Bild: Helmut Schütz

Die Toten werden hören

Wie wir mit Tod und Trauer umgehen, hängt mit der Art zusammen, wie wir unser Leben führen. Man kann mitten im Leben tot sein, wenn man innerlich zerrissen ist und im Unfrieden mit sich und Gott und der Welt lebt. Ein Wunder ist es, wenn ein solcher lebendig Toter endlich doch die Stimme der Liebe an sich heranlässt.

Das dreiteilige Altarfenster der Friedhofskapelle Gießen mit der Kreuzabnahme Jesu, dem Abstieg Jesu zu den Toten und der Verkündung der Auferstehung an drei Frauen durch einen Engel
Das Altarfenster der Friedhofskapelle auf dem Neuen Friedhof am Rodtberg in Gießen

direkt-predigtGottesdienst am Ewigkeitssonntag, 22. November 2009, 10.00 Uhr in der evangelischen Pauluskirche Gießen

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Ich begrüße alle herzlich am Ewigkeitssonntag mit dem Wort aus Psalm 90, 12:

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“

Besonders heiße ich in der Pauluskirche diejenigen willkommen, die in den vergangenen zwölf Monaten einen geliebten Menschen verloren haben. Für alle, die wir in der Paulusgemeinde seit Beginn des Kirchenjahres bestattet haben, zünden wir in diesem Gottesdienst eine Kerze an.

Dem Gaudete-Chor, der heute im Gottesdienst unter der Leitung von Herrn Werner Boeck als Quartett auftritt, danken wir herzlich für seine musikalische Mitwirkung.

Zu Beginn hören wir vom Chor das Lied „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“:

1. Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben! Wie ein Nebel bald entstehet und auch wieder bald vergehet, so ist unser Leben, sehet!

2. Ach wie nichtig, ach wie flüchtig sind der Menschen Tage! Wie ein Strom beginnt zu rinnen und mit Laufen nicht hält innen, so fährt unsre Zeit von hinnen.

3. Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Freude! Wie sich wechseln Stund und Zeiten, Licht und Dunkel, Fried und Streiten, so sind unsre Fröhlichkeiten.

5. Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Glücke! Wie sich eine Kugel drehet, die bald da, bald dorten stehet, so ist unser Glücke, sehet!

7. Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Prangen! Der in Purpur hoch vermessen ist als wie ein Gott gesessen, dessen wird im Tod vergessen.

8. Ach wie nichtig, ach wie flüchtig sind der Menschen Sachen! Alles, alles, was wir sehen, das muss fallen und vergehen. Wer Gott fürcht‘, wird ewig stehen.

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Nichtig und flüchtig scheint unser Leben angesichts des Todes. Michael Franck hat vor 357 sein Lied gedichtet und komponiert, das wir gehört haben und das uns eindringlich an unsere Sterblichkeit erinnert. Aber in seiner letzten Strophe klingt dann doch die Hoffnung an, die vor die Vergänglichkeit in unserem Leben ein neues Vorzeichen setzt:

8. Ach wie nichtig, ach wie flüchtig sind der Menschen Sachen! Alles, alles, was wir sehen, das muss fallen und vergehen. Wer Gott fürcht‘, wird ewig stehen.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Vergänglich und sterblich sind wir. Geschöpfe von Gott, mit geliehenem Leben, auf Zeit. Ewigkeit ist für uns denkbar nur in Verbindung mit Gott.

Wir bitten dich, ewiger Gott, lass uns nicht allein mit unseren schweren Gedanken, mit unseren Grübeleien, mit der Last unserer Trauer. Wir rufen zu dir:

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Wir beten mit Worten aus dem Psalm 90:

1 Herr, du bist unsre Zuflucht für und für.

2 Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.

3 Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!

10 Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, [und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist’s Mühe und Arbeit gewesen;] denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.

12 Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.

15 Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden.

17 Sei uns freundlich und fördere das Werk unsrer Hände bei uns.

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende“.

