Bild: Jula Hartmann

Erzählungen von Jula Hartmann

Jula Hartmann lernte ich in meiner Vikarszeit in Friedberg/Hessen kennen, in der ich sie, die im Geburtsjahr meiner eigenen Großeltern 1880 geboren war, zu ihrem 98. Geburtstag besuchte. Lange Jahre hatte sie als Frau eines Pfarrers in Ingelheim bei Mainz gelebt; in Friedberg wohnte sie bei Ihrer Tochter, bis sie im Alter von 101 Jahren starb.

Immer wieder habe ich überlegt, ob ich Ihre Erzählungen, die sie zwischen ihrem 80. und 98. Lebensjahr schrieb und die sie mir anvertraut hat, wohl auf diesem Wege einer größeren Öffentlichkeit zugänglich machen darf. Auch ihre Tochter lebt inzwischen nicht mehr, und ich finde nirgends im Internet nähere Informationen über eventuell noch lebende Verwandte oder von ihr veröffentlichte Erzählungen. Im Jahr 1927 ist unter dem Titel „Die Frau im Spiegel“ ein von ihr verfasstes Buch im Koehler & Amelang Verlag erschienen. Außerdem ist im Internet die Information zu finden, dass sie im Jahr 1981 auf dem Alten Friedhof in Darmstadt bestattet worden sein soll. 42 Jahre nach ihrem Tod entschließe ich mich nun dazu, Frau Hartmann in die Reihe meiner Gastautorinnen aufzunehmen, auch wenn sie mir dazu nicht ausdrücklich die Erlaubnis geben konnte, da ich doch erst 20 Jahre nach ihrem Tod begonnen habe, meine Homepage aufzubauen.

Helmut Schütz

Inhaltsverzeichnis

Eine Weihnachtserzählung

Der alte Mann und das Kind (1977)

Nina (1976)

Der Bettler (1975)

Die Nacht des kleinen Achim von Pourtalés

Eine Weihnachtserzählung von Jula Hartmann

Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht,
Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben (Joh. 1,12)

Mit einfachen Strichen hat Jula Hartmann eine dunkle Berghütte zwischen hohe Berge gezeichnet.
Zeichnung einer Hütte in den Bergen von Jula Hartmann

Eine Lawine war niedergegangen und hatte die junge Mannschaft eines Skikursus verschüttet, die in ihrem Bergklubhaus Weihnachten feiern wollte. Viele wurden gerettet, wenn auch mit Arm- und Beinbrüchen. Manche mussten mit schweren Verletzungen durch Hubschrauber ein das Krankenhaus der nächsten Stadt geflogen werden. Erst später konnte festgestellt werden: Eine war vermisst und konnte trotz aufopfernden Suchens nicht gefunden werden. Jetzt war es wohl zu spät. Morgen wollte man die Tote bergen und die Angehörigen benachrichtigen. Aber dazu war es trotz allem noch zu früh. Die Vermisste war ihnen allen fremd, eben erst in den Skikursus eingetreten. Keiner wusste so recht Auskunft über sie zu geben. Sie hatten jetzt zu sehr mit sich selbst zu tun.

Aber Gerda Hilt war nicht tot. Der ungeheure Luftdruck, den die Lawine auslöste, hatte sie weit weg von deren Niedergang in eine tiefe Schneemulde getragen. Eine dicht anliegende Pelzhaube hatte ihren Kopf so gut geschützt, dass sie nach einigen Minuten der Betäubung den Hals ein wenig bewegen und einigermaßen klar denken konnte. Im übrigen lag sie weich gebettet und doch fest eingekeilt, ohne jede Möglichkeit, sich aufzurichten oder bewegen zu können. Ihr anfänglich klares Denken, das sie zum Bewusstsein ihrer Lage gebracht hatte, war einem verschwommenen Dämmern gewichen. Sie meinte, Stimmen zu hören, die für sie längst verklungen waren. Aber sie wollte sie nicht mehr hören. Sie wollte in den Abgrund versinken, der einzigen Wohltat, die ewiger Schlaf bedeutete.

Da riss sie etwas zurück. Im allerletzten Augenblick wacher Besinnung. Es war das Scharren und Kratzen von Hundepfoten. Jetzt hörte sie leises Bellen. Jetzt wieder ein deutliches Scharren und wieherndes Kläffen. Bubenstimmen sagten: „Da liegt etwas, ein Handschuh.“ Wirklich hatte die Hand einen Norweger-Handschuh ans Licht geschafft. Aber er war nicht leer. Ein Ärmel, der einen schlanken Arm umschloss, wurde sichtbar. „Ein Toter“, sagte eine jüngere Bubenstimme verhalten, schaudernd vor Grausen. „Red‘ nicht so blöd“, meinte ein anderer. „Hol‘ die große Schaufel, wir müssen helfen.“

Sie legten einen schmalen Mädchenkörper frei. Ferne, abwesende Augen starrten sie an, die sich dann in tiefer Betäubung wieder schlossen. „Sie muss sofort ins Warme“, sagte der ältere der beiden Brüder. Er beugte sich, legte die willenlosen Arme des Mädchens rechts und links um seinen und des Bruders Hals. Diese schienen unter dem Druck der Bewusstlosigkeit doch zu begreifen und hielten fest. Die Buben verschränkten ihre Hände zum Tragsitz. Sie hoben die schmale Gestalt empor, trugen sie zu ihrer Hütte, stießen die Tür mit dem Fuß auf und legten sie schnaufend und aufatmend auf die Couch an der Stubenwand. „Schwer, was?“ konstatierte der Zwölfjährige. „Ja, wenn eines sich so gar keine Hilfe geben kann.“

Der Vierzehnjährige stand bereits am Herd und füllte heißes Wasser, ursprünglich Schnee, in ein Glas. Er tat Zuckerstückchen hinein und einen tüchtigen Schuss aus Vaters Rumflasche. Dann hielt er es der wie leblos Daliegenden an die Lippen. Sie öffnete die Augen, schluckte, verbrannte sich die Lippen ein wenig, lächelte, aber schon fielen die Lider wieder zu. Und nun schlief sie wirklich ruhig atmend ein.

„Aber zuerst muss das nasse Zeug herunter“, kommandierte Markus. Mit ungeschickten und doch behutsamen Bubenfingern machten sie sich daran. Bei dem Überstreifen des nassen Pulli und dem Wechsel mit dem trockenen, übrigens Markus schönster Weihnachtspullover, half sie ein wenig mit. Ganz mechanisch, ohne aufzuwachen. „Wie gut, dass sie so dünn ist“, sagte Ulli. „Da passen ihr meine Buxen und Wollstrümpfe.“ Nur Filzschuhe gab es im Bubenvorrat nicht. Und welch ein Glück, dass ihr Wollunterzeug trocken geblieben war. Ulli brachte Skisöckchen zum Ersatz. Das mochte auch gehen. Bergschuhe standen ausgestopft mit Zeitungsresten, am Herd, über dem auch die nassen Kleider hingen. „So!“ sagten die Buben befriedigt, und beschauten ihr Werk, „nun kann sie schlafen und wir machen draußen eine Schneeballschlacht.“

Gerda erwachte von einem rötlichen Schein, der strahlend durch das vorhanglose Hüttenfenster fiel. Aber es war noch nicht Abend. Deutlich konnte sie die Einzelheiten des Zimmers erkennen. – Wie war sie eigentlich hierhergekommen? Gerda dachte angestrengt nach. Sie hatte doch im Schnee gelegen und geschlafen? Geschlafen, um nicht mehr aufzuwachen. Sollte sie jetzt in eine neue Wirklichkeit zurückkehren?

Es war wohl kein Zufall, dass gerade in diesem Augenblick die Tür aufging und Ulli, gefolgt von Markus und Polly, auf beiden Händen eine geschmückte Tanne hereintrug und sie in einem Blumentopf auf den Herdschemel setzte. „Lichter haben wir nicht, aber Muttis Blumen sind auch schön.“ Jetzt erst sah Gerda, wie eigenartig, der kleine Baum geschmückt war. Christrosen über Christrosen. „Schön“, sagte sie staunend. „Ja, sie hat sie selbst in unserem Gärtchen gepflanzt und ich habe sie alle mit heraufgebracht.“ Gerda fragte nicht: „Lebt Ihre Mutter noch?“ Sie sah in Ullis Augen Tränen und wusste die Antwort.

Markus zog den gehämmerten Metallring, der an zwei Ketten von der Decke über dem Couchtisch hing, ein wenig herab und zündete die vier Wachskerzen an, die er trug. Er deckte eine weiße Papierdecke mit Tannenzweigen auf den Tisch. Dann kramte er in der Tischlade, schien aber nicht zu finden, was er suchte. Er warf seinen blonden Schopf zurück und begann sachlich, nüchtern und trocken. Er sprach die Weihnachtsgeschichte nach Lukas 2 auswendig. Nur zum Schluss half Ulli ein wenig ein. Aus einer verlegenen rauhen Kehle kam es. Aber ein spröder Ernst stand dahinter. Schweigen folgte. Dann nahmen die Buben ihre Flöten, und nach einigem Probieren klang das „Vom Himmel hoch“ in reinem Zweitklang durch die Hüttenstube. Das Lied war längst zu Ende. Aber es hing noch eine merkwürdige Stille im Raum.

„Wie bin ich eigentlich in das Schneeloch gekommen?“ fragte Gerda unvermittelt. „Durch die Lawine“, war die kurze Antwort, Gerda wusste genug. Sie hörte noch den donnernden Lärm, der sie plötzlich überfallen hatte. „Und wo sind die andern? Leben sie noch?“ – Pause. – „Wenn wir bei ihnen gewesen wären, hätt‘s uns bestimmt auch reingehauen“, meinte Ulli. Markus gab keine Antwort. Er hatte dasselbe gedacht. „Und ihr habt mich herausgegraben.“ Gerda sah die Buben dankbar an.

