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Der gute Hirte: Befreier Israels und der Welt

Der gute Hirte Israels stirbt am römischen Kreuz und will so die Gewaltherrschaft Roms überwinden. Nicht mit Terror, nicht mit den Mitteln, die Rom selber anwendet. Diesen Geist der Liebe Gottes hinterlässt Jesus seinen Schülerinnen und Schülern. Er glaubt fest daran: Liebe kann die Mechanismen dieser grausamen Welt überwinden.

Statue von Jesus mit Hirtenstab und Schaf über den Schultern und im Hintergrund eine Schafherde
So stellen sich Christen gewöhnlich Jesus als den Guten Hirten vor (Bild: Gerd Altmann auf Pixabay)

Direkt zur PredigtGottesdienst am Sonntag Misericordias Domini, 23. April 2023, um 10.00 Uhr in der evangelischen Johanneskirche Gießen
Orgelvorspiel

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Der Gottesdienst, den Pfarrer Helmut Schütz an diesem zweiten Sonntag nach Ostern mit uns feiern wird, steht ganz im Zeichen des guten Hirten. So begrüße ich Sie mit dem Spruch zur Woche aus dem Johannesevangelium, Kapitel 10, Verse 11 und 27-28:

Christus spricht: „Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme und ich kenne sie und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben.“

Wir singen aus dem Lied 274 die Strophen 1, 3 und 5:

1. Der Herr ist mein getreuer Hirt, hält mich in seiner Hute, darin mir gar nicht mangeln wird jemals an einem Gute. Er weidet mich ohn Unterlass, da aufwächst das wohlschmeckend Gras seines heilsamen Wortes.

3. Ob ich wandert im fin­stern Tal, fürcht ich doch kein Unglücke in Leid, Verfolgung und Trübsal, in dieser Welte Tücke: Denn du bist bei mir stetiglich, dein Stab und Stecken trösten mich, auf dein Wort ich mich lasse.

5. Gutes und viel Barmherzigkeit folgen mir nach im Leben, und ich werd bleiben allezeit im Haus des Herren eben auf Erd in der christlichen G’mein, und nach dem Tode werd ich sein bei Christus, meinem Herren.

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Wir beten gemeinsam den Psalm 23, im Gesangbuch Nr. 711. Sprechen Sie bitte die eingerückten Verse:

1 Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.

2 Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.

3 Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.

4 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.

5 Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.

6 Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Herr, du befreiender Gott, wo wir dich als unseren Hirten, unseren König, anerkennen und unser Zusammenleben nach deinem Willen gestalten, da muss niemand Mangel leiden, da fehlt niemandem das Geld zur Versorgung seiner Familie, da gibt es keine Kinderarmut, da fehlt niemandem Trost und Zuspruch und Geborgenheit. Doch wir bekennen: Wir schaffen es nicht, sogar in unserem reichen Land, dass jedes Kind gleiche Chancen hat, dass niemand auf Liebe verzichten muss.

Herr, unser Hirte, du befreiender Gott, in den finsteren Tälern unseres Lebens bist du bei uns, richtest du uns auf, bist du unser Trost, so dass wir nichts und niemand fürchten müssen. Doch wir bekennen: Oft sind wir verzagt, versinken in Trübsinn angesichts so vieler Unglücke, die passieren, der Klimaveränderung, des Krieges in der Ukraine, dessen Ende unabsehbar scheint.

Herr, du befreiender Gott, richte uns auf, lenke unsere Füße auf die Wege deiner Gerechtigkeit, deiner Liebe, deines Friedens.

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Herr, unser Hirte, wo wir ernst nehmen, dass dein NAME Befreiung bedeutet, da du dich Mose bekannt gemacht hast als den, der Israel aus der Versklavung führt, da führst du auch uns auf dem geraden Weg deiner frei machenden Gebote.

Ja, es gibt Feindschaft und Krieg in dieser Welt. Doch wir danken dir, dass du uns einen Tisch bereitest, sogar angesichts von Bedrängnis und Mobbing, dass wir satt werden und Gemeinschaft erleben, dass Feindschaft nicht das letzte Wort behält.

