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Christliches Heil für alle Völker oder weltweite Befreiung?

Johannes Beutler vertritt die unter Christen übliche Auffassung, dass Jesus nach dem Johannesevangelium das ewige Heil im Himmel für alle Völker bewirkt hat. Unter Berufung auf Ton Veerkamp ziehe ich in Erwägung, dass der Messias Jesus durch seinen Tod am Kreuz stattdessen Israels Versklavung unter diese Weltordnung überwindet. Sein Ziel ist also Befreiung auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes! <1>

Ein geschundener, zerfleischter Jesus an einer schlichten gemauerten Wand wie am Kreuz ausgestreckt
Welches Heil, welche Befreiung, erreicht der geschundene Jesus, erhöht ans römische Kreuz? (Bild: Hands off my tags! Michael Gaida auf Pixabay)

Inhaltsverzeichnis

1. Die Worte „Welt“ und „Heil“ im Johannesevangelium

2. Inwiefern wird Jesus „Fleisch“ zum Heil der Welt?

2.1 Wer sind die „Seinen“ des Messias: Das Volk Israel oder alle Weltbürger?

2.2 Wie stellt sich Johannes die Rettung der Welt vor, die Gott entgegensteht?

2.3 Inwiefern kommt das Heil von den Juden und ist Jesus der Retter der Welt?

3. Welche Bedeutung hat Jesu Erhöhung zum Vater für das Heil der Welt?

3.1 Bezieht sich die Sammlung der versprengten Gotteskinder auf alle Völker?

3.2 Führt Jesus als der gute Hirte ganz Israel in einer Herde zusammen oder auch die gesamte Völkerwelt?

3.3 Ist mit den Griechen, die Jesus sehen wollen, die ganze Menschheit auf dem Weg, sich Jesus anzuschließen?

3.4 Der erhöhte Messias Jesus wird „alle“ zu sich ziehen – wer ist damit gemeint?

3.5 In welcher Weise existiert Jesus als „Fleisch für das Leben der Welt“?

4. Überwindet nur der Glaube an Jesus die „Gottferne“ von Juden und aller Welt?

5. Ist vom Johannesevangelium her ein christliches Gespräch mit den Weltreligionen vorstellbar?

Anmerkungen

↑ 1. Die Worte „Welt“ und „Heil“ im Johannesevangelium

Was meint Johannes Beutler mit dem Wort „Heilsuniversalismus“ im Untertitel seines Aufsatzes: „So sehr hat Gott die Welt geliebt (Joh 3,15)“? <2> Es geht ihm (263) um die „Überzeugung von der Berufung aller Menschen zum Heil“, an der unter Christen „heute selten gezweifelt“ wird, auch wenn „Milliarden von Menschen dieses Heil nicht im Rahmen eines christlichen Bekenntnisses finden“. Aber „nicht alle Aussagen des Neuen Testaments“ stützen „diese Glaubenszuversicht“ so eindeutig wie die „der Aussage des Ersten Timotheusbriefes: ‚(Gott) will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen‘ (2,4)“.

Damit ist jedoch nicht geklärt, was das Wort „Heil“ eigentlich konkret bedeutet. Beutler scheint davon auszugehen, dass der Meinung „heutiger Christen“ zufolge alle Menschen gleich welcher Religion oder Weltanschauung in irgendeiner Weise „gerettet“ werden. Aber wovor gerettet? Vor der ewigen Verdammnis? Vor der Sinnlosigkeit ihres irdischen Lebens? Spätere Aussagen in seinem Aufsatz legen nahe, das er an das „Heil“ der persönlichen religiösen Gemeinschaft mit Gott und des ewigen Lebens nach dem Tod bei Gott im Himmel denkt. So kann (264), wer „in der Sünde lebt und stirbt, … das Heil nicht finden“ und nicht „dorthin … gelangen, wohin Jesus geht, nämlich zum Vater.“ Wem dagegen (273) die „Möglichkeit des Glaubens … von Gott geschenkt“ wird, der kann „aus dem Bereich der Gottferne in die Gemeinschaft mit Gott geführt“ werden.