Sie hatten inzwischen den Tisch gedeckt. Was für Köstlichkeiten standen darauf. Hummer und bunte Salate, Käse und natürlich auch Schwarz- und Weißbrot mit Butter. „Toll! Was?“ rief Ulli von der Tür, an der er vergeblich das Kläffen und Jaulen Polly‘s zu übertönen suchte. Und Markus ergänzte: „Und Vater kommt trotzdem nicht zu kurz. Kathi hat gut vorgesorgt. Außerdem ist er bestimmt in seinem Sportclub. Er sagte, er könne es heute nicht zu Hause aushalten und wollte uns im Skihaus anmelden, damit wir nicht so allein wären. Wir wollten aber lieber hier sein und feiern, wie Mutti es immer mit uns getan hatte – wenigstens annähernd so.“

Ulli hatte seinen Kampf mit Polly beendet. Er hatte ihm einen Kranz von Leberwürstchen um den Hals gehängt, was der Hund entschieden nicht zu würdigen wusste. So gelang es ihm mit Zerren und Beißen, die unliebsame Schnur zu zerreißen, bis die Würstchen auf den Boden flogen und er sie in Ruhe verspeisen konnte. Dann verzog er sich in sein Körbchen, drehte sich um sich selbst und schlief ahnungslos, befriedigt ein. Die Buben lachten aus vollem Hals und begaben sich selbst an ein begeistertes Schmausen.

Gerda nahm von jedem nur ein wenig und trank durstig eine Tasse Tee. Sie sah noch, wie der Tisch abgeräumt wurde, wie die Buben das Weihnachtsbäumchen hinaustrugen und neben die Hüttentür stellten. Als sie wieder hereinkamen, schlief Gerda tief und fest. Markus legte noch etwas im Herd nach, sah aber dann mit sorglich gekrauster Stirn zu Ulli hin. „Er wird nicht durchhalten“, sagte er, und meinte den Herd. „Und gegen Morgen wird es immer so kalt. Die Decke ist sehr dünn. Sie wird frieren.“ Die Brüder sahen sich an. Da holte Ulli den alten Pelzmantel von Mutti, der immer noch ganz hinten im Schrank hing. Sie breiteten ihn über die Schlafende und hüllten sorglich die Füße ein. „Mutter hätte es so gewollt“, sagte Markus. Sie sahen noch einen Augenblick auf ihren Gast herab. Dann verschwand der Kleine in den Nebenraum und schlüpfte in seinen mollig wattierten Schlafsack.

Markus dagegen lockte den Hund und ging vor die Hütte. Die Nacht war nicht völlig klar, schimmernd und von einer unendlichen Stille. Sternenlicht verwob sich mit einem Tanz winziger Schneeflocken zu einem Schleier, über die endlose Kette der weißen Bergwelt gebreitet. In deutlicher Sehweite standen vor der Bergkette graue Felsen, die kaum in ihren Spalten und Rissen leichte Schneespuren trugen. In ihrer Mitte wölbten sich zwei wie zu einem Tor. Markus hatte einen Blick für solche Schönheiten. Ein Bild fiel ihm ein, das in diesen Rahmen passte. Man hatte es ihm einmal erklärt. In Gedanken ordnete er die Gestalten ein. Zwischen den Felsen Maria mit dem Kind. Der Raum vor ihnen war leer. Aber im weiteren Umkreis unter den Wolken, die sich gerade dunkel zusammenballten, eine Menschenmasse. Hass und Wut auf den verzerrten Gesichtern, Verzweiflung – Angst. Nicht einmal alle in Lumpen. Und der Schein, der von dem Kind ausging, breitete sich aus und umfing sie alle.

Etwas Weiches, Feuchtes rührte an den Versunkenen Hand. Es war Polly, der seine glänzenden Augen zu ihm aufhob. Markus streichelte den weichen Kopf des Tieres und öffnete ihm die Hüttentür. Er selbst folgte und zog leise die Tür hinter sich zu. Die Wolken über der Hütte hatten sich verteilt. Die Nacht war hell geworden.

Der alte Mann und das Kind

„Aber was machst du denn da, Andy?“ Der alte Herr im Sessel sagte es mit erschrockener Stimme. „Was du da baust, ist gar nicht schön.“ „Das soll auch nicht schön sein, es ist doch der böse Turm.“ „Der böse Turm? Aber den gibt es doch gar nicht.“ „Jawohl gibt es den“, sagte der Vierjährige mit fester Überzeugung. „Du hast es mir ja selbst erzählt.“ „Ich?“ „Ja, Du. Weißt du es denn nicht mehr?“ Der alte Herr im Sessel schüttelte den Kopf. – Hatte man diesem Kind von Gefangenentürmen erzählt? Aber auch die gab es wohl kaum noch, man wendete andere Methoden an.

Mit schlecht verhehltem Missmut sah er auf das Gebilde, das dem unerschöpflichen Baukasten entstiegen war. Ein gewiss beachtliches Machwerk, so hoch, dass es schon über die Tischplatte reichte. Jetzt kam dem alten Freund endlich die Erleuchtung. Aber schon erzählte der Kleine: „Ganz, ganz früher, so früher, dass man es garnicht zählen kann.“ — „Aber die Püppchen, unterbrach der Alte.“ „Das sind keine Püppchen. Das sind die bösen Menschen, die einen Turm bis in den Himmel bauen wollten. Und dabei wussten sie gar nicht, dass sie so dumm waren und hielten sich für sehr gescheit. Aber dem lieben Gott gefiel das gar nicht und er sagte, sie sollten aufhören. Aber sie machten weiter. So wurde er sehr zornig und schickte Donner und Blitz. Aber das störte sie gar nicht. Sie machten weiter. Und als sie beinahe oben waren und schon ein paar schöne weiße Wolken kaputt gemacht hatten, sagte Gott: Jetzt ist es genug und machte, dass sie auf einmal ganz verschieden sprachen und keiner den anderen verstand. Da hauten sie sich und schlugen sich tot.“

Schweigen. – Der kleine Baumeister beschäftigte sich verlegen mit seinen Püppchen. Endlich sah er unsicher zu seinem alten Freund hin und sagte: „Du sagst ja gar nichts. Hat dir meine Geschichte nicht gefallen?“ „Nein.“ „Weil sie von dem bösen Turm ist?“ „Nein.“ „Und jetzt bist du mir böse.“ Der alte Herr sah ihn durchdringend an. „Andy, wer hat dir die Geschichte so erzählt“, sagte er mild. Das gesenkte Köpfchen seines kleinen Freundes tat ihm leid. „Der Peter.“ „Welcher Peter?“ „Der Peter aus dem Kindergarten.“ „So? Er hat dir nämlich die Geschichte ganz falsch erzählt.“ „Der Peter ist sehr gescheit.“ „Unsinn, er kann ja noch nicht einmal lesen.“ „Aber die Tante kann es.“ Gegen diese Feststellung kam auch sein alter Freund nicht an. „Sie hat vielleicht ein anderes Buch, ein Kleinkinderbuch, in dem jemand die Geschichte falsch aufgeschrieben hat. Wie sie wirklich gemeint ist, steht in der Bibel.“

Dagegen war nichts zu machen. Andy, so klein er war, wusste das. Er ließ den bösen Turm einstweilen, holte sich sein Schemelchen, setzte sich zu Füßen seines alten Freundes und sah erwartungsvoll zu ihm auf. Aber es ging nicht ganz so schnell, wie er gehofft hatte. Er kannte das schon und wartete. Ja, es war nötig, dass man hierbei überlegte. Wie sollte man einem so kleinen Kind die Wege der Bibel erklären?

Andy hielt es nicht mehr aus. „Aber er war doch bestimmt sehr böse?“ – „Wer?“ fragte der alte Herr in Gedanken. „Der liebe Gott natürlich.“ „Aber nein, Andy. Ganz das Gegenteil ist richtig.“ Es steht ja deutlich in der Bibel: „Gott fuhr zu ihnen herab“, um ihnen zu helfen und sie zu überzeugen, dass sie so nie und nimmer zu ihm herauf kommen könnten. Weißt du, für Gott ist der große Turm ganz winzig klein. Aber Gott wusste, dass die Menschen kaputt gehen, wenn sie so weiter machen und sein wollen wie er. Darum hat er sie auf der Welt verstreut; und darum haben sie sich alle nicht mehr verstanden. Sie wurden böse auf einander und hassten sich. – „So kam der Krieg in die Welt“, seufzte der alte Herr. „Aber Gott ist nie böse. Er hat die Menschen lieb, nicht immer das, was sie tun. Darum ist ja der Heiland in die Welt gekommen.“

Andy drückte sich noch eine Weile verlegen an seinem Sessel herum. Er sagte nichts mehr. Dann kam es doch: „Weißt du, ich habe eigentlich gar nicht gern den bösen Turm gebaut. Aber es hat mich so gekitzelt, und dann habe ich‘s doch getan. Kennst Du das auch?“ – Und ob er das kannte! Dass man tat, was man eigentlich gar nicht wollte. „Ja, das kenne ich auch, Andy“, sagte der alte Herr. – „Und was macht man da?“ Er dachte an Gott und seine Vergebung. Aber Andy war noch nicht so weit. „Das macht man so“, sagte er und gab seinem Missgebilde einen Stoß, daß es zusammenflog und mit schrecklichem Lärm noch einige Tassen und Gläser vom Tisch mitnahm. Worauf eine erschrockene Frau Meier hereinstürzte, den Buben mit einem wütenden Blick, ihren Herrn mit einem ängstlichen bedachte, die Bauklötzer zusammenraffte, in den Kasten warf, ihn unter den Arm nahm und sprühend vor Zorn das Zimmer verließ.

„So, jetzt können wir nicht mehr bauen“, sagte der Kleine, indem er aus einem Schutzeck hinter dem Sessel hervorgekommen war. „Sie gibt ihn nicht mehr heraus und wir wollten doch die schönen Palmen aufstellen und eine Oase in der Wüste machen.“ „Sie gibt ihn schon wieder heraus“, sagte der Alte beruhigend. „Oh nein, wenn sie böse ist, dann ist sie böse“, meinte der Kleine. „Und es ist schwer, sie wieder gut zu machen.“ – „Weißt du was“, sagte der Alte. „Du malst ihr ein schönes Bild in deinem Malbuch und das schenkst du ihr morgen. Vielleicht den Blumenstrauß? Der ist am leichtesten. Mit deinen Buntstiften, natürlich. Nicht mit Wasserfarben. Das gibt zu viel Geplantsch.“ „Und was machst Du?“ fragte der Kleine. „Ich mache meine Augen ein bisschen zu.“ „Au, das ist fein. Da kannst Du mir beim Malen nicht zusehen. Das habe ich nicht gern.“ – „So, so“ – und der Alte machte wirklich seine Augen zu. Aber er schlief nicht.

