Bild: Pixabay

„Neuer Wein in neue Schläuche“

Ich muss kein alter Weinschlauch bleiben, den es zerreißt, wenn er sich abmüht, den Sinn seines Lebens auf eigene Faust zu finden. Ich darf „in Christus“ die Liebe leben, als Mensch mit aufrechtem Gang in der Verantwortung vor Gott. Und als Gemeinde überwinden wir unsere Zerrissenheiten und wirken mit, dass die Zerrissenheit unserer Menschenwelt geheilt wird.

Eine Puppe mit Rissen im Gesicht
Was bedeuten die Gleichnisse Jesu, die mit Zerrissenheit zu tun haben? (Bild: Lisa YountPixabay)

#predigtGottesdienst am 2. Sonntag nach Epiphanias, den 14. Januar 2007, um 10.00 Uhr in der evangelischen Pauluskirche Gießen

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Ich begrüße alle herzlich in der Pauluskirche mit dem Wort zur Woche aus dem Evangelium nach Johannes 1, 17:

Das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.

Seit dem 1. Januar ist Herr von Weyhe der neue Vorsitzende im Kirchenvorstand. Heute führen wir ihn in sein Amt ein. Und dem bisherigen Vorsitzenden, Herrn Klimas, danken wir für seine Amtsführung in den letzten sechs Jahren.

Eigentlich sollte die Jugendband in diesem Gottesdienst spielen. Das geht heute leider doch nicht, weil die Sängerin krank ist. Aber der Auftritt wird auf jeden Fall nachgeholt.

Lied 440:

1. All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu; sie hat kein End den langen Tag, drauf jeder sich verlassen mag.

2. O Gott, du schöner Morgenstern, gib uns, was wir von dir begehrn: Zünd deine Lichter in uns an, lass uns an Gnad kein Mangel han.

3. Treib aus, o Licht, all Finsternis, behüt uns, Herr, vor Ärgernis, vor Blindheit und vor aller Schand und reich uns Tag und Nacht dein Hand,

4. zu wandeln als am lichten Tag, damit, was immer sich zutrag, wir stehn im Glauben bis ans End und bleiben von dir ungetrennt.

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. „Amen.“

Wir beten mit Psalm 40:

2 Ich harrte des HERRN, und er neigte sich zu mir und hörte mein Schreien.

3 Er zog mich aus der grausigen Grube, aus lauter Schmutz und Schlamm, und stellte meine Füße auf einen Fels, dass ich sicher treten kann;

4 er hat mir ein neues Lied in meinen Mund gegeben, zu loben unsern Gott. Das werden viele sehen und sich fürchten und auf den HERRN hoffen.

5 Wohl dem, der seine Hoffnung setzt auf den HERRN und sich nicht wendet zu den Hoffärtigen und denen, die mit Lügen umgehen!

6 HERR, mein Gott, groß sind deine Wunder und deine Gedanken, die du an uns beweisest; dir ist nichts gleich! Ich will sie verkündigen und davon sagen, wiewohl sie nicht zu zählen sind.

Kommt, lasst uns Gott anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Was ist das neue Lied, das Gottes Geist selbst uns in den Mund legt? Es muss nicht erst im Jahr 2007 gedichtet und komponiert worden sein, es muss nicht in den Charts der Radiostationen stehen. Es muss neuer sein als unsere Klagelieder, die immer wieder neu nur alten Text herunterbeten: „Ist es nicht schrecklich? Ist unsere Welt noch zu retten? Alles wird schlimmer! Alles wird teurer! Früher war alles besser!“ Viele Sorgen, die wir uns machen, haben einen berechtigten Kern, aber sie machen uns blind für das Gute, das Gott uns schenkt.

Gott, wenn wir klagen, lass uns auch die Dinge erkennen, für die wir verantwortlich sind. Wir rufen zu dir:

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Ein neues Lied, das unsere Klagelieder überwindet, finden wir in den Klageliedern Jeremias in der Bibel (Klagelieder 3, 22-23):

22 Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,

23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist gross Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende.

