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Augenzeuge – der Zeichen des Messias Jesus!

Dr. Günter Reim will auf Grund von Widersprüchen ältere Traditionen im Johannesevangelium nachweisen, durch die der Evangelist auch auf Augenzeugenberichte aus der Zeit Jesu zurückgreifen konnte. Ton Veerkamp dagegen sieht Johannes von der jüdischen Bibel her als Zeugen der befreienden Zeichen des Gottes Israels, die im Leben und Sterben des Messias Jesus sichtbar werden und die versklavende Weltordnung Roms überwinden.

Ein großes Auge, in dem sich die drei Kreuze von Golgatha spiegeln - hat ein Augenzeuge diese Situation tatsächlich so wiedergegeben, wie sie im Johannesevangelium steht?
Wurden ins Johannesevangelium Berichte eines Augenzeugen aus der Zeit Jesu aufgenommen? (Bild: Jeff JacobsPixabay)

Inhaltsverzeichnis

1 Stolpersteine im Johannesevangelium

1.1 Logische Brüche

1.2 Historische Widersprüche

1.3 Theologische Ungereimtheiten

1.3.1 Taufe und Abendmahl

1.3.2 Zeichen und Wunder

1.3.3 Zukünftiges Gericht oder nur gegenwärtiges?

2 Geschichte der historischen Kritik des Johannesevangeliums: echt oder unecht?

2.1 David Friedrich Strauß und Bruno Bauer

2.2 Friedrich Spitta, Hans Windisch und Alexander Faure

2.3 Percival Gardner-Smith, Rudolf Bultmann und Ernst Haenchen

2.4 Günter Reim und Josef Blinzler

3 Ein Wunderevangelium als Quelle für das Johannesevangelium

3.1 Warum zählt Johannes nur zwei Zeichen Jesu (oder doch drei)?

3.2 Gehen fast alle johanneischen Wundergeschichten auf Elia und Elisa zurück?

3.2.1 Die Hochzeit zu Kana

3.2.2 Die Speisung der 5000 und Jesu Wandel auf dem Meer

3.2.3 Die Auferweckung des Lazarus

3.3 Bezeugt ein „Wunderevangelium“ Jesus als den wiederkommenden Elia?

3.4 Die Konstruktion eines „Wunderevangeliums“

4 Drei Keile, die ins Johannesevangelium hineingetrieben scheinen

4.1 Erster Keil: Die Heilung des Gelähmten (Johannes 5,1ff.)

4.2 Zweiter Keil: Die Tempelreinigung (Johannes 2,13ff.)

4.2.1 Das Alte Testament von Jesus her verstehen oder Jesus von den Schriften her?

4.2.2 Nahtstelle zwischen „Wunderevangelium“ und Passionstraditionen

4.2.3 Tempelreinigung oder Lazaruswunder als Anlass für den Todesbeschluss?

4.2.4 Die Forderung eines Zeichens passt nicht in die Zeit nach dem Lazaruswunder

4.2.5 Jesu Wirken ist zeitlich nicht nach dem Johannesevangelium bestimmbar

4.2.6 Erzählt Johannes ursprünglicher von der Tempelreinigung als die Synoptiker?

4.3 Dritter Keil: Jesus und Johannes der Täufer (Johannes 3,22-30)

4.4 Hat Johannes sein Evangelium aus mehreren Quellen zusammengeflickt?

5 Ein viertes synoptisches Evangelium neben Markus, Matthäus, Lukas

5.1 Grundbestand des vierten Synoptikers

5.2 Übernimmt Johannes in 6,51b-58b Abendmahlsworte aus dem 4. Synoptiker?

5.3 Enthält der 4. Synoptiker Augenzeugen-Überlieferungen aus der Zeit Jesu?

5.4 Meinen Johannes 19,33-35 und 21,24 einen Augenzeugen in unserem Sinne?

6 Weisheitlich geprägte Tradition im Johannesevangelium

6.1 Geht es im Prolog um überzeitliche Weisheit oder um Befreiungstheologie?

6.2 Ist Jesus als in die Geschichte eingegangene Weisheit zu verstehen?

6.3 Verkörpert Jesus überzeitliche Weisheit oder den befreienden Gott Israels?

6.4 Jesu Kreuzestod als Vollendung der Schöpfung – aber in welchem Sinne?

7 Zur Komposition des Johannesevangeliums aus verschiedenen Quellen

7.1 Wie nimmt Johannes auf das Alte Testament Bezug – fast nur auf dem Umweg über seine Quellenschriften?

7.2 Ist die Verteidigung Jesu als Messias im Johannesevangelium glaubwürdiger als im Matthäus- oder Lukasevangelium?

7.3 Sind Jesusworte besonders wertvoll und wahr, weil sie „vom Augenzeugen überliefert“ sind?

Anmerkungen

1 Stolpersteine im Johannesevangelium

Günter Reim versucht in seinem Aufsatz Der Augenzeuge <1> mit dem Untertitel „Tradition, Komposition und Interpretation im Johannesevangelium“ aus dem Jahr 1995 ein Problem zu lösen, über das wohl jede Leserin und jeder Leser des Johannesevangeliums schon einmal gestolpert ist (427): Vieles scheint in diesem Buch nicht zusammenzupassen. Ungereimtheiten und „Steine zum Drüberfallen“ finden sich nach Reim „in jedem Kapitel“.

Die Frage ist aber, ob etwas in einem biblischen Buch schon deswegen ungereimt sein muss, was aus unserem modernen Blickwinkel nicht auf Anhieb einen vertrauten Sinn ergibt. Von Ton Veerkamps Auslegung des Johannesevangeliums <2> unter dem Titel Solidarität gegen die Weltordnung habe ich gelernt, die Fremdheit dieses Buches in seiner Verwurzelung in der jüdischen Bibel, dem TeNaK, ernstzunehmen und den Versuch zu unternehmen, das, was uns unverständlich erscheint, auf eben diesem Hintergrund zu begreifen. <3>

1.1 Logische Brüche

In den Abschnitten 6 bis 9 seines Kapitels I stellt Reim mehrere Beispiele logischer Brüche im Johannesevangelium dar, zum Beispiel (434) ist in Johannes 14,31 von einem Aufbruch die Rede, der aber erst zu Beginn des Kapitels 18 stattfindet; die Kapitel 15 bis 17 wirken wie ein Einschub weiterer Reden und eines Gebets in den Gesamtablauf des Evangeliums. An dieser Stelle kann man wohl beobachten, wie sich ein Werk im Laufe der Zeit noch entwickelt hat; es werden im zuerst formulierten Text Fragen offen geblieben sein, auf die entweder der ursprüngliche Autor selbst oder ein anderer nach ihm neue Antworten hinzugefügt hat. Vielleicht waren auch am Entstehungsprozess des Evangelium von vornherein mehrere Autoren in einem Gesprächsprozess beteiligt. Dass die Abschiedsreden Jesu teilweise aus Antworten auf Fragen seiner Schüler bestehen, könnte diese Annahme bestätigen.

Weiter empfindet Günter Reim (432) im Prolog des Johannesevangeliums die Verse 1,6-8 von Johannes dem Täufer als „Fremdkörper“, die ihn „beim Lesen“ stören. Dazu frage ich, ob eine solche Störung nicht vom Autor beabsichtigt sein könnte, vielleicht um von vornherin darauf hinzuweisen, dass die Eingangsworte des Evangeliums von Gott, Wort, Leben, Licht und Finsternis eben nicht himmelhoch über den Menschen schweben, sondern im Diesseits auf der Erde unter dem Himmel verankert werden. Nicht erst Johannes 1,14 redet vom Wort, das Fleisch wird, sondern bereits 1,6 spricht in einer aus dem TeNaK vertrauten Redeweise <4> von einem Menschen, der „geschah“, egeneto, um für das Licht Zeugnis abzulegen, obwohl er selber nicht das Licht war, und bereitet so die Erzählung vom öffentlichen Zeugnis Johannes des Täufers für den Messias ab 1,19 vor.

Schließlich gibt es Reim zufolge (434) Probleme mit der Reihenfolge der Kapitel 5, 6 und 7, denn nach der Heilung des Gelähmten in Kapitel 5 kommt es erst „nach etwa einem halben Jahr (!) … – wiederum in Jerusalem und nach einem Aufenthalt in Galiläa – zu einer Verteidigung dieser Heilung durch Jesus (7,21-24)“. Das dazwischen liegende Kapitel 6 wiederum erwähnt in Vers 2 eine Volksmenge in Galiläa, die Jesu Zeichen gesehen hat, obwohl von solchen Zeichen in Galiläa gar nicht die Rede war.

Aber muss man darin wirklich logische Brüche erkennen? Es kann auch sein, dass die erzählerische Logik des Johannes sich an einer anderen als einer linear fortlaufenden Zeitachse orientiert. Ton Veerkamp nimmt als das wichtigste Strukturprinzip im Evangelium die Orientierung an den jüdischen Festen wahr und sieht das unbestimmte Fest in 5,1, das Passafest in 6,4, das Laubhüttenfest (Sukkot) in 7,2 und das Tempelweihfest (Chanukka) in 10,22 als Hintergründe für die jeweils anschließend dargestellten Zeichen Jesu am Gelähmten, den 5000 Hungrigen, dem Blinden und dem verwesenden Lazarus. An Hand der Markierungen durch diese Feste teilt Johannes in Veerkamps Augen den Bericht über die Zeit seines Wirkens als der verborgene Messias in Johannes 5 bis 12 in vier unterschiedlich lange Kapitel auf (also nicht in Übereinstimmung mit der uns vertrauten Kapiteleinteilung); hinzu kommt noch ein durch Verweise auf die Nähe des Passa (11,55 und 13,1) eingerahmtes Kapitel, in dem Jesus als der König Israels bejubelt wird, sich zugleich aber vor Verfolgung verbergen muss. Versteht man auf diese Weise Jesu Zeichen und ihre Ausdeutung als aufeinander aufbauende Bemühung Jesu um die Aufrichtung, Ernährung, Aufklärung und Belebung des Volkes Israel, muss man die von Johannes gegebene Reihenfolge der Kapitel nicht antasten, auch das 6. Kapitel nicht: <5>

In der Nachfolge Rudolf Bultmanns haben viele Kommentatoren dieses Kapitel verschoben. Nunmehr sollte es nach der Erzählung über die Genesung des Sohnes des königlichen Beamten eingefügt werden, um so das plötzliche Auftreten Jeschuas in Galiläa zu erklären. Nun haben Erzähler aus der Antike nicht unsere Erzähllogik. Unsere abendländische Logik der chronischen und topografischen Ordnung ist ein Erzählkorsett, das übrigens in vielen Romanen des 20. Jh. aufgeschnürt wurde. Es geht in unserem Text um eine Ort/Zeit-Struktur, die nicht durch das Chronometer und die Landkarte, sondern durch die Feste strukturiert wird.

Das unbestimmte Fest von 5,1 ist das Fest der Feste: die Wiederherstellung der Bewegungsfreiheit Israels, sprich, seine Autonomie, der eigentliche Inhalt aller Feste. Für ein autonomes Israel ist der Messias der Ernährer – weil Ernährung! – Israels. Das ist für Johannes ein neuer Inhalt für das Paschamahl.

Der Ausgangspunkt ist eine Erzählung über die Ernährung Israels durch den Propheten Elisa, 2 Könige 4,42ff. Diese Erzählung war in vielen messianischen Gruppen beliebt. Sie muss auch bei Johannes in der Peripherie Galiläas stattfinden. Bei Johannes dient sie dazu, den Messias als Lebensprinzip Israels darzustellen, ohne Messias nutzt die ganze Autonomie nichts. Das Werk der Erneuerung läuft über die Reihe Brot (das neue Paschamahl) – Licht (die Überwindung der Verblendung, Sukkot) – Leben (die Überwindung der Verwesung, Chanukka).

Günter Reim dagegen zieht aus seinen Beobachtungen logischer Brüche folgende Schlussfolgerung (432f.):

Nun mag das von einem unachtsamen und unkonzentrierten Schriftsteller herrühren, von dem man eigentlich Besseres erwarten könnte. Wenn aber solche Brüche öfter auftauchen, wie im Johannesevangelium, dann muss man mit Quellen und Überarbeitung rechnen, dann müssen ganze Geschichten und Einzelaussagen miteinander verbunden worden sein, die als Einzelelemente ursprünglich nichts miteinander zu tun haben und, wie verschiedene Metalle ihre verschiedenen Eigenarten und Kennzeichen haben, so haben auch viele jener Geschichten und Einzelaussagen ihre bestimmten aus der Tradition vorgegebenen Eigenarten, und es werden Nähte sichtbar, wenn Geschichten und Aussagen verschiedener Herkunft miteinander verbunden werden. Ja, manchmal glückt eine Verbindung nicht, und wir haben einen logischen Bruch vor uns.

Reim stellt also nur zwei Möglichkeiten dar, mit dem umzugehen, was er als logische Brüche im Johannesevangelium empfindet: Entweder sind die schriftstellerischen Fähigkeiten des Autors unzureichend oder er hat auf Quellen zurückgegriffen, deren Einbau in den Zusammenhang ihm dann aber auch wieder nur mangelhaft geglückt zu sein scheint. Auf die letztere Art und Weise haben Generationen von Theologen biblische Texte auseinandergepflückt und analysiert; in diesem Beitrag versucht Günter Reim zu zeigen, dass diese Methode am Ende zu sinnvollen Aussagen über das Johannesevangelium im Ganzen führt. <6>

1.2 Historische Widersprüche

Eine zweite Kategorie von Widersprüchen, auf die Günter Reim in den Abschnitten 2 bis 5 seines Kapitels I hinweist, hängt mit der Frage nach dem historischen Jesus zusammen. Hauptsächlich geht er auf die Zahl der Reisen ein, die Jesus zwischen Galiläa und Judäa unternommen hat und die in den synoptischen Evangelien (Markus, Matthäus, Lukas) anders angegeben wird als im Johannesevangelium (429): „Der einen Reise nach Jerusalem bei den drei ersten Evangelien stehen drei Reisen bei Johannes gegenüber“.

Eng damit verbunden ist die Frage (430), wie lange Jesus öffentlich gewirkt hat: nur ein knappes Jahr, falls er nur einmal zum Passafest nach Jerusalem gereist ist, oder mehr als zwei Jahre lang, wenn das Johannesevangelium mit seiner Erwähnung „von drei Passafesten (2,13; 6,4; 13,1) während des Wirkens Jesu“ zutreffen sollte.

Auch sind sich (431) die vier Evangelisten nicht „darüber einig, welcher konkrete Anlass denn den Todesbeschluss über Jesus herbeigeführt hat“. Nach den Synoptikern scheint er „durch die Tempelreinigung ausgelöst worden“ zu sein, während er nach Johannes 11,47 durch die Zeichen Jesu, insbesondere durch die unmittelbar zuvor erfolgte Auferweckung des Lazarus veranlasst wurde.

Im Zusammenhang dieser historischen Fragen geht Günter Reim zum ersten Mal auf das Stichwort des Augenzeugen ein, denn er sieht sich (429)

zu einer Entscheidung für den einen und gegen den anderen Evangelisten gezwungen, einer Entscheidung, die einfach fallen könnte, wenn wir die Frage beantworten könnten: wer von den vier Evangelisten war Augenzeuge, so dass wir uns auf seine Angaben verlassen könnten? Von den Synoptikern beansprucht keiner eine solche Augenzeugenschaft. Aber wie steht es mit dem Johannesevangelium?

Schon diese Frage nach einem Augenzeugen beruht meines Erachtens auf dem Denkfehler, dass die Reiserouten der Evangelisten und andere scheinbar historische Fakten in den Evangelien überhaupt auf Augenzeugenberichten beruhen würden.

In meinen Augen macht die Annahme weitaus mehr Sinn, dass Markus als erster ein „Evangelium“ schreibt, um in der Zeit um das Jahr 70 die Erfahrung des Judäischen Krieges mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und der Kreuzigung zahlreicher Juden zu bewältigen, die sich traumatisch in die Seelen der zeitgenössischen Juden (auch der auf Jesus vertrauenden) eingebrannt haben muss. <7> Indem Markus mit der einmaligen Reise Jesu von Cäsaräa nach Jerusalem die Marschrichtung der römischen Truppen nachzeichnet, interpretieren sich Jesu Tod am Kreuz und die Massenkreuzigungen des Krieges gegenseitig. Nur wenn das Vertrauen auf den Messias Jesus dieser Erfahrung standhält, kann es den „Anfang des Evangeliums“, also den Auftakt einer völlig neu zu proklamierenden Frohbotschaft darstellen, als den Markus sein Evangelium konzipiert. Während Matthäus und Lukas diese Struktur des Evangeliums grundsätzlich übernehmen, gibt Johannes sie auf, indem er stattdessen sein Evangelium an den jüdischen Festen orientiert und auf ein neues Passa der Befreiung Israels durch die freiwillige Hingabe und den Abschied des Messias Jesus ausrichtet. Begreift man den Aufbau der Evangelien auf diese Weise, werden alle Spekulationen über historische Reiserouten Jesu müßig.

Reim hingegen beruft sich tatsächlich (430) auf „genügend Theologen, die das Johannesevangelium als von einem Augenzeugen verfasst ansehen und es in seinem Wert als Geschichtsquelle über die Synoptiker stellen“. Als Beleg dafür dienen ihm zwei Stellen in der Passionsgeschichte und ganz am Ende des Johannesevangeliums:

Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon gestorben war, brachen sie ihm die Beine nicht; sondern der Kriegsknechte einer öffnete seine Seite mit einem Speer, und alsbald ging Blut und Wasser heraus. Und der das gesehen hat, der hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr, und er weiß, dass er die Wahrheit sagt, damit auch ihr glaubet. (19,33-35)

Dies ist der Jünger, der von diesen Dingen zeugt und dies geschrieben hat, und wir wissen, dass sein Zeugnis wahrhaftig ist. (21,24)

Hier muss nochmals die Frage gestellt werden, ob es Johannes wirklich darum ging, historische Fakten zu bezeugen. Ich verneine diese Frage entschieden.

Erstens verwendet Johannes als Kind des jüdischen Volkes nicht den griechischen Wahrheitsbegriff, der uns vertraut ist und sich auf Aussagen im Sinne von faktisch oder historisch richtig oder falsch bezieht. Von der jüdischen Bibel, vom TeNaK, unserem Alten Testament her, hat das, was im Johannesevangelium in der Regel mit „Wahrheit“ übersetzt wird, mit der „Treue“ des Gottes Israels zu tun, und wenn ein Zeugnis „wahr“ ist, dann ist es „vertrauenswürdig“.

In den von Reim genannten Versen geht es tatsächlich um ein vertrauenswürdiges Zeugnis. Der Autor dieser Verse muss aber nicht einen Augenzeugen in unserem Sinne gekannt und ihren Inhalt von ihm erfahren haben. In der Heiligen Schrift sind Menschen, die „sehen“ und „bezeugen“, nicht einfach Faktenbestätiger. Vielmehr bestätigen sie die Vertrauenswürdigkeit des Wortes, das vom Gott Israels nicht nur zu hören ist, sondern in seiner befreienden Kraft schon früher immer wieder zu „sehen“, also etwa in der Befreiung Israels aus Ägypten oder Babylon konkret zu erfahren war und daher auch in Zukunft wieder ganz gewiss zu erwarten ist.

Im Klartext: Johannes hatte mit ziemlicher Sicherheit keine Nachrichten von einem historischen Augenzeugen zur Verfügung, der genau beobachtet hätte, was am Kreuz Jesu vor sich gegangen wäre. Und selbst wenn: Niemand hätte etwas davon, wenn Blut und Wasser hier einfach medizinische Fakten wären, über die jemand, der am Kreuz anwesend war, anschließend berichten konnte.

Was macht Johannes stattdessen: Er stellt einen Zeugen unter das Kreuz, lässt sogar offen, ob es sich um den namenlosen Lieblingsjünger handelt, vielleicht sieht er sich selbst dort stehen, und bestätigt die Vertrauenswürdigkeit dessen, was dort am Kreuz geschieht, einerseits durch den symbolischen Rückbezug auf die Stellen im Johannesevangelium, wo es um Wasser (Kapitel 4 und 7) bzw. Blut (Kapitel 6) geht, und andererseits durch Verweise auf biblische Stellen über das Passalamm, dessen Beine nicht gebrochen werden dürfen (4. Mose 9,12), und den Durchbohrten im Prophetenbuch Sacharja (12,10). <8> Alle diese Stellen bestätigen,

  • dass mit Jesu Tod am Kreuz die herrschende Weltordnung Roms als menschenmörderisch bloßgestellt und überwunden ist,
  • indem der Aufstieg des Sohnes zum VATER beginnt
  • und er seinen Schülerinnen und Schülern den Geist der Treue Gottes übergibt,
  • um sie zur Praxis der agapē, einer solidarischen Liebe, zu befähigen,
  • weil das Leben der kommenden Weltzeit des Friedens gewiss kommen wird (das, was meist missverständlich mit „ewiges Leben“ übersetzt wird).

1.3 Theologische Ungereimtheiten

Schließlich kommt Günter Reim (435) in Kapitel I, Abschnitt 10 und 11 (und schon in Abschnitt 1) auf „Ungereimtheiten“ zu sprechen, die er theologisch nennt.

1.3.1 Taufe und Abendmahl

In Johannes 3,22.26 ist davon die Rede, „dass Jesus selbst getauft habe“, während „in Joh 4,1f der Aufbruch Jesu aus Judäa nach Galiläa damit begründet wird, dass die Pharisäer hörten, dass Jesus mehr zu Jüngern machte und taufte als der Täufer – ‚wiewohl Jesus selber nicht taufte, sondern seine Jünger‘“. Während aber von der Taufe nur ganz am Rande die Rede ist, fällt deutlich ins Auge, dass beim letzten Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern in Kapitel 13 die in den Augen Reims „überaus wichtigen Abendmahlsworte fehlen“. Stattdessen steht da „ein ausführlicher Bericht darüber, wie Jesus seinen Jüngern die Füße wusch“. Hat möglicherweise, so meinen „namhafte Exegeten, … ein späterer Überarbeiter des Johannesevangeliums … das Abendmahl an einer auch geeigneten Stelle nachgetragen“, nämlich in Johannes 6,51-58? Denn der „Evangelist selber habe für Sakramente nichts übrig gehabt.“

In der Tat ist aus den zwiespältigen Aussagen des Johannes über die Taufe und das Fehlen sowohl einer Erzählung über die Taufe Jesu als auch über die Einsetzung des Abendmahls zu schließen, dass er von rituellen Praktiken eher wenig gehalten hat.

Für wahrscheinlich halte ich es, dass er von der Abendmahlspraxis anderer Gemeinden gewusst hat, diese aber wegen ihrer Verwechslungsgefahr mit dionysischen oder anderen mysterienkultischen Einverleibungsritualen göttlicher Kraft sehr kritisch sah. Seine provokativen Formulierungen über das Kauen des Fleisches und das Trinken des Blutes des Messias könnten diese Kritik in ironischer Übertreibung ausdrücken, um bewusst Anstoß zu erregen und darauf hinzudeuten, dass hier ein Messias in seine Nachfolge ruft, der durch Geißelung und Kreuzigung am römischen Kreuz buchstäblich zerfleischt wird. <9> Als einziges wirkliches Sakrament an der Stelle der Einsetzung des Abendmahls könnte man bei Johannes die Fußwaschung (13,1-17) gelten lassen, die beispielhaft für eine Praxis der agapē, einer „solidarischen Liebe“ steht, einer freiwilligen Selbstversklavung zur Überwindung der Strukturen der römischen Weltordnung. Interessant ist dabei, dass auch von Reinheit nicht im Zusammenhang mit der Taufe, sondern mit dieser Fußwaschung die Rede ist (13,10).

1.3.2 Zeichen und Wunder

Einen weiteren theologischen Widerspruch findet Günter Reim (427) zwischen den Versen Johannes 20,30f und 20,29 bzw. 4,48. In 20,30f beschreibt der Autor sein Buch als schriftliches Zeugnis über eine Auswahl von „Zeichen“, die Jesus getan hatte, um den Glauben an Jesus als den „Christus“ und „Sohn Gottes“ zu bewirken. Als „Inhaltsangabe und Zielsetzung“ des gesamten Evangeliums scheint diese Angabe jedoch nicht zuzutreffen, denn, so Reim: „Es geht in diesen zwanzig Kapiteln nicht nur um Berichte von Zeichen, Wundern.“ Außerdem scheint Jesus den Glauben auf Grund von Wundern sogar kritisch zu beurteilen, und zwar sowohl unmittelbar zuvor (20,29): „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“, als auch in 4,48: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht.“

In diesen Sätzen muss es aber nicht um eine grundsätzliche Kritik Jesu an Zeichen und Wundern gehen. Nach Ton Veerkamp <10> waren in der Tora sēmeia kai terata, „Zeichen und Machterweise“ Gottes, durchaus notwendig, um auf die befreiende Macht des NAMENS vertrauen zu können: „Befreiung muss in Israel immer sinnlich erfahrbar sein“. Allerdings ist sich Johannes dessen bewusst, dass unter der andauernden Macht der römischen Weltordnung – ähnliche Erfahrungen bezeugen auch die Propheten – die Zeichen der Befreiung für lange Zeit nicht sichtbar sind. Das Nichtsehenkönnen und doch Glauben ist daher eine Aufforderung in einer Notsituation, nicht eine Tugend, die sich auf einen grundsätzlich unsichtbaren Gott und eine grundsätzlich jenseitige Hoffnung bezieht. Auch Johannes geht es noch um eine gewisse diesseitige Hoffnung, und tatsächlich gegen allen Augenschein, bis heute!

Am Rande zitiert Reim (428, Anm. 1) als ein Beispiel der „Wunderkritik des Evangelisten Johannes“ das Urteil des Exegeten Jürgen Becker <11>

über die johanneische Fassung des Wunders von der Auferweckung des Lazarus: „Durch seine Stellung degradiert Joh 11,25f das eigentliche Wunder zu einer nachhinkenden Sinnlosigkeit. In dem Wort sind Leben und Jesus identisch. Für den an Jesus Glaubenden ist darum der Tod wesenlos geworden. Damit ist eine Wundertat, die vom irdischen Tod befreit – und zwar auf Zeit – jedes Sinnes entleert.“ (S. 146)

Dieses Urteil trifft tatsächlich eine Auslegung, die die Auferweckung des Lazarus nur als eine übernatürliche Wundertat an einem beliebigen menschlichen Individuum betrachtet. Eine ganz andere und zwar außerordentlich zentrale Bedeutung erhält die Erzählung, wenn Lazarus als symbolische Verkörperung Israels gesehen wird. Dann steht er einerseits durch seinen Namen (hebräisch: ˀelˁasar, „Eleasar“, so hieß der Priester, der in der Nachfolge Aarons das Volk Israel mit Josua ins Gelobte Land führte) für die priesterliche Führungsschicht Judäas, die mit Rom kollaboriert, also für ein heruntergekommenes, geradezu verwesendes Israel, andererseits bleibt er dennoch Jesu Freund (Johannes 11,3.5.11.36), um den Jesus trauert und für dessen Leben und Befreiung in der kommenden Weltzeit er seine ganze messianische Kraft einsetzt. In dieser Befreiung und im Leben Israels besteht ja bereits im TeNaK die „Ehre“ des NAMENS <12> (hebräisch kavod, griechisch doxa, in unseren Bibeln meist mit „Verherrlichung“ übersetzt), und genau darauf weist Jesus in Johannes 11,40 ausdrücklich hin. Die angeblich sinnlose Wundergeschichte ist in Wirklichkeit ein „Zeichen“, das diverse Erzählungen der Schriften aufruft, um die Auferweckungsmacht Jesu auf den Horizont von Israels Leben in der kommenden Weltzeit auszurichten. <13>

1.3.3 Zukünftiges Gericht oder nur gegenwärtiges?

In Johannes 5 entdeckt Reim (436) einen Widerspruch in der Auffassung vom Gericht. Während in Vers 24 derjenige, der Jesu Wort hört und auf Gott vertraut, nicht ins Gericht kommt, sondern jetzt schon „vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“ ist, geht es in Vers 29 „um zukünftiges Gericht“ nach dem Maßstab des Tuns, denn es „werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Übles getan haben, zur Auferstehung des Gerichts“.