Er überlegte, wie es mit Andy gekommen war. Es war noch nicht lange her, da hatte er nach seinem Frühstück geläutet. Das Frühstück war für ihn eine wichtige Angelegenheit. Aber sein Läuten hatte diesmal keinen Erfolg. Er läutete zum zweitenmal. Aber wieder erschien die getreue Frau Meier nicht mit ihrem Serviertischchen. Er läutete ziemlich aufgebracht zum drittenmal. Und richtig: Die Tür flog mit einem Knall auf und das Serviertischchen kam fast selbständig in sein Zimmer gerollt. Es dauerte eine Zeit lang, bis er dahinter eine kleine Gestalt entdeckte in rotem Pullover und mit einem blonden Löckchen über der Stirn, kerzengrad. Und diese kleine Gestalt im roten Pullover, die sagte: „So.“

„Ei, das ist ja eine schöne Einrichtung“, hatte er gesagt. „Wo ist denn die Frau Meier?“ – „Beim Lumpenmann“ – sagte der kleine Kerl und suchte sofort wieder zu entschwinden. Frau Meier kam jetzt ängstlich, sich tausendmal entschuldigend herein und ergänzte den Frühstückstisch noch mit allen möglichen guten Sachen. „Hat er sie belästigt?“ – „Im Gegenteil, amüsiert. Wie heißt er denn?“ „Andy.“ – „Wohl ein Enkelchen von Ihnen?“ Wusste der Herr denn nicht, dass sie gar keine Enkel besaß. Und dass dies ein wunder Punkt bei ihr war. In dem alten Stammhaus gab es nämlich ein Gesetz, sogar testamentarisch festgelegt, dass kein Teil von ihm vermietet werden durfte. Aber die Zeiten hatten sich geändert und Frau Meier mit ihrem gütigen Herzen hatte eine junge Flüchtlingswitwe aufgenommen, die ihren Mädchennamen trug, mit ihrem kleinen Sohn, links in dem abgelegenen Westflügel, der einen separaten Ausgang hatte.

Sie hatte das nicht auf ihre eigene Rechnung getan, sondern sich als Rückendeckung den Rechtsanwalt Recht geholt, der ein guter Freund und Vermögensverwalter ihres Herrn war. „Aber er wird wütend, wenn er das erfährt“ – hatte sie zu ihm gesagt. „Solange lassen Sie ihn doch in Ruhe. Er braucht ja gar nichts davon zu wissen. Wenn die junge Frau nur nicht in seine Nähe kommt und in Erscheinung tritt.“ Das war gut gesagt. Die junge Frau brachte das fertig, aber Andy war nicht zurückzuhalten. Hätte man Andy, wenn etwas sein Interesse erregte, noch auf seinen Stöberbesuchen aufhalten können?

So war es gekommen, dass sich seine Besuche wiederholten. Der alte Herr und der junge kleine Kerl mit dem Altersunterschied von nur 70 Jahren! So etwas war möglich. Die beiden verstanden sich prima. Und als Frau Meier noch den Baukasten aus irgend einem vergessenen Stilzimmer früherer Generationen herbeigezaubert hatte, war die Freude vollkommen. Der alte Herr erzählte von seinen Reisen und Andy suchte Illustrationen zu schaffen, die nicht ganz der Wirklichkeit entsprachen. Aber beide Bauunternehmer hatten die größte Freude daran. So war es zu einer dicken Freundschaft gekommen, die sie nicht mehr entbehren konnten.

Andy hatte sein Bild vollendet und zeigte es dem alten Freund. Es war zwar nicht ganz so geraten, wie er gern gewollt hätte. Ein paar Striche waren über die Blätter gekommen. Der Rosenstrauß war auf der anderen Seite entschieden etwas schöner. Aber Frau Meier hatte allen Grund, gerührt zu sein über diese Mühe, die sich der kleine Schützling gemacht hatte. Wer hätte denn noch Andy längere Zeit böse sein können! So gab sie am nächsten Morgen den Baukasten wieder her, damit die Oase in der Wüste mit einem Zelt und allem gestaltet werden konnte.

„Du bist ja so still und sagst gar nichts“ – sagte Andy, der zu einem ungewöhnlichen Nachmittagsbesuch zu seinem alten Freund gekommen war. „Freust Du Dich denn gar nicht, dass ich bei Dir bin?“ — Der alte Herr, der in ein Buch vertieft gewesen war, musste sich erst besinnen. „Natürlich freue ich mich, wenn du kommst, Andy! Selbstverständlich.“ „Aber Du hast ausgesehen, als ob Du noch böse wärst von gestern. Oder bist Du nur traurig?“ – „Böse, ganz bestimmt nicht und traurig? Weißt Du, das ist so. Wenn man alt wird, muss man an so vieles denken, was man früher falsch gemacht hat.“ – „Aber du hast ja gar nichts falsch gemacht. Du bist immer gereist und bist in viele Orte gekommen. Du hast zu den Menschen gesprochen in einem großen Saal, wo die Kränze von der Decke gehangen haben mit so viel Lichtern. Du hast ihnen gesagt, wie man Frieden machen kann. Und sie haben geklatscht und gejubelt und haben Dich gern gehabt.“ – „Andy“, sagte der alte Herr verblüfft. „Woher weißt Du denn das?“ „Vom Onkel Recht. Onkel Recht hat es meiner Mutti gesagt und die Mutti hat es der Frau Meier gesagt. Und sie haben gedacht, ich wäre eingeschlafen. Aber ich habe doch alles gehört, was Du alles gemacht hast. So lange bis Du krank geworden bist und nicht mehr weitermachen konntest. Aber das ist gar nicht so schlimm, wie Du denkst und Du brauchst gar nicht traurig zu sein. Du hast den Menschen gesagt, dass sie Frieden haben sollen. Und wenn ich groß bin, mache ich es genauso und sage es ihnen auch. Jetzt bringe ich Dir etwas, was Dich freut.“ Als der alte Herr aufblickte, war der Bub verschwunden. Er schüttelte den Kopf. Wie war das möglich? Wenn dies wahr war, was das Kind gesagt hat, dann war sein Leben vielleicht doch nicht vergebens gewesen. Schon war er wieder da. Er brachte ein Bild mit und legte es auf den Schoß des alten Freundes. „Die Mutti sagt: ‚Wer das ansieht, kann nicht mehr traurig sein.‘ Morgen hole ich‘s wieder. Jetzt muss ich zu ihr“, sagte er und war bereits wieder an der Tür …

Es war ein schönes Bild. Auf Glas gemalt hatte es alle Farben der Grundelemente des Lebens in sich vereinigt. Licht, Luft, Feuer, Wasser und Erde. Ein kleiner Bursche stand im Mittelpunkt, den Schlapphut tief in die Stirn gedrückt mit einer Geige im Arm, die er mit einem kräftigen Strich zu meistern verstand. Man hörte keinen Ton. Aber innen hörte man alles. Es war, als ob der See herauffunkelte und alle seine Farben und Geheimnisse schienen daraus zu ihm zu sprechen.

Der alte Herr drehte das Bild um. Da sah er auf der Rückseite ein kleines weißes Schild, auf dem sein Name stand. Groß und deutlich! Ein Strahl fuhr ihm ins Herz. Er wusste nicht, ob es Erschrecken, oder tödliche Freude war. Es war sein eigener Name, nicht der Name, den er jetzt angenommen trug nach der Flucht, die ihn hierher verschlagen hatte. Was hier stand, konnte nur bedeuten, dass sein Sohn diesen Namen getragen und geschrieben hatte. Er war also nicht gestorben mit der Mutter, die auf einer schönen spanischen Insel sein Kind auf die Welt bringen sollte. Von ihrem Tod hatte er gehört. Von dem Kind war nie die Rede. Es musste ein Sohn gewesen sein. Und der Sohn war irgendwo aufgewachsen und war der Vater seines Andy geworden. Deutlich erkennbar stand alles vor ihm. Andy war sein. Sein Enkel und Erbe.

Es gibt eine Sage, dass eine übergroße Freude tödlich sein kann. Die übergroße Freude wurde zu einer tiefen Glückseligkeit, die dem alten Mann die Augen schloss, um sie erst dort wieder aufzumachen, wo es keine Grenzen und kein Ende gibt. In der Ewigkeit.

NINA

„Au!“, sagte es neben ihr. Erschrocken fuhr Cornelie von der niedrigen Polsterbank in der kleinen griechischen Kapelle empor, in die sie sich vor dem Jahrmarktslärm geflüchtet hatte. „Tat ich dir weh?“ Ein energisches Schütteln eines schwarzen Köpfchens neben ihr. Sonst kein Laut. Aber die kleine Hand, auf die sie sich mit der vollen Wucht ihrer Erschöpfung gesetzt hatte, war in ihrer Hand geblieben, nachdem sie sich im Anfang verzweifelt gewehrt hatte, aber sich jetzt, die Wärme empfindend ergab. „Bist Du allein hier?“ fragte sie. Das Kind nickte. „Wo ist deine Mutti?“ – „Tot. Und Marietta auch. Aber Pa ist nicht tot.“ Es klang sehr energisch. „Er hat mir versprochen, ganz fest versprochen, nicht tot zu sein. Er ist bei Affen und Schlangen. Aber sie tun ihm nichts, weil er so lieb ist.“

Die letzten Worte versanken in einem Flüstern, denn jetzt kam von dem von Lichter strahlenden Altar eine Stimme. Unwillkürlich lauschte sie und auch das Kind schien zuzuhören, obwohl es doch weit über sein Fassungsvermögen gehen mochte, was sie sagte. Es war das Gespräch Jesu mit der Samariterin. Merkwürdigerweise kam ein Wort davon auf sie zu und bohrte sich in ihr Gedächtnis: „Und den du jetzt hast, ist nicht Dein Mann.“ Aber, was hatte sie damit zu tun? Sie hatte vor Richard niemals einen Mann angesehen und nun lebten sie schon fünf Jahre zusammen. Sie hatten bewusst eine Ordnung verletzt, weil ihnen die eigene wichtiger erschien. Aber war es nicht manchmal so, dass eine Ordnung, wenn sie noch so fein durch viele Kanäle lief, einem nach Jahren ansehen konnte als etwas, was versäumt, oder unwiederbringlich verloren war? Unwiederbringlich? Diese Ordnung konnte wiedergefunden werden, aber es lag nicht in ihrer Hand. Sie wagte nicht zu fragen, wie Richard darüber dachte. Er, von dem sie alles wusste, nur dieses eine nicht. Auch bei der Ferienreise, von der sie gerade zurück kamen, hatte sich keine Gelegenheit gefunden, dass sie darüber sprechen konnten.