Der Herr sei mit euch! „Und mit deinem Geist!“

Gott, wir bitten dich, dass uns ein Licht aufgeht – ein Licht über dich und deine Wahrheit, ein Licht darüber, was wirklich neu und gut ist oder was wir als altbewährt nicht aufgeben sollten. Darum bitten wir dich im Namen Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

Liebe Gemeinde, bevor wir den Predigttext und die Predigt hören, möchte ich heute den Gang des Gottesdienst unterbrechen. Ich habe ja in den Texten und Gebeten bereits ein wenig mit den Worten „alt“ und „neu“ gespielt; jetzt geht es um „alt“ und „neu“ im Blick auf den Vorsitz im Kirchenvorstand. Unser „alter“ Kirchenvorstandsvorsitzender, Jürgen Klimas, hat zum Ende des Jahres 2006 sein Amt abgegeben, und unser „neuer“ Vorsitzender, Christoph von Weyhe, hat es am 1. Januar angetreten. Sie haben hoffentlich die Anführungszeichen bei den Worten „alt“ und „neu“ mitgehört, ich habe sie im Sinne von „bisherig“ und „jetzig“ verwendet, nicht im Sinne einer Bewertung. Wir hatten ja keine Abwahl und auch keine kirchenpolitische Akzentverschiebung, sondern es wird schlicht der Staffelstab innerhalb einer neuen Aufgabenverteilung im Kirchenvorstand übergeben; und der Kirchenvorstand bleibt weiterhin in der gleichen Besetzung im Amt.

Lieber Jürgen, ich werde nachher noch eine ausführliche Predigt halten, die hoffentlich zum Nachdenken anregt, deshalb mache ich jetzt nicht ganz so viele Worte. Ich weiß, dass du nicht so gern im Mittelpunkt stehst, sondern einfach das tust, was du als deine Pflicht ansiehst, und wenn du ein Amt übernimmst, dann willst du es auch richtig machen. Ich darf dir heute sagen: Du hast es richtig gemacht. Du warst 6 ¼ Jahre lang für uns ein guter Vorsitzender, auf den man sich verlassen konnte. Du hast dein finanztechnisches Wissen eingesetzt und auch mal handwerklich zugepackt, wo es nötig war. Die Zusammenarbeit mit dir hat überall geklappt, sei es mit dem Kita-Team, mit den Mitarbeitern der Paulusgemeinde oder im Kirchenvorstand selbst. Und wie sollten wir beide uns nicht gut verstanden haben – sind wir doch innerhalb deiner Amtszeit auch gemeinsam Mitglied in unserer Fünfziger-Vereinigung geworden.

Du hast vor drei Jahren gesagt, dass du den Vorsitz noch bis zur Hälfte der Amtsperiode des neuen Kirchenvorstandes übernehmen wolltest. Diese Zeit ist jetzt schon ein Vierteljahr überschritten. Wir verstehen, dass auch die verstärkte berufliche Belastung dir zur Zeit weniger Luft lässt, um das Amt des Vorsitzenden weiter auszuüben – schließlich soll weder deine Gesundheit noch deine Familie darunter leiden. Als kleines Dankeschön für deine Amtsführung überreicht dir der Kirchenvorstand einen Umschlag mit einem kleinen Geschenk, von dem nicht nur du, sondern auch deine Frau etwas haben wirst.

Überreichung des Geschenks

Lieber Christoph, erst seit drei Jahren gehörst du dem Kirchenvorstand an, und du hast seitdem bereits viel Verantwortung für die Paulusgemeinde übernommen, auf der einen Seite im Bau-, Finanz- und Personalausschuss, auf der anderen Seite im Konfi-Team. Seit eure kleine Tochter Rebecca auf der Welt ist, hat dein Engagement nicht nachgelassen, sondern du hast Wege gefunden, viele Aufgaben und Interessen unter einen Hut zu bekommen.