Hier besteht aber genau so wenig ein Widerspruch wie bei Paulus, wenn er, obwohl er auf den Glauben an Jesus Christus baut, zugleich (2. Korinther 5,10) das Weltgericht über die Taten verkündet. Beides ist in den Schriften aufeinander bezogen. Das Vertrauen auf den Messias verwirklicht sich nicht ohne das Tun des Guten.

2 Geschichte der historischen Kritik des Johannesevangeliums: echt oder unecht?

In seinen Kapiteln II bis IV beschäftigt sich Günter Reim (437) mit der Frage, ob das Johannesevangelium historisch echt oder unecht ist. Er tut das mit Hilfe eines knappen historischen Überblicks über die historisch-kritische Erforschung dieser Schrift.

Aus heutiger Sicht erlaube ich mir, von vornherein einzuwenden, ob eine solche Frage nach Echtheit oder Unechtheit eines Evangeliums überhaupt noch sinnvoll ist. Wie bereits im Abschnitt 1.2 ausgeführt, stammen alle Evangelien aus der Zeit nach dem Judäischen Krieg und bemühen sich in unterschiedlicher Weise um die Bewältigung dieser Erfahrung, indem sie das Leiden und Sterben des Messias Jesus in eine Beziehung zur Katastrophe des Jahres 70 mit ihren Massenkreuzigungen in Jerusalem setzen. <14> Das heißt, alles, was an historisch relevanten Erinnerungen an die mehr als vier Jahrzehnte zurückliegende Zeit Jesu in sämtlichen Evangelien enthalten sein mag, ist durch die Erfahrungen der späteren Zeit überformt worden. Wir kennen Jesus nicht anders als durch die Blickwinkel hindurch, die uns Paulus in der Mitte und die Evangelisten im letzten Drittel des ersten Jahrhunderts vermitteln.

Könnten aber in den Evangelien nicht doch Augenzeugenberichte verarbeitet worden sein, aus denen man Rückschlüsse auf das historische Leben Jesu ziehen kann? Diese Frage verfolgt Günter Reim in seinem Aufsatz, und er setzt ein bei Albert Schweitzer, der vor 100 Jahren in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ <15> zu dem Schluss kam, dass alle Verfasser einer Biographie Jesu nicht anders können, als ihre eigenen Vorstellungen in die Zeit Jesu zurückzuprojizieren. Reim zufolge behauptete Schweitzer (437) insbesondere die „Unechtheit des vierten Evangeliums“:

Worauf es der Erforschung des Lebens Jesu ankommt ist nur, „dass das vierte Evangelium für den Aufbau des Lebens des Herrn ausgeschaltet wird.“ Mit dem Wort „Unechtheit“ ist ein Urteil über das Johannesevangelium gesprochen, das sich schon lange vor Schweitzer angebahnt hat und das mancher seiner Leser von heute teilen mag. Es macht jedoch das Geheimnis dieses Evangeliums aus, dass sich mancher von dessen Unechtheit Überzeugte trotzdem immer wieder zu ihm hingezogen fühlt, weil einesteils nicht alle Argumente auf die Unechtheit weisen und weil zum andern das historische und das theologische Urteil über die Echtheit einer Schrift zu verschiedenen Ergebnissen kommen können.

In diesen Zeilen drückt Reim eine Haltung aus, die die Bedeutung und das Geheimnis einer biblischen Schrift von ihrer historischen „Echtheit“ abhängig zu machen scheint. Eine faktengetreue Rekonstruktion des Lebens Jesu ist uns aber nicht möglich und war auch nicht die vordergründige Absicht der Evangelisten; sie verstanden sich nicht als Historiker wie etwa der in die Hände der Römer gefallene und zu ihnen übergelaufene jüdische Priester Josephus. Stattdessen ging es ihnen darum, die Botschaft vom Messias Jesus in ihre jeweilige Zeit hinein vertrauenswürdig zu bezeugen. Das ist für Markus die als traumatisch erlebte Zeit unmittelbar im oder nach dem Judäischen Krieg; er vermag Jesus nur (vgl. Markus 1,1 und den ursprünglichen Schluss 16,8) in sehr gebrochener Form als den Anfang des Evangeliums zu verkünden. <16> Für Johannes geht es um die Bewältigung der andauernden Macht Roms und die Enttäuschung über das Arrangement des rabbinischen Judentums mit Rom, das sich in seinen Augen in der Ablehnung des Messias Jesus manifestiert. Von den gegenwärtigen Interessen her wird älteres Material aufgegriffen und umgestaltet.

2.1 David Friedrich Strauß und Bruno Bauer

Günter Reim allerdings möchte dennoch den Versuch nicht aufgeben (438), „echtes Material“ aus dem Leben Jesu nicht nur in den synoptischen Evangelien, sondern auch im Johannesevangelium zu finden. Er beruft sich dabei ausgerechnet auf David Friedrich Strauß, <17> den er „den Bultmann des 19. Jahrhunderts“ nennt und der zu den johanneischen Reden sagt [700]:

„Bleibt es somit dabei, dass wir an den johanneischen Reden Jesu im Ganzen freie Compositionen des Evangelisten haben; ist aber oben zugegeben worden, dass er manches Dictum Jesu aus der ächten Überlieferung geschöpft habe: so möchten wir das Letztere doch nicht weit über diejenigen Stellen hinaus ausdehnen, bei welchen es sich durch synoptische Parallelen wahrscheinlich machen lässt.“

Aus diesem Satz zieht Reim den Schluss, dass der Kritiker aller absurden Versuche, die Evangelien als historische Dokumente zu begreifen, hier nun doch solche Möglichkeiten einräumen würde:

Um dieses „nicht weit“ geht es. Der Kritiker Strauß sieht sich gedrungen, in gewissem, wenn auch geringem Maße echtes Material, das man nicht aus den anderen drei Evangelien herleiten kann und auch nicht als unecht abschieben kann, in den Reden Jesu des Johannesevangeliums zuzugeben und kann nicht rundweg von diesen Reden als von vollkommen freien Kompositionen sprechen.

Aber obwohl (439) Strauß, wie Reim sagt, zur Prüfung der Echtheit des Johannesevangeliums „die Würdigung jedes einzelnen johanneischen Berichtes für sich“ fordert, lässt er diese „großartige wissenschaftliche Auffassung … leider bei der Untersuchung des Berichtes vom Augenzeugen nicht zum Tragen“ kommen:

Strauß denkt sich das Johannesevangelium in einem Kreis entstanden, „in welchem der Apostel Johannes besondere Verehrung genoss, wesswegen ihn denn unser Evangelium aus der Dreizahl der genaueren Vertrauten Jesu heraushebt, und allein zum Lieblingsjünger macht…“ [528]. Strauß scheint jedoch nicht weiter gefragt zu haben, warum denn jener Apostel besondere Verehrung genossen habe. Wäre es nicht möglich, dass hinter dieser Verehrung Begegnung mit dem Apostel gestanden hat, die zugleich Weitergabe von Berichten eines Augenzeugen bedeutete? Könnten nicht diese Berichte dann im Johannesevangelium zusammen mit anderer Tradition ihren Niederschlag gefunden haben?

Reim behauptet also, dass nur die Vernachlässigung seiner eigenen wissenschaftlichen Prinzipien den historischen Kritiker David Friedrich Strauß davon abgehalten hat, die Frage unvoreingenommen zu prüfen, ob das Johannesevangelium nicht doch auf Augenzeugenberichte zurückgegriffen haben könnte, wie es die Verse Johannes 19,35 und 21,24 nahelegen (siehe oben Abschnitt 1.2).

Dem auf Strauß aufbauenden historischen Kritiker Bruno Bauer <18> wirft Reim vor, „nicht mehr von genauer Beobachtung“ auszugehen, sondern (440) das Johannesevangelium als Quelle zur Beurteilung historischer Überlieferungen von Jesus grundsätzlich nicht mehr hinzuzuziehen. Was ist von Johannes nach Bauer dann noch zu erwarten?

Geschichte darf man bei ihm nicht suchen, sondern nur Kunst. Über den ungenannten Augenzeugen, der im Johannesevangelium angeführt wird, urteilt Bauer [340]: „Der Ungenannte ist eine Nebelgestalt, und darin hat der Vierte es wirklich einmal richtig getroffen, dass er eine solche Gestalt seiner Schrift zum Verfasser gab. Er hat zuerst den Schein hervorbringen wollen, dass es noch ein Evangelium gebe, das von einem Augenzeugen herrühre, unmittelbar von einem solchen geschrieben sey. Eine Nebelgestalt war der einzig würdige Verfasser einer solchen Schrift, wie sie der Vierte geliefert hat.“

Die Abfälligkeit, mit der Bauer den angeblichen Autor des Johannesevangeliums beschreibt, verdient in der Tat Kritik. Allerdings ist diese genau darauf zurückzuführen, dass auch Bauer dem Evangelisten im Grunde vorwirft, historisch nicht genau genug recherchiert zu haben. Nimmt man ernst, dass es bei dem, was Johannes wollte, tatsächlich nicht „nur“ um eine „Kunst“ im abfälligen Sinne geht, sondern um die Kunst der großartigen Ausgestaltung der Botschaft vom Messias Jesus als des Überwinders der Römischen Weltordnung, die der Lieblingsjünger von den Überlieferungen der Tora und der Propheten her bezeugt, dann muss man diesen nicht als historische „Nebelgestalt“ herabwürdigen, selbst wenn er kein historischer Augenzeuge in unserem Sinne ist.

2.2 Friedrich Spitta, Hans Windisch und Alexander Faure

Reim bedauert offenbar (440), dass die „radikalen Vorstöße Straußens und Bauers gegen die Benutzung des Johannesevangeliums als Quelle für das Leben Jesu“ trotz aller Abwehr ihrer Kritik lange Zeit erfolgreich blieben. Um so mehr freut er sich darüber (441), dass Friedrich Spitta <19> 1910 „im Johannesevangelium eine Grundschrift synoptischen Charakters“ fand, die er als „eine überaus wichtige Quelle, vielleicht die wichtigste für die Geschichte Jesu“, einschätzte, und dass H. Windisch <20> 1911 „der ‚herrschenden Annahme‘, ‚dass Johannes eine Synopse der ersten Evangelien vor sich gehabt habe‘ … und „bei seinen Lesern die Kenntnis der synoptischen Überlieferung voraussetze…, ‚starke Zweifel‘“ entgegensetzte. Obwohl Windisch im Jahr 1926 seine Ansicht über das Johannesevangelium ändert <21> und dann doch „in jeder synoptischen Erzählung im Johannesevangelium Spuren des Markusevangeliums erhalten sieht“, greift Reim lieber „seine früheren Hauptbedenken“ gegen eine historische Vorrangstellung der synoptischen Traditionen gegenüber den johanneischen auf, die Windisch selbst als Abschluss seiner Untersuchung aus dem Jahr 1911 folgendermaßen beschreibt:

„Erstens nämlich ist es mir verwunderlich, dass Johannes nur an zwei verhältnismäßig geringfügigen Punkten seine Differenz gegenüber den Synoptikern zu erklären scheint (3,24; 18,13); warum beschwichtigt er nicht in gleicher Weise das Befremden seiner Leser, wenn sie bei ihm die wichtige Handlung der Tempelreinigung an ganz ungewohnter Stelle lesen, wenn sie drei oder vier Jerusalemer Reisen statt einer erzählt bekommen usw.? Wusste er die Synoptiker bei seinen Lesern in Gebrauch und Ansehen, so musste er viel mehr, als er es getan hat, auf eine Erklärung seines eigenartigen Berichts, auf eine Anleitung zur Harmonisierung mit den Vorgängern bedacht sein. Zweitens stützt sich die Annahme der Bekanntschaft auf eine viel zu schmale Basis… Drittens ist mir die Kühnheit des vierten Evangelisten einfach unbegreiflich, wenn er wagte, eine neue, aus dem eigenen Genius geschöpfte Darstellung des Lebens und der Lehre Jesu gegen die bereits vorhandenen und anerkannten und auf echte Überlieferung und Erinnerung zurückgehende Darstellung zu setzen… . Solange diese Hauptbedenken nicht widerlegt werden, bleibt die Bekanntschaft des vierten Evangelisten mit den Synoptikern unwahrscheinlich.“

Zwei der drei Bedenken basieren allerdings auf nicht unbedingt zutreffenden Annahmen. Johannes kann synoptische Evangelien aus anders geprägten Gemeinden gekannt haben, ohne dass sie bei seinen eigenen Adressaten „in Gebrauch und Ansehen“ standen und auch ohne dass diese wegen ihrer „auf echte Überlieferung und Erinnerung zurückgehende Darstellung“ eine hohe Wertschätzung erfuhren.

Die „Kühnheit“ des Evangelisten wiederum mag sich nicht allein auf seinen überragenden „eigenen Genius“ stützen, sondern auf die Grundhaltung der von ihm vertretenen messianischen Gruppierung, die in mancher Hinsicht ganz anders argumentierte als die Messianisten um Markus, Matthäus, Lukas oder zuvor Paulus. So scheint er die synoptische Kritik an der Mutter des Messias nicht zu teilen (Markus 3,21.31-35; Matthäus 12,46-50), er greift nicht wie Matthäus und Lukas auf die Davidssohn-Christologie zurück, verzichtet auf die Erzählung von der Einsetzung des Abendmahls und ist, anders als Paulus, Lukas oder auch Matthäus sehr zurückhaltend in der Frage der Heidenmission. Vor allem aber vertritt er eine viel offensivere Christologie, indem er Jesu Weg ans Kreuz als bewussten Einsatz der eigenen Seele für seine Freunde und als Erhöhung zum VATER versteht; daher legt ihm Johannes auch nicht das Psalmwort der Gottverlassenheit (Psalm 22,2 – Markus 15,34; Matthäus 27,46), sondern des Durstes nach Gott (Psalm 42,3 – Johannes 19,28) in den Mund.

Meine Gegenfrage wäre also, ob es nicht Johannes zuzutrauen wäre, aus der Betrachtung der eigenen Situation gegen Ende des 1. Jahrhunderts im Lichte des TeNaK und im Gegenüber zur eventuellen Kenntnis synoptischer Evangelien mit großem Sendungsbewusstsein sein eigenes Zeugnis für den Messias Jesus zu entwerfen.

Aus derselben Zeit erwähnt Günter Reim noch Alexander Faure <22> als denjenigen, der bereits im Jahr 1922 die Frage stellte, „ob nicht Johannes abgesehen von den Synoptikern andere Quellen benutzt habe“ und „den Aufweis einer ‚Wunderquelle‘“ brachte. Wie oben gesagt, ist die Annahme eines solchen Textes über die Wunder Jesu, auf den Johannes angeblich zurückgegriffen hat, aber nur dann wirklich notwendig, wenn man dem Evangelisten selbst nicht zutraut, „Zeichen und Wunder“ grundsätzlich positiv zu beurteilen und Erzählungen über Jesu befreiendes Wirken von entsprechenden Vorstellungen der jüdischen Schriften her zu gestalten.

2.3 Percival Gardner-Smith, Rudolf Bultmann und Ernst Haenchen

Eine (442) „Wende“ in der Johannesforschung erblickt Günter Reim in „dem Außenseiter Percival Gardner-Smith <23> und seinem 1938 erschienenen kleinen Buch ‚Johannes und die Synoptiker‘“. Dessen Fazit „nach dem Studium von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Joh 1-21 im Hinblick auf die Synoptiker“ lautet,

dass eine Untersuchung der wenigen Gemeinsamkeiten und der vielen Unterschiede zwischen Johannes und den Synoptikern anzudeuten scheint, dass Joh keine Kenntnis der synoptischen Evangelien besaß und dass die Benutzung der synoptischen Evangelien durch Johannes als ganz zweifelhaft betrachtet werden muss.

In gleichem Sinn kommt Rudolf Bultmann <24> wenige Jahre später zu dem Schluss [85f.], dass etwa Johannes „die Geschichte von der Tempelreinigung der Tradition entnommen hat“, aber weder aus „den Synoptikern“ noch „aus mündlicher Tradition, sondern aus einer wohl den Synoptikern verwandt zu denkenden schriftlichen Quelle“, oder [491] dass er „in der Passions- und Ostergeschichte … einer schriftlichen Quelle folgt“, aber nicht einem der Synoptiker, sondern dass er wahrscheinlich „eine einzige Schrift benutzte, die einen zusammenhängenden Bericht enthielt.“

Im Lauf der Fünfziger und Sechziger Jahre kommen Reim zufolge (443) auch andere Johannesforscher „zum Ergebnis der Unabhängigkeit des Johannesevangeliums von den Synoptikern“, unter anderem Charles Dodd, <25> Rudolf Schnackenburg <26> und Ernst Haenchen. <27> Ausführlich geht er nur auf den Letzteren ein, dessen abschließende Schlussfolgerungen er folgendermaßen zitiert (443-444):

„a) Es hat sich bestätigt, was schon Gardner-Smith und andere behauptet hatten: Die Berührungen mit den synoptischen Evangelien sind gering und betreffen nur gewisse Geschichten und Motive. Längere wörtliche Übereinstimmungen fehlen völlig. Oft klingen nur einzelne Wendungen an. Dieser Befund deutet nicht auf eine Benutzung der synoptischen Evangelien hin, sondern auf die Verwertung einer Tradition, die sich mit der von den synoptischen Evangelien aufgenommenen berührte. In diesen Fällen zeigt das Johannesevangelium die spätere, oft schon deutlich „zersagte“ Gestalt.

b) Damit wird der früher als selbstverständlich geltenden Annahme der Boden entzogen, Johannes habe die Synoptiker oder doch einige von ihnen „benutzt“. Bei dieser beliebten Vermutung scheint die Vorstellung von einem Schriftsteller mitgespielt zu haben, der die Werke seiner Vorgänger mindestens im Kopf, vielleicht aber sogar auf seinem Schreibtisch hat. Außerdem setzt jene Hypothese ohne Grund voraus, dass die Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas in jeder größeren Gemeinde vorhanden waren… Johannes dürfte die Synoptiker gar nicht gekannt haben. Er wollte sie darum weder ergänzen noch verbessern noch verdrängen.

d) … (der gesamte Zustand des Erzählungsstoffes bezeugt)… dass uns hier eine nichtsynoptische Überlieferung im Spätstadium begegnet. Sie lässt, wie das ganze Evangelium, als Ursprungsort irgendeine kleine Gemeinde an der Grenze zwischen Syrien und Palästina denken, die abseits vom großen Strom der Entwicklung lebte…“ – soweit E. Haenchen.

Tatsächlich mag es sein, dass Johannes die Synoptiker nicht kannte. Und wenn doch, dann hat er sie nicht so benutzt, wie Matthäus und Lukas nachweislich auf das Markusevangelium zurückgriffen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass er beispielsweise irgendwo in gottesdienstlichen Versammlungen Teilstücke aus solchen Evangelien gehört hat. Erinnerungen an diese Texte mag er in ähnlicher Weise in sein Evangelium eingebaut haben, wie er das mit den Texten aus dem TeNaK tat. <28>

2.4 Günter Reim und Josef Blinzler

Schließlich bekräftigt Günter Reim (444) auf „Grund eigener Untersuchungen des alttestamentlichen Hintergrundes des Johannesevangeliums, <29> „dass Johannes nicht von den Synoptikern abhängig ist.“ Das gilt ihm zufolge sowohl für die „mit den Synoptikern gemeinsamen Zitate aus dem AT in Joh 1,23; 12,13.15.40; 19,24 und die Anklänge an Worte der Synoptiker in 7,42; 12,34; 13,18; 19,28 und 19,37“ als auch „für die Geschichten von der Tempelreinigung (Joh 2,13ff), vom Einzug in Jerusalem (12,12-15), von der Ankündigung des Verrats (13,21ff), der Bewahrung Jesu vor dem Zerbrechen der Knochen und vom Lanzenstich (19,31ff)“.

Der Auffassung von Josef Blinzler, <30> Johannes habe die Synoptiker in „souveräner Freiheit“ benutzt, widerspricht Reim „im Hinblick auf die detaillierten Untersuchungen Bultmanns, Dodds, Schnackenburgs und Haenchens“ also entschieden. Stattdessen kündigt er schon einmal seine Hypothese der „Bekanntschaft des vierten Evangelisten mit einem vierten synoptischen Evangelium“ an, die er später genauer entfalten wird.

Seinen historischen Überblick zur historischen Kritik des Johannesevangeliums beschließt Reim mit dem Fazit (444-445):

Es zeigt sich also, dass A. Schweitzers Urteil, dass es bei der Erforschung des Lebens Jesu nur darauf ankommt, dass das vierte Evangelium für den Aufbau des Lebens des Herrn ausgeschaltet wird, heute einfach nicht mehr aufrechtzuerhalten ist und einer positiveren, wenn auch kritischen Wertung weichen muss.

3 Ein Wunderevangelium als Quelle für das Johannesevangelium

Nachdem Günter Reim bereits in seinem Kapitel I auf Stolpersteine im Johannesevangelium hingewiesen hat (445), kommt er in Kapitel V auf weitere „exegetische Einsichten“ zu sprechen, die ihn dazu bringen (450), zunächst ein „Wunderevangelium“ und später auch noch ein viertes synoptisches Evangelium (siehe Kapitel 4 und Kapitel 5) als schriftliche Quelle für das Johannesevangelium anzunehmen.

3.1 Warum zählt Johannes nur zwei Zeichen Jesu (oder doch drei)?

Zunächst kommt Reim (445) auf Widersprüchlichkeiten im Umgang des Johannes mit Zeichen und Wundern zurück, und zwar auf die Zählung der beiden Zeichen in Johannes 2,11 und 4,54:

Irgendjemand muss also einmal Interesse gehabt haben, Wunder Jesu zu zählen. Der Evangelist war sicher selbst nicht dieser Jemand, denn dann hätte er bei den folgenden Wundern weitergezählt: drittes Wunder, viertes Wunder usw. … Der Evangelist hat diese Zählung mitsamt den beiden Wundern in sein Evangelium übernommen.

Aber warum hätte der Evangelist, der an vielen Stellen aus dem TeNaK sehr frei zitiert, eine Zählung von Wundern, die ihm selbst nicht wichtig ist, aus einer Quelle übernehmen sollen, ohne damit selber einen Sinn zu verbinden?

Dasselbe gilt für einen angeblichen „Fehler“ in dem Satz: „Das ist nun das zweite Zeichen, das Jesus tat, als er aus Judäa nach Galiläa kam“. Reim zufolge hätte er „nach der in Kap. 2 im Anschluss an das Weinwunder berichteten Jerusalemreise“ eigentlich schreiben müssen: „Das ist nun das zweite Zeichen, das Jesus tat, als er das zweite Mal aus Judäa nach Galiläa kam.“ Wenn es Johannes auf eine derart penible Zählung der Taten Jesu angekommen wäre, dann hätte er auch eine von ihm übernommene Angabe ändern können.

Nach Ton Veerkamp ist es kein Zufall, dass Johannes ausgerechnet die beiden Zeichen, die in Kana, am äußersten Rand des randständigen Galiläa, weit weg vom Zentrum judäischen Lebens in Jerusalem, geschehen, als „prinzipielles“, archēn (2,11), und als das „zweite, andere“, deuteron (4,54), bezeichnet. Ihm zufolge offenbart sich Jesus im Weinwunder als derjenige, der die messianische Hochzeit des Gottes Israels mit seinem Volk Israel herbeiführen wird, <31> und das Zeichen der Belebung des Sohnes macht deutlich, worauf dieses und alle weiteren Zeichen des Messias hinauslaufen werden, nämlich auf die Erweckung des todgeweihten Volkes Israel zum Leben der kommenden Weltzeit in Freiheit, Recht und Frieden. <32> Dort in Galiläa, weit weg von der priesterlich geführten judäischen Zentralmacht, kann sich Jesus als Messias offenbaren, bevor (Johannes 5 bis 12) sein subversives Wirken in der Verborgenheit als der durch die Mehrzahl der Judäer abgelehnte Messias dargestellt wird. In gleicher Verborgenheit, praktisch hinter verschlossenen Türen, macht Jesus seinen Schülern auch deutlich (Johannes 13-20), was sein Abschied, sein Tod am Kreuz und sein Aufsteigen zum VATER bedeutet. Erst im letzten, wohl von Johannes selbst an das Evangelium angefügten Kapitel 21 stellt Johannes Ton Veerkamp zufolge <33> dar, wie die Gruppe um Johannes sich aus der Isolation hinter verschlossenen Türen aus Angst vor den Judäern befreit und sich der größeren messianischen Bewegung unter der Führung des Petrus anschließt. Ich stelle das so ausführlich dar, weil mir auffällt, dass eben in diesem letzten Johanneskapitel noch ein drittes Zeichen (allerdings ohne dass das Wort sēmeion auftaucht) mit einem Zahlwort bezeichnet wird. Ich denke, dass Johannes den wunderbaren Fischfang, mit dem sich Jesus öffentlich vor sieben seiner Schüler zeigt, durch das Zahlwort triton, „das dritte Mal“ (21,14), in die Reihe der grundlegenden messianischen Offenbarungen Jesu einordnet.

So verstanden, machen die drei Zahlenangaben Sinn, indem sie das zeichenhafte Handeln Jesu in seine Offenbarung als des Messias Israels einordnen, und man muss Johannes weder unterstellen, unsinnige Einzelheiten aus vorgegebenen Überlieferungen entnommen zu haben, noch sich darüber wundern, dass er viele weitere Zeichen erwähnt, ohne sie durchzunummerieren. Dass Johannes bereits in 2,23 und 3,2 von Zeichen Jesu im Plural spricht, obwohl bis dahin nur das prinzipielle Zeichen zu Kana erwähnt war und vom zweiten erst in 4,46-54 erzählt wird, stellt auch insofern keinen Widerspruch dar, als Johannes nach 20,30 die im Evangelium aufgeschriebenen Zeichen ausdrücklich als eine von ihm getroffene Auswahl bezeichnet.

Günter Reim dagegen hält als ersten Beleg für ein Wunderevangelium fest (445): „Zwei Wunder hat er aus der Quelle übernommen, weil sich eine weitere Zählung von Wundern im Johannesevangelium nicht findet.“

3.2 Gehen fast alle johanneischen Wundergeschichten auf Elia und Elisa zurück?

Weiter belegt Reim die Verwendung einer Wunderquelle durch Johannes folgendermaßen (446):

Alle Wunder im Johannesevangelium haben nun eines gemeinsam: Die Sprache, in der sie geschrieben sind, unterscheidet sich von der des Evangelisten. Der Evangelist hat also Wunder – wahrscheinlich schriftlich – überliefert bekommen und man könnte mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass er sie aus ein und derselben Quelle hat. Aber eine Beobachtung spricht gegen diese Annahme. Nach genauer Untersuchung des alttestamentlichen Hintergrundes im Johannesevangelium konnte ich feststellen, dass in allen Wundergeschichten ein versteckter Vergleich mit den anderen großen Wundertätern der Juden, Elia, und seinem mit doppeltem Eliageist (2. Kön 2,9f) begabten Schüler Elisa angebracht ist, aber mit einer Ausnahme: Joh 5,1ff!

Wieder erlaube ich mir Rückfragen: Worin genau bestehen die Unterschiede in der johanneischen Sprache von derjenigen der Wundergeschichten? Darauf geht Reim in diesem Aufsatz nicht ein. Vor allem aber: Warum kann Johannes nicht einfach selber sowohl auf eine ganze Reihe von Wundergeschichten aus der Elia-Elisa-Tradition anspielen als auch auf eine andere aus anderen Zusammenhängen? Immerhin werden von Elia und Elisa die meisten Wundertaten im TeNaK erzählt, und sie bieten sich daher ganz selbstverständlich als die beste Möglichkeit an, die Taten Jesu von ihnen her zu begreifen.