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende“.

Herr, unser befreiender Hirte, wir sind Gäste in der von dir geschaffenen Welt, und du bist unser Gastgeber, der uns alle Tage in unserem Leben willkommen heißt, so wie es ein altorientalischer Hausherr tat, der den Gast mit Öl auf dem Kopf salbte und ihm einen Willkommenstrunk überreichte.

Du lässt uns Gutes folgen und Liebe erfahren, vor allem da, wo wir selber mit anderen barmherzig umgehen.

Wir danken dir, dass wir im Gottesdienst deinen Dienst an uns erfahren, hier in deinem Hause eine Zuflucht finden und dein Wort hören können. Alle unsere Gebete bringen wir vor dich im Namen deines Sohnes Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

Wir hören die Schriftlesung aus dem Buch des Propheten Hesekiel im Kapitel 34:

1 Und des HERRN Wort geschah zu mir:

2 So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?

4 Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt.

5 Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut.

11 Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen.

12 Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war.

15 Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR.

16 Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.

Herr, dein Wort ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege. Halleluja. „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Glaubensbekenntnis

Wir singen aus dem Lied 288 die Strophen 1 bis 4:

1. Nun jauchzt dem Herren, alle Welt! Kommt her, zu seinem Dienst euch stellt, kommt mit Frohlocken, säumet nicht, kommt vor sein heilig Angesicht.

2. Erkennt, dass Gott ist unser Herr, der uns erschaffen ihm zur Ehr, und nicht wir selbst: Durch Gottes Gnad ein jeder Mensch sein Leben hat.

3. Er hat uns ferner wohl bedacht und uns zu seinem Volk gemacht, zu Schafen, die er ist bereit zu führen stets auf gute Weid.

4. Die ihr nun wollet bei ihm sein, kommt, geht zu seinen Toren ein mit Loben durch der Psalmen Klang, zu seinem Vorhof mit Gesang.

Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde,

vom Propheten Hesekiel haben wir gehört, dass Gott als der Hirte Israels sein ihm anvertrautes Volk wieder weiden will. Er will es befreien und in Recht und Frieden leben lassen. Im Johannesevangelium, Kapitel 10, wird dieses Versprechen Gottes von Jesus aufgenommen.

Eben im Lied haben wir gesungen, dass wir die Schafe Gottes sind, auf gute Weide geführt werden, zu seinem Vorhof eingehen. Aber Johannes denkt bei den Schafen zuerst nur an Israel. Der Vorhof ist der Ort im Jerusalemer Tempel, wo sich Juden zum Gottesdienst versammeln. Wir als Christen sind es gewohnt, Israel sozusagen als Bild für das Volk Gottes zu nehmen, zu dem wir auch gehören. Wir brauchen Geduld, um in unseren heutigen Text zur Predigt erst ganz am Ende von Jesus zu erfahren, wie wir, die wir nicht Juden sind, mit ihm verbunden sind.

Hören wir Johannes 10,1-6. Zuvor hat Jesus mit den Pharisäern darüber gestritten, ob er das Recht hat, im Auftrag Gottes zu reden. Ist er wirklich der Messias des Gottes Israels? Sie spricht er an mit einem Rätselwort:

1 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Räuber.

2 Der aber zur Tür hinein­geht, der ist der Hirte der Schafe.

3 Dem macht der Türhüter auf, und die Schafe hören seine Stimme; und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus.

4 Wenn er alle seine Schafe hinausgelassen hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach; denn sie kennen seine Stimme.

5 Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht.

6 Dies Gleichnis sagte Jesus zu ihnen; sie verstanden aber nicht, was er ihnen damit sagte.

Die Pharisäer verstehen Jesus nicht. Und bis heute ist sehr umstritten, was Jesus hier meint. Vergleicht er die Pharisäer mit Dieben und Räubern, die sich widerrechtlich Zugang zu den Schafen verschaffen? Nein, über sie sagt er später:

12 Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –,

13 denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe.