Jetzt hast du dich bereit erklärt, den Vorsitz im Kirchenvorstand zu übernehmen. Wir trauen dir das zu, und wir wollen dir die gleiche Unterstützung zusagen, die hoffentlich auch dein Vorgänger von uns erhalten hat. Als damals Jürgen Klimas das Amt von seinem Vorgänger, Herrn Gottfried Cramer, übernahm, hat er nicht versucht, es ihm in allem gleichzutun, sondern hat das Amt auf seine eigene Art und Weise ausgeübt. Nichts anderes erwarten wir nun auch von dir: dass du auf deine Art den Kirchenvorstand und die Paulusgemeinde leitest.

Um diese Aufgabe bewältigen zu können, bekommst du drei Dinge mit auf den Weg: Erstens die Glocke, die damals Jürgen Klimas überreicht bekommen hat, um in der Sitzung zur Ordnung rufen zu können. Er hat sie nie gebraucht und überreicht sie nun dir, mehr aus symbolischen Gründen als in der Erwartung, du würdest sie stürmisch läuten müssen.

Zweitens wird die Gemeinde dich bei deiner Aufgabe unterstützen und begleiten und dich auch ins Gebet einschließen; das werden wir auch in diesem Gottesdienst im Fürbittengebet tun.

Und drittens gebe ich dir einen Text, den ich im Jahr 2000 auch deinem Vorgänger mit auf den Weg gegeben habe. Es ist eine Auslegung des Wortes aus dem Psalm 31, 9, und ich wünsche dir, dass diese Worte auch dich in deinem Amt als Kirchenvorstandsvorsitzender tragen und beflügeln werden:

Du stellst meine Füße auf weiten Raum!

Gott segne dich und behüte dich in deinem Amt als Kirchenvorstandsvorsitzender und gebe dir Kraft und Augenmaß in allem, was du dir vornimmst. Amen.

Überreichen der Amtsglocke

Wir hören aus dem Evangelium nach Markus 2, 21-22:

21 Niemand flickt einen Lappen von neuem Tuch auf ein altes Kleid; sonst reißt der neue Lappen vom alten ab, und der Riss wird schlimmer.

22 Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißt der Wein die Schläuche, und der Wein ist verloren und die Schläuche auch. Nein, man soll neuen Wein in neue Schläuche füllen.

Herr, dein Wort ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege. Halleluja. „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Glaubensbekenntnis
Lied 269: Christus ist König, jubelt laut!
Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde, neuen Wein soll man nicht in alte Schläuche schütten, ein altes Kleid soll man nicht mit einem neuen Flicken ausbessern – was meint Jesus bloß damit? Ich bin fast verzweifelt, bis ich endlich eine Idee hatte, was er damit wohl meinen könnte.

Heutzutage flickt man ja kaum noch zerrissene Kleidungsstücke, sondern was kaputt ist, wirft man weg. Oder manche machen absichtlich Risse in die Jeans, weil es gerade Mode ist. Früher war man sparsam und hat Strümpfe gestopft und Hosen ausgebessert. Aber schon damals war es dumm, völlig zerschlissene Kleidung retten zu wollen, indem man ein neues Tuch zerschneidet und Flicken draufnäht; die würden auf den alten Sachen gar nicht halten und den Schaden vergrößern.

Und was sind überhaupt Weinschläuche? Wir kennen heute nur noch Fahrradschläuche, in denen Luft drin ist. Aber die Konfis, die im Bibelmuseum in Frankfurt waren, erinnern sich vielleicht daran, was wir im Nomadenzelt über die Behälter für Flüssigkeiten erfahren haben, die Abraham und Sara benutzt haben. Noch heute wandern Menschen im Nahen Osten mit ihren Viehherden von Weide zu Weide, leben in Zelten und stellen wasserdichte Schläuche her, die aus der Haut einer ganzen Ziege gemacht werden. Man muss dabei wirklich gut aufpassen, dass sie dicht sind, damit das Wasser auf dem Weg vom Brunnen nicht ausläuft. Und wenn man in so einem Schlauch aus Ziegenhaut Wein aufbewahren will, der anfängt zu gären, dann darf der Schlauch nicht zu alt sein, sonst kriegt die Haut Löcher, der Wein ist verloren, und der Behälter kann auch nicht mehr verwendet werden.

