Bild: Schüler

Der junge Gefangene und der fliehende Jüngling

Helen Percy war mehrere Jahre Gemeindepfarrerin sowie Gefängnisseelsorgerin in Schottland. Inzwischen arbeitet sie als Schäferin. Als ich in der Zeitschrift „Junge Kirche” 1/2007 (S. 69-70) die Osterpredigt von Helen Percy entdecke, bemühe ich mich, ihre Erlaubnis zu bekommen, diese Predigt auch hier auf der Bibelwelt zu veröffentlichen. Denn ich habe ja meiner Predigt „Der fliehende Jüngling – enttäuscht von Jesus?” ähnliche Gedanken über den fliehenden Jüngling von Markus 14, 51-52 zu Grunde gelegt. Aber die Predigt von Frau Percy finde ich noch viel schöner und bewegender. Die Übersetzerin ihrer Predigt, Rona Röthig, vermittelte mir dann auch wirklich das Einverständnis von Frau Percy, ihre Predigt auch hier der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Helmut Schütz

„Ein junger Mann aber folgte ihm nach, der war mit einem Leinengewand bekleidet auf der bloßen Haut; und sie griffen nach ihm. Er aber ließ das Gewand fahren und floh nackt davon.“ (Markus 14, 51-52)

„Und sie [Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus und Salome] gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Gewand an, und sie entsetzten sich.“ (Markus 16, 5)

„Kannst Du mir eine Bibel bringen?“

Ich denke, ja. Irgendwo in meinem wenig benutzten Büro wird eine Bibel sein. Es ist nichts, was ich auf meiner Tour durch die Zellen mit mir herumtrage, aber eine sollte sich finden lassen. Das ist leicht.

Die Frage kommt von Euan, einem jungen Gefangenen, dessen kleine Tochter vor einigen Tagen ermordet worden ist. Euan ist fassungslos. Er müsste jetzt eigentlich bei seiner Familie sein, doch seine einzige Kontaktmöglichkeit ist eine Telefonkarte aus Plastik. In der ersten Nacht, nachdem man ihm erzählt hatte, was passiert war, wartete er in einer Reihe, um zu telefonieren, aber der Wärter erklärte just in dem Moment, als er an der Reihe war „Die Telefonzeit ist beendet!“ Euan brach vor den anderen Gefangenen und den Wärtern zusammen. Dafür werden sie ihn noch wochenlang verspotten. Für heute kann Euans Freundin nicht mit ihm sprechen. Dabei ist Kommunikation unter Paaren bei einem schmerzlichen Verlust schwierig genug, auch ohne solche inhumanen Hemmnisse durch Gefängnisregeln.

Ich hole die Bibel – erleichtert, dass dies alles ist, worum mich Euan bittet. Jahre theologischer Ausbildung bereiten eine Pfarrerin nicht darauf vor, mit einem tragischen Todesfall umgehen zu können; zu wissen, was zu sagen ist. Mit praktischen Problemen kann ich umgehen. Ich kriege es hin, einen privaten Anruf für Euan von meinem Büro aus zu organisieren. Ich kann ihm eine Bibel bringen. Aber bitte, Gott, verlange nicht von mir, mit der Qual in der Seele dieses Mannes umgehen zu können.

Euan blättert durch die Seiten des dicksten Buches, dass er jemals in der Hand hatte. Das mit der kleinsten Schrift. Der Bildungsgrad unter Gefangenen ist allgemein niedrig. Hätte das Bildungssystem bei Euan nicht versagt, Euan hätte womöglich der Spirale aus Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität entfliehen können. Aber so ist er hier, mit dem Buch, das er wollte, doch ohne die Werkzeuge, es zu lesen.

Er gibt es mir zurück: „Steht da irgendwas über Tod drin?“

Ich halte meinen Atem an. Panik! Jetzt bittet er mich, seine Seele zu berühren.

„Oh, ja“, sage ich. Ich finde die letzen Kapitel des Markusevangeliums und umschreibe sie für ihn. Der Tod Jesu – grausam, politisch motiviert, ungerechtfertigt – war wie Millionen anderer gewalttätiger Tode, die in der Welt über Jahrhunderte stattgefunden haben. Trotzdem, es ist nicht das Ende der Geschichte, denn Jesus ist in nicht mehr in seinem Grab.

Junger Mann im Grab Jesu: Entsetzt euch nicht! Jesus ist auferstanden, er ist nicht hier!
Junger Mann im Grab Jesu, von einem Schüler gemalt

Eigentlich ist es egal, ob der weiß gekleidete Mann, der im Grab saß, ein Engel, ein Gärtner, oder der junge Mann war, der Jesus am Tag seiner Verhaftung zu folgen versuchte, der nackt in die Dunkelheit von Gethsemane rannte, die Kleider heruntergerissen von dem Wächter, der nach ihm griff… Ja, ich stelle mir gern vor, es ist dieser Jüngling, Johannes Markus, der Augenzeuge unter den Evangelisten. Mit dem verschreckten Jungen, der sich versteckte ohne ein Kleidungsstück am Leib, kann ich mich identifizieren. Er beobachtete, wie Jesus weggetragen wurde, er sah, wie er begraben wurde. Er wusste, dass etwas, was jedes Verständnis übersteigt, diesem Körper zuteil wurde. Er borgte sich jetzt das Leichentuch, um seine Nacktheit zu verdecken. Engel in Weiß, strahlend vor Ruhm, wie sie die anderen Evangelisten beschreiben, sagen mir gar nichts.