3.2.1 Die Hochzeit zu Kana

Hinzu kommt (446), dass es etwa in der Geschichte von der Hochzeit zu Kana zwar wirklich eine ganze Reihe von Anspielungen auf die Erzählung von Elia und der Witwe zu Zarpath gibt (1. Könige 17,12.15.16.18), aber manche Züge des Weinwunders können ebenso auf die Wüstenwanderung des Volkes Israel in der Mosezeit Bezug nehmen wollen. <34> So fordert das Volk damals die Behebung eines lebensbedrohlichen Mangels an Brot oder Wasser, oft verbunden mit einem Murren gegen Gott, während hier die Mutter des Messias einen Mangel an Wein feststellt, jedoch verbunden mit der Bereitschaft, auf den Messias des Gottes Israels zu hören.

Andererseits sieht Ton Veerkamp <35> zusätzlich auch noch eine mögliche Verbindung der „sechs Wassergefäße, die für die Reinigung der Judäer gedacht sind“ mit Elia, an die Reim nicht denkt:

Zwölf ist die Zahl für „ganz Israel“. Diese Deutung wird unterstützt durch die Erzählung 1 Könige 18, wo Elia zwölfmal – dreimal vier – Gefäße mit Wasser füllen lässt (18,34), nachdem er zwölf Steine – „nach der Zahl der Stämme der Söhne Jakobs“ – hat aufrichten lassen (18,31). Hier ist aber das „halbe“ Israel. Die andere Hälfte ist noch gar nicht da. (Vgl. 10,16: „Andere Schafe habe ich, die sind nicht von diesem Hof“. <36>) Das toratreue Israel im Lande (die sechs Gefäße, gefüllt mit Wasser) muss zum messianischen Israel werden (zu sechs Gefäßen, gefüllt mit Wein).

3.2.2 Die Speisung der 5000 und Jesu Wandel auf dem Meer

Dass (446) die „Geschichte von der Speisung der 5000 (Joh 6,1-15)“ die Erzählung von der Ernährung Israels während einer Hungersnot durch den Propheten Elisa aufruft, ist klar erkennbar. Im Widerspruch zu Reims Annahme einer ausschließlich auf Elia und Elisa anspielenden Wunderquelle steht jedoch, dass er zugeben muss (447):

Die an das Speisungswunder angehängte Geschichte vom Seewandeln Jesu enthält zwar keine Elia-Elisa-Anspielung, doch scheint sie in der Tradition (vgl Mk 6,30-44/6,45-52, Mt 14,13-21/14,22-33) fest mit der Speisung verbunden zu sein.

Das heißt doch, dass man schon in irgendeiner Tradition durchaus Geschichten mit unterschiedlichem Bezugsrahmen miteinander verknüpfen konnte.

3.2.3 Die Auferweckung des Lazarus

Spannend finde ich, wie Günter Reim (447) das Gebet Jesu um die Auferweckung des Lazarus (Johannes 11,41b-42) in Beziehung zum Gebet Elias auf dem Karmel setzt (1. Könige 18,36b-37) und wie er die Folgen des Wunders beschreibt:

Wie das Volk um Elia nach dem Gottesurteil rief: „Der Herr ist Gott!“, so führt auch das Lazaruswunder viele von den Juden zum Glauben.

Sieht man wie Ton Veerkamp (vgl. oben Abschnitt 1.3.2) Lazarus als die Verkörperung eines heruntergekommenen, geradezu verwesenden Volkes Israel, dann geschieht in der Erweckung des Lazarus genau das, worum Elia in 1. Könige 37 bittet:

Erhöre mich, HERR, erhöre mich, dass dies Volk erkenne, dass du, HERR, Gott bist und ihr Herz wieder zu dir kehrst!

Den letzten Halbsatz übersetzt Veerkamp <37> mit den Worten: „… dass du der Gott bist, dass du ihr Herz zurückverwandelt hast.“ Von daher deutet er die Auferweckung des Lazarus nicht als übernatürliche Belebung eines toten Individuums, sondern eben als die Belebung Israels:

Die „Rückverwandlung des Herzens Israels“ ist die Belebung des toten Lazarus. … Vom TeNaK her zeigt diese Stelle, dass es kein Hokuspokus einer Totenbeschwörung gibt, sondern dass der Tod in Israel nicht das letzte Wort sein darf…

Damit verbunden ist Veerkamp zufolge, dass die Lazarusgeschichte nicht nur von Elia, sondern auch von anderen Stellen des TeNaK her zu begreifen ist, etwa der großen Vision der Belebung Israels, die der Prophet Hesekiel zu sehen bekommt (37,1ff.), und auch des Psalms 102,19-22, wo es darum geht, „los zu machen (lysai) die Söhne des Todes“:

Die Belebung des Lazarus … ist die Hoffnung des Johannes und mit ihm Israels. Und der Auftrag der messianischen Gemeinde besteht darin, das nicht mehr tote und noch nicht lebende Israel „los zu machen“, zu erlösen von der Bindung des Todes. Die messianische Gemeinde ist an die Menschheit gewiesen (Matthäus 28,19), an ihr das zu tun, was sie an dem nicht mehr toten und noch nicht lebenden Lazarus tun sollte, „losmachen“.

3.3 Bezeugt ein „Wunderevangelium“ Jesus als den wiederkommenden Elia?

Den eigentlichen Grund, aus dem ein Wunderevangelium geschrieben wurde, sieht Günter Reim (448) in der allgemeinen Erwartung „im jüdischen Volke…, dass Elia wiederkommen sollte“, <38> und zwar entweder als der Messias oder als dessen Vorläufer. Nun gab es Juden, „die in Jesus auf Grund seiner Wunder den wiedergekommenen Propheten Elia sahen“, man konnte aber auch „in Johannes dem Täufer, wohl auf Grund seiner Bußpredigt, den Elia“ wiedererkennen.

Da im Johannesevangelium nachdrücklich betont wird, dass Johannes weder Elia noch der Messias ist, muss es Reim zufolge (449) „zur Zeit der Entstehung der Traditionen, die hinter dem Johannesevangelium stehen“, Menschen gegeben haben,

die in Johannes dem Täufer den wiedergekommenen Elia sahen, ihn als Messias und den Propheten bekannten und sich deswegen gegenüber der Verkündigung von dem Christus Jesus ablehnend verhielten.

Gegen die Auffassung solcher Täuferjünger versucht eine von Johannes benutzte Quelle aufzuweisen, dass nicht Johannes, sondern „Jesus der wiedergekommene Elia ist, denn er hat Wunder getan wie Elia.“

Interessant finde ich, was Reim in diesem Zusammenhang zum Lukasevangelium schreibt. Auch dort spielen die meisten Wunder Jesu auf Elia an, sogar „wenn die Parallelgeschichten bei Mk und Mt diese Anspielungen nicht enthalten“, und auch durch das Thema der Himmelfahrt wird Jesus mit Elia gleichgesetzt. Zugleich wird aber in „der Vorgeschichte Lk 1 und 2 … Johannes der Täufer als Elia dargestellt“. Müsste man wegen dieser Widersprüchlichkeit nicht auch Lukas unterstellen, auf ein „Wunderevangelium“ zurückzugreifen? Ich denke, es liegt in der Freiheit jedes Evangelisten, in unterschiedlicher Weise selbst auf alttestamentliche Traditionen Bezug zu nehmen, von denen her er das messianische Wirken Jesu beleuchtet.

3.4 Die Konstruktion eines „Wunderevangeliums“

Günter Reim beginnt nun damit (450), das von ihm angenommene „Wunderevangelium, das die Johannesjünger zum Glauben an Jesus führen sollte, zu skizzieren“. Zu den ersten Elementen gehört die „Anfrage an den Täufer…, ob er der Elia oder der Prophet sei (1,19ff)“, der Wechsel einiger Jünger von Johannes zu Jesus und die Geschichte von „Philippus und Nathanael, an dem sich Jesu Fähigkeit der Fernsicht erweist“. <39> Dann folgen

  • die Hochzeit zu Kana (Johannes 2,1ff.),
  • ein kurzer Aufenthalt in Kapernaum (2,12) <40>
  • die Fernheilung des Sohnes des königlichen Dienstmanns aus Kapernaum von Kana aus (4,43ff.),
  • die Speisung der 5000 am anderen Ufer des Sees Genezareth (6,1ff.), <41>
  • Jesus Flucht vor der Menge und sein Wandel auf dem See,
  • Jesu Wirken in Galiläa (7,1) und heimliche Teilnahme am Laubhüttenfest in Jerusalem (7,2ff.),
  • die Heilung eines Blindgeborenen (9,1ff.) und dessen Ausstoßung aus der Synagoge,
  • Jesu Rückkehr über den Jordan zum Taufort des Johannes (10,40),
  • Jesu Zögern, als er von der Krankheit des Lazarus erfährt, und dessen Auferweckung aus dem Grab (11,1ff.),
  • die Erfüllung von „zwei Prophezeiungen des Jesajabuches (12,37-41)“ durch den Unglauben vieler Juden
  • und die Worte Joh 20,30f. ohne den abschließenden Halbsatz.

Reim zufolge (451) „findet sich in allen Wundergeschichten der Quelle“ ein „Zug der Bestätigung des Wunders durch die Menschen“, indem etwa nach der Heilung des Blinden die „nachfolgende Diskussion zwischen dem Geheilten und den Pharisäern … die Größe des Wunders“ zeigt.

In dieser Liste erblickt Reim den „Teilplan“ eines (452) dem Evangelisten schriftlich vorliegenden Wunderevangeliums, durch das „Jesus als wiedergekommener Elia, Prophet und Sohn Gottes ausgewiesen und geglaubt werden sollte…, in der die Passionsgeschichte jedoch nicht enthalten war. Man sollte ja durch Wunder zum Glauben kommen (Joh 20,30f).“ Bezeichnend ist die Art, wie sich Reim zu diesem Wunderglauben äußert:

Mag manchem heute eine solche Wundergläubigkeit auch fremd anmuten – wir merken ja, dass der Evangelist in gewissem Sinne unsere Befremdung teilt – so werden wir sie doch im Hinblick auf das Gegenüber, die Johannesjünger, verstehen können. Es ging doch darum, einem falschen Messiasanspruch dadurch zu wehren, dass man einen Teilaspekt des Lebens Jesu, die Wunder, benutzte. Dass Jesus Wunder getan hat, steht außer Zweifel. Dass nicht alle von der Wunderquelle berichteten Wunder von Jesus vollbracht worden sind, ist mir klar. Mit dem Zweifel an manchen Wundern jedoch ist nicht das Grundsätzliche, sondern das Nebensächliche bezweifelt.

Womit setzt sich Reim hier auseinander? Einer modernen Skepsis übernatürlichen Wundern gegenüber betont er, dass der Evangelist diese im Grunde teilt und dass die Wunderquelle die Wunder nur als Mittel zum Zweck erzählt. Zugleich will er offenbar nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und versichert, dass Jesus tatsächlich Wunder getan hat, wenn auch nicht unbedingt alle, die die Wunderquelle auf Grund der Elia-Elisa-Tradition formuliert hat. Aber Wunder sind für den Glauben an Jesus im Grunde nebensächlich.

Bei dieser Sichtweise kommt überhaupt nicht in den Blick, welche Bedeutung die „Zeichen und Machterweise“ Gottes, sēmeia kai terata, in den jüdischen Schriften haben, auf die oben in Abschnitt 1.3.2 bereits hingewiesen wurde. Wesentlich ist, dass Johannes von den Schriften her den Messias Jesus als die Verkörperung des NAMENS versteht, der durch seine Zeichen an Israel befreiend wirkt. Um übernatürliche Fähigkeiten geht es ihm tatsächlich überhaupt nicht.

4 Drei Keile, die ins Johannesevangelium hineingetrieben scheinen

Nach der Betrachtung (452) des „Wunderbüchleins“ beschäftigt sich Günter Reim ausführlich mit drei Stellen des Johannesevangeliums, die er als „Fremdkörper“ bezeichnet und die „wie ein Keil“ erscheinen, der in eine ansonsten logische Abfolge hineingetrieben wird.

4.1 Erster Keil: Die Heilung des Gelähmten (Johannes 5,1ff.)

Zunächst passt Reim zufolge die Erzählung „von der Heilung des 38 Jahre lang Kranken“ nicht in sein „Wunderevangelium“ hinein, und zwar aus folgenden Gründen:

  1. Ihr fehlt „die Anspielung auf Elia/Elisa“,
  2. sie wird (453) „als einzige von allen Wundererzählungen im Johannesevangelium nicht als ‚Zeichen‘ charakterisiert“,
  3. sie spielt bei einem Fest in Jerusalem und ist (452) „wie ein Keil“ zwischen die „Heilung des Sohnes eines Königischen (Joh 4,46ff)“ und die „Speisung der 5000 (Joh 6,1ff)“ hineingetrieben, die am West- bzw. Ostufer des Sees Genezareth stattfinden,
  4. zudem (453) fordern in Johannes 7,3f. Jesu Brüder „Jesus auf, von Galiläa nach Judäa zu gehen“ und sich dort der Welt zu offenbaren, „als ob Jesus noch nicht in Jerusalem in aller Öffentlichkeit ein Wunder getan hätte“,
  5. schließlich findet sich die „Diskussion über die Heilung am Sabbat“, die ursprünglich zur Wundergeschichte gehörte, erst „Monate nach der Heilung“ in Johannes 7,19-24.

Zu Punkt 1 habe ich im Abschnitt 3.2 bereits gefragt, warum nicht neben einer Vielzahl von Verweisen auf die vielen Wunder Elias und Elisas nicht auch einzelne Wunder von anderen Zusammenhängen her gestaltet worden sein können (und zwar ganz gleich, ob nun in einer Wunderquelle oder einer anderen Tradition oder vom Evangelisten selbst). Ton Veerkamp <42> sieht für die Heilung des Gelähmten (Johannes 5) einen Hintergrund in der Zeit der Wüstenwanderung Israels:

Die Zahl „achtunddreißig“ für die Zeit der Erkrankung bezieht sich sicher auf Deuteronomium 2,14, wo es heißt, dass Israel, nachdem es sich geweigert hatte, ins Land zu ziehen, 38 Jahre lang in der Wüste umherirren musste. In der Zeit „starb das ganze Geschlecht der Kriegsmänner“. Alles, was an Israel wehrhaft war, war tot. Um diese Verirrung Israels geht es auch hier, wie aus 5,14 hervorgeht.

Zu Punkt 2 kann man sagen, dass auch bei der Heilung des Blinden erst im Nachhinein gefragt wird: „Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun?“ Angekündigt wird dieses Zeichen von Jesus in diesem Fall jedoch als ein Wirken der Werke Gottes, ergazesthai ta erga (9,4). In gleicher Weise deutet Jesus in 5,17 die Heilung des Gelähmten am Sabbat als ein Wirken (ergazesthai), das dem Wirken seines VATERS entspricht. Im Übrigen fehlt auch beim Seewandel Jesu das Stichwort sēmeion.

Zu den in Punkt 3 bis 5 angegebenen logischen Brüchen in der zeitlich-räumlichen Abfolge der Erzählungen des Johannesevangeliums ist oben im Abschnitt 1.1 schon das Notwendige gesagt worden.

Aber selbst wenn Johannes die Geschiche von der Heilung des Gelähmten aus einer anderen Quelle als der Wunderquelle erhalten haben sollte, bleibt in Günter Reims Ausführungen die Frage offen, zu welchem Zweck er sie an dieser angeblich so unsinnigen Stelle eingefügt hat.

4.2 Zweiter Keil: Die Tempelreinigung (Johannes 2,13ff.)

Auch die Geschichte von der Tempelreinigung empfindet Reim (453f.) an ihrer Stelle im 2. Johanneskapitel als einen Fremdkörper, da an ihrem Ende von Zeichen die Rede ist (2,23), die Jesus in Jerusalem tat. Auch das widerspricht der eben bereits erwähnten „Aufforderung der Brüder Jesu in Joh 7,3f, Jesus solle nach Judäa gehen, damit auch die Jünger Jesu (dort?) die Werke sehen, die Jesus tut“. Abgesehen davon geht die Mehrzahl der wissenschaftlichen Exegeten der Evangelien davon aus (455), dass der „Zeitpunkt der Tempelreinigung kurz vor dem Tode Jesu anzusetzen“ ist, wie es die synoptischen Evangelien darstellen.

Günter Reim vertritt nun die These (454):

Der Evangelist hat in seiner von der Tradition herstammenden Vorlage die Geschichte von der Tempelreinigung im unmittelbaren Anschluss an die Geschichte vom Einzug in Jerusalem gelesen. Er hat jedoch beide Geschichten beim Schreiben seines Evangeliums trennen müssen.

4.2.1 Das Alte Testament von Jesus her verstehen oder Jesus von den Schriften her?

Zu den Argumenten, die dafür sprechen (455), dass Johannes die Tempelreinigung von der Einzugsgeschichte getrennt und an den Anfang seines Evangeliums gestellt hat, fügt Reim hinzu, dass am Ende beider Geschichten (2,22 und 12,16) sehr ähnlich geredet wird über

die Jünger, die nach der Auferstehung Jesu eine alttestamentliche Schriftstelle verstanden haben. Nur fällt auf, dass in Joh 12,16 die Bemerkung vom Unverständnis der Jünger, das erst durch die Auferstehung beseitigt wird, nicht passt. Selbst das Volk verstünde in der Geschichte vom Einzug ja dann mehr als die Jünger und nicht erst von der Auferstehung her kann man das Sacharjazitat (Sach 9,9) in Verbindung mit dem auf dem Esel einziehenden Jesus bringen.

Die Frage ist aber, ob es Johannes hier wirklich darum geht, „von der Auferstehung her … eine alttestamentliche Schriftstelle“ zu verstehen. Wenn es genau umgekehrt ist, dass nämlich die Schülerinnen und Schüler Jesu erst nach der Erhöhung des Messias zum VATER verstehen, was die Ausrufung Jesu zum König bedeutet, und zwar von der Schriftstelle Sacharja 9,9ff. her, dann haben weder das Volk noch Reim selbst „mehr als die Jünger“ von der befreienden Kraft der Auferstehung Jesu verstanden, die sich auf den Anbruch des Lebens der neuen Weltzeit des Friedens bezieht. Ton Veerkamp <43> schreibt dazu:

Im Buch Sacharja bringt der messianische König den Frieden in die Stadt. Wir wissen nicht genau, auf welche Situation dieser Text zielte. Jedenfalls beendet der König den Krieg zwischen Ephraim und Jerusalem, das große Thema des Gespräches zwischen dem Messias und der Samaritanischen am Jakobsbrunnen. Der König von Sacharja 9 mag Alexander gewesen sein. Die Menschen neigen dazu, solche großen Könige wie Kyros, den Perser, oder Alexander, den Mazedonier, für Messias zu halten.

Johannes hat genug von solchen großen Messiassen. Diese Ernüchterung ist ein durchgehender Zug in den messianischen Gruppen. Wenn König, dann einer auf einem Eselchen. Keine großen Könige mehr. Die Bedingung für den Frieden zwischen Ephraim Samaria und Jerusalem/Judäa ist der Weltfriede für die Völker. Genau das ist es, was die Menge will, ohne wirklich zu wissen, dass sie es will. Sie weiß nicht, dass der Weltfriede nichts ist als die andere Seite der Belebung Lazarus‘/Israels. Sie weiß es nicht und die Schüler wissen es auch nicht. Erst später werden sie es wissen, werden sie „die Schriften“ verstehen, auch die Schriftstelle Sacharja 9,9ff. Die „Erfindung“ Jeschuas, eine Erfindung der ganzen messianischen Bewegung – das Eselchen (onarion) – ist die Frucht des Studiums der Schrift in den messianischen Gemeinden.

Darum geht es wirklich, und das sieht Reim nicht, indem er die im 2. Jahrhundert üblich gewordene christliche Auslegung des Alten Testaments auf Christus hin bzw. von Christus her teilt, statt umgekehrt den Messias Jesus und auch die Bedeutung seiner Auferstehung von den jüdischen Schriften her auszulegen. <44> Er meint, dass sich nicht nur Johannes 2,22, sondern auch 12,16 ursprünglich auf das Jesuswort 2,19 bezieht, „hinter dem ein Wort aus dem AT, möglicherweise Hos 6,2, steht: ‚Brechet diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.‘ Nur dieses Wort ist erst von der Auferstehung her zu verstehen.“

Zur Klarstellung: Recht hat Günter Reim sicherlich damit, dass von der Tempelreinigung ursprünglich im Zusammenhang mit dem Einzug in Jerusalem erzählt wurde. Aber zu Unrecht unterstellt er Johannes, er habe einfach aus Unachtsamkeit ein unpassendes Deutewort Jesu an der falschen Stelle stehen lassen. Einer solchen Annahme widerspricht Reim unfreiwillig auch selbst, indem er auf sprachliche Unterschiede der beiden Stellen 12,16 und 2,22 hinweist (456):

Als der Evangelist die Geschichte von der Tempelreinigung von ihrer ursprünglichen Stelle an den Anfang seines Evangeliums versetzte, hat er die Unverständnis-Formel in ihrer ursprünglichen Form mitwandern lassen. Das zeigt sich an einer Kleinigkeit: Wenn der Evangelist in seinen eigenen Worten von der Auferstehung Jesu spricht, verwendet er nie das Wort egeirein (aufrichten, errichten, von den Toten auferwecken) , sondern immer hypsoun (erhöhen) u. doxazein (verherrlichen). egeirein findet sich bei Johannes nur in traditionellem Material. Als Johannes nun die Unverständnis-Formel mitwandern ließ, hat er an das Ende der Einzugsgeschichte eine eigene Unverständnis-Formel gestellt, denn die mitgewanderte konnte sich ja vielleicht auf Einzug und Tempelreinigung beziehen. Bei der eigenen Unverständnis-Formel ist Johannes jedoch in seinen eigenen Sprachgebrauch verfallen und hat geschrieben: Als Jesus verherrlicht ward.

Wenn Johannes sich aber in 12,16 eine übernommene Formel sogar mit eigenen Worten aneignet, dann tut er das gewiss nicht ohne bewusste Aussageabsichten.

4.2.2 Nahtstelle zwischen „Wunderevangelium“ und Passionstraditionen

Warum aber „muss“, wie Reim meint, Johannes die beiden Geschichten trennen? Das hängt ihm zufolge damit zusammen (456), dass Johannes nicht nur ein „Wunder­evangelium“ als Quelle benutzt hat, das „knapp hinter dem letzten Wunder von der Auferweckung des Lazarus schloss und … keine Passions- und Auferstehungsgeschichten enthalten hat (Joh 20,30f)“, sondern ihm haben außerdem „offensichtlich Traditionen über Leiden, Tod und Auferstehung Jesu vorgelegen, die es mit dem Wunderevangelium zu verbinden galt.“ Johannes hat also (458)

ein Wunderevangelium ohne Passions- und Auferstehungsgeschichte mit einer synoptikerähnlichen Passionsgeschichte verklammern müssen. Die Naht zwischen beiden ist deutlich sichtbar geblieben. Die beiden von dieser Verklammerung betroffenen Geschichten sind aus dem Wunderevangelium „die Auferweckung des Lazarus“ und aus dem synoptikerähnlichen Material der „Einzug in Jerusalem“. Bei der Verklammerung dieser beiden Geschichten hat nun der Evangelist eine Entscheidung getroffen, bei der die Theologie schwerer als die Historie gewogen hat oder besser: bei der die Bedürfnisse der Verkündigung gegenüber seinen Lesern und Hörern schwerer gewogen haben als die Historie.

Wieder fällt hier Reims Interesse an der Historie auf. Er hat Recht mit seiner Einschätzung, dass Johannes kein Historiker im Sinne eines Josephus sein will. Aber dasselbe gilt auch schon für diejenigen, auf deren Traditionen er zurückgreift; sie alle wollen auf jeweils ihre eigene Weise herausstellen, dass Jesus der Messias ist, auf den Israel gewartet hat. An exakter Faktenrichtigkeit als solcher ist kein biblischer Schriftsteller interessiert.

4.2.3 Tempelreinigung oder Lazaruswunder als Anlass für den Todesbeschluss?

Reim mag auch darin Recht haben (457), dass „wahrscheinlich … der Todesbeschluss über Jesus, den wir jetzt in Joh 11,46ff finden, ursprünglich in der dem Johannes vorliegenden Tradition eine Reaktion auf die Tempelreinigung“ war, denn (458) die Angst der Hohenpriester

vor den Römern, die Tempel und Leute nehmen und das ganze Volk verderben können, ist wohl als Reaktion auf die Tempelreinigung und den vorhergehenden messianischen Einzug, nicht aber als Reaktion auf eine abseits geschehene Auferweckung eines Toten begreifbar.

Warum hat dann aber Johannes genau diese Auferweckung des Lazarus zum Anlass für den Todesbeschluss der Hohenpriester gemacht? Reim schreibt (458f.):

Ich will das erklären: Nach dem von Johannes verwendeten Material zu urteilen, das seinerseits schon eine längere Entwicklungszeit hinter sich hat, ist das Johannesevangelium bestimmt nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. geschrieben worden, einer Zeit also, in der man für die weitreichende theologische Bedeutung der Tempelreinigung nicht mehr das Gespür gehabt hat wie um das Jahr 30 die Richter über Jesus. Nach 70 war also die Bedeutung der Tempelreinigung abgewertet. Die Entscheidung des Evangelisten war nun folgende: Er hat nicht der Tempelreinigung die Bedeutung gelassen, die sie in seinem synoptikerähnlichen Material hatte, nämlich dass sie zum Todesbeschluss über Jesus aus Furcht vor den Römern mit den sich dahinter verbergenden theologischen Gründen führte, sondern hat in der Auferweckung eines stinkenden Toten und der Verkündigung des Lebens für die ganze Welt den Grund für Jesu Verurteilung gesehen und die Verklammerung demgemäss gestaltet.

Diese Argumentation ist so aber nicht nachvollziehbar, denn schon Markus verfasst sein Evangelium um oder kurz nach dem Jahr 70, und gerade die Zerstörung des Tempels mag bereits von ihm als bittere Konsequenz des Ungehorsams der judäischen Führungsschicht eingeschätzt worden sein, die den Tempel zu einer Räuberhöhle werden ließ und nicht bereit war, auf den Messias Jesus zu vertrauen.

Das gilt um so mehr für Johannes, der die Bedeutung des Tempels sogar noch erhöht, indem er seine Reinigung an den Anfang der Wirksamkeit Jesu stellt. Mehrere Jahrzehnte nach der Zerstörung des Tempels geht Johannes allerdings bereits recht gelassen davon aus, dass ein mit Rom kollaborierendes Hohepriestertum den Tempel zu einem heidnischen Kaufhaus gemacht <45> und der Zerstörung preisgegeben hat und dass nach der Auferstehung Jesu dessen Leib im Sinne der messianischen Gemeinde die Rolle des Tempels übernimmt: Sie ist der Ort, wo jetzt der Gott Israels seinen NAMEN wohnen lässt.

Nimmt man wahr, dass Lazarus, dessen Name auf den Sohn Aarons, Eleasar, zurückgeht, genau das Israel repräsentiert, das durch die Priesterkaste Jerusalems in buchstäblicher Verwesung versunken ist (siehe oben den Abschnitt 1.3.2), dann kann man sogar feststellen, dass die Auferweckung des Lazarus mit vollem Recht den Platz der Tempelreinigung als der Veranlassung des Todesbeschlusses Jesu durch die Hohenpriester übernommen hat, denn sie symbolisiert genau das, was der Tod Jesu in Gang setzen wird: die Belebung und Befreiung Israels in der Weltzeit, die kommen soll.

Reim (459) dagegen, der die „Wunderhandlungen Jesu“ anders versteht, nämlich eher lediglich als Belege für übernatürliche Fähigkeiten, hält es für „historisch völlig unglaubhaft“, dass diese „zur Beratung des Hohen Rats, zur Weissagung des Hohenpriesters Kaiphas (‚Es ist euch besser, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe‘) und zum Todesbeschluss, als dessen Rechtsgrundlage kein jüdisches Gesetz angeführt werden könnte“, führen könnten. Mehr noch:

Warum sollten die Römer den Juden den Tempel (ton topon Joh 11,48) wegnehmen? Weil Jesus einen Toten auferweckt hat und viele an ihn glauben? Die Angst der jüdischen Obrigkeit hat nur im Anschluss an eine messianisch verstandene Tempelreinigung einen Sinn!