Was meint Jesus mit diesen Bildern aus dem Alltagsleben? Früher hat die Kirche gedacht, dass mit den alten Schläuchen und dem alten Kleid das Judentum gemeint sei. Die Juden, vor allem die Pharisäer, hätten sich mit frommen Leistungen das Wohlwollen Gottes verdienen wollen. Dagegen hätte Jesus erstmalig verkündet, dass Gott uns seine Gnade und Liebe ohne Bedingungen schenkt. Mit dem Glauben an Jesus wäre also die Religion der Juden überholt. Diese Auffassung spiegelt sich auch in der geläufigen Unterscheidung vom „Alten“ und „Neuen Testament“ wider.

Aber das sogenannte Alte Testament war die Bibel, die Jesus verwendet hat, seine Heilige Schrift. Er hat sie nicht zum alten Eisen geworfen, sondern neu ausgelegt und den alten Sinn neu zum Leuchten gebracht. Er hat in seinem eigenen Leben und Sterben die Verheißungen dieser Schrift so erfüllt, dass sie die Heilige Schrift für alle Völker werden konnte, also auch für uns der Weg zur Freiheit und zur Erfüllung unseres Lebens. Nicht ohne Grund besteht unsere Bibel aus beiden Testamenten. Das Alte Testament ist nicht die Urkunde eines außer Kraft gesetzten veralteten Glaubens. Alt ist es eher im Sinne von altehrwürdig und altbewährt – denn das Wort Testament steht für den Bund, den Gott mit Noah und Abraham, mit Mose und seinem Volk schließt. Diesen Bund gibt Gott nicht auf, denn Gott ist treu. Das Neue am neuen Bund, der im Neuen Testament beurkundet wird, besteht darin, dass Gott durch Christus alle Völker mit hineinnimmt in den Bund mit seinem Volk Israel.

Vielleicht hilft uns ja ein Blick ins Alte Testament auch, die Worte Jesu vom Riss im alten Kleid und von den alten und neuen Schläuchen zu verstehen.

Fangen wir mit dem Riss im Kleid an, der schlimmer wird, wenn man ihn flickt mit einem Flicken von neuem Tuch.

Im Alten Testament erzählt zum Beispiel das Buch der Richter 21, 15 von einem

Riss … zwischen den Stämmen Israels

und meint damit einen furchtbaren Konflikt, durch den der Stamm Benjamin fast ausgerottet worden wäre. Und als sich im Königreich Israel unter dem Sohn des Königs Salomo die 10 Nordstämme vom König in Jerusalem abspalten, da hatte der Prophet Ahija das angekündigt mit einer krassen Zeichenhandlung (1. Könige 11, 30-31):

30 Und Ahija fasste den neuen Mantel, den er anhatte, und riss ihn in zwölf Stücke

31 und sprach zu Jerobeam: Nimm zehn Stücke zu dir! Denn so spricht der HERR, der Gott Israels: Siehe, ich will das Königtum aus der Hand Salomos reißen und dir zehn Stämme geben -,

33 weil er mich verlassen hat und angebetet [fremde Göttinnen und Götter], und nicht in meinen Wegen gewandelt ist und nicht getan hat, was mir wohlgefällt, meine Gebote und Rechte, wie sein Vater David.