Gibt es (263) „ein Heilsangebot für alle Menschen“ auch im Johannesevangelium? Das ist nach Beutler „nicht ganz so leicht positiv zu beantworten“ wie bei „anderen Schriften“ des Neuen Testaments. Interessant ist seine Gegenüberstellung der Evangelien des Matthäus und des Johannes:

Man mag beim Matthäusevangelium vielleicht zweifeln, ob hier das Heil vielleicht nicht doch an den jüdischen Lebensweg, an Gesetz und Beschneidung, gebunden bleibt (vgl. Mt 5,17-19). Beim Johannesevangelium besteht eher die umgekehrte Schwierigkeit. Es ist von einem scheinbar unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dem Bereich der Glaubenden, die das Heil finden, und den Widersachern Jesu und des Glaubens gekennzeichnet. Als Repräsentanten dieses Bereichs erscheinen fast durchgehend innerhalb des Vierten Evangeliums die „Juden“. Sie sind die Vertreter der ungläubigen „Welt“ schlechthin, die das Heil nicht finden kann.

Mit Anführungszeichen deutet Beutler an, dass näher erläutert werden müsste, in welchem Sinn das Johannesevangelium von den „Juden“ und von der „Welt“ spricht. Eine solche Erklärung bleibt Beutler allerdings schuldig, so dass, wer den Text unbefangen liest, den Schluss ziehen muss, dass nach Johannes Juden, die nicht an Jesus glauben können oder wollen, vom Heil ausgeschlossen bleiben.

Zur Begründung für seine Identifikation der „Juden“ mit der ungläubigen „Welt“ führt Beutler die Stelle Johannes 8,21-24 an, wo Jesus zu den Juden sagt (263f.):

„Ich gehe fort, und ihr werdet mich suchen, und ihr werdet in eurer Sünde sterben. Wohin ich gehe, dorthin könnt ihr nicht gelangen. Da sagten die Juden: Will er sich etwa umbringen? Warum sagt er sonst: Wohin ich gehe, dorthin könnt ihr nicht gelangen? Er sagte zu ihnen: Ihr stammt von unten, ich stamme von oben; ihr seid aus dieser Welt, ich bin nicht aus dieser Welt. Ich habe euch gesagt: Ihr werdet in euren Sünden sterben; denn wenn ihr nicht glaubt, daß Ich es bin, werdet ihr in euren Sünden sterben.“ Die „Juden“ erscheinen hier klar als die Repräsentanten der ungläubigen „Welt“, die als solche in der Sünde lebt und stirbt, d. h. das Heil nicht finden kann; die unfähig ist, dorthin zu gelangen, wohin Jesus geht, nämlich zum Vater.

Beutler klärt allerdings immer noch nicht die Begrifflichkeiten; nach wie vor bleiben die „Juden“ und die „Welt“ in ihren Anführungszeichen zwar gleichgesetzt, aber in ihrer Identität nicht konkret erkennbar. In den nächsten Sätzen nimmt Beutler wenigstens den Bereich der „Welt“ genauer in Augenschein (264):

Die Gegenspieler Jesu stehen dabei nicht erst durch ihre freie Entscheidung, sondern vorgängig zu dieser bereits im Bereich des Niederen, Gottfernen, des „Unten“, aus dem sie sich nicht aus eigener Kraft befreien können. Freilich gibt es doch einen Weg aus diesem Bereich hinaus. Er ist durch das Geschenk des Glaubens gegeben – des Glaubens, daß Jesus der vom Vater gesandte „Sohn“, ja Gott selber ist (wie die Anspielung auf die alttestamentliche Offenbarungsformel „Ich bin es“ andeutet).

„Welt“ wird definiert als grundsätzliche Gottesferne, aus der niemand heraus kann außer im Glauben, dass Jesus selber Gott ist. Grundsätzlich scheint also das, was Beutler als „Heil“ versteht, im Gegensatz zur „Welt“ zu stehen und an die Bedingung eines bestimmten Glaubens an Jesus geknüpft zu sein. Damit bleibt es beim Ausschluss der Juden vom Heil, insofern sie einen solchen Glauben nicht teilen können.

