorurteile und Zynismus und Mutlosigkeit verbreitet werden. Wir dürfen wissen: das Leben als Christ ist nicht immer bequem, aber wir werden immer gehalten sein von unserem Herrn Jesus Christus. Er ist ein König, der für uns sein Leben geopfert hat. Amen.

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