Diese Spaltung des Volkes Israel wurde nie geheilt. Das Nordreich gab es schon seit der Eroberung durch die Assyrer nicht mehr, das Südreich Juda konnte nach der Verbannung in Babylon zwar neu aufgebaut werden, es litt aber nacheinander unter der Fremdherrschaft von Persern, Griechen und Römern und blieb auch im Innern von politisch-religiösen Auseinandersetzungen zerrissen. Das Wort vom Riss im Kleid sagt Jesus nach den drei Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas, unmittelbar nachdem er gefragt wird, warum er und seine Jünger eigentlich nicht fasten, wie es die Pharisäer und auch die Jünger von Johannes dem Täufer tun. Pharisäer, Johannesjünger, die Gruppe um Jesus, das waren nur einige von den vielen Richtungen, in die damals das jüdische Volk zersplittert und zerrissen war, und das Fasten war für Pharisäer und Johannesjünger eine von vielen Methoden, um eine Veränderung herbeizuführen. Würde Gott nicht besondere religiöse Anstrengungen belohnen? Würde eine Umkehr zu Gott nicht die Zerrissenheit des Volkes überwinden und dazu führen, dass der Messias das Volk auch von der Fremdherrschaft der Römer befreit?

Jesus ist anderer Meinung. Er sieht, dass die Risse im Volk nur noch größer werden, wenn sich die einzelnen Gruppierungen im Volk über den richtigen Weg zur Einheit nicht einig sind. Aufrufe zum Fasten und zur Gesetzestreue sind zwar gut gemeint, aber sie heilen nicht den Riss im Volk, sondern reißen einen neuen Riss zwischen denen auf, die sich als die fromme Elite fühlen, und denen, die als unverbesserliche Sünder abgestempelt werden.

Nein, sagt Jesus:

21 Niemand flickt einen Lappen von neuem Tuch auf ein altes Kleid; sonst reißt der neue Lappen vom alten ab, und der Riss wird schlimmer.

Aber wie kann der Riss im Volk geheilt werden?

Zur Begründung, warum seine Jünger nicht fasten, hatte Jesus gesagt (Markus 2):

19 Wie können die Hochzeitsgäste fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist? Solange der Bräutigam bei ihnen ist, können sie nicht fasten.

Der Bräutigam, das ist er selbst, der Messias Gottes. Wenn Gott selbst den Menschen nahe ist, wenn sie sich durch seine Liebe verwandeln lassen, dann müssen sie nicht mehr, bildlich gesprochen, in geflickten Kleidern herumlaufen, sondern Gott selbst zieht sie ganz neu an. Die Flickschusterei im Volk Gottes hört auf; die Zerrissenheit im Volk und im einzelnen Menschen ist überwunden; es gibt keinen Widerspruch mehr zwischen der Vielfalt von Meinungen und der Einigkeit im Wesentlichen.

Davon hat auch der Apostel Paulus gesprochen. Er hat es im Brief an die Kolosser 3, 12-14, so ausgedrückt:

12 So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld;

13 und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!

14 Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.

Wer die Liebe Gottes „anzieht“, bekommt ein neues Outfit für seine Persönlichkeit. Ein jähzorniger Mensch wird nicht dadurch sanft, geduldig, demütig, dass er die eigene Zerrissenheit mit ein paar Flicken zudeckt. Seine Charakterschwäche kann er nur überwinden, indem er Liebe an sich heranlässt und die Ursachen für seinen übersteigerten Zorn überwindet. Wenn ich ängstlich, verzagt und depressiv bin, nützen mir auch keine Sprüche wie „Kopf hoch!“ oder „Wird schon wieder!“ Wenn ich mich der Welt mit Zuversicht stellen will, brauche ich die Gewissheit, dass ich nicht allein dastehe auf dieser Welt, dass mich jemand in den Mantel seiner Liebe einhüllt. Jesus sagt uns: „Gebt euch nicht damit zufrieden, an euren Macken herumzuflicken. Habt Vertrauen auf Gott, er zieht euch neu an, er hüllt euch in seine Liebe ein, wagt es nur, im Gottvertrauen zu leben!“

So viel zum Riss im Kleid. Er hat weniger damit zu tun, dass alte Anschauungen durch neue überholt werden und dass im Zuge dessen vielleicht die einen Menschen besser dastehen als die anderen, sondern damit, dass diese ganze Zerrissenheit zwischen den Menschen geheilt wird. Und die Voraussetzung dafür ist die Heilung unserer inneren Zerrissenheit.