Der Herr sei mit euch „und mit deinem Geist.“

Gott im Himmel, wir denken heute nicht einfach allgemein über unsere Sterblichkeit nach. Es sind viele hier, die um einen geliebten Menschen trauern. Wie halten wir unsere Traurigkeit aus? Wie gehen wir um mit den Gedanken an den Tod? Wie sollen wir leben in einer Welt, in der das Böse mächtiger erscheint als das Gute? Mit unseren Fragen kommen wir zu dir, und wir werden hören, ob dein Wort uns etwas zu sagen vermag. Um deinen Trost bitten wir dich im Namen Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

In der Schriftlesung hören wir heute von zwei Visionen des Propheten Daniel. Sie spielen nachher in der Predigt eine Rolle. Die erste steht im Buch Daniel 7, 13-14:

13 Ich sah in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht.

14 Der gab ihm Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.

Ein anderes Mal hört Daniel ein Trostwort für sehr traurige Zeiten, die noch kommen sollen. Es steht im Daniel 12, 1-3:

1 Es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen.

2 Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande.

3 Und die da lehren, werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.

Herr, dein Wort ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege. Halleluja. „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Glaubensbekenntnis

Wir singen aus dem Lied 365 die Strophen 1 bis 3 und 6:

1. Von Gott will ich nicht lassen, denn er lässt nicht von mir, führt mich durch alle Straßen, da ich sonst irrte sehr. Er reicht mir seine Hand; den Abend und den Morgen tut er mich wohl versorgen, wo ich auch sei im Land.

2. Wenn sich der Menschen Hulde und Wohltat all verkehrt, so find’t sich Gott gar balde, sein Macht und Gnad bewährt. Er hilft aus aller Not, errett‘ von Sünd und Schanden, von Ketten und von Banden, und wenn’s auch wär der Tod.

3. Auf ihn will ich vertrauen in meiner schweren Zeit; es kann mich nicht gereuen, er wendet alles Leid. Ihm sei es heimgestellt; mein Leib, mein Seel, mein Leben sei Gott dem Herrn ergeben; er schaff’s, wie’s ihm gefällt!

6. Auch wenn die Welt vergehet mit ihrem Stolz und Pracht, nicht Ehr noch Gut bestehet, die wir so groß geacht‘: wir werden nach dem Tod tief in die Erd begraben; wenn wir geschlafen haben, will uns erwecken Gott.

Liebe Gemeinde!

Ein Foto hat mich beeindruckt in der vorletzten Woche. Genauer gesagt: Es geht mir nach. Das Bild der Witwe des Nationaltorwarts Enke, der seinem Leben selber ein Ende gesetzt hatte. Das Bild zeigte die Frau auf schwarzem Hintergrund, der Platz neben ihr leer, einfach nur schwarz. Was mir besonders nachgeht an dem Bild, ist der starke Eindruck: diese Frau trauert, und sie versteckt ihre Trauer nicht. Ihr Mann war eine Person des öffentlichen Interesses. Er hatte davor Angst gehabt, seine seelischen Probleme könnten an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden.

Es geht mir nicht darum, genau das jetzt zu tun. Traurig ist und bleibt, dass ihm diese Probleme unlösbar erschienen. Und dass ihm nicht bewusst war, wie sehr gerade seine Flucht aus dem Leben das Interesse der Menschen wecken würde. Aber mehr geht es mir heute darum, wie Frau Enke den Schritt an die Öffentlichkeit getan hat. Ohne Scheu davor, dass man ihr ihre Gefühle ansieht. Mit der klaren Einsicht, dass die Leute um so mehr reden und spekulieren würden, je weniger man sie wissen lassen wollte.

Sicher ist Trauer ein sehr persönliches Gefühl. Aber an einem Tag wie heute empfinden wir doch auch, dass die private Trauer auch eine öffentliche Seite hat. Wir kommen einmal im Jahr zusammen, um gemeinsam an unsere Verstorbenen zu denken, gemeinsam als Trauernde einen Gottesdienst zu feiern. Wir deuten damit an, dass der Tod und der lange Weg des Abschieds zum Leben gehören und auch die weniger betroffenen Menschen um uns herum angehen. Manchmal fühlen sich Trauernde ja wie abgeschnitten von ihren Mitmenschen, weil man nicht weiß, worüber man reden soll, ob nicht Gespräche über den Verstorbenen eine Wunde wieder aufreißen, ob es angebracht ist, bewusst dieses Thema zu vermeiden. Das Bild der trauernden Witwe des Fußballtorwarts macht mir Mut, Sie zu ermutigen: Es ist nicht schlimm, Gefühle eines Menschen mitzuspüren. Es ist kein Unglück, wenn jemand im Gespräch mit Ihnen anfängt zu weinen. „Ich hab nah am Wasser gebaut“, sagte mir eine Frau im Bus, als ihr unvermittelt die Tränen in die Augen steigen, während sie aus ihrem Leben erzählt. Und dann lächelt sie wieder.