Historisch liegt Reim damit, wie gesagt, richtig. Aber er sieht nicht, dass für Johannes Jesu Wunder mehr sind als übernatürliche Mirakel: Sie stellen Zeichen und Machterweise des Gottes Israels dar, dessen befreiendes Wirken die Macht Roms genau so bedroht wie die zehn ägyptischen Plagen des Mose der Macht des Pharao zeichenhaft entgegenstanden.

4.2.4 Die Forderung eines Zeichens passt nicht in die Zeit nach dem Lazaruswunder

Bis jetzt hat Reim seine Frage immer noch nicht beantwortet (459), warum in seinen Augen Johannes „die Tempelreinigungsgeschichte vom Einzug“ trennen und „an den Anfang seines Evangeliums“ setzen muss. Seine Antwort lautet (459-460):

Weil die zur Tempelreinigung gehörige Forderung eines Wunders als Ausweis der Vollmacht für Jesu radikales prophetisches Handeln (Joh 2,18) nach dem Auferweckungswunder mit der Reaktion der Jerusalemer Menge darauf vollkommen unverständlich wäre. Sie ist aber dann nicht mehr unverständlich, wenn sie zu Beginn des Evangeliums gestellt wird, also bevor Jesus in Jerusalem Wunder vollbracht hat. Dass der Evangelist die Tempelreinigungsgeschichte an den Anfang des Evangeliums stellt, mag dann weiter auch seinen Grund darin haben, dass er das gesamte Wirken Jesu als auf den Tod hin ausgerichtet (2,17) schildern wollte.

Das klingt plausibel. Hinzu kommen aber weitere Gründe, die mit der Bedeutung der Tempelthematik zu tun haben und die ich im vorigen Abschnitt dargelegt habe.

4.2.5 Jesu Wirken ist zeitlich nicht nach dem Johannesevangelium bestimmbar

Die Versetzung der Tempelreinigung, die zeitlich mit der Nähe des Passafestes verbunden ist, an den Anfang des Evangeliums, bringt in Reims Augen mit sich (460),

dass zumindest ein Passafest durch den Evangelisten zuviel gezählt wurde und sich uns die Differenz zwischen Synoptikern und Johannes, was die Dauer des Wirkens Jesu betrifft, zunächst um ein ganzes Jahr verringert. Das Mitwandern der Formel heißt doch aber auch, dass der Evangelist offensichtlich kein festes Wissen von der Dauer des Wirkens Jesu gehabt hat. Von daher wird die Zeitangabe in Joh 6,4 – „das Passa, das Fest der Juden, war nahe“ – beurteilt werden müssen, gleich, ob der Evangelist diese Zeitangabe aus der Tradition des Wunderevangeliums haben sollte oder sie selbst eingefügt haben sollte, was wahrscheinlicher ist. Die Zeitangabe in Joh 6,4 macht den Eindruck eines Einschubs in eine fortlaufende Erzählung. Warum der Evangelist die Zeitangabe hier einfügt, ist eine andere Sache und hat wohl mit der Erwähnung von Abendmahl (Joh 6,51ff) und Judasverrat (Joh 6,70f) zu tun. Beides wird ja von den Synoptikern im Zusammenhang mit dem nahen Passa berichtet.

Daraus zieht Reim den Schluss, dass

der Unterschied zwischen der Chronologie des Wirkens Jesu nach den Synoptikern und nach Johannes nur eine Sache der Komposition des Evangeliums durch Johannes ist und das dem Evangelisten vorliegende synoptikerähnliche Material die gleiche Chronologie wie die Synoptiker enthielt, d.h., dass Jesu öffentliches Wirken sich nur über die Zeitdauer eines knappen Jahres erstreckt hat.

Richtig ist sicher, dass Johannes nicht daran interessiert ist, die Zeitdauer des Wirkens Jesu möglichst korrekt darzustellen. Wie bereits in Abschnitt 1.2 gesagt, ging es darum den Synoptikern allerdings ebensowenig. Und wie in Abschnitt 1.1 erwähnt, macht Johannes 6,4 als eine von mehreren Festzeitangaben in Johannes 5 bis 12 Sinn, die das Wirken Jesu strukturieren.

Dass Johannes auch darüber hinaus immer wieder das Passafest erwähnt, das jedoch nie gefeiert wird, sondern immer nur nahe ist, hat mit seinem zentralen Thema zu tun, dass die durch den Messias als Passalamm initiierte Befreiung noch aussteht.

4.2.6 Erzählt Johannes ursprünglicher von der Tempelreinigung als die Synoptiker?

Höchst interessant ist nun die Art, wie sich Günter Reim (461) mit den Berichten von der Tempelreinigung bei den Synoptikern auseinandersetzt. Sollten wir nämlich gedacht haben, dass Johannes einen Zusammenhang zwischen Jesu Einzug in Jerusalem, der Tempelreinigung und dem Todesbeschluss der Hohenpriester gegen Jesus auseinanderreißt, den es bei den Synoptikern selbstverständlich gibt, dann werden wir jetzt eines Besseren belehrt.

Bei Matthäus folgt Reim zufolge die Tempelreinigung unmittelbar auf den Einzug in Jerusalem (21,1-11 und 21,12-14); er erwähnt allerdings nicht, dass die unmittelbar anschließende Reaktion der Hohenpriester und Schriftgelehrten zwar Entrüstung, aber keinen Todesbeschluss enthält. In 21,46 erfolgt ein Versuch der Hohenpriester und Pharisäer, Jesus „zu ergreifen“, allerdings aus Furcht „vor dem Volk, denn es hielt ihn für einen Propheten“. Und erst in 26,3-4 berichtet Matthäus von der Versammlung der Hohenpriester und Ältesten des Volkes, die ohne Angabe von Gründen beschließen, Jesus zu töten.

Obwohl Matthäus auf den Text des weitaus älteren Markusevangeliums zurückgegriffen hat, klingen Reims Ausführungen zu Markus so, als ob er eine bei Matthäus noch vorliegende Tendenz abgeschwächt habe. Auch bei Markus (im 11. Kapitel), so Reim, „endet der Einzug im Tempel, aber anstelle der sofortigen prophetischen Aktion der Tempelreinigung“ sieht sich Jesus zunächst die Tempelanlage an, und die

erst am nächsten Tag folgende Tempelreinigung wird vom Evangelisten ganz bewusst von der Geschichte der Verfluchung eines fruchtlosen Feigenbaumes umgeben, die schon über die Tempelreinigung hinaus auf den Untergang des Tempels hinweist. Die Frage nach Jesu Vollmacht zur Tempelreinigung wird nach Mk erst am Tage danach gestellt und auch anders als bei Johannes beantwortet, wobei im Vergleich die Antwort der im Johannesevangelium wiedergegebenen Tradition die historisch wahrscheinlichere ist und ja im Markusevangelium noch einmal im Munde falscher Zeugen (Mk 14,58) auftaucht. Im Markusevangelium wird also eine Tendenz der Abwertung der Bedeutung der Tempelreinigung sichtbar. Zu dieser Tendenz gehört, dass der Todesbeschluss (Mk 14,1) weitab von der Tempelreinigung gebracht wird, der dann auch den Hinweis auf die Angst vor den Römern, die Tempel und Volk nehmen könnten, nicht mehr enthält.

Nur zur Klarheit: Was Reim hier zur Begründung einer „Tendenz der Abwertung der Bedeutung der Tempelreinigung“ anführt, trifft genau so für das auf Markus aufbauende Matthäusevangelium zu; auch dort wird Jesu Todesbeschluss weder mit der Tempelreinigung noch mit der Angst vor den Römern begründet.

Wie ist es bei Lukas? Seine Darstellung steht Reim zufolge „dem johanneischen Bericht am nächsten, ohne dass man diesen daraus ableiten könnte“:

Auch bei Lk führt der Einzug (Lk 19,29-44) direkt in den Tempel und die Tempelreinigung (19,45f) führt, wie für Johannes vermutet, zum Todesbeschluss (19,47f), nur dass eine kleine Notiz eingeschoben wird: „… und er lehrte täglich im Tempel“.

Genau der von Reim erwähnte kleine Einschub lässt aber offen, ob es tatsächlich die Tempelreinigung oder die Lehre Jesu ist, die dazu führt, dass die Führung des Volkes Jesus aus dem Weg räumen (apollymi), zumal in 22,2 ein weiteres Mal davon die Rede ist, dass Hohenpriester und Schriftgelehrte Jesu Tod planen, und zwar genau wie bei Markus und Matthäus ohne Angabe von Gründen.

Mit anderen Worten: die von Günter Reim angenommene „Tradition, die dem johanneischen Bericht unterliegt“, lässt sich auf keines der synoptischen Evangelien direkt zurückführen. Vielmehr macht sie ihm zufolge „den Eindruck, dass sie älter und genauer als die drei synoptischen Berichte ist.“ Man könnte aber auch die Frage stellen, ob es eine solche Tradition überhaupt gegeben hat.

„Ohne Anspruch auf Vollständigkeit“ führt Reim folgende Argumente für eine solche ältere Tradition an, die mir jedoch alle nicht stichhaltig erscheinen (461f.):

a) Die Geschichte vom Einzug in Jerusalem ist bei Johannes noch nicht wie bei Mk durch den wunderbaren Zug vom Finden des Eselsfüllens nach der Weisung des Meisters erweitert worden. Bei Johannes heißt es nur: „Jesus aber fand ein Eselsfüllen…“ (12,14).

Diese zeitliche Reihenfolge ist nicht zwingend. Bei den Synoptikern ist die Findungsgeschichte durch die Schüler eng mit der einmaligen Reise Jesu von Galiäa nach Jerusalem verbunden. Johannes kann sie bewusst ausgelassen haben, auch um das Finden des Eselchens auf den Messias Jesus selbst zu konzentrieren. Weiter (462):

b) Die deutende Geschichte von der Verfluchung des Feigenbaumes (Mk 11,12-14 20) fehlt noch bei Johannes.

Auch auf diese Erzählung kann Johannes bewusst verzichtet haben, da er den Feigenbaum als Symbol des Friedens für Israel im Zusammenhang mit der Berufung des Nathanael positiv deutet und eine pauschale Verfluchung Israels ablehnt.

c) Der Tempelreinigungsgeschichte bei Johannes fehlt noch die Anspielung auf die Schriftworte in Jes 56 und Jer 7. Das von Johannes gebrachte Schriftwort aus Ps 69 (Joh 2,17) ist johanneische Einfügung und zerreißt den Zusammenhang von Joh 2,16 und 2,18, ist außerdem aus dem Nichtverstehen des Wortes aus der Tradition („…und glaubten der Schrift, Joh 2,22) das auf die Auferstehung in drei Tagen (Joh 2,19) anspielt, entstanden.

Auch hier muss keine ursprünglichere Version vorliegen. Stattdessen kann Johannes selbst bewusst andere Aspekte akzentuiert haben, indem er den Tempel als heidnisch gewordenes Kaufhaus, emporion, beurteilt und Jesu Eifer, zēlos, hervorhebt, der aber nicht zu zelotisch-militärischen Abenteuern führen wird. Zu 2,22 hatte Reim selbst an anderer Stelle gesagt, dass der Vers leicht auf Hosea 6,2 bezogen werden kann.

d) Die Vollmachtsfrage ist bei Johannes noch unmittelbar mit der Tempelreinigung verbunden.

Diese Verbindung kann auch erst von Johannes hergestellt worden sein.

e) In der johanneischen Tempelreinigungsgeschichte ist das Wort Jesu über den Abbruch des Tempels noch enthalten.

Wenn es eine alte Tradition gegeben hätte, die dieses Jesuswort enthalten hat, wäre es dann nicht unwahrscheinlich, dass man es später unter den Tisch fallen ließ? Immerhin war es ein Wort des Herrn. Umgekehrt ist es eher vorstellbar, dass Johannes entsprechende Gerüchte über Jesus bewusst zu einem Jesuswort umgestaltet hat.

f) Die „Geißel aus Stricken“, die Jesus macht und benutzt, wird nicht erst späterer Nachtrag sein, sondern echtes Requisit.

Stellt sich Reim also vor, der historische Jesus habe tatsächlich eine Geißel aus Stricken zur Tempelreinigung benutzt? Wäre eine solche Aktion nicht aber sofort mit dem Einsatz der Tempelpolizei oder gar römischer Soldaten beantwortet worden?

g) Die Tempelreinigung ist in der dem Johannes vorliegenden Tradition noch der Anlass für den Todesbeschluss.

Das entsprach nur der Rekonstruktion einer solchen Tradition durch Reim bzw. historischen Spekulationen über mögliche Ursachen der Kreuzigung Jesu, während kein einziger Evangelist, nicht einmal Johannes, den Beschluss des Todes Jesu unmittelbar auf die Tempelreinigung zurückführt.

Reims abschließendes Fazit zu seiner Beurteilung der Tempelreinigungs-Tradition lautet:

Ich kann mir nur vorstellen, dass ein ähnlicher Bericht wie der, der Johannes vorlag, von den Synoptikern erweitert worden ist. Für einen umgekehrten Weg der Verengung ursprünglich weiteren Materials zu dem, das Johannes vorlag, sehe ich keinerlei Möglichkeit.

Ich meine, seine Argumentation mit guten Gründen widerlegt zu haben.

4.3 Dritter Keil: Jesus und Johannes der Täufer (Johannes 3,22-30)

Auch für (462) die Verse Johannes 3,22-30 nimmt Günter Reim an, dass sie als ein Fremdkörper, der „dritte Keil“, in eine Rede Jesu eingefügt worden sind (463):

Der Evangelist treibt zwei ursprünglich zusammenhängende Stücke auseinander. Es entsteht nur die Frage, ob wir hier auch eine kompositionelle Einfügung des Evangelisten vor uns haben, wie es Joh 5,1ff und 2,13ff sind oder ob hier ein Redaktor Unordnung in eine einstige Ordnung hineingebracht hat. Die Art des Materials lässt an ersteres denken.

Zur Begründung führt Reim eine Reihe von Argumenten an, die mich wieder nicht überzeugen können:

Der Stil des Joh 3,22-30 zugrunde liegenden Kerntextes ist nicht johanneisch (pareginonto in 3,23 nur hier bei Johannes, sonst erchesthai;

Das stimmt; allerdings kommt paraginomai im Sinne von „kommen“ auch im Markusevangelium (14,43), im Hebräerbrief (9,11) und in allen echten Paulusbriefen (1. Korinther 16,3) jeweils nur ein einziges Mal neben dem häufigeren Gebrauch von erchesthai vor; das erstere Wort scheint also generell seltener verwendet zu werden, aber durchaus auch von Autoren, die meist auf das letztere zurückgreifen.

… der Gottesname wird durch ek tou ouranou umschrieben; …

Die Wendung ek tou ouranou, „aus dem Himmel, vom Himmel“, gibt es bei Johannes ein Dutzend Mal, unter anderem zwei Mal in den Passagen des 3. Kapitels, in die angeblich die Verse 22-30 hineingetrieben worden sein sollen, nämlich 3,13 und 3,31. Diese Wortwahl stellt also eher eine Verbindung zwischen diesen verschiedenen Teilen her.

… die Bezeichnung der Gemeinde als nymphē und Christi als nymphios ist unjohanneisch; …

Das stimmt insofern, als diese beiden Ausdrücke, „Braut“ und „Bräutigam“ nur hier im Johannesevangelium auftauchen. Bei den Synoptikern spielt Jesus als Bräutigam im Zusammenhang mit dem Fastenthema eine Rolle: das Fasten ist erst angebracht als Zeichen der Trauer um Jesus, wenn er gestorben sein wird (Markus 2,19-20; Matthäus 9,15; Lukas 5,34-35). Für Johannes spielt weder das Fasten noch die Trauer um den zum VATER erhöhten Menschensohn eine Rolle.

Aber auch im Johannesevangelium ist das Thema von Braut und Bräutigam vorbereitet, indem die Hochzeit zu Kana als der Anfang aller Zeichen Jesu symbolisch auf die messianische Hochzeit des Gottes Israels mit seiner Braut, dem Volk Israel, verweist. Diese wiederum steht für den Anbruch der kommenden Weltzeit des Friedens für Israel inmitten der Völker. Nach Ton Veerkamp <46> entpuppt sich hier Johannes, der Zeuge des Messias, zugleich als der Trauzeuge des Bräutigams, der die wahre Bedeutung des Zeichens der Hochzeit zu Kana offenlegt, indem er an die „Stimme des Bräutigams“, phōnē tou nymphiou, aus dem Prophetenbuch Jeremia erinnert:

Wir werden in dieser zweiten Hochzeitserzählung im Johannesevangelium auf die Erzählung der Hochzeit zu Kana zurückverwiesen. Der Freund des Bräutigams ist der hestēkōs, der Beisteher. Zu Recht verweisen Barrett, Bultmann, Wengst u.a. auf die Funktion des Freundes als (orientalischer) Trauzeuge.

Mit dieser Erzählung erhält das Hauptzeichen in Kana seine eigentliche Dimension. Der Bräutigam ist der messianische König, die Braut ist Israel. Matthäus verwendet das Bild der messianischen Hochzeit in der Erzählung von den zehn Mädchen, Matthäus 25,1-13. Jochanan ist der wichtigste aller Hochzeitsgäste, er ist der architriklinos aus Johannes 2,1ff.: „Auch ich wusste nichts von ihm“, sagte Jochanan, 1,34, genauso, wie der architriklinos nicht wusste, wo der Wein herkam (2,9). Jetzt weiß der Freund. Denn er hört die Stimme des Bräutigams.

Wir kennen die „Stimme des Bräutigams“ aus der Schrift sehr gut. Dreimal lässt Jeremia diese Stimme wie einen finsteren Refrain hören, einmal wie eine Freudenbotschaft. In Jeremia 7,34 (vgl. 16,9 und 25,10) hören wir:

Ich will verabschieden aus den Städten Judas, aus den Straßen Jerusalems,
Stimme der Wonne und Stimme der Freude,
Stimme des Bräutigams und Stimme der Braut,
denn zu einer Einöde wird das Land.

Aber in 33,10f. heißt es:

So hat der NAME gesagt:
Ja, gehört wird wieder in diesem Ort,
wovon ihr sagt: verödet ist er,
ohne Mensch, ohne Vieh,
und von den Städten Judas, von den Straßen Jerusalems:
verwüstet, kein Mensch, kein Bewohner, kein Vieh,
Stimme der Wonne, Stimme der Freude,
Stimme des Bräutigams, Stimme der Braut,
Stimme derer, die sagen:
Dankt dem NAMEN der Ordnungen,
denn gut ist der NAME,
in Weltzeit seine Solidarität … [= Psalm 136]

Um die „erfüllte Freude“ geht es, die endgültige messianische Wende für eine Stadt, wo nur die Stimme des Krieges gehört wird und die in den Tagen dieses Johannes verwüstet ist. In den Tagen der messianischen Hochzeit tritt der Prophet – Jeremia, Jochanan – zurück. Der Messias, der Bräutigam, soll zunehmen, wogegen dieser geringer werden soll. Gegen diesen Hintergrund will Johannes den Prozess der wachsenden messianischen Gemeinde und die schrumpfenden Gruppen der Täuferschüler gedeutet sehen.

So hat sich das Rätsel, das uns Johannes mit der Figur des architriklinos aufgibt, gelöst. Der „Nichtwissende“, Vertrauter oder Freund des Bräutigams, ist jener Jochanan, den wir „den Täufer“ nennen. Bei Johannes ist er Jochanan der Zeuge.

Aus dem, was ich bisher gesagt und von Veerkamp zitiert habe, geht übrigens auch hervor, dass Reims Vorstellung von der „Gemeinde als nymphē“ tatsächlich unjohanneisch ist. Mit der Braut meint Johannes ursprünglich nämlich tatsächlich nicht eine christliche Gemeinde aus Heiden und vielleicht noch einigen Juden, die an Jesus glauben, sondern umgekehrt, ein um den Messias neu versammeltes Rest-Israel, bestehend aus Judäern, Samaritanern sowie Juden der Diaspora und vielleicht noch einigen Griechen, Hellēnes tines (Johannes 12,20), die bereit sind, auf den Messias des Gottes Israels zu vertrauen.

Bestätigt wird diese Sicht auch durch die Offenbarung des Johannes, wo einerseits (18,23) wie in Johannes 3,29 die „Stimme des Bräutigams“ aus Jeremia aufgerufen wird und andererseits (21,2.9 und 22,17) die „Braut“ als die „Frau des Lammes“ mit dem himmlischen Jerusalem identifiziert wird, das als neues Israel von Gott aus dem Himmel herabkommt.

Spätestens an dieser Stelle sollte deutlich sein, dass – ganz gleich, woher Johannes irgendwelche Überlieferungen gewonnen haben mag oder ob er überhaupt auf solche zurückgreift – es viel wichtiger ist, wozu er sie in sein Evangelium einbaut. Entscheidend ist für ihn immer wieder, die Bedeutung des Messias Jesus von den jüdischen Schriften her zu verdeutlichen.

Zurück zu den weiteren Argumenten Günter Reims (463):

… der einzelne Jude in 3,25 spielt für Johannes sonst keine Rolle). Das Material stammt aber auch nicht aus dem Wunderevangelium (katharismos bedeutet da äußerliche Reinigung, s. 2,6, nicht Wegnahme von Schuld s. 3,25.

Es würde zu weit führen, über diesen einzelnen Juden oder Judäer zu diskutieren; nur nebenbei sei angemerkt, dass weder in 2,6 noch in 3,25 irgendetwas darauf hindeutet, ob die Reinigung, katharismos, rein äußerlich oder im Sinne einer Schuldwegnahme zu verstehen ist.

Das Wunderevangelium stellt den Täufer nicht nach Mal 3,1/3,23 als wiedergekommenen Elia dar, worauf aber Joh 3,28 anspielt (!), sondern lässt den Täufer bezeugen, dass er nicht Elia ist).

An dieser Stelle zeigt es sich, wie irrelevant es ist, diese Verse entweder auf ein Wunderevangelium oder eine andere Quelle zurückzuführen. Denn für Johannes stellt es offenbar keinen Gegensatz dar, dass Johannes nicht Elia ist und dennoch zugleich derjenige ist, „der vor ihm her gesandt“ ist. Genau dasselbe hatte Johannes bereits in 1,15 und 1,27.30 bezeugt. Dass Johannes dort angeblich auf das Wunder­evangelium zurückgreift, das diese Verse noch nicht enthalten soll, entspricht ja nur einer entsprechenden Rekonstruktion der Quelle, womit sich die Argumentation im Kreise dreht.

Günter Reim selbst hält es übrigens auch nicht für beweisbar, „dass Joh 3,22-30 in seiner nicht überarbeiteten Grundform aus dem synoptikerähnlichen Material stammt, das wir schon in Joh 2,13ff und 5,1ff kennen gelernt haben“, er möchte es aber „doch diesem Material wegen seiner Keilfunktion zuordnen.“

Gut finde ich, dass er sodann endlich die Frage stellt, um die es doch eigentlich geht:

Warum aber hat der Evangelist dieses Material diese Keilfunktion ausüben lassen? Weil er es für wichtig hielt und weil in Joh 3 der geeignete Platz dafür war. Neben die Taufe als Geburt aus Wasser und Geist (Joh 3,5) gehört die Reinigungstaufe, um die es in Joh 3,22ff geht.

Mit dieser Konkretisierung trifft Reim in meinen Augen aber kaum das eigentliche Anliegen des Johannes. Wie wenig wichtig Johannes rituelle Vollzüge nimmt, zeigt schon die Art, wie er es in der Schwebe lässt, ob Jesus nun selber getauft hat oder nicht (3,22 und 4,1-2), und das Fehlen der Einsetzung des Abendmahls. In meinen Augen geht es Johannes zentral um die Klärung, was es mit dem Zeichen der messianischen Hochzeit auf sich hat, wie oben dargelegt. <47>

4.4 Hat Johannes sein Evangelium aus mehreren Quellen zusammengeflickt?

Unter der Überschrift (464) „Mangelnde Fähigkeit zur Komposition?“ fragt Günter Reim, ob möglicherweise diejenigen Exegeten Recht haben, die annehmen, dass „der uns vorliegende Evangeliumstext“ möglicherweise durcheinandergeraten oder „durch einen Redaktor geändert, vervollständigt und dann herausgegeben worden ist.“ Er kann sich „keiner der entwickelten Theorien anschließen“, will aber auch nicht den uns überlieferten Text einfach so nehmen und auslegen, wie er eben ist.

Stattdessen entwickelt er eine eigene Theorie, auf Grund derer er zu erklären versucht, warum Johannes gar nicht anders konnte, als ein Evangelium mit einer ganzen Reihe von deutlich erkennbaren Nahtstellen zu präsentieren. Nachdem er mehrfach „synoptikerähnliches Material“ gefunden hat, das wie ein Keil ins Johannesevangelium hineingetrieben wurde, stellt er die Frage:

Konnte denn aber der Evangelist Johannes Material verschiedener Art nicht nahtloser komponieren, wie z.B. die Synoptiker, bei denen man kaum solche große Kluften wie bei Johannes findet? Nein, er konnte es nicht, weil er das Material nicht auf einmal vor sich gehabt hat, sondern das synoptikerähnliche Material erst zur Hand bekam, als er eine Erstausgabe seines Evangeliums schon vollendet hatte. Diese Erstausgabe war das aus der Tradition stammende Wunderevangelium, durch Johannes kommentiert. Nach Erhalt des neuen Materials – ich nenne es den vierten Synoptiker – hat der Evangelist die Erstausgabe überarbeitet, nun aber nicht so, dass er die Erstausgabe zertrümmert hätte, um noch einmal ganz von vorn zu beginnen, sondern so, dass er in die Erstform an ihm geeignet erscheinenden Stellen Keile hineintrieb und so einiges Material aus der Zeit vor der Passion unterbrachte. Weiter hat er dann das passionslose Wunderevangelium mit der von ihm erweiterten und kommentierten Passions- und Ostergeschichte aus dem vierten Synoptiker miteinander verklammert.

Theoretisch wäre das denkbar, aber es hat sich bereits gezeigt, dass die Argumente, die Reim für die Existenz solcher Quellen anführt, nicht unbedingt stichhaltig sind. Und selbst wenn solche Quellen existiert haben und verwendet wurden, darf man Johannes nicht einfach unterstellen, er habe sie auf Grund von schriftstellerischem Unvermögen nur notdürftig zusammengeflickt. Wichtiger ist es jeweils, nach den Zielen zu fragen, die er selbst auch mit dem verfolgt, was er von anderswo übernommen hat.

5 Ein viertes synoptisches Evangelium neben Markus, Matthäus, Lukas

In seinem (464) Kapitel VI rekonstruiert Günter Reim nun das von ihm angenommene vierte synoptische Evangelium. Er verzichtet „aus Platzgründen“ auf die Darstellung seiner einzelexegetischen Vorarbeiten, führt aber einige Ergebnisse an, die sich aus diesen ergeben haben (464f.):

Der Evangelist selbst hat offensichtlich alles Material aus der Tradition und nicht aus eigener Augenzeugenschaft. Wunderevangelium und vierter Synoptiker müssen ihm schriftlich vorgelegen haben, denn sie weisen beide wohl Einschübe in johanneischer Sprache auf, haben aber in ihrem Grundbestand eine unjohanneische Sprache.

Die „unjohanneische Sprache“ ist also das Hauptargument Reims für das Wunder­evangelium und den vierten Synoptiker als Johannes vorliegende Schriftquelle. Allerdings hat sich bereits in Abschnitt 4.3 gezeigt, dass nicht alles, was Reim als unjohanneisch bezeichnet, tatsächlich diesem Kriterium entspricht.

Zur Abgrenzung des vierten Synoptikers von der Wunderquelle schreibt Reim (465):

Das Material des Wunderevangeliums trägt durchweg den Stempel der Rivalität/Gegnerschaft zu den Täuferjüngern und will laut Joh 20,30f nur Zeichen darbieten, damit andere glauben.