Mietlinge sind entlohnte Hirten, die die ihnen anvertrauten Schafe allein lassen, wenn der Wolf kommt. Und in diesem Wolf kann man zur Zeit Jesu und des Johannes die übermächtige Gewalt des römischen Reiches und seiner Soldaten sehen, von denen das Volk Israel beherrscht und bedroht war. Das heißt, Jesus sieht in den Pharisäern durchaus offiziell beauftragte Hirten Israels. Zur Zeit des Johannes haben sie sogar die alleinige Führung der Herde Israels übernommen, nach dem Jüdischen Krieg, als der römische Feldherr und spätere Kaiser Titus im Jahr 70 den Jerusalemer Tempel zerstört hat und die Hohenpriester ihre Macht verloren haben. Pharisäer sind also Hirten des Volkes, aber in Jesu Augen schützen sie das Volk nicht vor dem Wolf.

Überhaupt wird das Wort „Pharisäer“ oft missverstanden. Wohl sind sie Jesu Gegner, aber nicht einfach religiöse Heuchler. Jesus lehnen sie ab, weil er sich in ihren Augen zu Unrecht an die Stelle Gottes setzt und weil sein Auftreten als Unruhestifter zum brutalen Einschreiten der römischen Besatzungsmacht führen kann. Für die pharisäische Führung der Juden zur Zeit des Johannes ist es erst recht undenkbar, in Jesus den Messias zu erkennen: Wie soll ausgerechnet er den ewigen Frieden für Israel anbrechen lassen? Er ist doch von den Römern als Terrorist am Kreuz hingerichtet worden!

Genau diesen Vorbehalten der Phariäser stellt sich Jesus in seinem Rätselwort entgegen. Hören wir noch einmal genau hin:

1 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Räuber.

So steht es in der revidierten Lutherbibel von 2017. Aber drei Wörter sind nicht genau übersetzt: aulē, „Stall“, anabainein, „hineinsteigen“ und lēstēs, „Räuber“.

Das Wort aulē kennen wir in der Form „Aula“. Einen solchen großen Saal finden wir in einer Schule oder Universität. Im alten Israel hieß so der Vorhof des Jerusalemer Tempels. Die Aula der Schafe ist also der große Platz im Tempel, zu dem Israel bei großen Festen hinaufsteigt. Dafür, dass das so zu verstehen ist, spricht genau das Wort anabainein. Das heißt nämlich nicht einfach „einsteigen“, sondern „hinaufsteigen“, und jeder Jude wusste, dass man nach Jerusalem, zur hochgebauten Stadt, hinaufsteigen musste.

Und schließlich ist hier nicht von einem Räuber im Sinne eines Viehdiebs die Rede. Vielmehr ist lēstēs die gebräuchliche Bezeichnung für Leute, die terroristische Anschläge auf die römische Besatzungsmacht verübten. Nach all dem müsste man den ersten Vers unseres Rätselworts so übersetzen:

„Wer nicht zur Tür hinein­geht in den Vorhof der Schafe, in den Tempel Israels, sondern er steigt anderswo hinauf, der ist ein Plünderer und ein Terrorist.“

Im Hintergrund dieses Verses stehen Bilder aus dem Jüdischen Krieg, auf den Johannes und seine Gemeinde mit Schrecken zurückblicken: Da stiegen tatsächlich zelotische Freiheitskämpfer nach Jerusalem hinauf und drangen über die Tempelmauern in den Vorhof ein. Aber statt Befreiung zu bringen, brachten sie Plünderung, Mord und den brutalen Gegenschlag der Römer. Jesus sagt also seinen Gegnern, den Pharisäern: Ein solcher Aufrührer, Plünderer und Terrorist bin ich nicht. Mit ihnen habe ich nichts zu tun. Stattdessen gibt er sich als der wahre Hirte Israels zu erkennen:

2 Der aber zur Tür hinein­geht, der ist der Hirte der Schafe.

3 Dem macht der Türhüter auf, und die Schafe hören seine Stimme; und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus.

