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Stark und schwach

Im Verlieren kann ein Gewinn stecken. Einer, der es immer nötig hat, zu gewinnen, ist in Wirklichkeit ein Verlierer. Einer, der immer stark ist, schützt sich manchmal nicht ausreichend vor Gefahren, die auch ihn bedrohen. Und jemand, der schwach scheint, kann durch eine innere Stärkung auch ein schweres Schicksal überwinden.

Zwei Männchen sitzen am Tisch und machen Arm-Drücken
Wer ist stark, wer schwach? Wer ist ein Verlierer, wer ein Gewinner? (Bild: Peggy und Marco Lachmann-AnkePixabay)

Ökumenische Andacht am Sonntag, den 16. Oktober 1988 um 17.00 Uhr in der Dorn-Assenheimer Kirche
Begrüßung (Pfarrer Petschull)
Gotteslob 270, 1-3: Kommt herbei, singt dem Herrn
Einführung und Gebet (Pfarrer Petschull)
Gotteslob 269, 1-2: Nun saget Dank und lobt den Herren

Liebe Gemeinde aus katholischen und evangelischen Christen, nun werde ich versuchen, die Ideen und Anregungen, die Empfindungen und Gedankengänge nachzuzeichnen, die wir im Ökumenekreis zum Thema „stark und schwach“ zusammengetragen haben. Eine Andacht soll dies ja sein, nicht unbedingt eine fertige, abgerundete Stellungnahme zum Thema, sondern ein Anlass zum Nach-Denken, zur andächtigen Besinnung auf ein durchaus kompliziertes, vielschichtiges Feld von Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt.

Gedanken zum Thema „Schwach und stark“

Schwach und stark – ich erinnere mich daran, dass wir in einer unserer Zusammenkünfte, noch vor den Sommerferien, uns gefragt haben: Wer kann von sich denn sagen, dass er stark im Glauben sei? Fühlen wir uns nicht alle schwach im Glauben? Und wenn sich einer stark fühlt: Ist er nicht vielleicht etwas überheblich und traut sich zu viel zu?

Da haben wir daran gedacht, dass sich der große Apostel Paulus am liebsten seiner Schwachheit rühmen wollte. Er hatte von einem schweren Schicksal, vielleicht einer unheilbaren Krankheit befreit sein wollen, von einem „Pfahl im Fleisch“, wie er es nannte (2. Korinther 12,7), aber sein Wunsch wurde nicht erfüllt. Und er tröstete sich mit einem Wort, das er von Christus direkt an sich gerichtet empfand (2. Korinther 12, 9):

„Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“

Manche Menschen verlieren ihren Glauben, wenn sie leiden müssen, wenn sie sich fragen: „Wie kann Gott solches Unrecht, solches Leid zulassen? Womit habe ich das verdient?“ Aber wenn wir so fragen, finden wir keine Antwort. Was verdienen wir denn überhaupt? Meinen wir denn, wir hätten ein gutes Schicksal „verdient“? Ist ein böses Schicksal eine Strafe Gottes? Jesus hat dem entschieden widersprochen. Das Gute sollten wir aus Gottes Hand dankbar annehmen. Und zum Bösen, das uns trifft, hat Dietrich Bonhoeffer einmal ein paar sehr wichtige Gedanken aufgeschrieben:

Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum besten dienen lassen.

Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.

Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum (=Schicksal) ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.

Dazu sind in unserer Ökumene-Gruppe noch ein paar wichtige Dinge gesagt worden. Solche Erfahrungen gab es nicht nur damals zu Bonhoeffers Zeiten im Dritten Reich. Wenn jemand ganz unten ist, durch tiefe Trauer niedergedrückt, oder niedergeschlagen aus Überlastung oder nervlicher Anspannung, dann mag es ihm so vorkommen, als könne ihm niemand helfen, nicht einmal Gott. Doch dann kann es manchmal durch eine winzige Geste anders werden, ein lachendes Zuwinken, ein Wort der Aufmerksamkeit kann ausreichen, um wieder Hoffnung zu gewinnen, sich angenommen und geborgen zu fühlen. Und ein wichtiger Satz wurde aus der Erinnerung hervorgekramt, der einem Mitglied unserer Gruppe schon in der Kindheit gesagt worden war: „Gott gibt nicht weniger Leid, sondern er gibt stärkere Schultern.“ Er nimmt nicht Probleme weg, sondern hilft sie zu tragen.

Gedanken zum Joch und zur Last Christi

Was ist aber, wenn wir uns eigentlich zwar schwach fühlen, überfordert und gereizt, aber dennoch scheinbar stark reagieren, uns durchsetzen gegen Menschen, von denen wir uns bedrängt fühlen?

Ein Beispiel wurde genannt in unserer Gruppe. Wenn eine Mutter mit ihrem Kind Probleme hat, das Kind lauter schlechte Noten nach Hause bringt, dann kann es sein, dass die Mutter sich Sorgen macht. Sie fragt sich vielleicht, was ist nur mit dem Kind los, was habe ich falsch gemacht, oder auch: wie kann mir mein Kind so etwas antun? Im Grunde fühlt sich die Mutter hilflos, aber wie wird sie reagieren, wenn das Kind wieder mit einer 6 in der Klassenarbeit nach Hause kommt? Wird sie schimpfen, Vorwürfe machen, Strafen auferlegen? Was ist hier Stärke, was ist Schwäche? Hilft hartes Durchgreifen – oder wäre das gerade ein Zeichen von Schwäche, einer nicht eingestandenen Schwäche?

