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Der fliehende nackte junge Mann

Die Predigt in diesem Gottesdienst war Teil einer Predigtreihe zum Thema „Von Jesus enttäuscht?“, in der drei Randfiguren der Passionsgeschichte Jesu in den Mittelpunkt gerückt wurden, nämlich außer dem fliehenden Jüngling „Die belogene Magd“ (Pfarrer Kornelius Büttner, Stephanusgemeinde Gießen) und „Der verwundete Soldat“ (Pfarrer Peter Ohl, Markusgemeinde Gießen). direkt-predigtMeine Predigt wurde gehalten am 10. März 2001 in der Pauluskirche Gießen, am 17. März 2001 in der Pankratiuskapelle Gießen und am 25. März 2001 in der Stephanusgemeinde Gießen.

Eine Predigt zum gleichen Predigttext und mit ähnlichen Schlussfolgerungen hat die schottische Seelsorgerin Helen Percy gehalten, die ich ebenfalls auf der Bibelwelt veröffentlichen darf: Osterpredigt.

Statue eines Jungen an einem Grabstein
Statue eines Jungen an einem Grabstein (Bild: MaaarkPixabay)

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Heute beginnt in den drei Gießener Gemeinden Markus, Stephanus und Paulus eine gemeinsame Predigtreihe zum Thema „Von Jesus enttäuscht?“ Drei eher unscheinbare Personen am Rand der Leidensgeschichte Jesu rücken in den Mittelpunkt: Menschen, die mit Jesus oder seinen Leuten eine Enttäuschung erleben.

Bei uns steht die erste Predigt unter dem Motto: „Der fliehende Jünger“. Genauer müsste es heißen: „Der fliehende Jüngling“, denn es ist ein jugendlicher Jünger Jesu, der sich auf- und davonmacht, als er in tödliche Gefahr gerät.

Ob die Hoffnungen und Ängste dieses jungen Mannes auch uns berühren in unserem Leben, in unserer Gemeinde, wird sich in diesem Gottesdienst zeigen.

Wir singen das Lied 209:
Ich möcht‘, dass einer mit mir geht
Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Ich möcht‘, dass einer mit mir geht, durch dick und dünn, einer, der mich versteht, der mich nicht im Stich lässt. So stell‘ ich mir Jesus vor. So ist er unsichtbar bei mir, bei uns.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Ich möcht‘, dass einer mit mir geht. Das dachte auch Jesus, damals im Garten Gethsemane. Sie blieben nicht mit ihm wach, als er solche Angst hatte vor dem, was kommt. Und alle liefen sie weg, als es hart auf hart kam. Keiner ging mit ihm in die Gefangenschaft.

Jesus geht unseren Weg, bis zum bitteren Ende, obwohl auch er Angst hat. Und wir fliehen. Fliehen aus Angst. Fliehen, weil wir unsere Angst nicht spüren wollen. Fliehen, weil wir enttäuscht sind von einem Jesus, der nicht flieht, der sich alles gefallen lässt.

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Hat Gott Jesus im Stich gelassen, als er abgeführt wurde? Hat Jesus seine Jünger im Stich gelassen, als er sich gefangen nehmen ließ? Sind wir zu Recht enttäuscht von Gott, von Jesus?

Wir beten mit Worten des Propheten Jesaja 40 (vereinfachte Übersetzung):

27. Warum sagst du: „Gott kümmert sich nicht um mein Schicksal. Die Menschen sind ihm egal“?

28. Weißt du nicht? Der ewige Gott, der das Weltall geschaffen hat, dessen Gedanken für uns unerforschlich sind, der wird nicht müde noch matt.

29. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Schwachen.

30. Männer werden müde und matt, und sogar Jünglinge straucheln und fallen;

31. aber die sich auf Gott verlassen, kriegen neue Kraft, dass sie hochfliegen wie mit Adlerflügeln, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie ihren Weg gehen und nicht müde werden.