4 Wenn er alle seine Schafe hinausgelassen hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach; denn sie kennen seine Stimme.

Jesus stellt sich also als zuverlässiger Anführer des Volkes Israel vor: Wie Gott nach Jesaja 43,1 zu Israel sagt: „Ich habe dich befreit, ich habe dich bei deinem Namen gerufen“, so ruft jetzt Jesus diejenigen, die zu ihm gehören, beim Namen.

Aber warum führt Jesus sie hinaus aus dem Tempel? Wörtlich steht hier sogar: „er hat sie alle hinausgeworfen“. Damit tut Jesus etwas, was zuvor die Pharisäer mit einem von Jesus am Sabbat geheilten Blinden getan haben. Der hatte behauptet: Jesus ist der Prophet, ja, der Messias! Daraufhin warfen ihn die Pharisäer aus der Synagoge hinaus. Dort wie hier dasselbe Wort: ekballein, rauswerfen. Vergilt Jesus hier Gleiches mit Gleichem?

Aber er wirft nicht die Pharisäer, seine Gegner, aus dem Tempel. Sondern seine eigenen Anhänger, diejenigen, die auf ihn vertrauen, wirft er hinaus, er zieht sich mit ihnen zurück. Als Jesus den Tempel reinigte, da warf er die Händler hinaus. Das Haus, das Gott dazu bestimmt hatte, seinen befreienden Namen darin wohnen zu lassen, war zu einem heidnischen Kaufhaus verkommen.

Auch damals drückte er sich rätselhaft aus: Er werde diesen Tempel abreißen und in drei Tagen wieder aufrichten. Er meinte damit aber seine Aufrichtung aus dem Grab nach drei Tagen. Im Tempel seines Leibes, in seiner Gemeinde also, werden sich diejenigen versammeln, die auf ihn vertrauen. Dorthin führt Jesus diejenigen, die er aus dem Jerusalemer Tempel hinauswirft. Und seinen pharisäischen Gegnern versichert er nochmals:

5 Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht.

Wo man im Alten Testament einem Fremden folgt, da ist ein fremder Gott gemeint. Jesus sagt: Ich bin kein Fremder, ich tue nichts als den Willen Gottes, der mich zu euch gesandt hat. Und da dieser Wille auf die Befreiung Israels gerichtet ist, werden diejenigen, die Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden suchen, nicht vor Jesus fliehen, sondern ihm nachfolgen. Das ist es, was Jesu Gegner nicht verstehen können. In ihren Augen ist er ja nicht der Messias, sie haben vielleicht sogar die Hoffnung aufgegeben, dass irgendein Messias Freiheit, Recht und Frieden bringen könnte:

6 Dies Gleichnis sagte Jesus zu ihnen; sie verstanden aber nicht, was er ihnen damit sagte.

Trotzdem gibt Jesus seine Bemühungen noch nicht auf, ihnen das Rätselwort verständlich zu machen. Er will sie überzeugen: Seht doch, ICH BIN ES, ich bin hier im Auftrag Gottes, der sich Mose mit dem Namen „ICH BIN, DER ICH BIN“, als Befreier und Hirte offenbart hat.

Bevor wir weitere Worte Jesu hören, singen wir aus dem Lied 602 die Strophen 5 und 6:

5. Du hast gesagt: »Ich bin die Tür«

6. Du hast gesagt: »Ich bin der Hirte«

ICH BIN ES – die Tür. ICH BIN ES – der Hirte. So verkörpert dieser Jesus den Gott Israels.