Trauer ist ein Weg, der oft sehr mühsam zu gehen ist. Manchmal erfordert er Entscheidungen, die weh tun. Trauer ist das Gegenteil von Depression, denn in der Depression ist man abgeschnitten von den eigenen Gefühlen. Wer trauern kann, der stellt sich dem, was weh tut. Und das kann viel sein: eine innere Leere, nicht verheilte Wunden, widerstreitende Gefühle zwischen Liebe und Wut, Zukunftsangst und Gottvertrauen. Und nicht zuletzt immer wieder abgrundtiefer Schmerz und dennoch der Wille, das eigene Leben weiterzuleben, und sei es nur um der Menschen willen, die einen brauchen, und vielleicht jetzt mehr als je zuvor.

Viele von Ihnen trauern heute um eine ganz bestimmte Person, mit der Sie sich sehr eng verbunden gefühlt haben, ja, die Ihnen ans Herz gewachsen war.

Für alle Verstorbenen, die wir von der Paulusgemeinde aus im vergangenen Kirchenjahr bestattet haben, zünden wir nun eine Kerze an. Ein Licht zum Zeichen, dass wir mit den uns nahestehenden Toten in Liebe verbunden bleiben. Ein Licht zum Zeichen des Vertrauens auf Gott. Ein Licht zum Zeichen der Hoffnung auf ewiges Leben.

So denken wir in unserem Gebet an die Verstorbenen, um die wir trauern, und zünden eine Kerze an – für:

31 Verstorbene in der evangelischen Paulusgemeinde Gießen.

Vielleicht gibt es noch andere Menschen, um die Sie trauern, die nicht hier oder nicht in diesem Jahr gestorben sind. Sie können, wenn Sie möchten, jetzt nach vorn kommen und auch für sie eine Kerze anzünden.

Orgelmusik

Wir hören vom Gaudete-Quartett das Lied 433, einen Friedenswunsch für alle Menschen, für die Lebenden und die Toten:

Hevenu schalom alejchem, hevenu schalom alejchem, hevenu schalom alejchem, hevenu schalom, schalom, schalom alejchem.

Wir wünschen Frieden euch allen, wir wünschen Frieden euch allen, wir wünschen Frieden euch allen wir wünschen Frieden, Frieden, Frieden aller Welt.

Hevenu schalom alejchem, hevenu schalom alejchem, hevenu schalom alejchem, hevenu schalom, schalom, schalom alejchem.

Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Zur Predigt hören wir Worte von Jesus aus dem Evangelium nach Johannes 5, 24-29:

24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.

25 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben.

26 Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber;

27 und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist.

28 Wundert euch darüber nicht. Denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden,

29 und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.

Liebe Gemeinde, diese Worte von Jesus waren für viele Christen jahrhundertelang tröstlich, weil man einfach davon ausging: Das steht in der Bibel, darum gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, dass das wahr ist: Jesus ist der Sohn Gottes und hat die Macht, die Toten seine Stimme hören zu lassen und aus den Gräbern auferstehen zu lassen. Diese Worte hatten andererseits aber auch etwas Bedrohliches, denn da steht etwas von einer zweigeteilten Auferstehung: zum Leben oder zum Gericht, je nachdem, ob einer Gutes oder Böses getan hat. Tröstlich wiederum ist, dass Jesus selber als Weltenrichter über die Menschen ein zugleich gerechtes und – weil er unser Erlöser ist – barmherziges Urteil sprechen wird.

Uns modernen Menschen ist die Vorstellung von Toten, die hören können und aus den Gräbern kommen, nicht mehr unmittelbar zugänglich. Wir wissen zu viel von den Prozessen der Verwesung und überantworten zu viele Verstorbene der Verbrennung im Krematorium, als dass das Bild von den Toten, die aus den Gräbern hervorgehen, noch dieselbe tröstende Kraft für uns haben könnte wie in früheren Zeiten.