Bei dem Wein in alten oder neuen Schläuchen geht es um das gleiche Thema. Denn die Schläuche sind ja aus einer ganzen Ziegenhaut gemacht, keine Stelle darf undicht sein, der Schlauch darf nicht zerreißen. Die Frage ist nun: Wie bleibt der Schlauch ganz, wie verhindert man, dass er zerrissen wird?

Ich fand dazu eine Stelle im Buch Hiob 32. Da vergleicht ein Mann mit Namen Elihu seine eigenen Überzeugungen mit neuem Wein in neuen Schläuchen:

19 Siehe, mein Inneres ist wie der Most, den man nicht herauslässt und der die neuen Schläuche zerreißt.

Elihu ist ein junger Schriftgelehrter, der dem leidenden Hiob entgegentritt. Hiob hält am altvertrauten Glauben an den treuen Gott Israels fest; darum klagt er im Leid Gott an und fordert von ihm Gerechtigkeit. Drei alte Theologen haben dem Hiob gesagt: „Das kannst du nicht machen, natürlich ist Gott gerecht, du selber wirst für irgendetwas deine Strafe verdient haben.“ Als Hiob darauf besteht: „Ich habe nichts Unrechtes getan, es ist Gott, der mich zu Unrecht leiden lässt“, da gärt es in Elihu, ihn packt der Zorn auf Hiob und auf die alten Männer (Hiob 32, 3),

weil sie keine Antwort fanden und doch Hiob verdammten.

Elihu meint, weiser zu sein als die Älteren, er verteidigt mit überschäumender Begeisterung einen Gott, der alles kann und alles darf, einfach weil er der Allmächtige ist. In diesem Zusammenhang vergleicht er sich selber mit Most, der nicht nur alte, sondern sogar neue Schläuche zerreißt!

Ob Jesus diesen Satz im Blick hat, als er vom neuen Wein und den neuen Schläuchen spricht? Wir wissen ja von Jesus, dass ihn das Leid der Menschen jammert, die wie Hiob sind, oder wie Schafe, die keinen Hirten haben. Ein unbarmherzig fordernder Umgang mit dem Gesetz Gottes, ein fanatischer Glaube an Gott macht ihr Leid nur größer.

Nebenbei erwähne ich, dass der Evangelist Lukas 5 an das Gleichnis vom neuen Wein in alten Schläuchen noch den Satz anfügt:

39 Und niemand, der vom alten Wein trinkt, will neuen; denn er spricht: Der alte ist milder.

Es gibt Ausleger der Bibel, die denken, dass Jesus das kritisch meint: gegen diejenigen, die zu bequem sind, um Neues zu wagen, und das altvertraute Schlechte dem besseren Neuen vorziehen. Aber vielleicht will Jesus ja auch davor warnen, Alt und Neu gegeneinander auszuspielen. Was alt oder neu ist, ist nicht immer automatisch auch „besser“ oder „schlechter“, muss nicht als Fortschritt oder als Rückschritt eingeschätzt werden. Jesus ist daran interessiert, das gute Alte zu bewahren. Das alte Gesetz Gottes soll auch später in seiner Eigenart und Absicht verstanden und befolgt werden. Wer das in einer neuen Zeit tut, der muss manches neu sagen. Aber ein fanatischer Übereifer der Erneuerung schadet genauso wie ein engstirniges Festhalten am alten Buchstaben des Gesetzes und zerstört letzten Endes das Alte, das man bewahren will.

So viel zur Zusatzbemerkung des Lukas.

Im Kern geht es Jesus aber auch bei den alten und neuen Schläuchen nicht um das Thema „überholt“ und „fortschrittlich“, sondern um den „alten“ und „neuen“ Menschen.