7 Da sprach Jesus wieder: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen.

Vorher hat Jesus gesagt, dass er freien Zutritt zu den Schafen hat. Jetzt fügt er hinzu: Er selbst ist die Tür. Wörtlich: „die Tür der Schafe“. Eine Tür kann geschlossen sein, um Schutz zu finden oder um jemanden einzusperren. Sie kann geöffnet werden, um zu befreien. Schutz und Freiheit, für beides steht Jesus. Dann kommt Jesus noch einmal auf die Leute zurück, die sich Messias und Freiheitskämpfer nennen, aber nur blutigen Aufruhr und Terror bringen:

8 Alle, die vor mir gekommen sind, die sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben ihnen nicht gehorcht.

Nur noch ein einziges weiteres Mal kommen die Wörter „Dieb“ und „Räuber“ im Johannesevangelium vor. Judas wird später „Dieb“ genannt, er plündert die gemeinschaftliche Kasse der Schüler Jesu, und Barabbas, dessen Freilassung an Stelle Jesu von Pilatus gefordert werden wird, der ist ein „Räuber“, ein Terrorist. Aber Jesus sagt von sich:

9 Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein und aus gehen und Weide finden.

Auch hier kann man ein Wort ganz anders übersetzen: sōzein. Luther übersetzt es mit „selig werden“. Wörtlich heißt es „befreien“. Luther verstand das so: Wer an Jesus glaubt, wird selig, in dem Sinne, dass er von Sünden befreit wird und nach seinen Tod in den Himmel kommt. Ist das aber die einzig mögliche Auslegung?

Unser Vers erinnert an eine Stelle aus dem 4. Buch Mose (27,16-17). Da erfährt Mose von Gott, dass er das Volk Israel nicht ins Gelobte Land führen darf, und er bittet Gott um die Einsetzung eines geeigneten Nachfolgers:

16 Der HERR, der Gott des Lebensgeistes für alles Fleisch, wolle einen Mann setzen über die Gemeinde,

17 der vor ihnen her aus und ein geht und sie aus und ein führt, damit die Gemeinde des HERRN nicht sei wie die Schafe ohne Hirten.

Zum Hirten Israels wird damals Josua bestimmt. Josua – auf Griechisch Iēsous! Auf Hebräisch heißt Josua, Jeschua oder Jesus wörtlich: „Er befreit“. Damals führt Josua Israel in das versprochene Land hinein. Jesus sagt entsprechend von sich selbst: „Ich bin die Tür, die Tür zum Leben Israels in Freiheit und Frieden.“

Und ein drittes Mal erwähnt Jesus den Dieb und stellt ihm sich selbst gegenüber:

10 Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen. Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und volle Genüge.

Noch einmal stellt Jesus heraus, dass er kein Möchtegern-Messias ist wie diejenigen, die später im Jüdischen Krieg plündern und morden. Stattdessen bringt er Leben und „volles Genüge“, wie Luther übersetzt, wörtlich steht da sogar, sie behalten Leben „im Überfluss“. Nimmt er den Mund nicht zu voll? Kann er seinen jüdischen Zuhörern Zufriedenheit und Überfluss versprechen, die noch auf lange Sicht unter römischer Oberherrschaft leben werden? Oder meint er ein ewiges Leben im Himmel, ganz gleich, wie elend das Leben auf Erden sein mag?
Jesus fährt fort:

11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.

Damit bezieht Jesus noch einmal ausdrücklich alles, was im Alten Testament von Gott als dem Hirten Israels gesagt wurde, auf sich: „ICH BIN ES, ich bin so für euch da wie Gott, der euer Hirte ist und der allein gut ist.“ Was tut dieser Hirte? Wörtlich sagt Jesus: „Der gute Hirte setzt seine Seele für die Schafe ein.“ Damit deutet er auf seinen Tod am Kreuz voraus. Er stirbt am römischen Kreuz, und will tatsächlich auf diese scheinbar widersinnige Art die Gewaltherrschaft Roms überwinden! Nicht mit Terror, nicht mit den Mitteln, die Rom selber anwendet. Er gibt sein Leben hin und stellt das Römische Reich und jede Gewaltherrschaft bloß als mörderisches System. Diesen Geist der Liebe Gottes wird Jesus auch seinen Schülerinnen und Schülern hinterlassen. Er glaubt fest daran: Liebe kann die Mechanismen dieser grausamen Welt überwinden.