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende“.

Der Herr sei mit euch „und mit deinem Geist.“

Ich möcht‘, dass einer mit mir geht, guter Gott, und ich möchte, dass du das bist. Ich vertraue dir, weil du ein Gott mit einem menschlichen Gesicht bist. Ich glaube an dich, weil du größer bist als das Weltall und doch unser Schicksal geteilt hast. Auch wenn es nicht leicht ist – ich möchte dir folgen auf Wegen, die du uns vorgezeichnet hast durch Jesus Christus, unseres Herrn. „Amen.“

(Erste Lesung nur in der Stephanusgemeinde:) Wir hören aus Matthäus 19, 16-22, die Geschichte eines Jünglings, der zu Jesus kommt:

16. Und siehe, einer trat zu ihm und fragte: Meister, was soll ich Gutes tun, damit ich das ewige Leben habe?

17. Er aber sprach zu ihm: Was fragst du mich nach dem, was gut ist? Gut ist nur Einer. Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote.

18. Da fragte er ihn: Welche? Jesus aber sprach: »Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis geben;

19. ehre Vater und Mutter«; und: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«.

20. Da sprach der Jüngling zu ihm: Das habe ich alles gehalten; was fehlt mir noch?

21. Jesus antwortete ihm: Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach!

22. Als der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt davon; denn er hatte viele Güter.

Wir hören den Text zur Predigt, einen Ausschnitt aus der Geschichte von der Verhaftung Jesu. Die Soldaten der Hohenpriester waren in den Garten Gethsemane gekommen – unter der Führung des Verräters Judas, der auf Jesus zuging und ihn küsste. Der Evangelist erzählt weiter (Markus 14):

46. Die aber legten Hand an ihn und ergriffen ihn.

47. Einer aber von denen, die dabeistanden, zog sein Schwert und schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm ein Ohr ab.

48. Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Ihr seid ausgezogen wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen, mich zu fangen.

49. Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen und habe gelehrt, und ihr habt mich nicht ergriffen. Aber so muss die Schrift erfüllt werden.

50. Da verließen ihn alle und flohen.

51. Ein junger Mann aber folgte ihm nach, der war mit einem Leinengewand bekleidet auf der bloßen Haut; und sie griffen nach ihm.

52. Er aber ließ das Gewand fahren und floh nackt davon.

Herr, dein Wort ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege. Amen. „Amen!“

Glaubensbekenntnis

Wir singen aus dem Lied 77 die Strophen 1, 4 und 8:

Christus, der uns selig macht, kein Bös‘ hat begangen, ward für uns zur Mitternacht wie ein Dieb gefangen, eilend zum Verhör gebracht und fälschlich verklaget, verhöhnt, verspeit und verlacht, wie denn die Schrift saget.

Um Sechs ward er nackt und bloß an das Kreuz geschlagen, an dem er sein Blut vergoss, betet mit Wehklagen; die Zuschauer spott’ten sein, auch die bei ihm hingen, bis die Sonne ihren Schein entzog solchen Dingen.

O hilf, Christe, Gottes Sohn, durch dein bitter Leiden, dass wir dir stets untertan Sünd und Unrecht meiden, deinen Tod und sein Ursach fruchtbar nun bedenken, dafür, wiewohl arm und schwach, dir Dankopfer schenken.

Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde! Wie ein Dieb gefangen, nackt und bloß ans Kreuz geschlagen – so endet Jesus, erst 33 Jahre jung, trotz vielversprechender Möglichkeiten, als Prediger, als Arzt, als Mensch für Menschen.

Ein anderer, noch jüngerer Mann folgt ihm nach, in der Nacht der Verhaftung. Er als einziger. Die alten Hasen, alle elf Jünger außer dem Verräter, auch der großmäulige Petrus, sind schon verschwunden im Dunkel der Nacht.