Die Orgel fing an, zu brausen. Erst jetzt fiel ihr das Kind wieder ein, dessen Händchen immer noch geduldig in ihrer Hand lag. Sie wunderte sich, dass es sich nicht erhob, denn jetzt war der Gottesdienst geschlossen. Die Türe ging auf und eine große südländisch geformte Laterne beleuchtete den Eingang, in deren Licht ein junger Mann stand, dessen ziemlich ungepflegtes Bartgestrüpp die Jugend verdunkelte. Es war Richard. Er sah sich um. Aber jetzt war das Kind aufgestanden. Ein leiser Schrei. Dann ein Jubellaut, wie aus einem glückseligen kleinen Herzen. Langsam ging sie auf den Mann zu und sagte mit zitternder, nicht glauben könnender Stimme: „Pa“! – Er konnte das Kind gerade noch auffangen und hob es empor. „Nein, kleine Nina, Dein „Pa“ bin ich nicht, aber der Onkel Dr., der Euch in Athen einmal besucht hat. Kannst Du Dich erinnern?“ Das Kind nickte heftig. Er zog ein kleines Kästchen aus der Tasche, entnahm ihm eine winzige Pille und schob sie in ihren Mund: „Hier, nimm, es schmeckt süß. Dann trage ich Dich in unser Auto und fahre Dich heim.“ Das Kind schluckte gehorsam. Er hörte noch wie es sagte: „Nicht heim, nicht heim.“ Dann war es eingeschlafen.

Cornelie hatte staunend den kleinen Vorgang miterlebt. „Ich dachte zuerst, es sei ein Gastarbeiterkind. Aber das kann es doch nicht sein, dem Aussehen nach.“ Und sie folgte ihm ins Auto, während das Kind, von ihm sorgsam gebettet, in einer Ecke schlief. „So, jetzt können wir reden“, sagte er aufatmend. „Nein, ein Gastarbeiterkind ist die kleine Nina nicht. Erinnerst Du Dich denn nicht mehr? Ihr Bild ging doch durch alle Zeitungen. Dies kleine Geschöpf ist die einzig Überlebende einer bedeutenden Forscherfamilie, deren umfangreiche Sammlungen bereits in München gelandet sind. Die kleine Nina ist voraussichtlich eine reiche Erbin.“ Cornelie betrachtete das dunkle Köpfchen, das so vertrauensvoll in eine Ecke des Autos angeschmiegt war. „Das arme Kind“, sagte sie. Auf diese Antwort kam ein Lachen ihres Mannes. Dann aber besann er sich: „Ja, es ist wirklich ein armes Kind, Du hast recht.“ „ Aber wie kam sie in die Kapelle?“ „Sie wollte vielleicht einmal wieder sprechen hören, wie zu Hause gesprochen wurde.“ „Aber sie spricht doch gut deutsch“, sagte Cornelie verwundert. Da waren sie schon an der Freitreppe des Hauses angelangt.

Richard nahm das kleine Geschöpf auf den Arm und trug es herein. Es war noch nicht einmal große Aufregung wegen ihres Verschwindens gewesen. Es war sogar jetzt erst gemerkt worden. Als die Dame, deren Obhut es anvertraut gewesen auf dem Jahrmarkt, in großer Angst und Sorge herein gestürzt kam und die Oberin schon den Hörer in der Hand hatte, die Polizei anzurufen. Da kam der junge Arzt in diesem Augenblick und legte es auf den Sessel neben sie. Tief erleichtert sah sie ihn an. „Aber was nun? Sie sehen mich in großer Verlegenheit, Herr Dr. Unser Heim wird morgen für ein halbes Jahr geschlossen wegen baulicher Veränderung. Unsere Kinder sind schon alle abgeholt. Aber mit Nina wissen wir nicht, wohin. Die Dame, der sie durchgegangen war, weigert sich, sie aufzunehmen, nachdem sie es zuvor versprochen hatte. Ich selbst kann sie nicht mitnehmen. Ich fahre morgen zu meiner todkranken Mutter.“

Das Kind war aufgewacht und hatte sich zutraulich zu Cornelie gewandt, die es auf den Schoß nahm und streichelte. „Willst Du bei uns bleiben?“, fragte sie an dem Ohr des Kindes. Wieder das heftige Nicken des schwarzen Köpfchens. „Ja, geben Sie Nina uns mit“, sagte Dr. Richard. „Es ist doch das einfachste. Meine Frau und ich sind Kinderärzte und das Kind hat ein leichtes Fieber durch all die Aufregung.“ „Ja, das wäre freilich eine große Gefälligkeit“, sagte die Oberin, aber vorher leider noch eine Frage: „Sie haben doch nicht die Absicht, Nina zu adoptieren?“ Der Doktor schüttelte lachend den Kopf. „Keine Ahnung, an so etwas dachten wir natürlich nicht.“ Ein Blick von Cornelie traf ihn, und machte ihn stutzig. „Es ist nämlich dies“, sagte die Oberin und eine leichte Verlegenheit schien über sie zu kommen. „Ich habe ihrem Vormund, der sie hierher brachte, das feste schriftliche Versprechen geben müssen, dass ich das Kind nur in einen geordneten Familienkreis geben dürfe, zwecks einer festen Bindung.“ Ihr Verlegenheitsausdruck vertiefte sich. Sie sah die junge Frau an. „Ich weiß, Sie sind unverheiratet und beide berufstätig. Sie können dem Kind nicht bieten, was von mir verlangt wurde.“ „Aber ich bitte Sie“, sagte der junge Doktor. „Wer wird von so fern liegenden Dingen heute schon sprechen. Geben Sie uns das Kind ruhig mit. Sie wissen, dass Sie mir vertrauen dürfen und meiner Frau ebenso.“

Das Auto fuhr durch einen schattigen, gut gepflegten Park, auf dessen Wegen mit den Lichtungen die abgefallenen Blüten der Kastanien lagen, dicht, wie ein rosiger Teppich. „Wohin fahren wir?“, fragte Nina. „Zu einem lieben Opa, der sich freuen wird, Dich zu sehen, denn er hat Kinder sehr gern.“ „Kann er deutsch?“ fragte das Kind. Sie mussten beide lachen. „So gut, wie Du und ich“, sagte Dr. Schmidt. „In Athen konnte es nur Pa, die andern alle nicht.“

Es wurde hell um sie. Das Gebüsch teilte sich vor einem breiten quadratischen Hof mit dahinter liegenden weißen Haus, dessen Flügel rechts und links ihn umschlossen und alle Ankommenden freundlich in seine Arme zu nehmen schien. Aber die Freundlichkeit verwandelte sich sofort in das Gegenteil. Ein riesiger grauer Jagdhund stürzte von der Terrasse aus mit lautem wütenden Gebell auf sie zu, so dass Cornelie das Kind schnell an sich riss und es emporhob, um es vor seinem wütenden Angriff zu schützen. Aber das erwies sich als nicht nötig. „Caesar“, rief das helle Stimmchen des Kindes, „das ist ja Onkel Ott‘s Caesar!“ Sofort verwandelte sich das Gebell in Freudentöne, die fast wie Jauchzen klangen. Der Hund schmiegte sich an das Kind, das seinen Arm sofort um seinen Hals schlang.

In demselben Augenblick kam ein älterer Herr die Stufen der Terrasse herab, um den Hund zurück zu rufen und sein Gesicht nahm sofort einen erstaunten und sehr unangenehm berührten Ausdruck an. „Nina“, rief er. Wie kommst Du hierher? Ich hatte Dich doch nach H. gebracht. Mit wem bist Du – – –?“ „Mit Pa und Ma“, sagte das Kind ganz selbstverständlich. Und wie es den entrüsteten Ausdruck des Entgegenkommenden bemerkte, fügte es hinzu: „Es ist nicht mein richtiger Pa, weißt Du. Aber er hat es mir heute Nacht gesagt, dass ich ihn ruhig so nennen sollte, Ma auch.“

Cornelie und ihr Mann, nachdem er das Auto versorgt hatte, kamen auf die Terrasse, wo Corneliens Großvater in all seiner Stattlichkeit und Rüstigkeit in seinem Sessel saß. „Nun, mein Wildling“, sagte er. Es war seine gewöhnliche Begrüßung. Er war der Einzige von allen Verwandten, der nicht den Boykott über die nicht volIzogene Ehe teilte, und Verstehen dafür hatte. Der alte Herr hatte inzwischen das Kind an sich gezogen und sah ihm forschend und zugleich liebevoll in die großen blauen Augen, die ohne jede Furcht zu ihm aufgeschlagen waren.