Damit wiederholt er sein Vorurteil (siehe Abschnitt 1.3.2), Johannes sei grundsätzlich wunderkritisch eingestellt gewesen und habe nicht vielmehr die Darstellung des gesamten befreienden Handelns Jesu auf Grund seiner Zeichen durchstrukturiert, in Entsprechung zu den „Zeichen und Machterweisen“, sēmeia kai terata, des Gottes Israels. Dass das Wunderevangelium hauptsächlich vom Thema der Rivalität zwischen Jesus- und Täuferjüngern geprägt sein soll, liegt natürlich daran, dass Reim genau diese Rivalität ausschließlich der Wunderquelle zugeordnet hat (vgl. Abschnitt 3.4); als einziges Argument dafür ist mir erkennbar geworden, dass der Täufer gefragt wird, ob er Elia ist, und dass alle Wundergeschichten dieser Quelle auf Grund von Elia-Elisa-Geschichten des Alten Testaments gestaltet worden sein sollen (siehe Abschnitt 3.3).

Was „synoptikerähnliches Material“ betrifft, verweist er nochmals auf die „Brüche“ (Keile), die es im Johannesevangelium verursacht hat, und auf „Jesussprüche…, von denen manche nach Form und Inhalt Parallelen in den Synoptikern haben“, und zwar nicht nur in der Passionsgeschichte.

5.1 Grundbestand des vierten Synoptikers

Als (466) „Grundbestand“ eines vierten synoptischen Evangeliums führt Günter Reim folgende Stellen des Johannesevangeliums auf, und zwar, was die Passionsgeschichte betrifft, „in der Reihenfolge…, die wir in Mk 11,1ff finden“. Zu dem anderen Material merkt er an, dass er es „an dem Ort, an dem es jetzt bei Johannes steht“, einfügt, aber er erlaubt sich doch eine Reihe von Umstellungen.

Ergänzend zu den in der Druckversion enthaltenen Versangaben empfiehlt Reim in seinem im Internet veröffentlichen Text seinen Artikel Joh 4.44 – Problem oder Schlüssel – 1974. Mit einem Nachtrag 2011, der ihm zufolge „ein starkes Argument dafür“ liefert, „dass der ‚Vierte Synoptiker‘ mehr als nur die von Johannes überlieferte Passionsgeschichte enthalten hat.“ Diesem Artikel entnehme ich die in der folgenden Liste enthaltenen Versangaben zu „Jesu Predigt in Nazareth“. <48>

Zur besseren Übersicht füge ich den jeweiligen Versen eine Inhaltsangabe hinzu:

  • 1,23: Johannes der Täufer als Rufender nach Jesaja 40,3
  • 1,26.27.32.33.34; 3,23-30: Johannes und Jesus – Wassertäufer und Geisttäufer
  • 4,3-30.40-42.35-38: Jesus in Samarien
  • 4,43.44.45.48; 6,30.4-5.52.61.59.61; 7,5.14f.45; 8,59; 10,31.33.39; 11,8; 12,36: Jesus Predigt in der Synagoge zu Nazareth, die auf Ablehnung stößt
  • 5,2-16.27-29; 7,19-24: Heilung des Gelähmten, Gerichtspredigt und Deutung der Heilung am Sabbat
  • 6,69; 10,22-25: Jesus als der Heilige Gottes und der Messias
  • 11,7-10; 12,24-26; 11,16: Jesu Zug nach Judäa, Weizenkorngleichnis, Thomaswort vom Sterben mit Jesus
  • 12,12-15: Einzug in Jerusalem
  • 2,13-22: Tempelreinigung
  • 11,47-51.53-54: Todesbeschluss für Jesus durch die Hohenpriester
  • 12,1-8: Salbung Jesu durch Maria
  • 13,1-20: Fußwaschung der Jünger durch Jesus
  • 13,21-30: Jesu Ankündigung des Verrats durch Judas
  • 6,51-58: Abendmahlsworte Jesu
  • 6,70-71; 14,31: Jesu Worte über Judas und den Weggang von der Mahlfeier
  • 16,1.32; 13,36-38: Jesu Worte über die Zerstreuung der Jünger und die Verleugnung des Petrus
  • 18,1-12: Gefangennahme Jesu
  • 18,15.19-23: Verhör Jesu durch den Hohenpriester Hannas
  • 18,17-18.25-27: Verleugnung Jesu durch Petrus
  • 18,24.28: Übergabe Jesu an den Hohenpriester Kaiphas und an Pilatus
  • 18,29-37; 19,10: Verhör Jesu durch Pilatus
  • 18,38-40; 19,6.15: Forderung der Hohenpriester, Jesus an Stelle von Barabbas zu kreuzigen
  • 19,1.13.16: Jesu Verurteilung durch Pilatus zu Geißelung und Kreuzigung
  • 19,2-3: Verspottung Jesu durch die Soldaten
  • 19,17.18.19: Jesu Kreuzigung, nachdem er selbst sein Kreuz trägt, die Aufschrift am Kreuz
  • 19,23f.28f.25: Verlosung der Kleider Jesu, Jesu Durst, die Frauen unter dem Kreuz
  • 19,31-37: Jesu Beine werden nicht gebrochen, der Lanzenstich
  • 19,38-42: Jesu Grablegung durch Josef von Arimathäa und Nikodemus
  • 20,1-18: Maria Magdalena, Petrus und der Lieblingsjünger am Grab Jesu
  • 19, 19-29: Jesu Osteroffenbarung vor den Jüngern und vor Thomas
  • 21,1.14: Jesu Osteroffenbarung am See Tiberias
  • 21,15-19: Jesu Beauftragung des Petrus mit dem Hirtenamt
  • 21,20-24: Jesu Worte an Petrus über den Lieblingsjünger

5.2 Übernimmt Johannes in 6,51b-58b Abendmahlsworte aus dem vierten Synoptiker?

Mit seiner Rekonstruktion des vierten Synoptikers will Günter Reim (466) zunächst ein Problem bewältigen, das von Rudof Bultmann <49> folgendermaßen beschrieben worden war:

„Gedankengang und Gliederung von 6,27-59 bereiten große Schwierigkeiten. Von vornherein hebt sich 6,51b (kai ho artos de ktl) – 58b stark von dem Vorhergehenden ab; denn zweifellos ist hier vom sakramentalen Mahle der Eucharistie die Rede, bei der Fleisch und Blut des „Menschensohnes“ verzehrt werden mit der Wirkung, dass diese Speise das „ewige Leben“ verleiht, und zwar in dem Sinne, dass der Teilnehmer an diesem Mahle der künftigen Auferstehung gewiss sein kann. Das Herrenmahl ist hier also als pharmakon athanasias bzw. tēs zōēs aufgefasst. Das befremdet nicht nur angesichts der Gesamtanschauung des Evglisten, speziell seiner Eschatologie, sondern es steht auch in Widerspruch zu den vorausgehenden Worten. … Es kommt hinzu, dass die Begriffssprache von 6,51b-58 aus einem ganz anderen Anschauungskreis stammt als die von 6,27-51a. Der Schluss ist unvermeidlich, dass V. 51b-58 von der kirchlichen Redaktion hinzugefügt ist… .“

Was Bultmann hier als befremdend empfindet, nämlich dass in Johannes 6,51b-58 „zweifellos“ vom Abendmahl die Rede sei, und zwar im Sinne einer magischen Garantie der Auferstehung oder eine Medikaments für das ewige Leben, kann aber auch ganz anders interpretiert werden, nämlich als provozierend formulierte schockierende Kritik an rituellen Vollzügen und als Aufruf, dem Messias nachzufolgen, dessen Fleisch am Kreuz der Römer blutig gefoltert wird (vgl. Abschnitt 1.3.1).

Eine solche Kritik an Bultmann steht Reim fern. Er teilt Bultmanns Einschätzung bis auf den einen Punkt, dass der angebliche Fremdkörper nicht von einer „kirchlichen Redaktion“, sondern (467) von Johannes selbst in die Erstfassung seines Evangeliums aus Material des vierten Synoptikers eingefügt worden sein soll. Dort war nach Reim diese „Abendmahlsgeschichte mit der Erwähnung des Verräters (Joh 6,70f) … kurz vor dem Tode Jesu (vgl. Joh 13,2)“ erzählt worden:

Der Evangelist jedoch wollte Petrusbekenntnis und Judasverrat-Ankündigung – beide aus der Tradition des vierten Synoptiker – an geeigneter Stelle seinem Evangelium einfügen und auch eine Begründung für Bekenntnis und Verrat geben. So tat er folgendes: Der Brotrede, in der Essen des Brotes = Hören – und nur das – bedeutet, fügte er eine Rede an, in der das Essen des Brotes = Essen des Abendmahls und Trinken des Blutes bedeutet. Dieses Essen und Trinken ist so ungeheuerlich, dass damit der Weggang vieler Jünger und der Verrat des Judas erklärt werden können. Jesu Rede ist aber auch so großartig, dass sie das Petrusbekenntnis – hier möglicherweise in einer älteren Form als bei den Synoptikern – hervorrufen kann.

Reim erklärt aber nicht, worin die Ungeheuerlichkeit dieser Worte Jesu bestehen soll. Er könnte die für Juden unerträgliche Vorstellung des Essens von nicht ausgeblutetem Fleisch, gar noch Menschenfleisch, und des Trinkens von Blut meinen, eine Provokation, die noch verstärkt wird durch die mehrmalige Verwendung des Wortes trogein, „kauen, fressen“, an Stelle von phagein, „essen“. Eine solche Sprache passt aber nicht zum bloßen rituellen Vollzug einer Mahlzeit, wie ihn die Synoptiker beschreiben, obwohl Reim genau das zu unterstreichen versucht:

In der Rede sind die Grundworte des Abendmahlsberichtes der Synoptiker erhalten: mein Fleisch (Mk 14,22: mein Leib) – mein Blut (Mk 14,24: mein Blut) – für das Leben der Welt (Mk 14,24: für viele).

Tatsächlich stimmen alle von Reim erwähnten Grundworte in Markus 14,22-24 und Johannes 6,51-58 gerade nicht überein. Markus verwendet nicht das Wort sarx, „Fleisch“, sondern sōma, das Wort, das bei Johannes für den „Leib“ Jesu im Sinne des durch die Auferstehung wiedererrichteten Tempels, nämlich der messianischen Gemeinde, verwendet wird (ähnlich übrigens wie bei Paulus, vgl. etwa 1. Korinther 12,27). Seine Verwendung des Wortes haima, „Blut“, ist eindeutig zurückbezogen auf das „Blut des Bundes“, haima tēs diathēkēs, in 2. Mose 24,8, das im Johannesevangelium keine Rolle spielt. Auf den dritten Unterschied geht Reim selber ein:

Die Formel „für viele“ ist vom Evangelisten in die ihm wichtigere Form „für das Leben der Welt“ umgegossen worden (vgl Joh 1,29: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt“; Joh 4,42: „…wir haben selber gehört und erkannt, dass dieser ist wahrlich der Welt Heiland; Joh 11,51bf: „Denn Jesus sollte sterben für das Volk, und nicht für das Volk allein, sondern damit er auch die Kinder Gottes, die zerstreut waren, zusammenbrächte.“)

Zu Recht macht Reim auf das große Interesse des Johannes am kosmos aufmerksam, das er aber fälschlich so deutet, als ob es ihm nicht zuerst um die Sammlung ganz Israels (Judäer, Samaritaner und Diaspora-Juden) gehe, sondern um Heidenmission. Nach Ton Veerkamp <50> meint kosmos im Johannesevangelium in seiner negativen Bedeutung die ungerechte und bedrückende römische „Weltordnung“, die auf der positiv – als Lebenswelt der Menschen unter dem Himmel Gottes – verstandenen „Welt“ lastet.

Ganz und gar nicht bin ich mit einer weitreichenderen Schlussfolgerung einverstanden, die Reim aus seinen vorherigen Ausführungen zieht:

Wie im Johannesevangelium mit der Tradition die Geschichte in der ursprünglich geschichtsarmen johanneischen Weisheitstheologie ihren Platz bekommt, so auch mit derselben Tradition der Kultus. Dadurch ist der Kontakt mit der Gesamtkirche hergestellt und die Gefahr der Sektenwerdung gebannt.

Hier jongliert Reim mit einer Reihe inhaltsschwerer Formeln: Weisheit, Geschichte und Kultus, Gesamtkirche und Sekte. Zunächst unterstellt er Johannes, dass er ursprünglich mehr an einer zeitlos gültigen Weisheit als an der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu interessiert war. Dieses Manko konnte Johannes beheben, indem er die Überlieferungen des vierten Synoptikers in sein Evangelium aufnahm.

Die Frage ist aber, ob Johannes wirklich von einer grundlegend zeitlos-weisheitlich geprägten Theologie herkommt. Da sowohl das Wort sophia, „Weisheit“, als auch das Wort ktisis, „Schöpfung“, im Johannesevangelium zugunsten von logos und kosmos fehlt, kann auch Ton Veerkamp mit seiner Auslegung Recht haben, dass Jesus im Johannesevangelium nicht in erster Linie mit dem logos im Sinne der sophia gleichgesetzt wird, der die Schöpfung in ihrer vernünftig und weise geordneten Schönheit hervorgerufen hat, sondern dass er das befreiende Schöpferwort des Gottes Israels repräsentiert (seine logoi, hebräisch devarim, „Tatworte, Machttaten“), das eine unter die römische Weltordnung (kosmos) versklavte, in Unordnung geratene Schöpfungswelt (ebenfalls kosmos) von ihrer Versklavung befreit und mit seiner Auferstehung den „Tag eins“ einer neuen Schöpfung anbrechen lässt. So gesehen, muss „Geschichte“ nicht erst durch die Aufnahme von Traditionen in das Johannesevangelium aufgenommen werden. Veerkamp <51> kann formulieren: „Die Geschichte, die durch das Wort in Gang gesetzt wird, steht der Geschichte Roms – der konkreten Weltordnung – diametral gegenüber.“

Ebenso stelle ich Reims Behauptung in Frage, dass Johannes die kultischen Vollzüge des Abendmahls, die in der christlichen Kirche inzwischen gang und gäbe waren, mit einem Text aus dem vierten Synoptiker zustimmend aufgenommen hat. Ich denke eher, dass er zwar synoptische Abendmahlsvorstellungen gekannt hat, auf diese aber provokativ und kritisch anspielt (vgl. nochmals Abschnitt 1.3.1).

Gegen Reims Überlegung, dass die Übernahme der Abendmahlsworte einer Sektenwerdung entgegenwirken, spricht übrigens, dass es genau diese Worte sind, die im Johannesevangelium den Zerfall der messianischen Gemeinde einleiten (6,60-66). Das Thema der Überwindung einer sektiererischen Abschottung hinter verschlossenen Türen (vgl. Johannes 20,19.26) spricht Johannes nach Ton Veerkamp <52> erst in seinem Schlusskapitel 21 an, in dem sich ihm zufolge die johanneische Gruppe der übergreifenden messianischen Gemeinde unter der Leitung des Petrus anschließt.

5.3 Enthält der vierte Synoptiker Augenzeugen-Überlieferungen aus der Zeit Jesu?

Die folgenden Ausführungen Reims (467) über die „Art des synoptischen Materials“ zeigen deutlich, worauf eigentlich sein Interesse an einem vierten Synoptiker gerichtet ist. In seinen Augen enthält dieses Evangelium nämlich tatsächlich Augenzeugenmaterial aus der Zeit Jesu (467f.):

Der Evangelist Johannes hat das Material des vierten Synoptikers nicht etwa in Reinkultur bekommen, sondern offensichtlich aus einer Gemeinschaft, die das Material eines Augenzeugen gestaltet und wahrscheinlich ergänzt hat und die an dem Augenzeugen persönlich interessiert war. Trotz dieser Überarbeitung jener Gemeinschaft haben einige Berichte, die so dem Evangelisten überkommen sind, einen ursprünglicheren Charakter als die Berichte der anderen drei Synoptiker. Auch die ganze Struktur des vierten Synoptikers scheint älter als die der anderen Synoptiker zu sein.

Die Beobachtungen, die Günter Reim dafür im einzelnen anführt, bestehen teilweise in der Wiederholung dessen, was er bereits zur Tempelreinigungsgeschichte (siehe Abschnitt 4.2.6) geschrieben hatte (468):

  • Er geht von einem engen Rahmen der Passionsgeschichte im vierten Synoptiker aus und stellt von daher fest, dass die drei Synoptiker diesen Rahmen „durch Reden Jesu und anderes Material erweitert“ haben, „und zwar … hauptsächlich zwischen der Geschichte von der Tempelreinigung und der Nachricht, dass die Hohenpriester und Schriftgelehrten Jesu habhaft werden wollen, damit sie ihn töten können (vgl Mk 11,20-13,37).“
  • Er meint, dass das „wunderbare Finden des Abendmahlsgemaches (Mk 14,12-16)“, „die Erwähnung des Kreuztragens durch Simon von Kyrene“, die „Finsternis nach der sechsten Stunde und die Bemerkung vom Zerreißen des Tempelvorhangs sowie das Urteil des Hauptmanns über den Gestorbenen … im vierten Synoptiker“ noch fehlen. Ich denke dagegen, dass Johannes in Kenntnis synoptischer Evangelien solche Einzelheiten mit guten Gründen auch weggelassen haben kann.
  • Gleiches gilt für das Zitat aus Jesaja 40,3, das der vierte Synoptiker Reim zufolge „noch nicht, wie bei Mk, mit dem Zitat aus Ex 23,20 und Mal 3,1 kombiniert, obwohl an Mal 3,1 in Joh 3,28 schon gedacht wird“. Stattdessen kann Johannes auf die von Markus hergestellte Verbindung bewusst verzichtet haben, um Johannes nicht als Vorläufer, sondern zeitgenössischen Zeugen Jesu darzustellen. <53>
  • Auch das „Petrusbekenntnis…, in dem Petrus Jesus als den Heiligen Gottes bekennt“, muss nicht „älter … sein als bei Mk“, wie Reim auf Grund der „Textgeschichte von Joh 6,69“ annimmt, und auf den vierten Synoptiker zurückgehen, sondern kann von Johannes selbst formuliert worden sein. <54>
  • Ob wirklich alle „Ortsangaben“, die Reim dem vierten Synoptiker zuschreibt, „den Eindruck von guter alter Tradition“ machen (etwa in Johannes 5,2), die „auf die Zeit vor der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n.Chr.“ weist, kann ich nicht nachprüfen. Wenn Johannes aus dem palästinischen Raum stammte, kann eine gute Ortskenntnis aber auch auf ihn selbst zurückgehen.
  • Auch, dass die „Zitate aus dem AT“ in den angeblichen Texten des vierten Synoptikers „alle aus dem masoretischen Text und nicht aus der LXX zu stammen“ scheinen, belegt nicht zwingend eine solche Quelle, denn Johannes selbst kann als Jude, der er war, aus dem Synagogengottesdienst den hebräischen Text seiner Bibel gut gekannt haben.

Was Günter Reim zu belegen versucht, steht also auf sehr wackeligen Füßen. Außerdem begegnet man in seinen Augen (469) „bei der überlieferungsgeschichtlichen Betrachtung des Johannesevangeliums“ noch einer weiteren „großen Schwierigkeit“:

Aus dem Evangelium das synoptikerähnliche Material und aus diesem wiederum das Urmaterial des vierten Synoptikers, des Augenzeugen, zu isolieren. Ich habe hier nicht die Absicht, diese zweite Isolierung bis ins kleinste durchzuführen, aber ich will die Tendenz jener Überarbeiter vor Johannes aufzeigen.

5.4 Meinen Johannes 19,33-35 und 21,24 einen Augenzeugen in unserem Sinne?

Obwohl es also schwierig ist, den Überlieferungsprozess des Materials, das Reim zufolge innerhalb des vierten Synoptikers auf Augenzeugenmaterial aus der Zeit Jesu zurückgehen soll, zu klären, meint Günter Reim (469f.) darüber offenbar allein auf Grund der von ihm bereits zitierten Stellen (vgl. Abschnitt 1.2) Johannes 19,33-35 und 21,24 eine Menge sagen zu können:

Für jene Gemeinschaft, die den vierten Synoptiker überarbeitet hat, war offensichtlich der Augenzeuge von großer Bedeutung…

Der Augenzeuge hat also seinen Bericht schriftlich abgefasst. Er wird mit dem identifiziert, der an der Brust Jesu beim Essen gelegen und die Frage nach dem Verräter gestellt hatte (Joh 21,20 vgl Joh 13,23). Er hatte auch unter dem Kreuz gestanden und Jesus hatte ihm seine Mutter anvertraut (Joh 19,25-27). Er hatte mit Petrus den Wettlauf am Ostermorgen zum Grabe unternommen (Joh 20,2ff). Bei dem nachösterlichen Fischfang erkannte er als erster Jesus als den Herrn und sagte es dem Petrus weiter (Joh 21,7). Er ist einer von den in Joh 21,2 genannten sieben Jüngern. Auf ihn wird offensichtlich ein großes Gewicht gelegt, sicher nicht, weil er gegen Petrus ausgespielt werden soll, sondern weil er als Augenzeuge bestätigen soll, was von den Gegnern der ersten Christenheit angezweifelt wurde. Er tritt nämlich fast immer an apologetisch wichtigen Stellen auf, denen wir ein wenig nachgehen wollen.

Wie Johannes 19,33-35 und 21,24 in meinen Augen ausgelegt werden können, hatte ich bereits in Abschnitt 1.2 ausgeführt. Hier möchte ich ergänzen, dass gerade die apologetische Absicht, mit der dieser „Augenzeuge“ Reim zufolge angezweifelte Einzelheiten in den Evangelien bestätigen soll, es eher zweifelhaft erscheinen lässt, dass er tatsächlich ein historischer Augenzeuge in unserem Sinne war.

Und auch Günter Reim selbst scheint das gar nicht ernsthaft zu belegen versuchen. Dafür spricht jedenfalls die Art, wie er sämtliche Stellen, an denen der Lieblingsjünger im Johannesevangelium auftaucht, behandelt.

So beschreibt er (470), dass in der in Johannes 13,21-30 enthaltenen Tradition „zwei Zeugen, der Lieblingsjünger und Petrus“, erweisen sollen, dass Jesus nicht aus Unwissenheit vom Verrat durch Judas überrascht wurde.

Zur „Szene unter dem Kreuz“ in Johannes 19,26 vermutet er, dass „die Mutter Jesu … von dem Lieblingsjünger in geistliche Obhut genommen werden … und … wiederum dem Lieblingsjünger gegenüber das zeigen soll, was sie ihrem Sohn verweigert hat.” Abgesehen davon, dass Reim hier der Mutter des Messias Unrecht tut, denn im Johannesevangelium verweigert sie ihrem Sohn nichts, sondern sie repräsentiert geradezu ein Israel, das bereit ist, auf den Messias zu hören, <55> können diese Überlegungen nicht belegen, dass Jesu Mutter tatsächlich unter dem Kreuz anwesend war.

Im Blick auf Johannes 19,31-37 schreibt Reim:

Hier ist der Lieblingsjünger ganz allein als Zeuge, wo es doch gegenüber Gegnern der ersten Christen darauf ankommt, den wirklichen Tod Jesu zu bestätigen, der offensichtlich von manchen bezweifelt worden ist. Es ist möglich, dass mit ekeinos = jener (Joh 19,35b) Gott als zweiter Zeuge gemeint ist, aber diese Vermutung ist nicht zwingend.

Die Art, wie Reim bemüht ist, wegen der Abwesenheit des Petrus als zweitem Zeugen in der so wichtigen Frage des Todes Jesu Gott als zweiten Zeugen zu erwägen, könnte natürlich niemanden überzeugen, der an diesem Ereignis im historischen Sinne zweifelt. Im Grunde bringt Reim damit sogar selbst ein überzeugendes Gegenargument gegen seine eigene Annahme, dass Johannes hier auf alte Tradition zurückgreift. Denn es ist doch Johannes selbst, der in 8,17-18 die Forderung der Tora nach einem Zeugnis von zwei Menschen so auslegt, dass sowohl er selbst als auch sein himmlischer Vater seine Vertrauenswürdigkeit bezeugen.

Auf diese Tora-Bestimmung geht Reim (471) übrigens selber ein, indem er schreibt:

Nur unter dem Kreuz fehlt Petrus, der Verleugner Jesu, neben dem Lieblingsjünger. An den anderen Stellen vom Lieblingsjünger treten die beiden gemeinsam auf und bilden so die zwei Zeugen, die nach jüdischem Recht für die Bezeugung der Wahrheit vorgeschrieben sind (vgl Joh 8,17).

Diese Zeugen können aber nicht in unserem Sinne für die historische Faktizität irgendeiner angeblich alten Tradition aus der Zeit Jesu bürgen, zumal sie auch Reim zufolge in Johannes 20,1-10 „in eine alte Ostergeschichte eingearbeitet“ werden, „die vom Gang Maria Magdalenas zum Grab Jesu gesprochen hat“. Wie Reim diesen Vorgang beschreibt, handelt es sich um eine nachträgliche Fälschung von Beweisen:

Nach geschehener Redaktion sind es zwei Männer, zwei Jünger, die dafür gerade stehen, dass das Grab Jesu zu Ostern wirklich leer gewesen ist.

Diese „redaktionelle Arbeit“ will Reim „jener Gemeinschaft“ zuschreiben, „von der Johannes das synoptikerähnliche Material hat“.

Ton Veerkamp <56> hat eine andere Idee zum Wettlauf des Lieblingsjüngers und des Petrus zum Grab Jesu. Er denkt an den Wettlauf der Boten, die in 2. Samuel 18,19ff. die Todesnachricht Absaloms zu seinem Vater David bringen, und sieht darin eine Andeutung, dass Jesu Auferstehung nicht nur ein Grund zur Freude ist, sondern dass die Trauer ihr Recht behält, dass der Sieg über die Weltordnung zwar ausgemacht, aber noch nicht vollendet ist.

Außerdem sind Petrus und der Lieblingsjünger für Johannes auch Protagonisten unterschiedlicher Zweige der messianischen Bewegung. Indem der Lieblingsjünger zuerst am Grab anlangt und sein Vertrauen erwähnt wird, er aber dem Petrus den Vortritt lässt, mag Johannes sagen wollen, dass in seinen Augen eindeutig der Lieblingsjünger die Vertrauenswürdigkeit der Botschaft garantiert, dieser aber nicht mit Petrus um die Führung der gesamten messianischen Bewegung rivalisiert, denn Jesus hat ja Petrus und nicht dem Lieblingsjünger das Hirtenamt über die gesamte messianische Bewegung anvertraut (Johannes 21,15-17).

Mit der grundsätzlichen Frage der zuverlässigen Bezeugung durch männliche Zeugen geht Johannes eher ironisch um, denn nicht das, was die beiden Männer sehen, führt zum Auferstehungsglauben der Schüler Jesu; vielmehr wird Maria Magdalena von Jesus persönlich als Zeugin seines Aufsteigens zum Vater beauftragt.

Schließlich vermutet Reim auch für Johannes 21,

dass Petrus und der Lieblingsjünger in eine ursprüngliche Auferstehungsgeschichte aus Galiläa, die wohl zur Beauftragung der Jünger als Menschenfischer hinführte, erst hineingearbeitet worden sind. Warum aber sind die beiden hineingearbeitet worden? Sicher soll die Beauftragung des Petrus (Joh 21,15ff), der verleugnet hatte, vorbereitet werden. Ist sie nur nach einem Mahl möglich, das die alte Verbindung zwischen Jesus und Petrus wiederherstellt? Die Beauftragung des Petrus wird ausdrücklich durch die Worte „Als sie nun das Mahl gehalten hatten…“ eingeleitet. Ist die Szene als Gegenszene zur Judasszene in Joh 13 konzipiert? Da vermittelt der Lieblingsjünger dem Petrus durch seine Frage an Jesus, wer der Verräter ist, hier verrät der Lieblingsjünger dem Petrus, dass der Unbekannte der Herr ist.