Wer ist dieser Jüngling? Ich stelle mir einen Jugendlichen vor, so ab dem Konfirmandenalter. Er trägt seinen Umhang auf der bloßen Haut, vielleicht weil er nicht auf Mutters Ermahnungen hören möchte: „Zieh dich warm an, trag doch ein Unterhemd!“ Viel zu sagen hat er in der Welt der Männer noch nicht.

Auf den ersten Blick wissen wir von ihm nicht mehr als dies:

51 Ein junger Mann aber folgte Jesus nach, der war mit einem Leinengewand bekleidet auf der bloßen Haut; und sie griffen nach ihm.

52 Er aber ließ das Gewand fahren und floh nackt davon.

Peinlich ist das – so nackig wegzurennen. Peinlich ist das – erst so mutig zu sein und es dann doch mit der Angst zu tun zu bekommen. Was ist das für ein Jesus, der solche Nachfolger hat? Keiner hat den Mumm, bis zuletzt bei ihm zu bleiben. Immerhin ist dieser Junge noch der mutigste von allen – er flieht erst, als die Soldaten auch ihn am Hemd packen. Weg ist er! Und schon ist sein Auftritt in der Bibel beendet.

Im Bibelkreis fragten wir neugierig: Wo mag er hingelaufen sein? Was ist wohl aus ihm geworden? Ich komme auf diese Frage zurück. Aber zuerst frage ich: Wo kommt er überhaupt her? Was ist das für einer, dieser jugendliche Jünger Jesu?

Ich stelle mir vor, dass er schon eine Geschichte mit Jesus gehabt hat. Vielleicht steht davon sogar etwas in der Bibel. Jesus ist mehrmals Jugendlichen begegnet, und unmöglich ist es nicht, dass einer von ihnen hier wieder auftaucht.

Da ist zum Beispiel der einzige Sohn einer Witwe in der Stadt Nain. Man kann sich denken, welche Last er zu tragen hat: Muss ich ein Kind bleiben, weil die Mama kein anderes Kind hat? Oder muss ich ganz schnell groß werden und für sie sorgen, wie es der Papa getan hätte? Kann ich meinen eigenen Weg gehen, ohne ihr wehzutun?

Am Ende begegnet er Jesus – der Evangelist Lukas zeichnet davon ein tragisches Bild: Jesus kommt an einem Leichenzug vorbei, er sieht die verzweifelte Mutter und den Jungen tot im Sarg, dem Leben ganz und gar entflohen. Nahe liegt es vielen Christen, Jesus ohne Weiteres die Wiederbelebung eines biologisch Toten zuzutrauen. Mir liegt eine andere Auslegung näher, dass Jesus ein Heilmittel weiß gegen den Tod mitten im Leben, mitten in ausweglosen Beziehungen: Er stellt den Jungen auf seine eigenen Füße und lässt ihn mit eigener Stimme reden. So ist er als erwachsener Sohn, nicht als kleines Kind, nicht als Ersatz des verstorbenen Vaters, für seine Mutter da. Kann es sein, dass dieser junge Mann sich im Garten Gethsemane unter die Jünger gemischt hat?

Ein anderer junger Mann ist immer wieder zu Jesus gegangen und hat ihm begeistert zugehört. Dieser Jesus stellt so vieles in Frage, legt sich sogar mit den alten Autoritäten im Land an – und Religion ist plötzlich nicht mehr verstaubt, wie er immer gedacht hat. Vor allem ist da endlich einer, der mit ihm geht, der ihn versteht, ein erwachsener Begleiter, wie ein Patenonkel, mit dem er über Gott und die Welt reden kann, der ihn ernst nimmt, auch wenn er ihm widerspricht. An seiner echten Autorität kann er sich reiben, kann sich eine eigene Meinung bilden, den eigenen Weg finden.