Aber wenn wir unseren Bibeltext genauer anschauen, sehen wir vielleicht, dass er in seiner eigentlichen Aussage viel moderner, uns modernen Menschen viel näher ist, als wir zunächst meinen.

Hören wir die Verse nach und nach, und achten wir genau auf die Wortwahl:

24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.

Beim genauen Hinhören ist deutlich: Hier spricht Jesus nicht von einem ewigen Leben, das erst anfängt, wenn man tot ist, sondern das für bestimmte Menschen schon da ist – schon jetzt. Umgekehrt redet er von einem Tod, der nicht erst da ist, wenn wir einmal sterben, sondern der uns umfängt und in seinen Klauen gefangenhalten kann schon „mitten im Leben“.

Wer das Wort Jesu hört, wer auf Gott vertraut, der hat in diesem Leben schon ewiges Leben. Das begreifen wir nur, wenn wir jedes einzelne Wort dieses Satzes sozusagen neu buchstabieren: Schon das Wort „Wort“ meint nicht einfach dahingesagte Worte, Schall und Rauch, sondern ein bestimmtes Wort: Gottes tatkräftige Zuwendung zu uns Menschen. Er sagt Ja zu uns, sein Wort ist Liebe, Trost, Wegweisung, Ermutigung in einem. Dieses Wort schafft Gottvertrauen, indem wir uns darauf einlassen, dass wir geliebt sind von diesem Gott, den Jesus uns nahebringt in eben seinem Wort.

Wenn wir das verstanden haben, dass wir als von Gott geliebte Menschen im Vertrauen auf Gott leben können, begreifen wir auch das Wort „ewig“. Es ist kein Zeitbegriff, meint keine Zeitlinie, die ins Unendliche verlängert wird, sondern ewig meint erfülltes Leben, von Sinn und Glück erfüllt, unzerstörbar, nicht der Vergänglichkeit unterworfen.

Ein so erfülltes Leben kann nicht scheitern, sagt Jesus, es kommt nicht in die Krise, geht nicht zugrunde, wird nicht gerichtet im Sinne von vernichtet. Wer im Vertrauen auf Gottes Liebe lebt, ist bereits durch den Tod hindurchgegangen, nämlich durch den Tod, den es bedeuten würde, ohne Gott leben zu müssen.

Auch beim nächsten Satz, den Jesus sagt, empfiehlt es sich, genau hinzuhören:

25 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben.

Noch deutlicher als eben betont Jesus, dass das, was er verkündet, schon jetzt geschieht. Zugleich aber spricht er von einer Stunde, die kommt. Was denn nun? Geht es um die Gegenwart hier im Leben oder um das Schicksal derer, die im Tode aus diesem Leben geschieden sind Ich denke, es geht es um beides. Wie wir mit dem Tod und mit der Trauer um unsere Verstorbenen umgehen, das hängt eng mit der Art zusammen, wie wir unser Leben hier auf der Erde führen. Man kann mitten im Leben tot sein, wenn man innerlich zerrissen ist und im Unfrieden mit sich und Gott und der Welt lebt. Die Bibel nennt ein solches Leben ein Leben in Sünde: wenn man das Ziel verfehlt, ein liebevolles Leben zu führen, in der Verantwortung vor Gott. Ein Wunder ist es, wenn ein solcher lebendig Toter, der auf der Flucht ist vor sich selbst und vor Gott, endlich doch die Stimme des Sohnes Gottes hört, Worte der Liebe an sich heranlässt, wenn die coole Fassade anfängt zu bröckeln und darunter ein Mensch zum Vorschein kommt, der fühlen, lieben und erst so wirklich – leben kann.

Ich unterbreche die Predigt, und wir singen aus dem Lied 518 die 1. und 3. Strophe:

1. Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen. Wer ist, der uns Hilfe bringt, dass wir Gnad erlangen? Das bist du, Herr, alleine. Uns reuet unsre Missetat, die dich, Herr, erzürnet hat. Heiliger Herre Gott, heiliger starker Gott, heiliger barmherziger Heiland, du ewiger Gott: lass uns nicht versinken in des bittern Todes Not. Kyrieleison.