Inzwischen war die sehr kühle, fast an Nichtachtung grenzende Begrüßung des Onkel Ott mit Dr. Schmidt und seiner Frau erfolgt. Dann war der Professor, entschieden der geheimnisvolle Vormund, wie Cornelie sofort erriet, auf den Flur gegangen. Sie hörte ein Telefongespräch, das aber keine Antwort fand. Mit gefalteter Stirn kam er wieder heraus. Cornelie fühlte, dass sie sich jetzt einzuschalten hatte. „Ich glaube, wir sind Ihnen einige Erklärungen schuldig“, sagte sie und erzählte mit kurzen Sätzen, wie sie das Kind gefunden und in welcher Notlage sie die Oberin angetroffen hatte. „Es ist mir trotzdem unfassbar und Sie dürfen es mir nicht verübeln, wenn ich immer noch nicht verstehe, wieso sie, die mir als äußerst korrekt empfohlene Oberin, gerade dieses Kind so mir nichts, Dir nichts, entschuldigen Sie, in fremde Hände geben konnte, ohne mir vorher die geringste Mitteilung zu machen, die die Schließung des Heims für einige Zeit vorsah. Ich halte es doch für richtig, wenn Sie mir ihre Adresse geben könnten, um selbst noch einmal zu der Dame zu fahren.“ – „Darf ich Sie noch ausdrücklich versichern“, entgegnete Dr. Schmidt, „dass die Kleine ohne Rechte und Bedingungen einige Zeit in unseren Schutz übergegangen ist. Welche Bedingungen einer Adoption entgegen stehen, wissen wir durch die Oberin sehr genau. Es wäre auch ohne dies nicht infrage gekommen, nachdem wir mit den näheren Umständen vertraut waren. Ich möchte nicht gern für einen Erbspekulanten gehalten werden.“ „Trotzdem möchte ich persönlich Fühlung mit der Dame aufnehmen, der ich das Kind anvertraut hatte.“

Inzwischen hatte sich eine Zuneigung auf den ersten Blick zwischen dem Wahlopa und der Wahlenkelin vollzogen. Sie saß bereits auf seinem Knie und erkundigte sich soeben sehr genau nach ihren Befugnissen in der Kindersprache: Was man hier dürfe und was nicht. „Du darfst alles, wenn Caesar bei Dir ist, durch den Park laufen, zu den Ställen, wo die silberblanken Apfelschimmel stehen. Der Kutscher Detio wird Dir das Pony zeigen und Dich darauf heben. Nur eines darfst Du nicht. Du darfst den Park nicht verlassen und Caesar muss immer bei Dir sein.“ Nina rutschte von Großvaters Knie, machte einen zierlichen Knix und war wie ein Wirbelwind verschwunden.

Cornelie hatte sich abgewandt und zu ihrem Großvater gesetzt. Die Verhandlungen waren ihr peinlich. Sie überließ sie ihrem Mann. Aber bald wurde sie wieder aufmerksam, als der ältere Herr, der sich noch nicht einmal vorgestellt hatte, sagte: „Sie werden verstehen, dass ich jetzt als einzig Überlebender der Familie und Ninas Vormund, die volle Verantwortung für das Kind übernehme. Ich nehme sie noch heute mit nach Freiburg in mein Haus, das schon vor der Überbringung in das Kinderheim ihre Heimat war, allerdings nur für kurze Zeit. Meine Haushälterin, ein lieber und warmherziger Mensch wird für sie sorgen.“ „Aber man müsste das Kind doch wenigstens fragen“, meinte Dr. Schmidt. „Das kann sofort geschehen“, lachte der Professor. „Sie werden staunen.“

In demselben Moment kam Nina, voll von Erlebnissen, die sie berichten wollte, heraufgesprungen. Sie kam aber nicht dazu, denn ihr Onkel fragte sogleich: „Nina, willst Du mit mir und Caesar nachher nach Freiburg fahren zu Tante Carle in das schöne Haus? Du kennst es ja.“ Dr. Richard Schmidt sah das Freudenleuchten über das kleine Gesicht fliegen und wandte sich ab. Immerhin sagte Nina: „Aber Pa und Ma fahren doch mit.“ „Das geht leider nicht“, sagte der Onkel und strich über ihr Haar. „Sie müssen heimfahren und kranke Kinder gesund machen, da haben sie wenig Zeit, mit Dir zu spielen.“ „Aber besuchen können sie uns doch, sie haben ja ein Auto“, sagte die Kleine und schlüpfte zu Cornelie hinüber, die unbeweglich saß und das Ganze, das auf sie zukam, zu fassen versuchte. Inzwischen sagte der Professor zu Dr. Schmidt: „Sie und Ihre Frau, haben Sie es sich denn nicht überlegt, dass Sie das, was Sie versprochen haben, nicht erfüllen können? Sie sind beide unverheiratet und berufstätig. Natürlich, es gibt Pflegeschwestern, Hauspersonal usw. Aber das Kind käme unwiderruflich in eine Krankenhausatmosphäre hinein, aus der sie doch gerad befreit werden sollte. Ich hätte sie nie in das Heim gebracht, wenn nicht der Wunsch ihres Vaters – der dringende Wunsch, sie müsse unter Kindern aufwachsen, mir vor seiner Abreise ans Herz gelegt worden wäre.“

Dr. Schmidt sah ein: Da war nichts zu machen. Es ging hier um das Wohl des Kindes, nicht um seiner und Corneliens Freude. Er sah nach ihrem Sessel, aber der war leer. Sie war ins Haus gegangen und hatte sich in den kleinen Salon zurückgezogen, dort in die finsterste Ecke gesetzt und versucht, ihr Herz, das ihr in zwei Teile zerbrochen schien, wieder dürftig zusammenzuhalten. Aber es geschah doch noch etwas. Ein kleines, weißes „Etwas“ huschte herein, zwei frische Kinderlippen pressten sich auf ihren Mund – dann war der weiße Schein wieder verschwunden. Cornelie stand nicht auf. Sie mochte die Abfahrt nicht sehen, die ihr das Kind entführte. Das Kapitel „Nina“, oder – war es nur ein Traum gewesen? war zu Ende.

Mitten aus einem Gespräch heraus, sagte der alte Herr: „Sieh mich nicht so ängstlich an, Kind. Es gibt Zeiten im Leben, wo ein Groß-Reinemachen am Platze ist. Das scheint ein Gesetz zu sein und es ist ein gutes Gesetz, nur darf man das Signal dazu vorher nicht überhören wollen.“ Richard trat in diesem Augenblick herzu und verabschiedete sich von dem Großvater. Er hatte sich schon vorher mit seiner Frau verständigt, dass sie sofort nach Hause fahren wollten. „Unser alter Herr hat Gäste heute Abend und wir sind wohl beide nicht in der Stimmung dazu, dabei zu sein. Er hat uns auch nicht aufgefordert.“

Cornelie drückte leicht die Hand ihres Großvaters und folgte ihrem Mann ins Auto. Sie wusste genau, was der alte Herr gemeint hatte. Seit heute früh in der Kirche wusste sie es. Aber stand es denn in ihrer Macht? Immer wieder war das große „Nein“ da, das sie fürchtete. Auf der einstündigen Fahrt nach Hause schlug es die grauen Fledermausflügel um ihren Kopf und verwirrte sie völlig. Ihr Mann, der sie genau zu kennen meinte, rätselte an einem Blick, mit dem sie ihn angesehen hatte und konnte ihn nicht deuten. Hatte sie der Abschied von dem kaum gewonnenen und wieder verlorenen Kind so tief getroffen? Ja, auch ihm tat es leid. Aber waren sie denn nicht Abschied gewohnt in ihrem Beruf, Abschiede, schmerzlichere wie dieser? –

Sie hatten ihr Schwarzwaldhäuschen, das sie selbst erbaut und erspart hatten, erreicht. Cornelie trug Säfte zu trinken und Zigaretten herbei und ein zierlich angerichtetes kaltes Abendbrot. Aber beiden fehlte jeglicher Appetit. „Ich weiß nicht, ob es Dir auch so ist“, sagte Richard und strich sich über die Stirn. „Wir waren seither doch so zufrieden und haben vergnügt gelebt, aber jetzt scheint, wenigstens mir alles schief zu gehen. Das Kind ist uns sogleich wieder entrissen worden. Die Stelle, um die ich mich beworben hatte, ist einem Verheirateten zugefallen. Sogar Irrtümer, die mir sonst nicht passieren, kommen vor. Was soll man nur machen? Das Wort Pechsträhne habe ich von jeher gehasst und abgelehnt.“ Sie sah ihn an. Das Signal war da. „Wir müssen uns trennen, Richard“, sagte sie leise. „Wir haben irgendwie die Ordnung verletzt und wir müssen sie wieder herstellen. Wenn ich erst gegangen bin, wird alles gut für Dich werden. Du wirst wieder zur Ruhe kommen, zur Sicherheit in Deinem Beruf.“

Fassungslos sah er sie an. „Trennen?“ Er sprang auf und seine Augen blitzten zornig. „Weißt Du denn nicht, dass es dies nicht mehr für uns geben kann? Trennen, nein diese Vokabel steht nicht in meinem Wörterbuch. Versuche es und immer werde ich da sein. Ich werde Dich lieben und wärest Du am äußersten Meer.“ Er erschrak, dass er diese Psalmstelle [139,9] auf sich selbst angewendet hatte. Er fing sich wieder und sagte ruhig: „Da bleibt nur eines, ich werde Dich Hals über Kopf heiraten, damit ich Dir Deinen dummen, hübschen Schädel zurecht setzen kann und mich Dir als einzigen dickköpfigen Patienten anbieten, der Dir mehr zu schaffen machen wird, als Dein großer Kindersaal.“ Cornelie saß wie betäubt. Sie hatte gar nicht mehr zugehört, was er sagte. Wie ein Regen von weißen Blüten war es über sie gefallen. Ja, das „Nein“, das sie so gefürchtet hatte, war gekommen als ein einziges, glückseliges „Ja“!