So stelle ich mir den reichen Jüngling vor, von dem die Evangelisten berichten. Er will mehr für Gott tun, nicht nur die Gebote halten, weil er sich nach ewigem Leben sehnt. Doch als Jesus ihm sagt: „Dann musst du deinen Reichtum aufgeben!“, geht er traurig weg. Den eigenen Weg zu finden, kann schmerzhaft sein – wenn das große Vorbild einen überfordert – oder herausfordert zum Widerspruch. Es kommt zum Bruch mit Jesus. – Aber wer weiß, vielleicht nicht endgültig.

Vielleicht ist es ähnlich wie mit unseren Konfirmanden, wenn sie konfirmiert sind und schlagartig nicht mehr in die Kirche kommen. Sie brauchen erstmal eine Auszeit. Aber manchmal kommen sie später wieder. Aus meinem ersten Konfirmandenjahrgang 1980 sagte mir einer später: „Ich hab das ja damals noch gar nicht kapiert, was du uns alles erzählt hast. Aber später, so mit 18, da hab ich gemerkt, dass da doch was dran war.“

Könnte unser jugendlicher Jünger in Gethsemane nicht auch dieser reiche Jüngling sein? Dann haben ihm die Worte Jesu doch keine Ruhe gelassen. Ihm ist klargeworden: Jesus schenkt mehr, als er fordert. Der versteht mich! Der traut mir etwas zu! Der zeigt mir, worauf es wirklich ankommt. Er gibt sein bisheriges Leben im Überfluss auf und sucht etwas Besseres bei Jesus. Und weil ihm auch teure Markenklamotten nicht mehr wichtig sind, braucht er nicht mehr als ein einfaches Leinenhemd auf bloßer Haut.

An dieser Stelle lassen Sie uns ein wenig durchatmen und Predigtpause machen. Wir singen, bevor die Predigt weitergeht, das Lied 370, 1-2 und 7 und 10:

Warum sollt ich mich denn grämen? Hab ich doch Christus noch, wer will mir den nehmen? Wer will mir den Himmel rauben, den mir schon Gottes Sohn beigelegt im Glauben?

Nackend lag ich auf dem Boden, da ich kam, da ich nahm meinen ersten Odem; nackend werd ich auch hinziehen, wenn ich werd von der Erd als ein Schatten fliehen.

Unverzagt und ohne Grauen soll ein Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen. Wollt ihn auch der Tod aufreiben, soll der Mut dennoch gut und fein stille bleiben.

Was sind dieses Lebens Güter? Eine Hand voller Sand, Kummer der Gemüter. Dort, dort sind die edlen Gaben, da mein Hirt Christus wird mich ohn Ende laben.

Liebe Gemeinde!

Der jugendliche Jünger, wer auch immer er ist, hält nicht durch. Er ist mutig, aber ihm fehlt die Erfahrung und leider auch das Vorbild der erwachsenen Männer. Die sind ja bereits vor ihm geflohen.

Und was ist mit seinem großen Vorbild, mit Jesus selbst? Der entspricht jetzt wohl auch nicht dem Bild, das er bisher von ihm gehabt hat: Abgeführt wie ein Verbrecher, dem drohenden Tod ausgeliefert, geht er mit den Soldaten mit, wehrlos wie ein Tier, das geschlachtet werden soll.

Nein, so etwas soll ihm nicht passieren! Er reagiert instinktiv. Jung und flink, wie er ist, kann man ihn zwar packen, aber nicht festhalten. Nur sein Leinenhemd behalten die Soldaten in der Hand, er selbst entflieht in Panik, buchstäblich in nackter Angst, rettet nur sein nacktes Leben.

Nackte Angst ist hier nicht zum erstenmal ein Thema in der Bibel. Krieg wird kommen, sagt der Prophet Amos 2, 6 seinem Volk Israel,

… weil sie die Unschuldigen für Geld und die Armen für ein Paar Schuhe verkaufen.

Ja, sagt Amos 2, 16, ihr werdet im Krieg besiegt werden und

… wer unter den Starken der mannhafteste ist, soll nackt entfliehen müssen an jenem Tage, spricht der HERR.