3. Mitten in der Hölle Angst unsre Sünd‘ uns treiben. Wo solln wir denn fliehen hin, da wir mögen bleiben? Zu dir, Herr Christ, alleine. Vergossen ist dein teures Blut, das g’nug für die Sünde tut. Heiliger Herre Gott, heiliger starker Gott, heiliger barmherziger Heiland, du ewiger Gott: lass uns nicht entfallen von des rechten Glaubens Trost. Kyrieleison.

Liebe Gemeinde, Gott will uns nicht im Tod versinken lassen. Nicht im Tod, der uns mitten im Leben droht, und nicht im Tod, den wir alle in unserem Sterben erleiden werden. Unsere Zuflucht angesichts des Todes ist Jesus selbst, denn er ist in der Lage, uns Leben zu geben, wahres, erfülltes, ewiges Leben. Aber wie kann einer, der ein Mensch ist wie wir, das tun? Jesus selber antwortet so auf diese Frage:

26 Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber.

Menschen haben ihr Leben nicht in sich selber. Nur Gott. Wir Menschen sind seine Geschöpfe. Wir leben, weil Gott uns etwas von seinem Leben schenkt. Das ist der tiefe Sinn der Geschichte von Adam im Paradies: Ohne Gottes Atem wären wir nichts als ein Klumpen Lehm, ohne Gottes Leben wären wir tot, ohne Gottes Liebe wäre unser Leben ohne wirkliche Erfüllung.

Wie gesagt, Jesus ist ein Mensch wie wir. Aber ihm, diesem einen Menschen, hat Gott die besondere Gabe und Aufgabe zugewiesen, das Leben in sich selber zu haben und weiterverschenken zu können. Ich stelle mir das so vor: Jesus ist vollkommen vom Geist der Liebe Gottes erfüllt, und so lebt er, wie Adam hätte leben sollen, nicht im Misstrauen und Missachtung gegenüber Gottes Güte und Wegweisung, sondern im Vertrauen auf Gott, sogar wenn er dieses Vertrauen im Angesicht von Todesangst und Folterqualen durchhalten muss. Das ist gemeint mit der rätselhaften Vorstellung, dass Jesus sein Blut für uns vergießt: Jesus als Sohn Gottes lebt uns vor, dass die Liebe Gottes allmächtig ist. Was Menschen einander Böses antun und ihm am Kreuz antaten, ist nicht stärker als seine Liebe.

In gewisser Weise kann man Liebe und Leben gleichsetzen. Nur wo Liebe gelebt wird, wird wirklich gelebt. Und darum kann Jesus auch von sich selber sagen, dass er wie der Vater im Himmel das Leben hat in sich selber.

Daraus folgt ein weiterer Satz, der wieder rätselhaft klingt:

27 Und der Vater hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist.

Sind Sie verwirrt? Erst nennt Jesus sich den Sohn Gottes, jetzt sagt er, er sei der Menschensohn. Das Wort Menschensohn haben wir vorhin in der Schriftlesung schon einmal gehört. Da hieß es im Buch Daniel 7, 13-14:

13 Ich schaute eine Vision in dieser Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht.

14 Der gab ihm Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.

Daniel war ein Prophet gewesen, genauer gesagt, ein Apokalyptiker, ein Prophet, der auf das Ende dieser Welt hoffte, damit endlich das Leiden des Volkes Israel beendet und zum Guten gewendet werden sollte. Daniel blickte zurück auf die lange Leidensgeschichte des Volkes Israel unter der Fremdherrschaft vieler grausamer Tyrannen, von den Assyrern über Babylonier, Perser und Griechen, und all die bestialisch herrschenden Tyrannen auf ihren Königsthronen erschienen ihm seinen Visionen in der Gestalt von Tieren: Löwe, Bär, Panther, bis hin zu einem furchtbaren Tier mit Eisenzähnen. Dennoch blickte Daniel hoffnungsvoll in die Zukunft: Am Ende der Zeit wird ein Herrscher kommen, „wie eines Menschen Sohn“. Dem wird alle Macht anvertraut, für immer und ewig. Es ist endlich einer wie ein Mensch, dem das Schicksal der Menschen anvertraut sein soll, ein menschlicher Herrscher, der Gerechtigkeit und Frieden bringt. Diese Vision Daniels ist nun erfüllt, sagt Jesus. Er selbst ist der Menschensohn, auf den das Volk Israel seit der Zeit Daniels gehofft hatte.