Was wäre nun, wenn man die Stichworte „Welt“ und „Heil“ und damit auch die Bedeutung der im Johannesevangelium Jesus feindlich gegenüberstehenden „Juden“ ganz anders begreift als Johannes Beutler? Ton Veerkamp <3> geht in seiner befreiungstheologischen Auslegung des Johannesevangeliums davon aus, dass sich der so genannte johanneische Dualismus weder auf einen überweltlichen Gegensatz zwischen Diesseits und Jenseits bezieht noch auf die Abgrenzung der neuen Religion des Christentums gegenüber dem Judentum. Vielmehr setzt sich der tief in den jüdischen heiligen Schriften verwurzelte Evangelist als messianischer Jude mit dem nach dem Jüdischen Krieg entstehenden rabbinischen Judentum auseinander, dem er vorwirft, sich in einer Nische des Römischen Weltreichs mit den Privilegien einer religio licita, einer erlaubten Religion, bequem einzurichten, statt im Vertrauen auf den Messias Jesus und in der Praxis der von ihm geforderten solidarischen Liebe (agapē) die Überwindung dieser herrschenden Weltordnung (kosmos) tätig zu erwarten.

Unter diesen Voraussetzungen hat das Wort kosmos, „Welt“, eine doppelte Bedeutung. Die von Gott gut geschaffene Welt ist unter der Gewaltherrschaft des Römischen Imperiums in ein neues Ägypten, ein diesmal weltumspannendes Sklavenhaus, verwandelt worden. Rom selbst bezeichnet seine Herrschaft als kosmos, wörtlich „Schmuck“, wohlgeordnete „Weltordnung“. In jüdischen Augen ist „diese Welt“, houtos kosmos, hebräisch ˁolam ha-se, der Inbegriff der von Unterdrückung, Ausbeutung und Verdorbenheit durchsetzten Gegenwart, dem die Propheten Gottes die Verheißung des ˁolam ha-baˀ, der kommenden Weltzeit des Friedens für Israel inmitten der Völker auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes entgegengesetzt haben.

Die „Juden“ sind dementsprechend nicht allgemein als Vertreter ihrer Religion, indem sie nicht an Jesus glauben, Repräsentanten einer ungläubigen „Welt“, sondern der Evangelist nimmt mit ihnen die jüdische Führung in den Blick, die in Gestalt der Priesterschaft zur Zeit Jesu mit der römischen Weltordnung kollaboriert und sich so dem Kaiser als dem Widersacher (diabolos, ßatan) des Gottes Israels und seines Mesias Jesus unterwirft, und die in Gestalt des rabbinischen Judentums die Messianität Jesu bestreitet und seinen Nachfolgern den Schutz der synagogalen Gemeinschaft entzieht.

Das Wort „Heil“ entpuppt sich auf diesem Hintergrund als missverständliche Übersetzung des griechischen Wortes sōtēria, denn von den jüdischen Schriften her bezieht es sich auf die „Befreiung“, hebräisch jɘschuˁah, des Volkes Israel aus Versklavung und Verbannung, Unterdrückung und Ausbeutung. Nach Veerkamp ist Jesus, dessen Name buchstäblich genau diesem hebräischen Wort entspricht, in diesem diesseitigen Sinne als sōtēr zu begreifen, also als Befreier der Welt von der Weltordnung, die auf ihr lastet. Es ist keineswegs ausgemacht, dass bereits Paulus und die Evangelisten einschließlich des Johannes die von den Propheten erwartete Befreiung Israels inmitten der Völker auf dieser Erde in Richtung auf eine Befreiung von Sünde und Verdammnis in einer jenseitigen Welt umgedeutet hätten.

Zurück zu Beutler. Er spricht zwar von einer Anspielung auf den biblischen Gottesnamen und schließt von daher allzu kurzschlüssig auf das spätere christliche Dogma, dass Jesus „Gott selber ist“, lässt aber außer Acht, welche klar umrissene Zielsetzung die Offenbarung dieses NAMENS enthält, nämlich dass der Gott Israels nicht anders als der Befreier aus versklavenden Verhältnissen zu begreifen ist. <4>

Damit sind (264), nachdem Beutler auf „die wesentlichen Koordinaten des allgemeinen Heilswillens im Johannesevangelium“ hingewiesen hat, wie er sie voraussetzt, auch meine Ausgangspunkte benannt, von denen aus ich Beutlers Frage nach dem Heilsuniversalismus im Johannesevangelium eingehend prüfen möchte.

↑ 2. Inwiefern wird Jesus „Fleisch“ zum Heil der Welt?