Das Auto, das sie von der Trauung heimgefahren hatte, hielt vor ihrem Haus. Als sie ausstiegen, sahen sie, dass rechts und links von taktvollen Kollegen geschickt, Blumen um Blumen standen. Und als sie die Stufen hinaufgingen, wären sie fast über ein Hindernis gestolpert. Da lag die kleine Nina, fast schlafend, das dunkle Köpfchen auf das silbergraue Fell des treuen Caesar gedrückt, der kaum wagte, aus Freude ein wenig zu jaulen, um das Kind nicht zu wecken. Cornelie bückte sich und trug ihr Kind, das immer noch fest schlief, in eines der kleinen Kinderbetten, die immer für genesende Kinder bei ihr bereit standen. Und Caesar, der ihr gefolgt war, legte sich auf die Matte davor, als ob das selbstverständlich und immer so gewesen wäre. Richard war zu ihr getreten. Sie entdeckten einen Zettel an Ninas Kleid und lasen die Worte in einer flüchtigen Gelehrtenschrift: „Sie ließ mir keine Ruhe. Sie wollte zu Euch und jetzt ist ja wirklich kein Grund, dass es nicht sein könnte.“ Sie sahen sich beide an. Durch das offene Fenster kam das Geräusch eines sich rasch entfernenden Autos. Caesar hob den Kopf. Auch Nina rührte sich jetzt. Und als Cornelie sich über das kleine Bett beugte, sah sie in die aufstrahlenden Augen ihres Kindes.

Der Bettler

Klaus und ich hatten uns vorgenommen, eine Ehe ganz besonderer Art zu führen. So jung wir waren, hatten wir doch in verschiedene Verbindungen hineingesehen und als Kernpunkt allen Übels den Zwang erkannt. Die mangelnde ehrfürchtige Distanz vor dem unantastbaren Alleinrecht des Anderen. Bei uns sollte es nicht so sein. Wir schrieben Freiheit auf unser Panier und waren uns so sicher, dass wir sie nie missbrauchen würden.

Aber nun kam die Glückseligkeit der Hochzeitsreise. Wir durchstreiften alle Münchener Galerien, saßen an dickbauchigen Humpen im Hofbräuhaus, von denen ich keinen einzigen zu Ende trinken konnte. Aber wofür hat man denn einen Mann? Wir saßen im englischen Garten, durchwanderten die Isaranlagen, speisten abends in einem der gemütlichen Bräus und waren glücklich wie man es auf der Hochzeitsreise nur sein kann.

Aber es kam ein Tag, an dem wir es mit der so oft beschworenen Freiheit Ernst machen mussten. Es war vorher so bestimmt und nichts daran zu ändern. So fuhr ich nach Oberammergau und Klaus mit einigen Studienfreunden auf die Zugspitze. Es tat uns schmählich leid, uns zu trennen, aber mein Vater hatte mir die Karte für die Passionsspiele schon zu Weihnachten geschenkt, als der Termin unserer Hochzeit noch gar nicht feststand. Mit Klaus Verabredung war es ähnlich. Nun wäre es ein Leichtes gewesen, den reservierten Platz zurückzugeben bei dem internationalen Ansturm auf die Festspiele und Klaus hätte seine Verabredung zur Not auch rückgängig machen können. Aber wir taten es nicht. Wir trennten uns mit mühsam aufgebrachter Haltung. Schon im Abteil des D-Zuges mußte ich fürchterlich Schnupfen heucheln, denn die Tränen kamen unaufhaltsam. Wie es Klaus zumute war, hat er mir nie verraten. Aber er war schließlich unter Freunden und ein Mann. Meine Stimmung wurde nicht besser, als ich mich in Oberammergau in einem winzigen Stübchen untergebracht fand. Ein „Finkennäpfchen“ als Waschschüssel und ein Glassturz über einem Silberkranz auf der Kommode und sehr viel Heiligenbilder an den Wänden. Voriges Jahrhundert! Aber das waren nur unwesentliche Nichtigkeiten.

Auf einer der letzten Reihen des Festspielhauses war mein Platz. Schon nahm mich das Größte aller Geschehen in seinen Bann. Ich erlebte die Gefangennahme, das Verhör vor Pilatus, sah die verhöhnte Leidensgestalt mit dem Blick der Gottheit und des überwindenden Sieges. Ich fühlte den Blick auf mich gerichtet und – konnte auf einmal nicht mehr. Unbemerkt ging ich hinaus. Ich ertrug es nicht länger. Die Erkenntnis meines dürftigen, bettelhaften Menschseins hatte mich getroffen. Das Bewusstsein irdischen Versagens mit einer Gewalt erfasst, die mich wie auf die Flucht hinaustrieb. Nicht weit von der Festhalle fand ich eine Bank hinter Gebüsch verborgen. Aber sie war nicht leer. Eine Männergestalt in graubrauner Kutte, die Kapuze tief über die Stirn gezogen saß darauf. Als ich vor ihm stand, hob er den Kopf und sah mich an, nein, nicht mich, über mich hinweg wie in einen Abgrund des Grauens. Nie hatte ich einen Ausdruck solcher Verzweiflung, solch hoffnungslosen Vernichtetseins in einem Menschenantlitz gesehen. Ein Bettelmönch, ein Mensch in innerster Not. Fassungslos griff ich nach dem Täschchen, in das mir meine Mutter einen Schein für eine besondere Reisefreude gelegt hatte und legte es in seinen Schoß. Dann wandte ich mich wie in Scham und ging langsam zur Halle zurück. Ich vergrub mich förmlich auf meinem Platz. Und doch war eine Welle der Erleichterung über mein Herz gezogen. Etwas Winziges war geschehen. Ein Hauch, wie vom Wehen eines Schmetterlingsflügels und doch stark genug, um mich ahnen zu lassen, was ich nie verstand, das Erlöstsein einer sündigen Menschheit durch das Kreuz.

Auch jetzt schlüpfte ich hinaus, ehe der Ansturm der Massen den Eingang füllte. Zuerst erkannte ich die Gestalt nicht, die auf mich zukam, so sehr war ich noch mit dem eben Erlebten beschäftigt. Dann sah ich den, den ich am wenigsten hier zu sehen erwartet hatte, meinen Mann. Verwirrt, wie eine Erscheinung starrte ich ihn an. Er schlang den Arm um mich und führte mich, die Menge der Herausströmenden geschickt vermeidend genau zu der Bank, auf der vorhin der Bettler gesessen hatte. Er setzte sich und zog mich neben sich. Noch immer war ich zu betäubt, um zu fragen. Ich lehnte meine Stirn an seine Schulter und weinte unaufhaltsam, linde, erlöste Tränen. Er ließ mich ruhig weinen.

Dann zog er mein Täschchen, das ich dem Mönch geschenkt hatte, aus dem Mantel und gab es mir. „Das soll ich dir zurückgeben“, sagte er. „Wie?“ fragte ich entsetzt. War meine kleine Gabe, mein winziges Opfer zurückgewiesen worden? Oder war es ein Gelübde, das den Mönch hinderte, es anzunehmen? Noch sah ich die Augen tödlichster Verzweiflung ins Leere starren. Klaus nahm meine Hand. „Es war kein Mönch, Schatz“, sagte er sanft. „Aber er war doch arm, die Kutte – –.“ „Hast dich getäuscht. Nein, er war kein Armer. Er brauchte dein Geld nicht. Er brauchte etwas anderes und das hast du ihm gegeben. Gerade du in einer seltenen Stunde.“ „Aber, wie konnte er denn wissen?“ „Dass ich dein Mann sei? Ja, das wusste er freilich nicht. Ich muss ihm wohl vertrauenswürdig erschienen sein. Und es war gerade kein anderer da. Zudem, deine Adresse lag in dem Täschchen. Vielleicht hat er auch nicht viel darüber nachgedacht. Er strahlte, als er es mir gab. Als er sich erhob und einen Augenblick vor mir stand, eine Elendsgestalt wie sie nur Barlach hätte schaffen können, hätte ich ihn selbst für einen Bettler gehalten. Aber, wie er die Kutte über der Brust zusammenzog, blitzte es an seiner Hand wie Feuer auf, das Feuer eines Diamanten. ‚Bitte zurückgeben‘, sagte er mit fremdem Akzent. Dann ging er, ohne sich umzusehen, nicht gebückt, in geradem, aufrechten Gang. Ein Bauer kam vorbei. Er deutete mit dem Daumen über der Schulter auf den Davongehenden. ‚Der spinnt!‘ Und spöttisch: ‚Der könnte unsere Festhalle mit allem drin aufkaufen und läuft so herum.‘ ‚Vielleicht ist er krank?‘, fragte ich erstaunt. ‚Krank? Ja, der muss krank sein, der so in die Hölle starrt, dicht vor unserem Spiel.‘ Kopfschüttelnd ging er weiter.“

Ich konnte nicht all das gleich verarbeiten, es war zu merkwürdig. Endlich kam ich in die Wirklichkeit zurück und fragte: „Und Du, Klaus, wie kamst Du plötzlich hierher? Wir hatten uns doch die Freiheit versprochen, Du und ich?“ „Und wenn dies der beste Teil meiner Freiheit gewesen wäre, hier bei Dir zu sein?“ Ich sah mich um. Neugierige Blicke der Vorübergehenden streiften uns. Was kümmerte es mich? Ich schlang die Arme um ihn und küsste ihn.

Die Nacht des kleinen Achim von Pourtalés

– Eigentlich hieß der kleine Achim: „Achim Müller“, und von seinem anderen Namen wusste er vorläufig nicht das Geringste.