Entscheidender ist in meinen Augen, wie gesagt, dass das letzte Kapitel davon handelt, wie die hinter verschlossenen Türen gelandete johanneische Splittergruppe ihre Isolation überwunden und sich der großen messianischen Gemeinde unter der Führung des Petrus angeschlossen hat.

Reim konnte also kein einziges Argument anführen, das tatsächlich für die Aufnahme von Augenzeugenmaterial aus der Zeit Jesu in das von Johannes angeblich benutzte vierte synoptische Evangelium spricht. Ebenso zweifelhaft bleibt, ob es überhaupt „jene Gemeinschaft“ gegeben hat, „für die der Augenzeuge und dessen schriftliche Berichte von größter Bedeutung waren“, und die (471f.) „das ihnen überkommene Material überarbeitet hat und zwar hauptsächlich dadurch, dass die Gestalt des Lieblingsjüngers und z.T. des Petrus an apologetisch wichtigen Stellen eingefügt wurden“. Meines Erachtens spricht viel mehr dafür, dass der Evangelist Johannes diese Einfügung selbst vorgenommen hat.

In einer Anmerkung (472, Anm. 1) scheint Reim übrigens mit einem Zitat von Rudolf Schnackenburg <57> andeuten zu wollen, dass der Lieblingsjünger möglicherweise doch eine Autorität auch als historischer Augenzeuge verdient:

„Bei dem Jünger, den Jesus liebte, handelt es sich um die Autorität, auf die sich der johanneische Kreis stützt, eine geschichtliche Persönlichkeit, einen Jünger des Herrn, der aber nicht zu den „Zwölf“ gehörte… Seine Überlieferungen und Lehren wurden – wohl teils von ihm selbst, teils von jenem Schülerkreis – zu einem Evangelium zusammengestellt, das in der Kirche verbreitet werden sollte.“

Wie gesagt – einen historischen Beleg dafür, dass dieser Lieblingsjünger „eine geschichtliche Persönlichkeit“ war, finde ich im ganzen Aufsatz von Reim nicht.

6 Weisheitlich geprägte Tradition im Johannesevangelium

In seinem Kapitel VII beschäftigt sich Günter Reim (472) mit einer weiteren Tradition, „der er bei seinem Christwerden begegnet war und die ihn am stärksten geprägt hat.“ Erneut ist Vorsicht geboten, ob es tatsächlich eine solche Tradition gegeben hat, da bereits die Existenz der Wunderquelle und des vierten synoptischen Evangeliums zweifelhaft erschien.

Auch die Formulierung, dass „der Evangelist Christ wurde“, ist insofern fragwürdig, als wir damit in der Regel einen Religionsübertritt vom Judentum zum Christentum verbinden. Johannes selbst verstand sich aber als Jude, der auf Jesus als den Messias Israels vertraute, und hatte noch nicht Abschied von der Religion des Judentums genommen, wie es nur wenige Jahrzehnte später die zunehmend heidenchristlich dominierte christliche Kirche tat. Das Wort christianos, „Christ“, kommt jedenfalls im ganzen Evangelium nicht vor.

Reim findet Spuren der dritten von ihm angenommenen „familiären Tradition“ des Johannes in drei weisheitlich geprägten Traditionsstücken und in den johanneischen Reden.

6.1 Geht es im Prolog um überzeitliche Weisheit oder um Befreiungstheologie?

Als wichtigstes Stück einer solchen Tradition, die Johannes zutiefst geprägt haben soll, betrachtet Reim (472) den „Grundbestand von Joh 1,1-18“, also des Prologs zum Johannesevangelium:

Diese Tradition kann weder aus dem Wunderevangelium noch aus dem vierten Synoptiker stammen. Sie weist aber große Ähnlichkeit mit den Reden auf, die der Evangelist selbst geformt hat. Interessant an dieser hymnenartigen Tradition in Joh 1,1ff ist nun, dass man grob gesagt die zwei Verse, die sich un-zweifelhaft auf Jesus beziehen, nämlich Joh 1,14 („Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns…“) und Joh 1,17 („Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“) herausnehmen könnte und es würde ein Hymnus auf die Weisheit bzw. den Logos übrigbleiben, wie man ihn sich in rein alttestamentlichen Kreisen denken kann.

Aus dieser Denkmöglichkeit macht Reim im folgenden Satz sogleich eine gegebene Tatsache:

Glieder eines solchen alttestamentlichen Kreises sind Christen geworden und haben von ihrem Vorverständnis her Christus verstanden und verkündigt. Einer von denen, die diese Verkündigung gehört und geglaubt haben, ist wahrscheinlich unser Evangelist. Skizzieren wir aber erst einmal diesen alttestamentlichen Kreis in seiner vorchristlichen Ära, ehe wir uns dem Evangelisten zuwenden.

Unter der „Weisheit dieses Kreises“ ist Reim zufolge keine „Erfahrungsweisheit“, sondern eine „theologisierende Weisheit“ zu verstehen, die etwa (473) in Sprüche 8,22 oder Weisheit 11,4-8; 16,5-8.10-13.20-21.25-28 und Sirach 15,3-4; 51,23-25 zu finden ist:

Diese Weisheit ist von Anfang an bei Gott und spielt sowohl bei der Weltschöpfung als auch bei der Offenbarung des Willens Gottes die entscheidende Rolle. Ihr Ziel ist es, bei den Menschen eine Wohnung zu finden oder umgekehrt die Menschen zu sich einzuladen, denn wer sie hört, der findet damit das Leben. Das entscheidende Verhalten der Menschen gegenüber der Weisheit ist also das Suchen und das Hören, damit man zum Kind Gottes und somit gerettet wird.

Erst hier erläutert Günter Reim, was er zuvor zu den von ihm als Abendmahlsworten verstandenen Versen Johannes 6,51-58 ausgeführt hatte (siehe Abschnitt 5.2):

In dieser Theologie zeigt sich im Vergleich zu prophetischer und priesterlicher Theologie ein Mangel an Geschichtsbewusstsein und an Interesse für den Kultus. Es geht um das Überzeitliche und Ewiggültige. <58> „So war es also eine sehr geistige Gläubigkeit, bei der wir uns nicht recht vorstellen können, dass sie der Zeichen, der Wunder oder der kultischen Symbole als äußerer Bürgschaft bedurft hätte“.

Diese Rekonstruktion eines solchen weisheitlichen Grundbestandes des Johannesprologs wäre nicht einmal sonderlich problematisch, wenn man ernst nähme, wie Johannes ihn umdeutet: Indem in 1,6 „ein Mensch geschieht“, egeneto anthrōpos, nämlich Johannes, der für den logos, das „Wort“ des Gottes Israels Zeugnis ablegt, der sarx, „Fleisch“, geworden und in die „Finsternis“, skotia, des kosmos, der bedrückenden „Weltordnung“ gekommen ist, macht Johannes sofort deutlich, dass es ihm nicht um überzeitliche Wahrheit geht, sondern um ein neues messianisch-prophetisches, befreiendes Geschehen. Keinesfalls darf man übersehen, dass hier nicht von Gott in einem allgemein-menschlichen Sinn die Rede ist, sondern von dem Gott Israels, dessen „Ehre“, doxa, darin besteht, sein aus Liebe auserwähltes Volk Israel zu befreien und zum Leben der kommenden Weltzeit zu führen. Zeichen und Wunder dienen dem so verstandenen Gott nicht zur äußerlichen Beglaubigung seiner Existenz, damit man an ihn glaubt; sie beziehen sich vielmehr auf tatsächliche Erfahrungen des Volkes Israel, wie Gott Befreiung und Recht durchgesetzt hat. Dabei wird in der Tora und den Propheten sogar das Gerichtshandeln Gottes als Befreiungserfahrung gedeutet, insofern es darauf zurückzuführen ist, dass das Volk gegen die Tora als einer Disziplin der Freiheit verstoßen hat.

Günter Reim sieht das alles ganz anders. Er geht davon aus, dass Johannes zu einer Gruppe von weisheitlich geprägten „Menschen mit diesem theologischen Vorverständnis“ gehört hat, denen „Jesus – ob in Person oder in der Verkündigung der Gemeinde – begegnet“ ist.

Bei dieser Begegnung vollzog sich ein doppelter Prozess: einerseits wurde Jesus in das Vorverständnis eingeordnet, andererseits vollzog sich eine Unterordnung des theologischen Vorverständnisses unter die geschichtliche Wirklichkeit Jesu, seine Geburt, sein Wirken in Wort und Tat, sein Leiden, Sterben und Auferstehen. Dieser doppelte Prozess hat seine zwei positiven Seiten: Der historische Jesus bleibt historisch und das Vorverständnis der Gemeinde wird ernst genommen. Beides finden wir im Prolog des Johannesevangeliums, am deutlichsten ausgedrückt in den Worten „das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh 1,14) und: „Die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“ (Joh 1,17).

Ein solcher doppelter Prozess, wie er von Reim beschrieben wird, findet sicherlich statt, als Heidenchristen das Johannesevangelium später nicht mehr anders als von ihren hellenistischen Voraussetzungen her lesen können. Die Fleischwerdung des Messias wird zum Wesenszug des ewigen Gottes, der in Jesus in die Geschichte eintritt, und die johanneische Bezugnahme auf chessed weˀmeth, die „Liebe und Treue“ des Gottes Israels zu seinem Volk, wird mit der Übersetzung „Gnade und Wahrheit“ zu einer Vorstellung, die sehr allgemein zeitlos philosophisch oder christlich dogmatisch ausgelegt werden kann und nichts mehr mit der Befreiung Israels zu tun hat.

Dagegen halte ich es für wahrscheinlich, dass Johannes selbst als jüdischer Messianist nicht an überzeitlicher Weisheit interessiert war, sondern daran, dass der Messias Jesus die Versklavung Israels und der gesamten Lebenswelt der Menschen unter der römischen Weltordnung durch seinen Tod am Kreuz und sein Aufsteigen zum treuen Gott Israels überwunden hat. Warum sonst sollte Jesus immer wieder als Prophet, als Messias, als König Israels oder als Menschensohn, der über die finsteren Machenschaften dieses kosmos richtet (vgl. Johannes 3,17-21; 5,22-29), bezeichnet werden und nirgends als die Weisheit, sophia, oder als bloßer Weisheitslehrer?

6.2 Ist Jesus als in die Geschichte eingegangene Weisheit zu verstehen?

Ein (473) „zweites Traditionsstück“ der weisheitlich geprägten Gemeinde, in der Johannes seinen Glauben an Christus gefunden haben soll, findet Reim „im Grundbestand von Joh 6,26-51a“:

Hatte der Prolog an die Schöpfung angeknüpft, wie es alle Weisheitstheologie getan hat, so knüpft Joh 6,26ff an ein Geschichtsereignis, die Speisung des aus Ägypten ausziehenden Volkes mit Manna in der Wüste, an. Freilich wird gleich sichtbar, dass in dem Weisheitskreise die Speisung als eine Speisung mit Weisheit gedacht wird und es sich nicht um ein einmaliges historisches Ereignis, sondern um eine ständige Möglichkeit handelt. <59>

Wieder setzt Reim einfach voraus, dass weisheitliche Kreise die damals einmalige reale Speisung mit Manna symbolisch als eine immerwährend mögliche Belehrung mit Weisheit interpretiert haben und dass Johannes eine solche Vorstellung aufgenommen und auf Jesus übertragen hat (474):

Die von den Vätern nicht angenommene Weisheit (Joh 6,49) ist in Jesus in die Historie eingegangen und so kommt das sonst vernachlässigte Element des Geschichtlichen in weisheitliches Theologisieren hinein, wie auch das Element des Kultischen (Joh 6,51ff) in es Eingang gefunden hat.

Erneut sieht Reim auf diese Weise die Weisheit mit Johannesevangelium mit der Geschichte versöhnt, was in seinen Augen den Weg frei macht „zur Übernahme von Traditionen wie „Wunderevangelium“ und „vierter Synoptiker“, die normalerweise der Weisheitstheologie wesensfremd waren“. In diesem Zusammenhang (474, Anm. 1) übt er Kritik an der Auffassung von Ernst Käsemann, <60> der „vom gnostisierenden Selbstverständnis der johanneischen Gemeinde und vom naiven Doketismus der johanneischen Ekklesiologie“ spricht, und fragt dagegen, „ob man nicht eher von einer Vergeschichtlichung der johanneischen Weisheitstheologie sprechen müsste?“

Die Richtung dieser Kritik stimmt; die Frage ist nur, was Reim mit „Vergeschichtlichung“ meint. Geht es darum, dass Gott jetzt im historisch Mensch gewordenen Gottessohn Jesus aller Welt erkennbar ist, wogegen Gottes Treue zu seinem Volk Israel keine Rolle mehr spielen soll? Oder bleibt Johannes in seinem Vertrauen auf den Messias Jesus dennoch voll und ganz Jude, indem er die Speisung mit dem Brot, das der Messias ist, eben nicht weisheitlich-überzeitlich begreift, sondern als Speise zum Leben der kommenden Weltzeit, die anbrechen soll? Unter den Bedingungen einer weltweiten Sklaverei kann die Tora des Mose mit der Verheißung befreiten Lebens getrennt von den Völkern in einem Gelobten Land keine Perspektive mehr sein. Das kann nur der Messias, der Rom durch seine agapē überwindet. Wenn man das so knapp ausdrückt, wirkt es naiv. Aber so muss man Johannes wohl verstehen. Er traut der agapē, der „solidarischen Liebe“, die von der unverbrüchlichen Treue des Gottes Israels mit seinem Volk ausgeht, tatsächlich zu, dass allein sie die Gewalt- und Unterdrückungsstrukturen jeder bestialisch herrschenden Weltordnung auf dieser Erde unter dem Himmel überwinden kann. <61> Und ich denke, dass nur so verstanden dieses Evangelium überhaupt noch bis heute und in die Zukunft hinein eine nicht eingelöste Herausforderung darstellt.

6.3 Verkörpert Jesus überzeitliche Weisheit oder den befreienden Gott Israels?

Nachdem Reim ein drittes Traditionsstück (474), in dem es „um die in Weisheitskreisen viel besprochene Frage der Gotteskindschaft“ geht (Johannes 10,35ff.), nur kurz erwähnt, beschäftigt er sich mit Material aus den johanneischen Reden, die seiner Auffassung nach davon zeugen, dass Johannes „in derselben von der Weisheit geprägten Welt“ lebt, „so dass es schwer ist, Tradition auszugrenzen.“

Dazu führt Reim (475) vor allem Johannes 7,37f. an, wo „Jesus wie die Weisheit“ die Dürstenden zu sich einlädt:

Jesus selbst ist der Fels, der wie jener Fels in der Wüste zur Mosezeit, der mit der Weisheit identifiziert worden ist, <62> Wasser spendet, Lebenswasser, Weisheit, Geist. Er ist der Fels, der Eckstein, von dem Jes 28,16 spricht, dass der, der sich an ihn hält, nicht flieht. In Jesu Munde wird dieses Wort aus Jes 28,16, das eine lange Geschichte in LXX, Targum, Qumran und auch im NT hat, geändert zu: „Wer an mich glaubt,wie die Schrift sagt…“. Und diesem Glaubenden wird verheißen, mit anderen zusammen selbst Quelle für Ströme lebendigen Wassers zu werden.

Mit diesen Sätzen fasst Reim ganz knapp seine alttestamentliche Studie zum Rückbezug von Johannes 7,37f. auf Jesaja 28,16 zusammen, <63> die ich allerdings nicht überzeugend finde, denn Johannes erwähnt weder den Eckstein noch den Felsen aus Jesaja 28,16. Und dass Johannes nur für die Formulierung ho pisteuōn eis eme, „der auf mich Vertrauende“, auf diese Jesajastelle verweisen soll, halte ich für extrem unwahrscheinlich, da Johannes von diesem Vertrauen auch an vielen anderen Stellen redet (worauf Reim übrigens auch selber hinweist). Stattdessen begreift Johannes sicherlich das Fließen lebendiger Wasser vom Leib der Vertrauenden von verschiedenen Schriftstellen her. <64>

Reims Fazit zu den johanneischen Jesus-Reden lautet jedoch:

Die Begegnung mit Jesus ist also für die johanneische Gemeinde primär die Begegnung mit dem Wort, dem offenbarenden Wort der fleischgewordenen Weisheit, nicht die Begegnung mit dem Jesus der Synoptiker. So wird die historisch verstehbare Tränkung aus dem Felsen in Num 20 zur typischen Geschichte vom Angebot der Weisheit an die, die auf Jesus hören, zu welcher Zeit sie auch leben mögen. Kommen, hören und glauben sind die Antwort, die vom Menschen erwartet wird. Der einzige Inhalt des Glaubens ist der vom Vater gesandte und mit dem Vater eins seiende Sohn, der sich durch „Ich-bin“-Worte den Hörern erschließt: „Ich bin das Brot der Welt, das Wasser des Lebens, das Licht der Welt…“.

So macht Reim deutlich, dass er die Botschaft Jesu im Johannesevangelium als spirituell verinnerlichte Weisheit versteht. Dabei bleibt die Möglichkeit auf der Strecke, die Bedeutung dessen, was Jesus verkörpert, von den jüdischen Schriften her zu begreifen – dass nämlich „Brot“, „Wasser“, „Licht“ nicht einfach Attribute sind, die Jesus als der göttlichen Weisheit zugeschrieben werden. Vielmehr ist es umgekehrt: Jesus verkörpert den befreienden NAMEN des Gottes Israels, und alles, was Jesus ist – „Brot“, „Wasser“, „Licht“ – muss von den jüdischen Schriften her verstanden werden. Diese Schriften aber geben die Hoffnung nicht auf, dass ganz Israel inmitten der Völker versammelt wird zum Leben der kommenden Weltzeit des Friedens.

6.4 Jesu Kreuzestod als Vollendung der Schöpfung – aber in welchem Sinne?

Nachdem Günter Reim die Reden Jesu als Ausdruck einer verinnerlichten Weisheit bezeichnet hat, begreift er seine Kreuzigung im Rahmen einer weisheitlich-verjenseitigten Theologie (475f.):

Der Gekreuzigte ist dann so etwas wie das Schlusswort aller Worte des fleischgewordenen Wortes. Seine Kreuzigung wird in Analogie zur Erhöhung der Schlange bei der Wüstenwanderung durch Mose (Joh 3,14f/Num 21,8f) verstanden und gibt wie jene das Leben. So spricht denn auch der johanneische Jesus am Ende: „Es ist vollbracht!“ – ein Wort, das sicher mit Absicht an die Vollbringung der Schöpfung (Gen 2,1f) erinnern soll: Erst mit Jesu Tod ist die Schöpfung vollendet und erst durch den Glauben an Jesus ist das Geschöpf vollendet:

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen.“ (Joh 5,24)

Ich stelle dazu zwei Fragen, erstens ob es Johannes mit seinem Midrasch zu 4. Mose (Numeri) 21,8f. in Johannes 3,14f. wirklich um das ewige Leben im Himmel geht. Ton Veerkamp <65> hat dazu eine ganz andere Vorstellung:

Ursache der Katastrophe mit den Schlangen war das Murren des Volkes gegen die Führung, die es aus dem Sklavenhaus hinausführte. Macht das Volk die Befreiung rückgängig und verspielt es seine Freiheit, dann ist die Folge der Untergang. Die Symptome des Untergangs sind die Giftschlangen, deren Biss tödlich ist. Mosche macht nun auf Geheiß seines Gottes ein Sinnbild der tödlichen Folgen einer verspielten Freiheit. Die verspielte Freiheit ist die Giftschlange. Sie wird angeheftet an einer Stange, unschädlich gemacht. Das Bild der festgemachten Schlange zu betrachten, heißt begreifen, dass die Unfreiheit nicht länger eine Verlockung ist. Wer sich das vor Augen führt, wer sich dessen bewusst wird, was verspielte Freiheit ist, der wird geheilt.

Diese Sicht der Erzählung von der Erhöhung der Schlange beruht auf der dem Gott Israels eigentümlichen Offenbarung vor Mose und allen Propheten mit einem ganz bestimmten NAMEN:

Was ist denn „Gott“ anders als der, der sich in Israel nur als „der aus dem Sklavenhaus hinausführende“ benennt. Einen anderen NAMEN hat er nicht. Israel, soviel meint Johannes zu wissen, befindet sich heute im Sklavenhaus Roms. Zu dem von den Römern, von denen, die Israel in ihrem weltweiten Sklavenhaus halten, hingerichteten, ans Folterinstrument Kreuz „gehefteten“ bar enosch, MENSCHEN, muss Israel hinaufblicken, um sich bewusst zu machen, was mit ihm wirklich geschieht. …

Johannes verfremdet den bar enosch [Menschensohn] Daniels [Daniel 7,13f.] in ein zu Tode gefoltertes, elend zu Grund gehendes Menschenkind. Der hohe Repräsentant Roms führt den gedemütigten, der Lächerlichkeit preisgegebenen Jeschua ben Joseph aus Nazareth dem Volk vor: „Da, der MENSCH“ – bar enosch – so sieht der Mensch aus, wenn er in unsere Hände fällt. Er scheint zunächst der absolute Gegensatz zu Daniels machtvoller Gestalt bar enosch zu sein. Was aber die Niederlage des Messias ist, das ist für Johannes der Ausgangspunkt für die Befreiung der Welt von der Ordnung, die auf ihr lastet.

So kann man das „ewige Leben“, die zōē aiōnios, als „äonisches Leben“ der kommenden Weltzeit auch diesseitig verstehen, ganz im Sinne der Propheten, die sich nicht damit abfinden wollten, dass Israel in Unterdrückung lebt und Unrecht und Gewalt für immer auf dieser Erde herrschen.

Meine zweite Frage bezieht sich auf Reims weisheitliche Formulierung, dass erst „mit Jesu Tod … die Schöpfung vollendet und erst durch den Glauben an Jesus … das Geschöpf vollendet“ ist. In gewisser Weise stimmt das auch, aber wiederum nicht unbedingt in dem Sinne, dass erst durch Jesu Tod – und nur für diejenigen, die an Jesus glauben – ewiges Leben im Himmel garantiert sei. Dass Menschen auf Auferstehung hoffen dürfen, ist nach Daniel 12,2 bereits verbriefter jüdischer Glaube. Genau genommen ist mit Jesu Tod am Kreuz nicht eine fast vollkommene Schöpfung nun endlich vollendet, vielmehr kann mit der Übergabe des Geistes an seine Schülerinnen und Schüler am Auferstehungstag Jesu der „Tag eins“ einer neuen Schöpfung <66> beginnen. Worin diese neue Schöpfung besteht, darauf geht Ton Veerkamp <67> in seiner Auslegung von Johannes 19,28-30 ein, indem er zwischen den beiden griechischen Verben teleioun und telein unterscheidet, die hier verwendet werden:

Johannes verwendet zwei verschiedene Verben für „vollenden“: teleioun und telein. Das erste Verb wird hauptsächlich mit dem Wort ergon, Werk, gebraucht, 4,34; 5,36; 17,4. Es bedeutet dann: „ein Werk vollenden, vollbringen“. In 17,23 ist etwas Ähnliches suggeriert; die Einheit der Schüler ist das Werk, das vollbracht werden muss. Telein bedeutet: „das Ziel erreichen“; das zugehörige Substantiv telos bedeutet „Ziel“. Telein weist auf den Endpunkt einer Bewegung hin, teleioun auf die Vollendung einer Aufgabe. In 19,28 kommen beide Verben vor, telein und teleioun (die Schrift erfüllen). In 19,28 und in 19,30 verwendet Johannes das Verb telein. Hier wird ein Verb reserviert, um das Einmalige wiederzugeben, das am Kreuz geschieht.

Das Perfekt deutet bei Johannes immer Endgültiges, Definitives, an. Jeschua hat im Moment seines Todes das Ziel erreicht, das der VATER ihm vorgegeben hat. Die Übersetzung: „Es ist vollbracht“ – geheiligt durch die Tradition und durch die Musik aus Bachs Johannespassion – ist impliziert in dem, was das Perfekt tetelestai sagen will. Im Vollbringen (teleioun) des Werkes, das der VATER ihm aufgegeben hat, ist das politische Lebensziel Jeschuas erreicht (telein). Deswegen schreibt Johannes nicht teleiōtai, „es ist vollbracht“, sondern tetelestai, „das Ziel ist erreicht“.

Um diesen Augenblick ging es. Der Messias erreicht das Ziel, das der Psalm 69 angibt: die Befreiung Zions. Der Tod ist nicht das Ende oder die Vollendung Jeschuas, dieser Tod ist das Ende Roms. Durch Jeschuas Tod wird „der Führer dieser Weltordnung hinausgeworfen“, 12,31. Jeschua hat in und durch diesen Tod hindurch Zukunft, denn sein Tod heißt, dass er seine Inspiration über- und weitergibt. Diese Inspiration wird dafür Sorge tragen, dass von Jeschua als Messias (Christus) durch die Jahrtausende hindurch die Rede sein wird und die Menschen in seinem Namen und durch diese Inspiration „Werke tun“, die „größer“ als Jeschuas Werke sein werden, 14,12. Rom hat aber keine Zukunft mehr.

Das sagt und hofft Johannes.

Eine solche politische Auslegung der Kreuzigung und Auferstehung Jesu mag uns abwegig erscheinen. Da Johannes aber ein Jude ist, der auf Jesus als den Messias Israels vertraut, ginge für ihn wohl eher eine Auslegung wie die von Günter Reim in die völlig falsche Richtung, die Jesu Kreuzigung als Mittel zur Bewältigung der Härte des Todes, wie ihn jeder Mensch zu bewältigen hat, betrachtet (476):

Das Geschichtliche und Harte des Todes Jesu und auch das Geschichtliche unseres eigenen Todes wird in der von der Weisheit herkommenden Theologie fast übersehen. Wie Jesus in der Kreuzigung zum Vater hinübergeht, erhöht und verherrlicht wird – das Wort „kreuzigen“ findet sich bei Johannes nur in traditionellen Stücken – so dringt der Gläubige im Akt des Glaubens durch den Tod schon vor seinem irdischen Tod hindurch.

In dieser Definition der Härte des Todes und der Geschichtlichkeit Jesu im Johannesevangelium geht Reim nicht weit genug. Der Tod als solcher muss nicht unerträglich hart sein, wenn ein Mensch lebenssatt und im Vertrauen auf Gott sterben kann. Und wichtig ist: Für diese Art der Todesbewältigung ist Jesu Kreuzestod nicht notwendig. Falls Christen das behaupten, nehmen sie praktisch allen Nichtchristen, auch Juden in ihrem Gottvertrauen, die Hoffnung auf Trost in ihrem Tod. Selbst der frühe Tod des Gerechten hat bereits in Daniel 12,1-2 eine Antwort gefunden.

Worum geht es dann wirklich im Kreuzestod Jesu im Johannesevangelium? Er muss erlitten werden, und der Messias erleidet ihn freiwillig, indem er sich den strukturellen Todesmächten dieser Welt entgegenstemmt. Die Härte, um die es im Johannesevangelium geht, ist die bleibende Macht der ungerechten Gewaltordnungen dieser Welt, unter denen Millionen von Menschen leiden, zu Johannes Zeit ist es die Weltmacht Rom, die den Messias buchstäblich zerfleischt. Indem sie das tut, stellt sie sich als menschenmörderischer Widersacher, diabolos, des Gottes Israels bloß (Johannes 8,44); indem Jesus den Geist der Treue und solidarischen Liebe Gottes seinen Schülerinnen und Schülern übergibt (19,30; 20,22), setzt Jesus den Prozess in Gang, dass der Anbruch der kommenden Weltzeit in tätiger agapē, „solidarischer Liebe“, erwartet werden kann. Jesus wird nicht einfach „verherrlicht“, indem er zurück in den Himmel geht; seine „Ehre“, doxa, ist erst erreicht, wenn Israel inmitten der Völker in Freiheit, Recht und Frieden leben kann. Erst auf diese Weise ist meines Erachtens das „Geschichtliche und Harte des Todes Jesu“ angemessen zu begreifen.