Das ist genau wie in der Geschichte mit Jesus! Ausgerechnet der Stärkste und Mutigste muss froh sein, dass er auf der Flucht seine nackte Haut retten kann. Welche Demütigung – der kühne Krieger, nackt wie ein hilfloses Baby – den Blicken von Menschen ausgeliefert, die ihn womöglich noch auslachen! Und welche Gefahr für sein Leben – wenn er nackt allen Gefahren des Wetters und der Feinde ausgesetzt ist!

Nicht zufällig steht Nacktheit in der Bibel sprichwörtlich für Geburt und Tod, so sagt Hiob 1, 21 in seinem Unglück:

Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren.

Die Paradiesgeschichte am Anfang der Bibel weiß (1. Buch Mose – Genesis 2, 25), wie nackte Angst entsteht. Wer in Geborgenheit lebt, eins mit Gott und mit dem Menschen neben sich, ohne Angst vor Bloßstellung, der schämt sich seiner Nacktheit nicht:

25 Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht.

Wer aber herausgefallen ist aus der ursprünglichen Geborgenheit, wer nicht mehr eins ist mit Gott, sondern ihm misstraut und sein Gebot bricht, für den wird das Nacktsein ein Problem (Genesis 3):

7 Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.

8 Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des HERRN unter den Bäumen im Garten.

So versteckt sich der schuldig gewordene Mensch, der sich seiner Schuld aber nicht stellen will. Er schämt sich dafür, dass er überhaupt da ist, man soll ihn nicht sehen in seiner Blöße, in seinem Versagen.

Zurück zum jugendlichen Jünger Jesu. Seine Flucht, nackt, wie Gott ihn schuf, erinnert an Adam. Nur dünn ist das Hemd auf seiner Haut, leicht wird es weggerissen, leicht zerreißt sein Mut zur Nachfolge, und er lässt Jesus doch im Stich. Als ihn die Soldaten packen, packt ihn innen drin die Angst. Grund genug zur Panik hat er. So jung er ist, er weiß, was Jesus zu erwarten hat und was auch ihm bevorstehen könnte: die Folterknechte werden Jesus ins Gesicht schlagen, nackt ausziehen, peitschen, verspotten, auslachen. Dann ans Kreuz hängen, wo er qualvoll erstickt.

Der jugendliche Jünger muss das alles nicht erleiden. Doch was geschieht mit ihm? Markus erzählt nicht, wo er hinläuft, nennt nicht einmal seinen Namen. Kein anderer Evangelist erwähnt ihn überhaupt. Ist er wirklich nur ein unbedeutendes Jüngelchen, dieser Mutigste aller Jünger? Wird er einfach vergessen – weil die Jugend in der Religion nur eine Nebenrolle spielt?

Diese Predigt hat noch eine Pointe, auf die wir im Bibelkreis gekommen sind. Denn tatsächlich taucht noch einmal ein junger Mann im Markusevangelium (Markus 16, 5) auf. Drei Tage später kommen drei Frauen bei Sonnenaufgang zum Grab Jesu und erschrecken furchtbar, denn

… sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Gewand an, und sie entsetzten sich.

Wir sind so daran gewöhnt, dass den Frauen im Grab ein Engel erscheint (oder auch zwei), dass wir automatisch in diesem jungen Mann eine himmlische Gestalt sehen. Aber erst die Evangelisten Matthäus und Johannes erzählen ausdrücklich von Engeln. Markus redet wirklich nur von einem Jüngling und stellt uns damit am Ende seines Evangeliums ein Gegenbild zu unserem jugendlichen Jünger vor Augen. Ist er auf seiner Flucht zur Besinnung gekommen und noch einmal umgekehrt? Hat er ausgerechnet im Grab Jesu seine Enttäuschung über Jesus und über sich selbst überwunden?