Mit dem kleinen Achim war es so gegangen: Er kannte bis jetzt nur Baracken und Fabrikschornsteine, und von der Flucht, an die er sich noch dunkel erinnerte, war eine Angst in seinem Herzen geblieben, die ihn in der Schule und beim Spiel, bei Turnen und Baden verfolgte und über die er nicht Herr werden konnte, namentlich, weil er sie fest in sich verschloss und doppelt darunter litt, weil er sich ihrer schämte und kein Mensch davon wissen sollte. – –

Wem hätte er sie auch klagen sollen? – Der Nachbarin, die ihn so um Gotteswillen mitgenommen hatte, weil seine Mutter erschossen vor der Türe lag und der Vater mitgeschleppt worden war, – und die mit ihren fünf Rangen genug zu tun hatte. – Da war es eine wahre Erleichterung für sie und für den kleinen Achim ein sonderbares Geschehen, mit dem er noch nicht so recht fertig wurde, als ein Onkel, ein Vetter seines Vaters erschien, und ihn nach langer Bahnfahrt an einen blauen See versetzte, der in der Schweiz lag und in ein hochgetürmtes und gegiebeltes Schloß an seinem Strande, in dem er der oberste Verwalter war. –

Nicht, dass der Onkel besonders erfreut und nett gewesen wäre, er war ein älterer, etwas bärbeißiger Kriegsinvalide, der allein mit einer ebenfalls älteren Schwester wirtschaftete, die meist an der Pforte sitzen und Eintrittskarten verkaufen musste, denn niemand durfte Schloss und Park besuchen, der nicht einen halben Franken bezahlt hatte. –

So blieb der kleine Achim meist sich selbst überlassen und wanderte mit großen Traumaugen in den riesigen verschlungenen und verzweigten Parkwegen umher und staunte zu den uralten Baumpyramiden hinauf, sah die leuchtenden Blumenbeete am Wegrand, gruselte sich durch die dunklen Hallen des Hainbuchenganges hindurch und saß schließlich auf der Mauer, sah über die blaue Weite des Sees hinüber nach den Bergen und wieder zu den kleinen Schiffen, mit den schimmernden Segeln, und hörte die Brandung an die Mauer schlagen, wenn ein weißer Dampfer majestätisch vorüberzog. –

Dann, wenn er genug geschaut hatte, fasste ihn plötzlich die alte Angst und er lief wie gejagt durch die Wege, bis er die vertraute Schlossmauer, über und über mit Schlingkraut bewachsen, vor sich sah. –

Aber eines Tages, in einer sonnenheißen Mittagsstunde, als der Park völlig menschenleer war und Onkel und Tante ein Mittagsschläfchen hielten, bekam der kleine Achim einen Freund. – Es war vielleicht eine Erinnerung an das schöne Märchenbuch, das er einst besessen, und aus dem ihm seine Mutter erzählt und vorgelesen hatte, denn lesen konnte er damals noch nicht, dass er sich gar nicht wunderte, als das Gänsemännchen, auf dessen kleinen, runden Brunnensockel er saß, mit ihm zu sprechen anfing. –

„Fein, daß Du hier bist, Achim“, – sagte es mit ein wenig heiserer Stimme, die aber doch, gerade so wie sie war, gut zum Rauschen des Wassers passte, das seine Gänse, die er rechts und links unter den beiden Armen hielt, unermüdlich und geduldig aus ihren Schnäbeln spieen. –

„Weißt Du, ich bin hier ziemlich allein, so viele auch vor mir stehen bleiben und mich angaffen, ich bin hier fremd wie Du, denn eigentlich gehöre ich nach Nürnberg. Aber es ist gar nicht mehr schön dort, so bin ich ganz zufrieden hier zu sein, denn so etwas Schönes wie unseren Park hast Du wohl noch nicht gesehen, wie?“ – –

„Nein“, sagte der kleine Junge, „aber weißt Du, er ist ein bisschen groß und manchmal so dunkel, da bin ich immer froh, wenn ich bei Dir bin!“ —

„Angst musst Du nicht haben, Achim, die ist nur für Leute, die einem nicht gerade in die Augen sehen können. Stell‘ Dich mal stramm vor mich hin und sieh mich an!“ – Achim tat es. – „Nein“, sagte das Gänsemännchen, „zu denen gehörst Du nicht! – Aber es ist noch etwas in Deinen Augen, was mir bekannt dünkt. Sag‘, heißest Du wirklich Müller?“ –

Achim riss die Augen unwillkürlich noch weiter auf, die doch schon so groß und blau von Natur waren: „So hab‘ ich immer geheißen, die Nachbarin sagte es und früher die Mutter.“ – Er sah sehnsüchtig an dem kleinen Steinmann vorbei und es war, als ob die Gänse einen Augenblick den Atem an- und mit Wasserspeien innehielten. – Es war still – mittsommerlich heiß und still. – Auch das Gänsemännchen schwieg – aber, als Achim an seinen Steinsockel gelehnt, der an dieser Stelle ein wenig Moos hatte, gerade einnicken wollte, sprach es auf einmal wieder. „Ja, es ist schön hier, wenn die Wassersträuer auf den Rasenflächen funkeln und sich wie Tänzer in Schleiergewändern um sich selber drehen, wenn die Linden duften, wie eben jetzt, und die vielen Blumenbuchstaben in den Teppichbeeten, rot – blau – golden – lila — ihren Text flüstern, – am Morgen, wenn der See grau ist und urplötzlich im ersten Sonnenlächeln erblaut, – am Abend, wenn er perlmuttfarben sich dehnt und wellt und sich ausbreitet wie schimmernde Seide. – All das ist schön, aber es ist nichts gegen die Nacht, glaub‘ es mir, Achim, die Nacht ist das Aller-Allerschönste! – Da solltest Du einmal hier sein, Freundchen, lässt sich das nicht machen?!“ –

„In der Nacht muß ich schlafen, sonst schilt die Tante“ – sagte der kleine Junge schläfrig, – „aber sie lässt das Fenster auf, da kommen die bösen Träume herein, weißt Du, die von früher – da fürchte ich mich, – oh, in der Nacht ist es schrecklich – Angst – immer Angst – –“ – ! —

„Was Du nur immer mit der Angst hast!“ – sagte das Gänsemännchen ein wenig ungeduldig und hielt die eine Gans schief, dass es auf Achim spritzte. – „Nein, hier ist die Nacht nicht schrecklich und wenn Du einmal darin gewesen wärest, wäre die Angst fort, das schwöre ich Dir!“ – Das Gänsemännchen reckte sich und hielt die Gans wieder gerade. –

„Meinst Du wirklich?“ – zweifelte das Kind, „aber die Bäume, die so hoch, so schrecklich dunkel und finster auf mich herabschauen, – eben schon, am Tag, – wie werden die erst schwarz in der schwarzen Nacht sein!“ –

„Du musst Dir ja gerade keine dunkle Sturmnacht aussuchen“, – beruhigte das Männchen. „Und hast Du nie daran gedacht, dass die spitzen, dunklen Baumpyramiden wie Finger in den Himmel deuten, in den Himmel, wo doch Deine liebe Mutter ganz bestimmt jetzt ist?“ – „Ja, das ist wahr!“ – staunte Achim und sah mit ganz anderen Augen, ja ganz glücklich, zu einer besonders hohen Zypresse hinauf, vor der er sich bisher am meisten gefürchtet hatte. –

Aber das Gespräch musste abgebrochen werden, denn die Tante rief, wo Achim denn bliebe, er solle ihr im Dorf etwas besorgen. – Es war Sonntag, und am Abend, auf dem Platz vor dem Portal des Schlosses, fand ein großes Fest statt, mit Musik und Gläserklirren, ein Tanzboden in der Mitte lockte die jungen Paare, eine Menge Autos parkte am Rande des Platzes, und von der Schiffslände strömte es, denn jeder Dampfer brachte neue Gäste aus allen Seeorten ringsum. – –

Im Untergeschoss des Schlosses hatten Onkel und Tante für die Bewirtung der Gäste draußen zu sorgen, und Achim war, als es dunkel wurde, zu Bett geschickt worden, weil er zu verträumt und unbrauchbar zum Helfen sich erwies, und schon eine Tasse und zwei Gläser zerbrochen hatte. – Da lag er, und hörte gedämpft das Tschingdera der Militärkapelle, denn seine Kammer lag zu ebener Erde hinten nach der Gartenseite, und durch das offene Fenster meinte er das Rauschen des Gänsebrünnleins zu hören. Da fuhr es ihm plötzlich durch‘s Herz, dass er sich aufrichtete. Das war die Nacht, die milde, freundliche, von der sein steinerner Freund ihm gesprochen hatte. –

Der Park war still und einsam, für das Fest nicht freigegeben, das auf dem Lindenplatz strudelte und tobte, – Onkel und Tante, vollauf beschäftigt, würden nichts merken. – Freilich wollte ihn die alte Angst überfallen, aber er wehrte ihr, wie man sich gegen eine lästige Fliege wehrt. –

Schließlich, zum Gänsemännchen konnte er hinlaufen, die Sterne schienen ja so hell, was konnte ihm da geschehen? – Sein Freund würde ihn schon beschützen und vielleicht durfte er sogar bei Mitternacht, und es war nicht mehr lange bis dahin, seinen Sockel verlassen und mit ihm gehen, nein, dann fürchtete er sich kein bisschen mehr! –

Das Gänsemännchen stand zwar noch fest auf seinem Sockel, blinzelte ihm aber erfreut entgegen. Ein silberner Strahl des Mondes fiel gerade über sein gutes, runzliges Gesicht: „Habe Dich schon erwartet!“ – bemerkte es gravitätisch, – Recht so! Gute Art! Auf Dich ist Verlass!“ – „Ich dachte, die Gänse schliefen jetzt und Du könntest mit mir gehen“, flüsterte Achim etwas kleinlaut. „Bedaure, das ist nun leider nicht möglich — und auch nicht nötig. Ja, es ist schon besser, dass Du allein gehst, das wirst Du schon merken.“ – – „Ach nein, „sagte der kleine Achim und schmiegte sich dicht an seinen Freund“, wenn Du nicht Urlaub hast bleibe ich lieber bei Dir!“ Das Gänsemännchen schwieg, dann sagte es sehr fest, fast feierlichen Tones: „Achim!“ –

„Ja, Gänsemännchen?“ –

„Vertraust Du mir?“ –

„Du bist doch mein Freund!“ – sagte das Kind unschuldig. – „Also! – Dann tu‘ genau, was ich Dir jetzt sage! Du gehst durch den Hainbuchengang –“ – – – „Oh!“ – stöhnte der kleine Achim. – „Der ist ja so dunkel, – ganz rabenschwarz ist er, – nein, das kann ich nicht!“ – „Überall schaut ja der See herein“, – tröstete das Männchen. „Ich kann mich leider nicht rühren, aber greif‘ mal in meine Brunnenschale, da liegt eine kleine Kugel, die hole heraus!“ – Achim gehorchte, und hielt ein blitzendes, rundes Ding in der Hand – eine Glaskugel, in der ein Lichtchen eingeschlossen schien. „Das darf Dir leuchten! Kein anderes Licht dürfte es, sie würden auf dem Weg erlöschen, ja, auch Dein elektrisches Taschenlämpchen hülfe Dir nicht.“ – –