Für Günter Reim dagegen, der die „theologischen Voraussetzungen“ des Johannes ganz anders, nämlich weisheitlich-verjenseitigt-innerlich begreift, ist es (476) „erstaunlich“, wie er „vollkommen anders geartete Traditionen wie Wunderbüchlein und vierten Synoptiker übernehmen konnte“. Er sieht darin

die Tendenz des Einbruchs des Geschichtlichen … in jene Theologie, die von der Weisheit herkommt und der die Gnosis in mancher Hinsicht verwandt ist. Diese Traditionen sind nicht nur in johanneischer Weise kommentiert worden, sondern haben ihrerseits auch zu einer neuen Entwicklung des Evangelisten über seinen Kreis hinaus beigetragen.

7 Zur Komposition des Johannesevangeliums aus verschiedenen Quellen

In seinem Kapitel VIII unternimmt Günter Reim (476) den Versuch, den Prozess der „Komposition“ des Johannesevangeliums nachzuzeichnen. Dabei hält er zwei Voraussetzungen für inzwischen gut genug begründet, um sie seinen weiteren Überlegungen zu Grunde zu legen: erstens „dass sowohl eine zeitige Ansetzung des Johannesevangeliums, etwa gleichzeitig mit dem Markusevangelium, als auch eine sehr späte Ansetzung um 90 n. Chr. ihr Recht haben“, und zweitens, dass „Johannes durch eine christliche Gemeinschaft … Material des Augenzeugen“ erhalten hat, das in seinen Augen „zum Wertvollsten“ gehört, „was wir überhaupt in der Evangelientradition finden“. Ich erinnere jedoch daran, dass Reim für die Existenz einer solchen Augenzeugen-Tradition lediglich die Erwähnung eines solchen Zeugen in Johannes 19,35 und 21,24 und die Rekonstruktion eines vierten synoptischen Evangeliums anführt. Es ist also alles andere als sicher, dass es „z.B. hinsichtlich Einzug und Tempelreinigung eine uns bis dato unbekannte Vorform, deren erweiterte Ausgabe uns bei den drei Synoptikern vorliegt“, gegeben hat.

Nichtsdestotrotz will Reim auf Grund seiner bisherigen Ausführungen (477) „einen historischen und einen theologischen Plan für das Johannesevangelium aufstellen.“

Historisch gesehen hat der „aus Weisheitskreisen herkommende“ Johannes in einer ersten Phase ein ihm schriftlich vorliegendes „Wunderevangelium … durch johanneische Reden und Tradition aus Weisheitskreisen“ zu einer „Erstform des Johannesevangeliums“ ausgebaut. In einer zweiten Phase hat der Evangelist ein schriftlich formuliertes „Viertes synoptisches Evangelium“, das bereits „von einer christlichen Gemeinschaft überarbeitet und ergänzt“ worden war, in die Erstform eingearbeitet und durch „zusätzliche johanneische Erweiterungen“ ergänzt. Dazu schreibt Reim:

Dieser historische Plan hilft uns, die Brüche und Schwierigkeiten des Johannesevangeliums als weithin historisch bedingt zu verstehen und einen theologischen Plan aufzustellen.

Dieser theologische Plan sieht folgendermaßen aus: Das „Wunderevangelium“ will ursprünglich „durch Wunder die Messianität Jesu erweisen“, und zwar in Rivalität zu den Jüngern Johannes des Täufers. In den von ihm formulierten Reden erschließt nun der Evangelist (477f.) „den tieferen Sinn der Wunder unter Benutzung von Weisheitstraditionen (Themen: Schöpfung, Verhältnis zwischen Gott und Weisheit, eherne Schlange, Manna, Wasser aus dem Felsen), wobei die Weisheit mit Christus bzw. dem Geist identifiziert wird.“ Als Johannes (478) ein „Viertes synoptisches Evangelium“ erhält, das „von Jesu Worten und Taten, Passion und Auferstehung“ berichtet und ein zukünftiges Gericht erwartet (Joh 5,28f), statt von einem sich schon gegenwärtig vollziehenden Gericht auszugehen (Joh 5,24f), stellt er sich der schwierigen Aufgabe, auch dieses Material in die Erstform seines Evangeliums einzuarbeiten. Diesen Evangelisten kann man daher, so Reim, „mit keinen der heute gängigen Etiketten versehen“,

denn er ist in der Übernahme der Wundertradition und damit auch zweifelhafter Wunder stockkonservativ und in der Ausdeutung derselben radikal fortschrittlich. Ein konservativer oder ein radikaler Theologe kann sich immer nur auf einen Teil-Johannes berufen, nie auf den ganzen.

Günter Reim weist hier tatsächlich zu Recht auf die Problematik gängiger Etiketten für bestimmte Formen der Theologie hin. Allerdings bleibt auch seine eigene Etikettierung des Johannes problematisch. Indem Reim mit „stockkonservativ“ ein stures Festhalten am faktisch historischen Geschehen „zweifelhafter Wunder“ meint, belegt er Johannes mit einem Etikett, das eher auf spätere christliche Biblizisten oder Fundamentalisten zutrifft. Als „radikal fortschrittlich“ scheint Reim Johannes auf der anderen Seite insofern zu begreifen, als er – durchaus wunderkritisch – zu einem Glauben aufruft, der nicht auf das Sehen, also auf keinerlei äußerliche Beweise, angewiesen ist. Beides trifft meines Erachtens auf Johannes nicht zu. Seine Schriftgebundenheit hat nichts mit einem engstirnigen biblizistischen Buchstabenglauben zu tun, legt er doch die Schrift in ausgesprochen großer Freiheit aus, sondern mit einer radikalen Bindung an den befreienden NAMEN des Gottes Israels. Dessen befreiende Taten sind aber sowohl im TeNaK als auch im Johannesevangelium durchaus in sichtbaren „Zeichen und Machterweisen“, sēmeia kai terata, zu erfahren, und dort, wo sie fehlen, ist diese Situation ein Anlass zur Klage, die im Vertrauen auf Gott zu überwinden ist (vgl. Abschnitt 1.3.2).

7.1 Wie nimmt Johannes auf das Alte Testament Bezug – fast nur auf dem Umweg über seine Quellenschriften?

Getreu dem Anliegen, das Günter Reim bereits in seiner Dissertation verfolgt hatte, untersucht er in seinem Kapitel IX (479), in welcher Weise die seiner Ansicht nach von Johannes aufgenommenen Traditionen und Johannes selbst das Alte Testament benutzt haben. Umgekehrt will er dann auch wieder „dieses alttestamentliche Vorzeichen bei der Quellenscheidung benutzen.“

Das Wunderevangelium schildert Jesus „auf dem Hintergrund des 1. und 2. Königsbuches als Wundertäter wie Elia und Elisa im Gegensatz zum Täufer, der keine Wunder getan hat“:

Jesus ist der Sohn Gottes und König Israels (Joh 1,49 vgl 20,31), der Prophet, der zum Könige gemacht werden soll (Joh 6,14f), der Rabbi (6,25 9,2), der Kyrios (6,23). Die aufgeschriebenen Wunder sollen zum Glauben führen, dass Jesus der Christus, der Sohn Gottes ist. Der Unglaube der Juden wird von zwei Zitaten her verstanden: Jes 53,1 LXX und Jes 6,9f in einer Mischform von masoretischem Text und LXX – so in Joh 12,38-41.

Im vierten Synoptiker stammen (479f.)

sechs (bzw. sieben) Zitate … aus vier Büchern der Bibel: Num (Joh 19,36), Jes (Joh 1,23), Sach (Joh 12,15; 19,37), Ps (Joh 12,13; 13,18; evtl. 19,24). Die Zitate werden an entscheidenden Stellen des vierten Synoptikers gebracht. Die Sprache der Zitate – Joh 19,24 ausgenommen – zeigt einen sehr starken Einfluss des hebräischen Textes. An christologischen Titeln finden sich im vierten Synoptiker vier sehr alte: das artikellose „Messias“ (4,25), das artikellose „Menschensohn“ (5,27), die Bezeichnung Jesu als „Auserwählter Gottes“ (1,34 vl) und als „Heiliger Gottes“ (6,69).

Der Einfluss (480) des Alten Testaments auf den Evangelisten selbst beschränkt sich Reim zufolge hauptsächlich auf die „Mosebücher, Deuterojesaja und Weisheitsbücher“. Insgesamt kommt Reim zu dem Urteil:

Die vielen Zitate aus dem AT im Johannesevangelium scheinen auf einen regen Gebrauch des AT durch den Evangelisten hinzuweisen. Man muss aber trotz dieser Zitate sagen, dass es nicht Eigenart des Evangelisten war, mit Zitaten zu arbeiten. Er hat sie fast alle aus der Tradition übernommen, entweder unverarbeitet oder er hat Zitate mit einem anderen Kontext versehen oder sie vollkommen in sein Evangelium eingearbeitet.

Von diesem allgemeinen Urteil nimmt Reim nur wenige Zitate aus, die alle aus Psalm 69 (bzw. Psalm 68 nach der Septuaginta <68>) stammen. Das heißt, nur in Johannes 2,17; 15,25; 19,28 soll der Evangelist selbst direkt auf das Alte Testament Bezug genommen haben, indem der Psalm 68 nach der Septuaginta Johannes „schriftlich vorgelegen“ hat, „und zwar als Einzelpsalm“. <69>

Auch für (481) die „Christologie“ gilt Reim zufolge, dass Johannes „vieles aus der Tradition“ übernimmt, manches davon „nicht entwickelt“, anderes „weiterentwickelt“ und einiges „so stark, neu und eigenständig weiterentwickelt…, dass man im Hinblick darauf von einer eigenständigen Christologie im Johannesevangelium sprechen kann“. <70>

Wie ist also nach Reim die Stellung des Johannes zum Alten Testament zu beurteilen?

Wir haben im Evangelisten einen Mann vor uns, der verschiedene Arten alttestamentlicher Interpretation des Christusgeschehens aus verschiedenen Traditionen aufnehmen und sie miteinander durch seine eigene Art einer vom AT herkommenden Interpretation verbinden und verzahnen kann.

In meinen Augen ist das allerdings nicht nur fraglich, weil ich die Existenz der von Reim angenommenen schriftlichen Quellenschriften sowieso anzweifele, sondern auch, weil ein Jude wie Johannes von der Teilnahme am Synagogengottesdienst her doch so sehr mit den Schriften vertraut sein müsste, dass er auch ohne Zugriff auf ihm schriftlich vorliegende Buchrollen selber in großer Freiheit der Zusammenschau verschiedener Stellen auf sie Bezug nehmen kann, um die Treue des Gottes Israels im Wirken des von ihm gesandten Messias Jesus zu bezeugen.

Reim bleibt natürlich auch in diesem Zusammenhang bei seiner Auffassung, dass Johannes „aus Weisheitskreisen“ herkommt,

deren Sprache und Begrifflichkeit vom AT geprägt sind. Diese Herkunft macht ihn fähig zur Weite seiner Christusinterpretation, wie sie sich in der Umgestaltung engerer traditioneller Anschauungen (vgl Joh 1,29; 6,51; 9,5; 11,52) und auch in eigenen Aussagen zeigt. Die Tradition, mit der das eigene alttestamentliche Verständnis des Evangeliums am meisten übereinstimmt, ist die Weisheitstradition – eine Tradition, die uns aus dem Bericht der Synoptiker fast unbekannt ist, der wir aber wesentliche Aussagen verdanken, die uns ein weiteres urchristliches Verständnis des Christusgeschehens auf dem Hintergrund des Alten Testamentes erschließen.

Interessant ist hier seine Beurteilung gewisser „traditioneller Anschauungen“ als eng, denen gegenüber Johannes eine größere Weite an den Tag legen würde. Damit bezieht er sich auf den Begriff des kosmos, durch den in 1,29; 6,51; 9,5 das, was Jesus bringt oder ist (Sündenvergebung, Brot, Licht), über Israel hinaus allen Menschen in der Welt gelten soll, und den Vers 11,52 will Reim ebenfalls nicht nur auf die Juden der Diaspora, sondern auf eine Heidenmission beziehen.

Wenn Johannes mit dem Wort kosmos aber die „Weltordnung“ meint, deren Verfehlung, hamartia, der Messias als das Mutterschaf, amnos, hebräisch rachel, von Jesaja 53,3 trägt und von deren Last er die Lebenswelt der Menschen befreit, dann bezieht er die Sendung des Messias vielleicht doch viel enger auf die Sammlung ganz Israels inmitten der Völker und nur in sehr geringem Ausmaß auch auf „einige Griechen“, Hellēnes tines, die Jesus sehen wollen (12,20), die aber weiter keine Rolle unter den Nachfolgern Jesu im Johannesevangelium spielen. <71>

7.2 Ist die Verteidigung Jesu als Messias im Johannesevangelium glaubwürdiger als im Matthäus- oder Lukasevangelium?

Recht unvermittelt (482) kommt Günter Reim in seinem Kapitel X auf Vorwürfe „von manchen Juden“ gegen die ersten Christen zu sprechen, „die versuchten, aus dem AT zu beweisen, dass Jesus nicht der verheißene Messias sein könne“. Dazu gehörten die „niedrige Herkunft Jesu“, seine fehlende Abstammung von David (2. Samuel 7), seine Geburt in Nazareth statt in Bethlehem (Micha 5,1), sein Tod am Kreuz, „statt in Ewigkeit auf dem Throne Davids zu sitzen (2 Sam 7)“.

Ein weiteres Argument, das Reim hinzufügt, kommt mir etwas merkwürdig vor: „Vater und Mutter Jesu waren bekannt. Wie steht es dann aber mit der erwarteten Geburt des Messias aus der Jungfrau (LXX Jes 7,14)?“ Gab es denn tatsächlich unter Juden die Erwartung des Messias als Jungfrauensohn auf Grund dieser Schriftstelle? Ich dachte, dass diese erst umgekehrt von denen, die an Jesus als Messias glaubten, auf Jesu Geburt bezogen wurde.

Wie dem auch sei, Günter Reim fasst die Verteidigungshaltung „sehr bedrängter Christen“ in den synoptischen Evangelien, insbesondere Matthäus und Lukas, folgendermaßen zusammen:

Wie Ihr Gegner es seht, sieht man es nur, wenn man nicht genau hinsieht. In Wirklichkeit sind alle Eure Vorwürfe hinfällig, denn Jesus ist als Sohn Davids in Bethlehem von einer Jungfrau geboren worden. Man muss nur die Umstände genau kennen.

Demgegenüber vertritt Johannes Reim zufolge eine ganz andere Verteidigungslinie (482f.):

Gut, Jesus ist im galiläischen Nazareth geboren (Joh 1,45; 6,42; 7,28). Trotzdem geht euer Urteil, Jesus sei deswegen nicht der Messias, an der Wirklichkeit vorbei, denn es ist Urteil nach dem Fleisch (Joh 8,19). Einfache Knechte, ausgesandt, um Jesus zu fangen, bringen das echte Kriterium für den Messias vor den Ohren der Hohenpriester und Pharisäer zum Ausdruck: „Es hat nie ein Mensch so geredet, wie dieser Mensch“ (7,46), und ein geheilter Blindgeborener sagt: „Vom Anbeginn der Welt hat man nicht gehört, dass jemand einem Blindgeborenen die Augen aufgetan habe. Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts tun“ (9,32f). Der wegen der Herkunft Jesu aus Nazareth skeptische Nathanael (1,46) kommt zum Bekenntnis: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel“ (1,49).

Aus der Sicht (483) des 20. Jahrhunderts ergreift Reim nun eindeutig Partei für die johanneische Argumentation:

Wenn wir Christen uns heute im 20. Jhd. immer noch auf die von den durch gegnerische Verdächtigungen veranlassten Antworten des Matthäus und des Lukas auf die oben genannten Fragen versteifen, die mit – aus unserer heutigen Sicht – falschen Methoden das Richtige festgehalten haben, nämlich dass der auferstandene Jesus, dem Christen begegnet waren, der verheißene Christus der Schrift ist, dann verfallen wir auf den gleichen Fehler, den der johanneische Jesus einigen Juden vorhält: „Ihr richtet nach dem Fleisch, ich richte niemand…“ (8,15).

Das heißt: Wer heute noch wie Matthäus und Lukas die Jungfrauengeburt Jesu als Argument für die Gottessohnschaft Jesu ins Feld führen will, der versucht an Hand der Kategorien menschlicher Abstammung aus den Schriften etwas zu beweisen, was nicht zu beweisen ist.

Johannes dagegen vertritt, wie Reim meint, eine Auslegung des Alten Testaments „nach dem Geist im Hinblick auf die Wirklichkeit des Auferstandenen“ und nicht wie die Jesus entgegenstehenden Juden eine falsche „Exegese nach dem Buchstaben“.

In Reims Augen ist diese johanneische Haltung eher als der „Standpunkt von Jungfrauengeburt und ähnlichem“ dazu geeignet, die „Gesprächsfähigkeit für skeptische Menschen unserer Tage“ aufrechtzuerhalten,

die sich Jesus nicht mehr nach der Art der Apologeten in der Entstehungszeit von Matthäusevangelium und Lukasevangelium vorstellen können, sondern nur noch zu dem Jesus als ihrem Herrn oder Knecht Zugang gewinnen können, der sich ihnen in der Begegnung in Wort und Tat (Joh 7,46; 15,12) erschließt.

Unausgesprochen bleibt im Reimschen Kapitel X, zu welchem Zweck er diese Parteinahme für Johannes gegenüber unzureichenderen Argumenten von Matthäus und Lukas an das Ende seines Aufsatzes mit dem Titel „Der Augenzeuge“ stellt. Will er tatsächlich andeuten, dass die johanneische Argumentation nicht nur das Alte Testament angemessener auslegt und moderner Skepsis entgegenkommt, sondern auch noch auf Augenzeugenberichte aus der Zeit Jesu zurückgehen könnte?

7.3 Sind Jesusworte besonders wertvoll und wahr, weil sie „vom Augenzeugen überliefert“ sind?

Im letzten Kapitel XI seines Aufsatzes (483) stellt Günter Reim abschließend eine Reihe von Jesusworten aus dem Johannesevangelium zusammen, bei denen er offen lässt, ob einige von ihnen „durch den Augenzeugen auf den Evangelisten gekommen“ sind und „nun gleichwertig neben den im Geist gesprochenen Jesusworten des Evangelisten“ stehen. Er weiß also, dass das Johannesevangelium viele Reden Jesu enthält, „die nicht Reden des historischen Jesus sind, sondern, wie zu jener Zeit üblich, Kompositionen des Evangelisten“. Aber die gesamte Argumentation in seinem Aufsatz zielt offenbar doch darauf ab, es wenigstens als möglich erscheinen zu lassen, dass auch und gerade das Johannesevangelium Augenzeugenmaterial aus der Zeit Jesu enthalten kann. In den letzten beiden Absätzen seines Aufsatzes, die allerdings in der Internetpublikation fehlen, sagt er das ausdrücklich (486):

Mit diesen Jesusworten und mit den angesprochenen Geschichten aus synoptikerähnlichem Material hat uns der Vierte Evangelist überaus wichtige Aussagen aus der ältesten Zeit der Christenheit, vertreten durch den „Augenzeugen“, den Jünger Johannes, erhalten.

Albert Schweitzers Forderung, „daß das vierte Evangelium für den Aufbau des Lebens des Herrn ausgeschaltet wird“, kann heute nicht mehr gelten.

Die eingehende Überprüfung der von Günter Reim vorgelegten Argumentation konnte mich allerdings ganz und gar nicht von der Richtigkeit dieser Schlussfolgerungen überzeugen. Der Versuch, hinter das Johannesevangelium zurückzugehen und ältere Traditionen in drei verschiedenen Quellen aufzuspüren, führt keineswegs zu sicheren Erkenntnissen über historische Augenzeugenberichte aus der Zeit Jesu, sondern eher zur Herabwürdigung der schriftstellerischen Fähigkeiten des Evangelisten und zu einem grandiosen Missverstehen seiner Botschaft.

Letzten Endes können wir bei keinem uns überkommenen Jesuswort entscheiden, wie sehr es von den Evangelisten überformt oder sogar selbst gestaltet worden ist. Wie wir in der gesamten Bibel Gottes Wort nur verpackt in Menschenworte zur Verfügung gestellt bekommen haben, so sind uns auch Jesu Worte nur zugänglich in der Art, wie sie uns die Evangelisten als seine Zeugen überliefert haben. Das gilt auch für die 26 von Reim aufgezählten Jesusworte, von denen ich nur wenige wiedergeben will (485f.):

„Nehmt hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“ (20,22f)

„Siehe, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht etwas Ärgeres widerfahre.“ (5,14)

„Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.“ (12,26)

Zwei etwas längere Jesuworte stechen allerdings in Reims Aufzählung hervor, die mit ziemlicher Sicherheit nicht auf den historischen Jesus zurückgehen.

So wird es Johannes gewesen sein (485), der die Art, wie Jesus als der Menschensohn, wenn die kommende Weltzeit des Friedens anbricht, über die Menschen richten wird, aus der Schriftstelle Daniel 12,2 erschließen konnte:

„…und hat ihm Macht gegeben, das Gericht zu halten, weil er des Menschen Sohn ist. Verwundert euch des nicht. Denn es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden seine Stimme hören, und werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Übles getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.“ (5,27-29

Und so traurig wir es finden mögen (484): Der historische Jesus selbst hat wohl seinen Jüngern weder die Füße gewaschen noch ihnen die folgenden Worte gesagt:

„Ihr heißt mich Meister und Herr und sagt recht daran, denn ich bin‘s auch. Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt ihr auch euch untereinander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, dass ihr tut, wie ich euch getan habe.“ (13,13-15)

Wahrscheinlicher ist, dass Johannes die Szene gestaltet hat, angeregt durch Szenen und Worte Jesu aus dem Lukasevangelium (7,36ff.; 12,37; 22,24-27). <72> Wie dort eine Sünderin Jesus die Füße wäscht, wie dort Jesus von seinem Dienst für die Sklaven spricht, so übt Jesus hier tatsächlich den Sklavendienst für seine Schüler aus.

Trotzdem drückt gerade die Fußwaschung eine Wahrheit aus, die jede historische Tatsachenwahrheit unendlich übersteigt. Was mit Jesus in die Welt hineingekommen ist, das konnte Johannes nicht eindringlicher verdeutlichen als mit diesem Bild des Herrn, der freiwilligen Sklavendienst für andere leistet. Nicht zufällig erscheint dieses „Sakrament der Solidarität“ <73> bei Johannes genau an der Stelle, an der die anderen Evangelisten ein Abendmahlsritual präsentieren, das als mysterienkultische Einverleibung göttlicher Kräfte missverstanden werden konnte. Johannes sieht Jesus als den einen besonderen Menschen, der den befreienden NAMEN des Gottes Israels in einzigartiger Weise verkörpert. Aus Liebe, agapē, „Solidarität“, stirbt er am Kreuz der Römer, übergibt er den Geist der Treue und Liebe Gottes an seine Schülerinnen und Schüler. Indem wir uns in die Kette dieser von Jesus Geschulten einreihen dürfen, sind wir gerufen, aus diesem Geist, in dieser agapē, zu leben und die Überwindung der noch immer herrschenden Weltordnung von Gewalt, Unrecht und Unfreiheit tätig zu erwarten.

Anmerkungen

<01> Unter der angegebenen Verlinkung ist der Aufsatz bequem zugänglich (bis auf einige Unterschiede zur Druckversion, auf die ich jeweils aufmerksam machen werde). Die im folgenden Text in runden Klammern (…) angegebenen Seitenzahlen oder Verweise auf Anmerkungen ohne weiteren Hinweis beziehen sich auf die jeweils folgenden Zitate aus diesem Aufsatz – allerdings zitiert nach Günter Reim, JOCHANAN – erweiterte Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums, Erlangen 1995, 425-486, denn die oben genannte Veröffentlichung enthält keine Seitenzahlen. Sind solche Zitate als eigener Absatz eingerückt, werden sie blau hervorgehoben. Wörter in griechischer Schrift gebe ich – auch in zitierten Texten – mit einer einfachen deutschen Umschrift wieder.

<02> Aus dem Untertitel „Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jeschua Messias von ganz Israel“ geht bereits hervor, dass einige vertraute biblische Namen in dieser Auslegung verfremdet erscheinen, etwa Jesus als „Jeschua“, Mose als „Mosche“, Johannes der Täufer als „Jochanan“ (ähnlich wie Günter Reim den Evangelisten Johannes in seinem in Anm. 1 genannten Buch „Jochanan“ genannt hatte). Zitate aus diesem Werk erhalten eine rote Hervorhebung und werden durch einen Link zum jeweiligen Abschnitt in der Internetpublikation belegt (mit der Angabe des jeweiligen Absatzes, wobei der gesamte dem Abschnitt vorangestellte Bibeltext als 1. Absatz gezählt wird).
Zusätzlich weise ich auf eine der folgenden ursprünglichen Quellen hin, auf Grund derer das Gesamtwerk zusammengestellt ist: Veerkamp 2002 = Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Johannes 13-17, in: Texte und Kontexte 96/96 (2002), Veerkamp 2006 = Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, I. Teil: Johannes 1,1-10,21, in: Texte & Kontexte 109-111, 2006, Veerkamp 2007 = Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, II. Teil: Johannes 10,22-21,25, in: Texte & Kontexte 113-115, 2007, und Veerkamp 2015 = Ton Veerkamp, Das Evangelium nach Johannes. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen, 2., grundlegend überarbeitete Auflage, in: Texte und Kontexte Sonderheft Nr. 3 (2015).

<03> Vgl. Ton Veerkamp, Die Sprache des Johannes und unsere Sprache (Veerkamp 2002, 5ff.).

Die Abkürzung TeNaK steht für die hebräischen Anfangsbuchstaben der thora = 5 Bücher Mose, der neviim = Vordere und Hintere Propheten (erstere entsprechen in unserem Alten Testament den vier Büchern Josua, Richter, Samuel und Könige, letztere den Propheten Jesaja, Jeremia, Hesekiel und dem Zwölfprophetenbuch) und der khetuvim („Schriften“, nämlich einerseits Psalmen, Sprüche, Hiob und Fünf Rollen [Hohelied, Ruth, Klagelieder, Prediger, Esther] und andererseits Daniel, Esra, Nehemia und Chronik).

<04> Vgl. Ton Veerkamp, Der Zeuge, 1,6-8, Abs. 2-5 (Veerkamp 2006, 13-14).

<05> In der Nähe des Pascha. Der Ernährer Israels, 6,1-7,1, Abs. 1-3.

<06> Rudolf Bultmann war ein Meister der Umordnung ganzer Abschnitte und Kapitel des Johannesevangeliums, um einen in seinen Augen logisch aufgebauten Text zu rekonstruieren. In neuerer Zeit versuchen Exegeten wie Hartwig Thyen oder Klaus Wengst und auch Ton Veerkamp, auf den ich mich berufe, den Evangelientext in seiner literarischen Endgestalt ernstzunehmen.

<07> Vgl. die Bücher von Andreas Bedenbender, Frohe Botschaft am Abgrund. Das Markusevangelium und der Jüdische Krieg, Leipzig 2013, und Der gescheiterte Messias, Leipzig 2019.

<08> Vgl. Ton Veerkamp, Vierte Szene: Der Erstochene, 19,31-36, Abs. 7-16 (Veerkamp 2007, 109-111).

<09> Vgl. meine Besprechung des Buches von Esther Kobel, Dining with John. Communal Meals and Identity Formation in the Fourth Gospel and its Historical and Cultural Context, Leiden: Brill 2011, unter dem Titel Jesu Fleisch kauen – wie beim Gott Dionysos?, insbesondere im Abschnitt 5.3 Fleisch kauen, Blut trinken – worauf zielt diese anstößige Sprache? und 7.3 Übertreibt Johannes rituelle Abendmahlspraktiken in polemisch-ironischer Absicht?

<10> Das andere Zeichen in Kana, Galiläa: Dein Sohn lebt, 4,43-54, Abs. 5-13 (Veerkamp 2006, 91-93), und Sehen und vertrauen, 20,24-29, Abs. 8-9 (Veerkamp 2007, 126).

<11> Jürgen Becker, Wunder und Christologie. Zum literarkritischen und christologischen Problem der Wunder im Johannesevangelium in: NTS 16/1970, 130-148, hier 146.