Ist es verwunderlich, dass Jesus die Pharisäer damit nicht überzeugt? Es klingt ja auch unglaublich, was Jesus noch einmal wiederholt:

14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich,

15 wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.

Was für uns Christen an diesen Worten wichtig ist: Diese Schafe, die er kennt und die Seinen nennt, das sind diejenigen, die er aus dem Vorhof des Tempels geführt hat. Jesus wirbt hier um sein jüdisches Volk. Aber dann erscheinen plötzlich noch andere Schafe des Guten Hirten auf der Bildfläche:

16 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.

Wer sind diese anderen Schafe, die nicht aus dieser aulē sind, nicht aus diesem „Vorhof“ des Tempels? Zuerst denkt er gewiss an die Samaritaner, an Nachfahren der zehn verlorenen Nord­stämme des Volkes Israel, die seit Jahrhunderten mit den Juden verfeindet waren. Mit ihnen versöhnt sich Jesus in einem Gespräch mit einer Frau am Jakobsbrunnen, und am Ende akzeptieren sie ihn als den Messias Israels und den Befreier der Welt. Für Johannes ist klar: Nur wenn die ganze Welt von Gewaltherrschaft befreit ist, kann auch Israel in Freiheit und Frieden leben.

Und an dieser Stelle tut sich nun auch im Johannesevangelium ein Platz für uns auf, für uns Menschen aus den nichtjüdischen Völkern. Von einer allgemeinen Heidenmission wie Paulus oder Matthäus spricht Johannes in seinem Evangelium nirgends. Sehr zurückhaltend erwähnt er ein einziges Mal „einige Griechen“ (12,20), die Jesus sehen wollen. Wenn wir bereit sind, auf seine Stimme zu hören und uns ihm anzuschließen als dem Messias Israels, dann gehören wir auch zu ihm, zu seiner Herde, und er will auch unser Hirte sein. Das klingt nach einem sehr bescheidenen Platz, den Jesus für uns vorgesehen hat. Zuerst kommt für ihn das von Gott auserwählte Volk Israel. Und wir Menschen aus den anderen Völkern können nur hinzukommen, wenn wir nicht etwa Israel beiseiteschubsen und aus dem Weg räumen wollen. Mit Israel zusammen bilden wir eine einzige Herde des befreienden Gottes.

Was bedeutet das für uns?

Erstens: Jesus ist kein Hirte, der allein uns Christen den Himmel garantiert. Wir gehen im Tode nicht verloren, diese Hoffnung teilen wir mit Juden wie auch Muslimen.

Zweitens: Wer auf Jesus zu vertrauen wagt, der gibt die Hoffnung auf Frieden für diese Welt nicht auf. Zwar wird überall, wo Gewaltherrscher über Leichen gehen und Menschenrechte verachten, Gottes Ehre immer wieder in den Dreck getreten, oft sogar von Menschen, die sich Christen nennen. Aber genau dieser gedemütigte Gott, der in Jesus den Tod erlitt, dessen Liebe ist dennoch stärker als Terror und Gewalt. Er bleibt unser guter Hirte. Er lässt uns immer wieder innehalten, wenn wir meinen, dass Probleme nur mit Gewalt zu lösen sind. Er gibt Mut und Kraft zur Solidarität mit Menschen, die Hilfe brauchen. Er macht uns stark, den Dialog mit Andersdenkenden und -glaubenden nicht aufzugeben. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.
Lied 428, 1-3
Fürbitten – Stille – Vater unser

Wir singen das Osterlied 99:

1. Christ ist erstanden von der Marter alle; des solln wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein. Kyrieleis.

2. Wär er nicht erstanden, so wär die Welt vergangen; seit dass er erstanden ist, so lobn wir den Vater Jesu Christ’. Kyrieleis.

3. Halleluja, Halleluja, Halleluja! Des solln wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein. Kyrieleis.

Abkündigungen

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

Orgelnachspiel

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