Ich versuche die Geschichte nicht zu verkomplizieren, während ich sie Euan erzähle. Ich erzähle ihm einfach: Was auch immer mit dem Körper von Jesus in dieser Nacht passiert ist, der junge Mann, der am Grab saß, war überzeugt davon, dass Jesus irgendwie lebendig und bereits auf dem Weg nach Galiläa war. Und die drei Frauen – Maria, Maria und Salome – waren erstaunt; verblüfft.

Auch Euan sieht verwundert aus. Seine Augen sind ganz groß. Er kann es nicht begreifen. „Glauben Christen das wirklich?“

„Ja, Euan. Sie glauben es. Christen glauben, dass das Leben stärker als der Tod ist, und Liebe stärker als der Hass. Der Tod ist nicht das Ende von Allem. Du hörst nicht auf, jemanden zu lieben, nur weil er oder sie gestorben ist, und ich denke, es gibt auch keinen Grund zu glauben, dass die anderen aufhören, dich zu lieben. Es gibt zwar keinen Körper mehr, den man halten kann, kein Kind mehr, dass du auf den Schoß nehmen kannst, aber die Liebe ist nicht tot, oder was meinst du? Es tut weh, weil du ihr nicht mehr übers Haar streicheln kannst. Es tut verdammt weh, und es wird noch lange verdammt weh tun. Aber deine Liebe für sie wird nicht sterben, Euan. Liebe hört nicht auf.

„Aber was passierte, nachdem Jesus begraben worden war?“

„Ich weiß es nicht, Euan. Nur der junge Mann in dem Grab sah, was passierte. Er konnte seine Trauer nicht in Worte fassen, genauso wenig wie du das mit deiner Trauer kannst. Er hatte keine Kleider mehr, genau wie du, als dir der Gefängniswächter deine Kleider abnahm, als du gefangen und hierher gebracht wurdest. Er konnte nur die Kleider eines Toten finden, um seine Scham zu bedecken. Er hatte seinen Freund verloren und seinem Freund das Leichentuch gestohlen und es angezogen. Kannst du dir die Erniedrigung vorstellen, in einem Leichentuch nach Hause zu kommen, und deiner Familie zu erklären, wo du von Donnerstag Abend bis Sonntag warst?“

„Oh ja. Das kann ich mir vorstellen. Mein kleines Mädchen… Ich muss bei ihrer Beerdigung Handschellen tragen. Ihre Mutter kann mir nicht verzeihen, dass ich nicht für sie da war. Meine Familie versteht nicht, wie es ist, hier zu sein. Sie werfen mir vor, dass ich nicht bei ihnen bin.“

„Markus war nicht bei der Kreuzigung, Euan. Dort waren Massen von Leuten, aber Markus hatte keine Kleidung. Er war aus dem Spiel, genau wie Du. Keiner wusste, was mit ihm passiert war, nachdem ihn die Wachen erwischt hatten. Alle anderen Freunde und Verwandten von Jesus konnten sich nach seinem Tod gegenseitig beistehen. Markus musste mit seinem Schock alleine fertig werden. Genau wie Du. Es tut mir so Leid, Euan.“

Euan fängt an zu zittern. Ich halte ihn, bis er sich beruhigt hat. Ich habe keine Worte mehr, die ich noch sagen kann, und ich spüre, dass das, was ich gesagt habe, ihm nicht geholfen hat. Euan ist allein in seiner Trauer. Er ist in ein Leichengewand aus Isolation und Verlorenheit gehüllt. Seine Familie kann gemeinsam trauern. Euan ist weggeschlossen von ihnen. Ich habe Angst, dass er sich vor jedem verschließen wird.

„Was glaubst Du, was Markus tat, als er nach Hause kam?“ fragt Euan plötzlich. „Glaubst Du, er hat sich jemals verziehen, dass er sie nicht daran hindern konnte, Jesus zu töten, dass er nicht da war, als er gestorben ist?“

„Ich weiß es nicht, Euan. Sich selbst zu vergeben ist immer am schwersten. Möglicherweise hat er sich selbst nie vergeben, aber ich bin der Meinung, er hat den Rest seines Lebens versucht, verletzliche Leute zu beschützen und Unrecht überall anzuprangern, wo er es sah. Möglicherweise hat er sich immer so gefühlt, als ob er noch das Leichentuch tragen würde. Ich glaube nicht, dass man so was vergessen kann. Aber man kann genauso wenig vergessen, dass man geliebt hat. Man darf die Liebe nicht sterben lassen.“

„Nein, man darf die Liebe nicht sterben lassen“, grübelt er. „Die Liebe wird nicht sterben.“

Und ich spürte, es gab ein Ostern in Euans Herz, trotz der fürchterlichen Beerdigung, und trotz der Handschellen.

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