Ich weiß es aus eigener Erfahrung mit unseren Söhnen: Wenn es Zeiten gab, in denen sie überhaupt nicht mehr auf uns, die Eltern, hören wollten, wenn sie alles „vergaßen“, was sie tun sollten, wenn es wegen geringster Anlässe Krach gab – dann konnten wir sicher sein: irgendetwas hatte das mit uns selber zu tun – es gab zu viel Arbeit, zu wenig Zeit für die Familie, oder aus anderen Gründen Anlass für gereizte Stimmung. So etwas überträgt sich, und wo wir versäumt haben, uns selber Zeiten der Erholung und Entspannung zu gönnen, wo wir selber unserer geschwächten Psyche nicht gewahr wurden, da schienen wir – ohne es zu wollen – an unseren Kindern etwas abzureagieren. Manchmal hilft es schon, über solche Belastungen der ganzen Familie nur einfach mal offen zu reden, mit dem Ehepartner oder mit der ganzen Familie. Zugeben, dass man Probleme hat, dass man überlastet ist, dass man ernstgenommen werden will, dass man nicht nur herumkommandiert werden möchte, das kann dazu führen, die Dinge viel entspannter zu betrachten.

Viele fühlen sich als Verlierer, wenn sie ihre Schwäche zugeben. Und als Verlierer dazustehen, wer kann das schon ertragen? Aber ist wirklich einer, der seine Schwäche zugeben kann, immer ein Verlierer? Wie ist das überhaupt mit dem Verlieren und dem Gewinnen? Jesus scheint ja die Dinge auf den Kopf zu stellen, wenn er sagt: „Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren!“ Was meint er denn damit? Mitglieder unseres Kreises haben dazu einen Text gefunden, der nun vorgelesen wird.

„Im Verlieren gewinnen“

Verlieren, gewinnen, stark sein, schwach sein – die Begriffe verlieren ihre Eindeutigkeit, wenn wir lange über sie nachdenken. Im Verlieren kann ein Gewinn stecken, einer, der es immer nötig hat, zu gewinnen, ist in Wirklichkeit ein Verlierer. Einer, der immer stark ist, schützt sich manchmal nicht ausreichend vor Gefahren, die auch ihn bedrohen. Und jemand, der schwach scheint, kann durch eine innere Stärkung auch ein schweres Schicksal überwinden.

Noch ein letzter Gedankengang zu diesem Thema. Warum konnten Menschen wie z. B. Mutter Teresa gesicherte Verhältnisse aufgeben und sich ganz dem Dienst an den Ärmsten der Armen widmen? Wie können Menschen täglich der Hoffnungslosigkeit ins Auge sehen und geben doch nicht auf? Wie können Menschen sich voll und ganz herschenken, sich Tag für Tag einem ungewissen Schicksal ausliefern, jede äußere Stärke aufgeben, um ganz für den Dienst an den Schwachen da zu sein?

Die Antwort lautet: Liebe. Nicht eine Liebe, die wir selbst aufbringen, sondern eine Liebe, die Gott uns schenkt. Die Liebe, mit der Gott uns in Jesus geliebt hat. „Lass dir an meiner Gnade, meiner Liebe, genügen“, sagt Gott in Christus, „denn meine Kraft, diese Kraft der Liebe, ist in den Schwachen mächtig. In den Schwachen, und auch in denen, die anderen Schwachen zu helfen versuchen.“ Ein weiterer Text will verdeutlichen, wie Gott uns in Christus geliebt hat, und wie er auf unsere Gegenliebe wartet – ein Gott, der kein bisschen äußere Stärke zeigt, sondern sich uns in vollkommener Schwachheit total ausliefert – aus Liebe:

Jesus – …als hätte Gott sein Herz in die Hand genommen und sagte zu uns: Nehmt!

Dieser schwache Gott – das ist zugleich der allmächtige Gott, den wir anbeten. Seine Allmacht ist verborgen in seiner Unscheinbarkeit, in seiner Verletzlichkeit. Warum haben wir es dann immer wieder nötig, uns zu einer scheinbaren Stärke aufzuschwingen? Warum wollen wir immer wieder unsere Schwäche nicht zugeben? Wir haben das nicht nötig. Gott nimmt uns an, so wie wir sind. Gott fordert uns zur Liebe heraus, fordert uns dazu heraus, einander auch mit unseren Schwachheiten anzunehmen.

Wir bewundern oft die Menschen, die sich nach außen so stark geben. Und wenn sich jemand „gehen lässt“, wie wir sagen, dann halten wir das oft nicht aus. Selber schämen wir uns, wenn wir uns nicht zusammenreißen konnten. Aber diese Einstellung ist in einer christlichen Gemeinde nicht am Platz. Wenn Gott es aushält, dass wir vor ihm schwach sind, wenn er uns als schwache Menschen annimmt und stärken will, ja wenn er selbst sogar schwach wird um der Liebe willen, dann brauchen wir weder ihm noch unseren Mitchristen eine Stärke vorzuspielen, die eigentlich gar nicht da ist, die auf die Dauer über unsere Kräfte geht. Wir dürfen den Mut haben, schwach zu sein im Glauben, schwach zu sein in Gefühlen, die uns übermannen. Wir dürfen uns Menschen suchen, zu denen wir Vertrauen haben können, und unser Herz ausschütten.

Nicht an einen äußerlich starken, gewalttätigen, strafenden Gott glauben wir, sondern diesem liebenden, barmherzigen, im Kreuz Jesu Christi so schwach erscheinenden Gott gilt unser Lob, das wir jetzt wieder singen wollen!

Gotteslob 267, 1-4: Nun danket all und bringet Ehr
Schlussgebet (Pfarrer Petschull)
Vater unser
Gotteslob 257, 1+3+8: Großer Gott, wir loben dich
Segenswort

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