„Ich hab‘ es gar nicht bei mir“, – sagte der Bub. – „Das ist diesmal gut. – Du darfst kein Wort auf dem Wege sagen, wer Dich auch anreden mag!“ –

Wer sollte das tun? dachte der Junge, der Park ist ja geschlossen. – „Nun geh‘“ sagte das Männchen, und wenn Du den Glockenschlag vom Schlossturm hörst, bleib‘ an der Wiese stehen, die zum kleinen Chalet führt, dann wird alles gut.“ –

Der kleine Achim zögerte noch ein bisschen, aber das Männchen sagte beschwörend: „Tu es mir zulieb Achim, es liegt mir viel daran, Du wirst es später schon erfahren.“ – „Ja, dann – Dir zuliebe will ich‘s tun“, – sagte Achim entschlossen und machte sich tapfer auf den Weg. Es hätte der kleinen Lichtkugel nicht bedurft. Die Blumen auf den Teppichbeeten leuchteten aus tausend tauigen Kelchen, rot – golden – lila und in grünlichem Glanz. – Mitten auf den Rasenflächen silberten die Wasserstäuber, was Achim mit Erstaunen wahrnahm. Die waren doch in der Kühle der Nacht nicht nötig, aber es sah zauberisch aus, wie ihre Silberstrahlen in allen Regenbogenfarben funkelten. –

Nun kam der dunkle Laubgang, der zweite, hohe, endlose, – wie es dem kleinen Jungen schien. Da konnte er sein kleines Licht brauchen, da war es stock-, pech-, rabenschwarze Finsternis.– Nur hie und da leuchtete tröstlich die mondbeschienene, seidenblaue Flut des Sees herein, und das war gut, sonst wäre doch die alte, schlimme Angst gekommen und er hätte das Ende dieser finsteren Blattmauer nie erreicht. – Endlich aber stand er doch, wie befreit, in der dämmernden Helle des weiten Rasens, dessen mondbeschienener Weg zu dem kleinen Chalet führte. –

Er ging ihn indessen nicht, er stand unbeweglich und schaute, denn nun begab sich etwas Merkwürdiges. Von dem zierlichen Miniaturschlösschen her bewegte sich ein Zug. Kinder waren es, Große und Kleine, die Hand in Hand die kleine Anhöhe herabkamen, nicht eilend, in zierlich gemessenem Abstand schreitend, die blonden und braunen Locken von leisem Lufthauch bewegt, in den kleinen Händen ein farbenblühender Lampion, nein, es waren keine Lampions. Achim sah es deutlich, es waren hohe Blütenstengel von Gladiolen, vom hellsten Gelb bis zum tiefsten Purpur aus den Kelchen schimmernd, goldrot und lila, grünlich weiß und blau wie die Farbe des Sees. – Die Kinder zogen dicht an Achim vorbei, ohne ihn, wie es schien, zu bemerken. Sie zogen auf die runde Mitte des Spielplatzes zu, teilten und vergnügten sich, flogen auf Wippe und Schaukel, warfen buntleuchtende Bälle in die Höhe und einander zu, während die Blütenlampions aufgereiht einen Kreis bildeten, in dem sie jetzt, durch ein silbernes Glöckchen gerufen, feierlich, in Anmut schreitend, einen Reigen begannen, zu dem das Mädchen mit dem Silberglöckchen auf einer süßtönenden Mundharmonika blies. – Dann ordnete sich wieder der Zug, und Achim, der reglos dagestanden und das schöne Bild mit staunenden Augen verfolgt hatte, ließ – ein wenig nur – sein kleines Kugellicht in der geschlossenen Hand aufblitzen. Sofort wandten sich die Augen der Kinder, die bisher, ohne ihn zu bemerken an ihm vorüber geschritten waren, ihm zu, und das große Mädchen mit der Mundharmonika, ein kleines Bübchen an der Hand, das auch sein Leuchterblütchen trug, winkte ihm freundlich, ja, wie mit dringender Bitte zu, so dass er, magisch gezogen, sich dem Zug in einer kleinen Entfernung anreihte und den Kindern folgte, die langsam und stetig, wie sie gekommen, auf das kleine Haus über dem Rasen zuschritten und um seine Biegung verschwanden. –

Es fiel Achim auf, dass Jedes, vor dem Chalet angekommen, einen Augenblick zögerte, seine Blütenleuchte senkte wie zum Gruß, ohne daß sie verlöschte, vor Jemand, dessen Gestalt Achim erst zu erkennen vermochte, als das Letzte der Kinder vorübergeglitten war. – Er sah einen kleinen, weißhaarigen Herrn auf dem Bänkchen vor dem Chalet sitzen, der sich auf ein feines Bambusrohr mit rundem, goldenen Knauf stützte, und trat auf dessen Wink schüchtern heran, bis er dicht vor dem Alten stand. –

„Du bist es!“ – sagte dieser mit leiser, feiner Stimme, “Ja, Du musstest kommen, – Du gehörst zu uns!“ –

Er winkte mit einer feinen, schmalen Hand, die aus einer Spitzenmanschette kam, den Knaben so dicht zu sich heran, daß dieser fast seine Kniee berührte. Dann legte er die Hand auf Achims Scheitel, der sich unwillkürlich vor ihm beugte, und murmelte etwas dazu, das wie „Nicht mehr fürchten!“ klang. – Und, obwohl die Berührung dieser greisen Hand die Stirn des Knaben nur wie ein leises Lüftchen streifte, durchdrang sie ihn doch vom Kopf bis zu den Füßen, bis ins innerste Herz. – So, dass er sich aufrichtete, und eben sagen wollte: „Nein, ich fürchte mich gar nicht mehr!“, als ihm einfiel, dass es ihm ja verboten war, zu sprechen. – Aber sei es, dass das „Nein“ dennoch seinen Lippen entschlüpft, oder war es die Turmuhr, die eben mit dröhnendem Schlag: Eins! Donnerte, als sei kein zahmer freundlicher Uhrenschlag, sondern eine Bombe niedergegangen, – dass alles sich in tödlichem Erschrecken um Achim drehte und er nicht wusste wo er war, nur, dass der freundliche, alte Herr – Haus – Park vor seinen Blicken verschwanden, und tiefste Finsternis – und nichts als Finsternis – um ihn war. –

Seine Tante, die Achim verzweifelt gesucht, hatte, fand ihn wenig später bewusstlos und in hohem Fieber zu Füßen des Gänsebrunnens. – Aber während den mitleidigen Gänsen das Wasser nicht nur aus den Schnäbeln, sondern auch aus den Augen zu tropfen schien, schaute der kleine, steinerne Mann nicht nur ohne Mitleid, sondern in befriedigter Ruhe auf seinen kleinen Freund herab, wie Einer, dem ein gutes Vorhaben geglückt ist, auch wenn es die Anderen vorläufig noch nicht ganz verstehen. – –

„Ja, die Angst – die Angst!“ – sagte in diesem Augenblick die Tante zu einer Nachbarin, die mitgekommen war, erst suchen und dann jammern zu helfen. – „Dies treibt um, die lässt das Kind nicht schlafen, die hat er von seiner Mutter, sie war doch eine Gräfin, eine Ur-Urenkelin oder eine Urnichte, das weiß ich nicht so genau, von der alten Herrschaft, derselben, die das Kinderschlösschen im Park für die Enkel gebaut hat. Ja, das war eine Angst und Not, bis sie unseren Vetter heiraten durfte!“ – „Aber ich habe ja gar keine Angst mehr!“ – sagte Achim klar und hell und schlug die Augen auf. Es war dasselbe, das er vorhin hatte sagen wollen und der Uhrenschlag dazwischen kam. Die Tante glaubte nicht anders, als dass er im Fieber spräche und nahm ihn auf ihre Arme, ihn ins Haus zu tragen. – –

– – – Nun war der kleine Achim recht krank geworden, aber selbst in seinen Fieberfantasien fürchtete er sich nicht mehr. Wie sollte er auch? – er hatte ja die kleine Lichtkugel, die ihm das Gänsemännchen mitgegeben hatte und die er sorgsam hütete. –

Als er nach einigen Wochen wieder aufstehen durfte, ging er zu allererst zu ihm hin und wollte ihm die Kugel wiederbringen. Aber wie erschrak er, als er in seine Tasche griff und nichts, gar nichts mehr darin zu finden war! –

„Du musst nicht erschrecken“, sagte sein stiller Freund. „Die Kugel ist jetzt ganz Dein und das Licht brennt in Deinem Herzen, dort darf es niemand mehr ausblasen, und keiner kann Dir die Kugel nehmen!“ – Da wurde der kleine Achim von Herzen froh. Gerne wollte er noch mehr wissen, wer wohl der freundliche Herr war, bei dem er gewesen, und wie die Kinder hießen, zu denen er gehörte? – Aber der steinerne Freund vermochte nicht mehr zu sprechen. Er lächelte nur und sah in die Ferne, wie einer, der schon viel gesehen hatte und mehr wusste, als sich der kleine Achim träumen ließ. –

Am Abend sagte die Tante zu ihrem Bruder: „Der Junge ist viel zu oft allein, das tut nicht gut.“ „Es ist ein Träumer“ antwortete der Verwalter „und wenn das so weitergeht, verliert er seine Furcht nie.“ „Aber wie soll man sie denn loswerden?“ meinte die Frau. „Hast Du etwa keine Angst vor der Zukunft und so?“ Dabei waren ihre eigenen Sorgen deutlich auf dem .Gesicht zu lesen. Auf einmal sah sie auf dem Tisch ein kleines Blatt, das sie am Morgen von dem Kalender genommen und dann achtlos beiseite gelegt hatte. Darauf stand: „Furcht ist nicht in der Liebe. Die völlige Liebe treibt die Furcht aus.“ [1. Johannesbrief 4,18] –

„Man müsste ihn viel mehr lieb haben wie bisher“ sagte sie nachdenklich vor, sich hin und ging hinaus, um noch einmal nach dem Kind zusehen.

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