Wenn ich wie ein alter brüchiger Weinschlauch bleibe, dann höre ich zwar die Worte Gottes, die Bergpredigt Jesu, aber sie zerreißen mich innerlich noch mehr. Sie führen mir meine Schlechtigkeit vor Augen und verursachen mir ein schlechtes Gewissen. Vielleicht machen sie mich sogar zu einem fanatischen Gläubigen, der andern Druck macht.

Ich halte die Forderungen der Liebe Gottes nur aus, wenn seine Liebe mich gleichzeitig festhält, wenn ich „in Christus bin“, wie der Apostel Paulus es ausdrückt, wenn das tiefe Vertrauen auf Christus sozusagen der „neue Weinschlauch“ ist, der mich zusammenhält und ganz sein lässt.

17 Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.

So sagt es Paulus in 2. Korinther 5, 17. „In Christus sein“, damit meint er ein Vertrauen auf Jesus, das uns hält und trägt, tröstet und aufrichtet, vergibt und befreit. Nur so werde ich ein neuer Mensch. Ohne Halt und Trost, ohne Vergebung und Befreiung von oben bleibe ich gefangen in Ängsten, in Sünden, in Zweifeln, in Verzweiflung. Aber (Markus 2):

22 niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißt der Wein die Schläuche, und der Wein ist verloren und die Schläuche auch. Nein, man soll neuen Wein in neue Schläuche füllen.

Ich muss kein alter Weinschlauch bleiben, den es zerreißt, wenn er sich abmüht, den Sinn seines Lebens auf eigene Faust zu finden. Ich kann Gottes Liebe als Geschenk annehmen und mich runderneuern lassen: Ich darf „in Christus“ leben, darf in ihm die Liebe leben, die mir geschenkt ist. So bin ich gehalten, so werde ich getröstet, so ist mir vergeben, so bekomme ich neue Chancen, so kriege ich Kraft und darf leben als Mensch mit aufrechtem Gang in der Verantwortung vor Gott. Und so werden auch wir als Gemeinde Jesu Christi unsere Zerrissenheiten überwinden und dabei mitwirken, dass die Zerrissenheit unserer Menschenwelt geheilt wird. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.
Lied 378: Es mag sein, dass alles fällt

Lasst uns beten!

Gott, wir bitten dich für unsere Kirchengemeinde: Dass sie ein Raum ist, wo Menschen seelisch auftanken können und Mut für ihre Aufgaben gewinnen. Dass in ihr Platz ist für Kinder und Jugendliche, die sich wünschen, ernstgenommen zu werden. Dass sie eine Gemeinschaft ist, in der man sich offen begegnen und wohlfühlen kann. Dass in ihr die kranken und einsamen Menschen nicht vergessen werden. Dass sie ein Ort ist, an dem man über den Glauben nachdenkt und jeder willkommen ist, der nicht weiß, wohin mit seinen Zweifeln.

Gott, wir bitten dich heute besonders für unseren Kirchenvorstand: Dass unsere Entscheidungen, von denen viele Menschen betroffen sind, nicht zur Routine werden. Dass der Kirchenvorstand und alle, die in der Gemeinde mitarbeiten, sich wie bisher aufeinander verlassen können. Dass unser neuer Vorsitzender den Rückhalt und die Unterstützung erfährt, die er braucht. Dass unser bisheriger Vorsitzender uns weiter mit Rat und Tat zur Seite steht, aber auch Zeit gewinnt für andere Interessen. Dass der Kirchenvorstand kritisch und einsatzfreudig bleibt und weiterhin auch die Belange des Stadtteils im Blick behält.

In der Stille bringen wir vor dich, Gott, was jeder einzelne von uns außerdem auf dem Herzen hat:

Gebetsstille und Vater unser
Lied 432: Gott gab uns Atem, damit wir leben
Abkündigungen

Und nun geht mit Gottes Segen. Vielleicht bleiben Sie auch noch ein wenig zusammen im Gemeindesaal bei Kaffee oder Tee.

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken des Kommentars stimmen Sie seiner Veröffentlichung zu (siehe Datenschutzerklärung). Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.