Weggelaufen war er in Todesangst, weggelaufen von Jesus, der seine Todesangst überwunden hatte und nicht weggelaufen war. Hier im Grab könnte ein junger Mann sitzen, der inzwischen spürt, dass Jesus ihn nicht im Stich gelassen hat, dass seine Liebe zu ihm nicht aufgehört hat.

Dieses Grab Jesu ist nicht das Ende aller Hoffnungen. Man kann nicht Jesus begraben wie einen x-beliebigen Menschen. Der Vater, zu dem Jesus gebetet hat, steht nämlich trotz allem treu zu seinem Sohn. Und es mögen zwar alle weggelaufen sein, auch der junge Mann mit seinem jugendlichen Leichtsinn in seiner Panik, aber Jesus hat ihn trotzdem nicht aufgegeben. Vergeben hat er ihm. Sein weißes Gewand kann auch ein Zeichen dafür sein, dass er sich reingewaschen weiß von seiner Schuld. Seine Nacktheit und Bloßstellung hat ein Ende.

Für Markus ist er der Verkünder der Auferstehung. Ein Bote Gottes, ein Prophet, wie es der Prophet Joel 3, 1 im Alten Testament vorausgesagt hatte:

Eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten sollen Träume haben, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen.

Ein Bote Gottes ist der junge Mann – so gesehen doch ein Engel, denn ein „angelos“ ist ja ein Gottesbote.

Als er den Frauen, die um Jesus trauern, seine Botschaft sagt (Markus 16, 6):

Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier…

– da ist allerdings die Reaktion der Frauen merkwürdig (Markus 16, 8):

Sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich.

Jetzt sind es die Frauen, die fliehen, mit Zittern und Entsetzen.

Der junge Mann dagegen hat grenzenloses Vertrauen zu Jesus und sitzt in aller Seelenruhe in dessen Grab. Er weiß, dass Gott vom Tod erweckt, er versucht, in den Frauen Hoffnung zu wecken. Er weiß, ihre Flucht vom Grab und ihr Entsetzen müssen nicht ihre letzte Reaktion sein. Gott wartet auch auf ihre Umkehr.

Ich bin gewiss, dass all die Menschen am Rande der Passionsgeschichte nicht ohne Hoffnung bleiben, auch der fliehende Jünger nicht. Selbst wenn er nicht mit dem Jüngling im Grab Jesu gleichzusetzen wäre, gilt für ihn und auch für uns: Wer als Nachfolger Jesu die Panik kriegt und versagt und weggelaufen ist, kann auch wieder hinlaufen zu Gott. Gott ist die Zuflucht sogar für den, vor ihm auf der Flucht ist. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.

Wir singen das Lied 237:

Und suchst du meine Sünde, flieh ich von dir zu dir

Gott, wo laufe ich vor dir weg? Wo gerate ich in Panik, wenn ich gefordert bin? Wo halte ich mich zurück, auch wenn ich bekennen sollte?

Jesus, wo laufe ich vor dir weg? Wo erkenne ich dein Gesicht nicht im Gesicht der Menschen, die mir begegnen, im Schüler, der mit Störungen um Aufmerksamkeit kämpft, im Mitpatienten im Wartezimmer, dessen Krankengeschichte ich nicht geduldig anhören möchte?

Gott, wie dünn ist meine Haut. Wie empfindlich bin ich, wenn Angst sich in mir rührt. Ich bitte dich – lass mich nicht los, wenn ich dich loslasse. Gib mich nicht auf, wenn ich aufgebe. Schenke mir Selbsterkenntnis, damit ich barmherziger werde. Ich bitte dich um den nötigen Mut, dir nachzufolgen, und um Zuversicht für jeden Tag. Amen.

In der Stille bringen wir vor dich, was wir außerdem auf dem Herzen haben:

Gebetsstille und Vater unser

Zum Schluss singen wir das Lied 98:

Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt

Und nun geht mit Gottes Segen.

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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