Einen Haken schienen aber diese Worte Jesu zu haben: In Wirklichkeit herrschte zu seiner Zeit ja wieder eine Weltmacht mit eiserner Faust über kleine Leute und kleine Völker wie Israel. Was hatte er als schlichter Wanderprediger dem römischen Weltreich entgegenzusetzen? Wir wissen, dass ihm in der Hauptstadt Israels unmittelbar sein Tod bevorstand. Tatsächlich bestieg Jesus dann ja auch weder den Thron des Königs von Israel noch entmachtete er den Kaiser von Rom. Stattdessen erlitt er den Tod am Kreuz.

Christi Abstieg ins Totenreich (Fensterbild in der Friedhofskapelle Gießen)
Christi Abstieg ins Totenreich (mittleres Fensterbild in der Friedhofskapelle Gießen)

Trotzdem gilt das Wort Jesu: Nicht in den Händen der Gewaltherrscher liegt die letzte Entscheidungsgewalt über die Menschen. Einer wie ein Mensch, ein Menschensohn, das Menschenkind Jesus ist der Weltenrichter. Ihm ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden, wie es im anderen Evangelium nach Matthäus im letzten Kapitel heißt. Und diese Gewalt können wir auch die Allmacht der Liebe nennen. Diese Macht hat Gott Jesus endgültig verliehen, als er ihn aus dem Tod erweckte. Jesus ist der Menschensohn, der sterben muss und auferstehen darf. Und dieser Menschensohn lässt nun seine Stimme auch diejenigen hören, die schon gestorben sind:

28 Wundert euch darüber nicht. Denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden.

„Wundert euch nicht“, sagt Jesus, obwohl doch gerade dies zum Staunen und Verwundern ist. Menschen, die in einem Grab bestattet sind, sollen seine Stimme hören können? Sie haben doch keine Ohren mehr. Ja, von den Toten, die schon jahrhundertelang tot sind, ist gar keine Spur mehr im Grab zu finden.

Aber gemeint ist etwas anderes. Als Jesus selber stirbt, geht auch er an den Ort, wohin alle Toten gehen, und so ist seine Stimme hörbar für die Gestorbenen. Auf dem Altarfenster in der Friedhofskapelle oben am Rodtberg hier in Gießen ist diese Szene dargestellt: Jesus, hinabgestiegen in das Reich des Todes, streckt seine Hand aus, um die Toten mit sich ans Licht zu holen, wenn er aufersteht, um im Frieden mit Gott im Himmel zu leben.

Noch etwas anderes schwingt mit in dem Satz, wie er im griechischen Text formuliert ist. Man könnte ihn auch so übersetzen: „Verhöhnt dies nicht, dass eine Stunde kommt, in der alle Toten seine Stimme hören werden.“ Angeredet sind hier Menschen, die sich spöttisch wundern über die Auferstehung, die sie für unmöglich halten. Den Menschen, die so zweifeln, hält Jesus vor, dass sie den Glauben an die Gerechtigkeit aufgeben. Gäbe es keine Auferstehung, dürften Täter ewig über ihre Opfer triumphieren. Aber Jesus betont ausdrücklich:

29 Die in den Gräbern werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.

Auch dieser Satz ist ein Zitat des Propheten Daniel. In einer Zeit, in der im Volk Israel das Unrecht überhand nahm und gute Menschen reihenweise getötet wurden, hielt der Prophet daran fest, dass die Gewalttäter nicht das letzte Wort behalten würden (Daniel 12):

2 Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande.

Gott vergisst nicht, was Menschen einander antun und wie sie füreinander da sind. Für die Opfer von Gewalt gibt es ein Aufwachen zum Leben, aber auch die Unbarmherzigen unter den Menschen haben ein Erwachen zu erwarten: Ihnen droht ein böses Erwachen, die Auferstehung zum Gericht. Wie dieses Gericht letzten Endes aussieht, wissen wir nicht. Menschen malen es sich normalerweise so grausam aus, wie wir uns in Rachephantasien das Schicksal böser Menschen eben ausmalen. Gott weiß vielleicht andere Wege, um wahrhaft bösen Menschen vor Augen zu führen, was sie mit ihren Taten wirklich angerichtet haben. Es ist gut, dass dieses Gericht dem Menschensohn Jesus und nicht uns anderen Menschen übertragen worden ist.