<12> Ich verwende das in Großbuchstaben geschriebene Wort „NAME“ (entsprechend der hebräischen Bezeichnung ha-schem = „der Name“), um das Tetragramm JHWH zu umschreiben, das wegen der Unverfügbarkeit Gottes nicht ausgesprochen wurde. In gleichem Sinn schreibe ich das Wort „VATER“ in Großbuchstaben, wo Johannes in seinem Evangelium das griechische Wort patēr für den Gott Israels als den Vater des Messias Jesus verwendet.

<13> Vgl. Ton Veerkamps Auslegung von Johannes 11, Du wirst die Ehre Gottes sehen, 11,1-45 (Veerkamp 2007, 10-20), insbesondere Abschnitt Macht ihn los und lasst ihn gehen, 11,38-45, Abs. 4-15 (Veerkamp 2007, 18-20).

<14> Vgl. etwa die Schilderung des Flavius Josephus, Geschichte des Jüdischen Krieges 5.11.1, der die Grausamkeit der Massenkreuzigungen um so schärfer hervortreten lässt, als er Titus, den für sie Verantwortlichen, sogar mit dem Hinweis auf den Fanatismus der zelotischen Aufständischen zu entschuldigen versucht:

Unterdessen liess Titus den Bau der Wällebeschleunigen, wiewohl seine Leute von der Mauer her viel zu leiden hatten. Zugleich sandte er Reiterabteilungen aus, um den Juden aufzulauern, welche auf der Suche nach Nahrungsmitteln in die Schluchten hinabgestiegen waren. Es befanden sich darunter wohl auch manche streitbare Männer, denen das Geraubte nicht mehr langen wollte; meist aber waren es arme Leute aus den niederen Volksschichten, welche nur die Sorge um ihre Angehörigen abhielt, zu den Römern überzugehen. Denn wenn sie mit Weib und Kind fliehen wollten, hatten sie keine Aussicht, der Wachsamkeit der Empörer zu entgehen; die Ihrigen aber in der Gewalt der Räuber zurückzulassen, konnten sie sich nicht entschliessen, weil dieselben dann voraussichtlich um ihrer, der Entflohenen, willen, würden ermordet werden. Den Mut, die Stadt zu verlassen, flösste ihnen der Hunger ein; waren sie nun unbemerkt hinausgelangt, so drohte ihnen nur noch die Gefahr, den Feinden in die Hände zu fallen. Wurden sie ergriffen, so wehrten sie sich unwillkürlich aus Angst vor der Hinrichtung; nachdem sie aber einmal Widerstand geleistet hatten, schien es ihnen zu spät, um Gnade zu bitten. Sie mussten nun zunächt die Geisselung und alle möglichen Foltern über sich ergehen lassen und wurden dann angesichts der Mauer gekreuzigt. Titus hatte zwar Mitleid mit ihrem Schicksal, zumal da jeden Tag fünfhundert, manchmal auch noch mehr Gefangene eingebracht wurden, hielt es aber anderseits für gefährlich, diese mit Gewalt bezwungenen Juden frei ausgehen zu lassen; denn hätte man eine solche Menge bewachen wollen, so wären sie gar leicht eine Wache ihrer Wächter geworden. Der Hauptgrund aber, weshalb er die Hinrichtung der Gefangenen zuliess, war die Hoffnung, der Anblick werde die Belagerten zur Nachgiebigkeit bewegen, da diese ein gleiches Schicksal zu gewärtigen hatten, wenn sie sich nicht ergaben. Die Soldaten nagelten nun in ihrer gewaltigen Erbitterung die Gefangenen zum Hohn in den verschiedensten Körperlagen an, und da ihrer gar so viele waren, gebrach es bald an Raum für die Kreuze und an Kreuzen für die Leiber.

<15> Reim verweist dazu (437, Anm. 1) auf das Siebenstern-Taschenbuch Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 2 Bde 1966, Bd 1, 160f.

<16> Ich verweise nochmals auf die Bücher von Andreas Bedenbender, Frohe Botschaft am Abgrund. Das Markusevangelium und der Jüdische Krieg, Leipzig 2013, und Der gescheiterte Messias, Leipzig 2019.

<17> Die Seitenzahlen von David Friedrich Strauß, Das Leben Jesu, die Reim (436, Anm. 1) nach der 4. Auflage 1840, Bd. 2, zitiert, gebe ich im Folgenden in eckigen Klammern an.

<18> Reim zitiert (439, Anm. 5) sein Buch Bruno Bauer, Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker 3 Bd., Leipzig 1841/42. Seitenzahlen gebe ich in eckigen Klammern an.

<19> Reim zitiert (441, Anm. 2) sein Buch Friedrich Spitta, Das Johannesevangelium als Quelle der Geschichte Jesu, Göttingen 1910, 401.

<20> Reim zitiert (430, Anm. 1, und 441, Anm. 1) Hans Windisch, Die Dauer der öffentlichen Wirksamkeit Jesu nach den vier Evangelisten, in: ZNTW 1911, 174.

<21> Hier zitiert Reim (441, Anm. 3) Hans Windisch, Johannes und die Synoptiker. Wollte d. 4. Evangelist die älteren Evangelien ergänzen od. ersetzen?, Leipzig 1926.

<22> Reim zitiert (441, Anm. 4) Alexander Faure, Die alttestamentlichen Zitate im vierten Evangelium und die Quellenscheidungshypothese, in: ZNTW 21 1922, 99ff.

<23> Reim zitiert (442, Anm. 1) Percival Gardner-Smith, Saint John and the Synoptic Gospels, Cambridge 1938.

<24> Reim zitiert (442, Anm. 3) Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 15. Aufl. Göttingen 1957. Die folgenden Seitenzahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf dieses Buch.

<25> Reim zitiert (443, Anm. 1) Charles Harold Dodd, Some Johannine „Herrnworte“ with Parallels in the Synoptic Gospels, in: NTS 1955, 75ff.

<26> Reim zitiert Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium, I. Teil 1965, 27ff.

<27> Reim zitiert (443, Anm. 2) Ernst Haenchen, Johanneische Probleme, in: ZThK 56 1959, 19ff.; das folgende ausführliche Zitat steht auf S. 51f.

<28> Während ich diesen Beitrag schreibe, beginne ich mich mit dem sehr spannenden Kommentar von Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, Tübingen 2005, zu beschäftigen, der sogar die Auffassung vertritt, dass Johannes und seine Leserschaft mit den synoptischen Evangelien sehr vertraut gewesen sein müssen, da er auf Schritt und Tritt mit dort niedergelegten Vorstellungen „spielt“. Auf Seite 4 seiner Einleitung beschreibt er die „ganz andere Spur“, die er im Gegensatz zu „unbegründbaren, und wie die Beispiele zeigen, für die Interpretation des Evangeliums als eines literarischen Werkes wenig hilfreichen Quellen- und Redaktionstheorien“ in seinem Kommentar verfolgt:

Es erscheint mir nämlich sehr viel wahrscheinlicher, daß Johannes außer der jüdischen Bibel nicht nur eine anonyme, ihm womöglich nur mündlich überlieferte, den Synoptikern ähnliche Tradition kennt und sie als Quelle benutzt hätte, sondern daß er vielmehr intertextuell mit den alttestamentlichen Texten ebenso wie mit den synoptischen Evangelien in ihren überlieferten redaktionellen Gestalten spielt; und zwar nicht allein mit dem Markusevangelium, sondern auch mit den Evangelien nach Matthäus und nach Lukas. Dieses Spiel setzt Leser voraus, die diese Evangelien ebenfalls kennen, so daß sie ihm zu folgen vermögen und nach ihrer Bereitschaft gefragt sind, sich darin verwickeln zu lassen. Dem Reiz dieses Spiels unseres Autors mit den synoptischen Evangelien als seinen Prätexten sucht unsere Theorie der Intertextualität auf die Spur zu kommen. Dabei werden diese Prätexte nicht durch den neuen Text ersetzt oder verdrängt (Windisch), sondern im Gegenteil gerade in Erinnerung gerufen und neu in Kraft gesetzt. Das Neue ist dabei gerade dieses ,Inter‘, dieser Raum ,zwischen‘ den Texten.

Dieser Ansatz widerspricht natürlich in jeder Hinsicht auch den von Günter Reim vorgelegten Theorien. Zwar habe ich vor, mich mit diesem Kommentar – auf den mich mein Pfarrerkollege Peter Willared aus der Stephanusgemeinde Gießen dankenswerterweise aufmerksam machte – intensiver auseinanderzusetzen, aber in diesem Beitrag greife ich nur an wenigen Stellen auf ihn zurück.

<29> Dazu verweist er auf seine Dissertation, Günter Reim, Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums, Oxford 1967, veröffentlicht auch in JOCHANAN, 1-315.

<30> Dazu zitiert Reim (444, Anm. 4) Josef Blinzler, Johannes und die Synoptiker, Stuttgart 1965, 50.

<31> Vgl. Ton Veerkamp, Der Anfang der Zeichen in Kana, Galiläa. Die messianische Hochzeit, 2,1-12 (Veerkamp 2006, 44-49).

<32> Vgl. Ton Veerkamp, Das andere Zeichen in Kana, Galiläa: Dein Sohn lebt, 4,43-54 (Veerkamp 2006, 90-93).

<33> Vgl. Ton Veerkamp, Am See von Tiberias, 21,1-25 (Veerkamp 2007, 128-132).

<34> Um mich nicht uferlos zu wiederholen, verweise ich hierzu auf meine diesbezüglichen Ausführungen in der Besprechung des Buches von Edmund Little, Echoes of the Old Testament in the Wine of Cana in Galilee (John 2: 1-11) and the Multiplication of the Loaves and Fish (John 6: 1-15). Towards an Appreciation, Paris: J. Gabalda, 1998, im Abschnitt 1.3.1.3 Mosaische Speisungswunder, die Ehre Gottes und die Mutter des Messias.

<35> Messianische Hochzeit, 2,1-11, Abs. 14 (Veerkamp 2006, 47).

<36> Im Zusammenhang mit Johannes 10,16 und im Blick auf Johannes 4 erwägt Veerkamp, Die Deutung des Gleichnisses, 10,7-18, Abs. 24 (Veerkamp 2006, 159), dass Johannes die andere Hälfte Israels vor allem auf die Samaritaner bezieht, verstanden als die Nachkommen der verlorenen Nordstämme Israels, aber auch auf Diaspora-Juden und „die nicht-jüdischen Sympathisanten des (hellenistischen) Judentums, die ‚Griechen‘ aus Johannes 12,20ff.“

<37> Macht ihn los und lasst ihn gehen, 11,38-45, Abs. 6-15; die wörtlichen Zitate stehen in Abs. 10 und 15 (Veerkamp 2007, 18-20).

<38> Wenn Reim allerdings bemerkt, dass man „sicher nicht umsonst dieses Buch mit dieser Erwartung an das Ende des Alten Testamentes gestellt“ hat, formuliert er nicht ganz korrekt, denn in der jüdischen Bibel stand nicht das Zwölfprophetenbuch mit Maleachi 3 am Ende, sondern der dritte Teil des TeNaK schloss mit dem Buch der Chronik, in deren Schlusskapitel die Erzählung vom Heraufziehen Israels zum Jerusalemer Tempel unter den Persern die Hoffnung auf die Rückkehr nach Jerusalem und die Wiedererrichtung des Tempels wachhielt. Es war die griechische Bibelübersetzung der Septuaginta, in der das Buch Maleachi mit der Erwartung des Propheten Elia am Ende stand, wobei ungeklärt ist, ob die Veränderung der Reihenfolge bereits auf die jüdischen Übersetzer oder Nutzer dieser Bibel zurückging oder auf Christen, die die Septuaginta bewusst umordneten, um den prophetischen Schlussteil der Bibel mit der Verheißung des Elia auf Johannes hin auslegen zu können.

<39> Dazu, dass es meines Erachtens hier um etwas ganz anderes als eine übernatürliche Fähigkeit Jesu geht, vgl. in meiner Besprechung eines anderen Textes von Günter Reim den Abschnitt 2.1 Was ist größer als ein Königtum unter dem Feigenbaum?

<40> Warum eine Wunderquelle einen solchen Aufenthalt in Kapernaum zwischen die beiden Wunder zu Kana eingeschaltet haben sollte, zumal der Dienstmann des Königs ja in Kapernaum stationiert ist, bleibt offen. Für Ton Veerkamp, Messianische Gemeinde, 2,12, Abs. 1-3 (Veerkamp 2006, 49) verweist der „nicht viele Tage“ währende Aufenthalt in Kapernaum zurück auf 5. Mose 1,46; 2,1.14; nähere Erläuterungen dazu in Veerkamps Text.

<41> Von Johannes wird dieser See allerdings „Galiläisches Meer von Tiberias“ genannt.

<42> Anmerkung 186 zur Auslegung von Johannes 5,5 (Veerkamp 2015, 40). Vgl. Ton Veerkamp, Die Lähmung, 5,1-9a, Abs. 5-8 (Veerkamp 2006, 97-98).

<43> Der messianische König, 12,12-19, Abs. 14-15 (Veerkamp 2007, 30).

<44> Vgl. dazu meine Zusammenfassung des Buches von Ton Veerkamp, Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung, Berlin 2013, im Abschnitt Von den Pastoralbriefen bis zu Justin und Ignatius, Abs. 5:

Mit (349) dem Bischof Ignatius von Antiochien beginnt die Tendenz, (351) nicht mehr „das Evangelium von der Schrift her“ zu lesen, sondern „die Schrift wird nur noch verständlich, wenn sie auf das Evangelium hin verkündigt wird.“ (352) „Nach Ignatius schließen sich Joudaismos (jüdische Lebensführung) und Christianismos (christliche Lebensführung) aus.“

<45> Ton Veerkamp legt Johannes 2,16 von Sacharja 14,21 her aus, Ein Lehrstück, 2,13-22, Abs. 5 (Veerkamp 2006, 51):

Für Johannes scheint der letzte Satz des Buches Sacharja den Ausschlag zu geben. „Es wird kein Krämer sein im Haus des NAMENS der Heerscharen an diesem Tag.“ Ein Zustand, nach dem sich das fromme Israel sehnt. Der Kaufmannsstand galt in Israel und überhaupt in der Vormoderne als etwas Abartiges, berufsmäßige Händler werden „Kanaaniter“ genannt [Von Kramhandel (kapelikon) um des Gelderwerbs (chrēmatistikē) willen hält z.B. Aristoteles gar nichts (Pol. 1257b)]. Zumindest am Schabbat duldete Nehemia keine Krämer in der Stadt (Nehemia 13,15-22). Jerusalem war in den Augen der Evangelisten eine hellenistische Stadt, eine „Krämerstadt“ (emporion), wie die Propheten die phönizische Handelsmetropole Tyrus nannten, ihre Handelspartner wurden folgerichtig emporioi, „Krämer“, genannt (Jesaja 23,17; Ezechiel 27,15). Das muss ein Ende haben. Jeschua macht damit ein Ende.

<46> Der Täufer und der Messias, 3,22-30, Abs. 15-22 (Veerkamp 2006, 68-69).

<47> Auf den Nachtrag, den Günter Reim der Internetversion seines Aufsatzes im Jahr 2011 hinzugefügt hat, gehe ich nicht näher ein. In ihm versucht er neben dem von ihm angenommenen „Täuferbericht des Wunderevangeliums“ auch einen „Täuferbericht des 4. Synoptikers“ sehr ausführlich zu rekonstruieren, was in meinen Augen aber wenig Sinn macht.

<48> Ursprünglich erschien dieser Artikel in englischer Sprache in Günter Reim, JOCHANAN – erweiterte Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums, Erlangen 1995, 397-401: „John IV.44 – Crux or Clue? The Rejection of Jesus at Nazareth in Johannine Composition“.

Sein Ausgangspunkt ist dort die Problematik, dass das in Johannes 4,44 aufgegriffene Wort vom Propheten, der in seiner patris, „Vaterstadt, Vaterland, Heimat“, nichts gilt, im Widerspruch zum Kontext zu stehen scheint, denn der aus Nazareth stammende Jesus wird gemäß 4,45 in Galiläa freundlich aufgenommen. Reims Lösung besteht darin (401), dass er die Zurückweisung Jesu in Nazareth als Prototyp für alle Zurückweisungen Jesu durch verschiedene Publikümer, sei es in Kapernaum oder Jerusalem, versteht.

Ton Veerkamp, Das andere Zeichen in Kana, Galiläa: Dein Sohn lebt, 4,43-54, Abs. 3 (Veerkamp 2006, 90), gibt eine andere Antwort auf die Frage nach der Vaterstadt Jesu:

Bei Markus und den anderen Synoptikern liegt die Vaterstadt in Galiläa (Markus 6,1 par.) Dort heißt es: „Nicht würdelos ist ein Prophet, es sei denn in seiner Vaterstadt.“ Aber bei Johannes ist die Vaterstadt Jerusalem, der Ort dessen, den Jeschua VATER nennt. Die Zeichen und die Worte des Messias erwecken Vertrauen in Samaria und in Galiläa. Der Auftrag des Messias ist es, die auseinander getriebenen Kinder Israels zusammenzubringen. Die Zeichen rufen auch Widerspruch auf, in Jerusalem, Johannes 5 und 9, aber auch im Galiläa, Johannes 6. Aber die Entscheidung über Zustimmung oder Ablehnung fällt in Jeschuas Vaterstadt, Jerusalem. Denn der Messias und sein Werk, die Befreiung, kommen von den Judäern her, wie bereits gehört. Jeschua ben Joseph stammt aus Nazareth, Galiläa, aber der Messias kommt aus Jerusalem. Ein ähnliches Verfahren entwickeln Matthäus und Lukas in ihren Herkunftserzählungen (Matthäus bzw. Lukas 1-2). Ihr Messias muss aus der Stadt Davids kommen, er wird das Königtum Davids erneuern. Der Messias ist bei Johannes ein priesterlich-prophetischer Messias, deswegen muss er aus Jerusalem kommen.

<49> Reim zitiert (442, Anm. 3, und 466, Anm. 1) Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 15. Aufl. Göttingen 1957, 161f.

<50> Vgl. seine Erläuterungen zu Johannes 1,9 in Anm. 35 (Veerkamp 2015, 9):

Kosmos ist sowohl „Welt“ wie auch „Weltordnung“. Bei Johannes ist kosmos in erster Linie ho kosmos houtos, „diese Weltordnung“. Das Wort bezeichnet das, was bei den Rabbinern ˁolam ha-se, „diese Weltzeit“, genannt wird. Es ist eine politische Kategorie: die herrschende Weltordnung, eben das römische Imperium. Wo bei Johannes davon geredet wird, dass der kosmos befreit werden wird, ist nicht die Welt in seiner jetzigen Ordnung, sondern der menschliche Lebensraum gemeint, die Welt wird ja befreit von der Ordnung, die auf ihr lastet, 4,42! Das griechische kosmos – es hat kein eigentliches Äquivalent in der hebräischen Schrift – bedeutet „(harmonische) Ordnung, Schmuck (Kosmetik)“. Hier bedeutet es sowohl Lebensraum als auch jene Ordnung, die die Ordnung der einzelnen Völker und eben vor allem die Ordnungen Israels bedroht. Das Schlechte an der Welt ist bei Johannes nicht die Welt an sich, sie ist das Objekt der Solidarität Gottes, 3,15. Schlecht ist die Ordnung, unter der sie leiden muss. Daher gibt es keine „gnostische“, vielmehr eine „politische“ Kosmologie bei Johannes, der wir durch die alternierende Übersetzung „Welt“ und „Weltordnung“ Rechnung zu tragen versuchen.

<51> Vgl. zu diesem Abschnitt Ton Veerkamp, Das Licht und die Weltordnung, 1,9-11, Abs. 2-5 (Veerkamp 2006, 15), das folgende Zitat steht in Abs. 5. Zum „Tag eins“ der neuen Schöpfungswoche vgl. Ton Veerkamp, Vorbemerkung: Die Zeitangabe „Tag eins“ (Veerkamp 2007, 112-114).

<52> Vierter Teil: Galiläa, 21,1-25 (Veerkamp 2007, 128-137), insbesondere Anm. 567 zu Johannes 21,1 (Veerkamp 2015, 150).

<53> So die Argumentation von Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, Tübingen 2005, 114.

<54> Zur näheren Begründung Thyen, 381f.

<55> Vgl. dazu Ton Veerkamp, Messianische Hochzeit, 2,1-11, Abs. 7-12 (Veerkamp 2006, 45-47). Nach Johannes 2,12 gehört die Mutter des Messias auch ausdrücklich zur messianischen Gemeinde, vgl. Ton Veerkamp, Messianische Gemeinde, 2,12, Abs. 1-2 (Veerkamp 2006, 49).

<56> Das Grab, 20,1-10, Abs. 11.20-21 (Veerkamp 2007, 115-117).

<57> R. Schnackenburg, Zur Herkunft des Johannesevangeliums in: BZ NF 1 1970, 19.

<58> Dazu beruft er sich (Anm. 1) auf G. von Rad, Theologie des Alten Testamentes Bd I 1958, 439ff.; das folgende Zitat 451.

<59> In seiner ausführlichen Studie zu Johannes 6,31 in seinem Buch JOCHANAN, 12.15, die er hier nur kurz zusammenfasst, meint Reim nachweisen zu können, dass in der Johannes vorliegenden Quelle Jesu Gegner die entsprechende Stelle aus 2. Mose 16,4.15 falsch zitieren, als ob nämlich Mose (und nicht Gott) nur den Vätern (und nicht auch den Zuhörern Jesu) damals himmlisches Brot gab (und nicht auch jetzt gibt). Da Johannes auf exaktes Zitieren selbst kaum Wert legt, kann das in meinen Augen nicht der entscheidende Kritikpunkt sein.

<60> Reim zitiert (474, Anm. 1) Ernst Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17 2. Aufl. 1967, 124.

<61> Näheres zur Auslegung von Johannes 6,30-40 bei Ton Veerkamp, Kein Hunger mehr, kein Durst mehr. Der entscheidende Tag, 6,30-40 (Veerkamp 2006, 116-119).

<62> Dazu bezieht sich Reim (Anm. 1) auf Philo, De somn. II 221f, Leg. All. II 86.

<63> JOCHANAN, 70-88.

<64> Vgl. dazu Ton Veerkamp, Vom Messias, 7,11-52, Abs. 20-24 (Veerkamp 2006, 134-135):

Die Verborgenheit des Messias wird am letzten und großen Tag des Festes noch einmal vertieft. Jeschua wird zum zweiten Mal laut, er ruft aus:

Wenn jemand dürstet, komme er zu mir,
und trinke, wer mir vertraut,
wie die Schrift sagt …
Flüsse werden aus seinem Leib strömen,
lebendigen Wassers.

Hier haben alle Ausleger ein Problem, denn das Schriftzitat ist unauffindbar. Wir müssen zunächst an das Gespräch mit der Frau aus Samaria zurückdenken, wo es ebenfalls um „Durst“ und „lebendes Wasser“ ging. Auch dort hörten wir das Wort pneuma, „Inspiration“ („Geist“). Das Wasser, das Jeschua der Frau in Aussicht stellt, erweist sich als der lebensspendende Friede zwischen den beiden Völkern, die von einem neuen Geist inspiriert sind.

Was oder wer ist „lebendes Wasser“? Am klarsten ist die Antwort aus Jeremia 2,13: „Mich haben sie verlassen, den Brunnen des lebenden Wassers.“ Der Brunnen des lebenden Wassers ist der Gott Israels. Das Neue, das hier geschaffen werden soll, ist wie „ein Weg durch die Wüste, wie Ströme durch die Steppe“ (Jesaja 43,19). Das Schlusskapitel der großen Trostrede im Buch Jesaja beginnt, 55,1: „Oh, ihr Dürstenden alle, kommt zum Wasser …“ (vgl. oben bei der Besprechung von 6,7). Johannes Calvin hatte schon recht, als er in seinem Kommentar schrieb, hier sei nicht eine „bestimmte Schriftstelle“ gemeint, „sondern das Zeugnis aus der gesamten Lehre der Propheten“ [Johannes Calvin, Auslegung des Johannesevangeliums [1553], übersetzt v. Martin Trebesius und Hand Christian Petersen, Neukirchen-Vluyn 1964, 201].

Die Menschen können aber nicht genau verstehen, was gemeint ist. Johannes deutet sein Wort selber, indem er das Ende seiner Erzählung vorwegnimmt. Mit Wasser ist das gemeint, was man in der Kirche „Geist“ nennt und wir mit „Inspiration“ wiedergegeben haben. Diese Inspiration wird von Jeschua ausgehen, aber erst dann, wenn er sein Ziel erreicht haben wird (19,28ff.). Genaueres erfahren wir erst im großen Stück „Wenn er kommt, der Herbeigerufene (paraklētos) …“, 15,26-16,15. Sein Ziel hat Jeschua erreicht, wenn alle Illusionen über den Messias, alle törichten politischen Messiasprojekte ihr katastrophales Ende gefunden haben werden, wenn Jeschua gekreuzigt und endgültig in die Verborgenheit seines Gottes hineingegangen sein wird, erst dann wird die Inspiration von ihm ausgehen, die ganz Israel weltweit zusammenführen wird. „Flüsse lebenden Wassers“ werden dann weltweit vom Messias ausgehen, und genau das ist, was Johannes mit Inspiration der Heiligung meint.

<65> „Du bist der Lehrer Israels, und das verstehst du nicht?“, 2,23-3,21, Abs. 27.29-20 (Veerkamp 2006, 58-59).

<66> Zum „Tag eins“ der neuen Schöpfungswoche vgl. Ton Veerkamp, Vorbemerkung: Die Zeitangabe „Tag eins“ (Veerkamp 2007, 112-114).

<67> Dritte Szene: Das Ziel ist erreicht, 19,28-30, Abs. 11-14 (Veerkamp 2007, 106-107).

<68> Von Psalm 10,1 bis 147,11 der hebräischen Bibel weicht die Verszählung der griechischen Bibelübersetzung (Septuaginta bzw. LXX) ab. So zählt die LXX Psalm 10,1-18 als Psalm 9,22-39, alle weiteren Psalmen bis Nr. 147 haben eine um 1 verminderte Nummerierung, und Psalm 147,12-20 entspricht LXX 147,1-9. Nur die Zählung der Psalmen 1,1-9,21 und 148-150 ist komplett identisch (zusätzlich hat die Septuagintag noch einen Psalm 151,1-9).

<69> In späteren Aufsätzen revidiert Reim diese Einschätzung und geht davon aus, dass wesentliche Elemente der Theologie des Johannes von den Psalmen 95, 45 und 40 her zu begreifen sind. Da ich in einem weiteren Beitrag auf diese Arbeiten eingehen möchte (zu Psalm 95, Psalm 45, und Psalm 40), verschiebe ich darauf auch die Beschäftigung mit der Art, wie Reim die Verwendung von Psalm 69 durch Johannes einschätzt.

<70> Auf dieses Thema gehe ich hier nicht näher ein, da ich es in meinem Beitrag Wer ist Jesus nach dem Johannesevangelium? sehr ausführlich behandelt habe.

<71> Vgl. dazu, was ich im Abschnitt 5.2 zum Thema kosmos ausgeführt habe und Ton Veerkamp, Der zweite Tag. Einer wie Gott, 1,29-34, Abs.3-7 (Veerkamp 2006, 31-32).

<72> So Maurits Sabbe, The Footwashing in Jn 13 and Its Relation to the Synoptic Gospels, in: Studia Neotestamentica. Collected Essays. BETL 98, Leuven 1991, 409-441; Karl Theodor Kleinknecht, Johannes 13, die Synoptiker und die ‚Methode‘ der johanneischen Evangelienüberlieferung. ZthK 82 (1985) 361-388; und Heinrich Julius Holtzmann, Evangelium, Briefe und Offenbarung des Johannes. HC 4, Freiburg, 31908, worauf Thyen, 592, hinweist.

<73> So Ton Veerkamp, Scholion 6: Zur klerikal-sakramentalen Deutung der Brotrede, vor allem 6,52-59, Abs. 6 (Veerkamp 2006, 126).

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