Leben werden auf jeden Fall, „die Gutes getan haben“. Was ist damit gemeint? Werden damit alle verurteilt, die nicht ganz perfekt sind? Muss jeder um sein ewiges Leben zittern, der weiß, wie viele Gebote er schon übertreten hat und wie oft er egoistischen Wünschen nachgegeben hat? Erinnern wir uns an das, was Jesus am Anfang gesagt hat:

24 Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.

Wir müssen nicht perfekt sein, aber wir dürfen auf liebevolle Worte hören, die uns auf den richtigen Weg bringen, immer wieder neu. Wir dürfen dem glauben, der Jesus zu uns auf die Erde geschickt hat, das heißt, wir dürfen Vertrauen haben, dass Gott gut ist und wir geliebt sind und uns zutraut, gute Wege zu gehen. Und ich bin zuversichtlich, dass jeder Mensch, der gestorben ist und von dem wir in Liebe Abschied nehmen, auch in der Ewigkeit von Gottes Liebe umfangen bleibt. Denn wie der Apostel Paulus sagt (1. Korinther 13, 13):

Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.

Als Lied nach der Predigt hören wir vom Gaudete-Quartett ein gesungenes Gebet um den Frieden, der hier auf Erden beginnt und den wir ebenso auch für unsere Verstorbenen im Himmel erbitten. Wir beten mit Texten der Zuversicht des kirchlichen Liederdichters Lothar Zenetti:

Herr, mache deine Kirche zum Werkzeug deines Friedens

Zum Fürbittengebet bitte ich Sie nach Möglichkeit aufzustehen.

Barmherziger Gott, Vater des Menschensohnes Jesus Christus, am Ewigkeitssonntag gedenken wir unserer Toten; sie leben bei dir. Wir beten für die, an die wir mit Dankbarkeit und mit Trauer denken. Wir beten auch für alle, die keine Freunde und Angehörigen haben und an die niemand denkt außer dir. Wir beten für Menschen, denen wir für unser Leben viel verdanken. Wir vertrauen darauf, dass du uns in unserem ganzen Leben begleitest und auch in Leid und Tod bei uns bist.

Wir beten für Menschen, die sich selber töten. Hilf denen, die um sie trauern, dass sie bewältigen, was unerträglich ist. Wir beten für Menschen, die unter Suizidgedanken leiden. Lass sie ihr Vorhaben überdenken und Menschen finden, denen sie sich anvertrauen können in ihren seelischen Qualen, bevor sie an ihrer Verzweiflung zugrunde gehen.

Wir beten für Menschen, die aus Angst oder Selbsthass andere mit Gewalt bedrohen; lass sie zur Einsicht kommen und lenke ihre Schritte auf den richtigen Weg. Wir beten für alle, denen Gewalt angetan wird. Lass sie Hilfe finden für ihre körperlichen und seelischen Wunden und lass sie neues Vertrauen finden, zu dir, zu vertrauenswürdigen Menschen, zu sich selbst.

Auch für uns selber bitten wir, heute in der Pauluskirche. Manchmal brauchen wir mehr Mut, um unsere Gefühle zuzulassen und den Weg der Trauer bewusst zu gehen. Hilf uns, die Menschen, um die wir trauern, in dankbarer Erinnerung zu bewahren und zugleich das loszulassen, was uns selber daran hindert, getrost und erfüllt zu leben. Schenke uns das Vertrauen, dass unsere geliebten Verstorbenen in deiner ewigen Liebe gut aufgehoben sind.

In der Stille bringen wir vor dich, Gott, was wir ganz persönlich auf dem Herzen haben:

Gebetsstille und Vater unser

Wir singen zum Schluss das Lied 533 (zur Melodie „Christus, der ist mein Leben“):

Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand
Abkündigungen

Und nun geht mit Gottes Segen – wer möchte, ist im Anschluss herzlich zum Kirchencafé im Gemeindesaal eingeladen.

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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