Sein konkretes Vorgehen beschreibt Beutler folgendermaßen:

Im einzelnen läßt sich eine doppelte Linie unterscheiden, wie sich die Aussagen des Vierten Evangeliums zur Heilsmöglichkeit aller Menschen zusammenfassen und verstehen lassen. Zum einen gibt es eine inkarnatorische Linie, die das „Kommen“ oder die „Sendung“ Jesu zum Heil aller Menschen ausdrückt, zum andern eine eschatologische, die die „Stunde“ der „Erhöhung“ und „Verherrlichung“ Jesu als Zeitpunkt und innere Ermöglichung des universalen Heils begreift.

Von den eben angestellten Überlegungen her muss daher auch geprüft werden, in welcher Weise Johannes als ein jüdisch denkender Nachfolger des Messias Jesus in diesen beiden Linien hat denken können. Davon, dass er die durch Jesu „Erhöhung“ ans Kreuz herbeigeführte Endzeit, die von Theologen als das eschaton, „das Letzte“, bezeichnet wird, gewiss noch nicht jenseitig, sondern diesseitig verstanden hat, war schon die Rede und wird später im Abschnitt 3 weiter die Rede sein. Aber wie stellt er sich „Inkarnation“, also „Fleischwerdung“, vor? Sicher noch nicht wie die spätere christliche Dogmatik im Sinne einer Wesensidentität mit Gott, einer „Vergöttlichung Jesu“. Vielmehr ist das „Wort des Gottes Israels … ‚jüdisches Fleisch‘ geworden“, wie Klaus Wengst <5> sagt. Als genau dieser konkrete jüdische Mann verkörpert er das befreiende Wollen und Wirken des Gottes Israels unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen. Nach Ton Veerkamp <6> wurde das Wort

zu einem ganz bestimmten Juden, der in den konkreten politischen Auseinandersetzungen seines Volkes eine ganz bestimmte Stellung eingenommen hatte, eine Stellung, die ihn in einen tödlichen Gegensatz zu den Eliten seines Volkes und zu Rom als Besatzungsmacht brachte. Gerade bei Johannes ist der Messias als dieser konkrete Mensch leidenschaftlich Partei in diesen Auseinandersetzungen.

↑ 2.1 Wer sind die „Seinen“ des Messias: Das Volk Israel oder alle Weltbürger?

Nach Beutler (264) ist bereits im Prolog des Johannesevangelium „von einem Kommen des Logos oder Christi in die Welt zum Heil der Menschen“ die Rede. Zwar ist in den Versen 1,5.9-12 von seiner „Ablehnung“ die Rede, dann aber (265) in 1.14.16-18 doch von seiner „Aufnahme“ durch diejenigen, die „an den Namen Jesu“ glauben.

Die folgenden Sätze beschäftigen mich sehr, da sie einen nicht ganz klaren Blick auf die Art und Weise der Erwählung des biblischen Gottesvolkes Israel verraten:

Eine Einschränkung der Heilsmöglichkeit auf die Angehörigen einer bestimmten religiösen oder ethnischen Gruppe wird im Prolog nicht erkennbar. So wie nach V. 4 der Logos ganz einfachhin „das Licht der Menschen“ ist, so kommt er nach V. 10 „in die Welt“, und die „Seinen“, von denen in V. 11 die Rede ist, dürften einfach die Bewohner der durch ihn geschaffenen Welt, seines „Eigentums“, sein. Ein besonderer Bezug auf Israel wird hier noch nicht erkennbar. Von ihm ist erst in den Gegenüberstellungen von V. 17f die Rede.

Problematisch finde ich zunächst, dass Beutler mit der Verneinung einer „Einschränkung der Heilsmöglichkeit auf die Angehörigen einer bestimmten religiösen oder ethnischen Gruppe“ im Johannesevangelium vorauszusetzen scheint, dass im Gegensatz dazu eine solche Einschränkung im Alten Testament durchaus gegeben ist. In der jüdischen Bibel ist aber nicht ein religiös verstandenes „Heil“ auf Israel als „ethnische Gruppe“ beschränkt. <7> Vielmehr erwählt Gott Israel aus Liebe (5. Buch Mose 7,7-8) als das kleinste unter allen Völkern und setzt seine ganze Ehre, kavod, doxa, ein, um Israels „Befreiung“ aus Unterdrückung und Ausbeutung zu bewirken.

Außerdem bestätigt Beutler, gerade indem er den „Bezug auf Israel“ für die Rede vom Kommen des Wortes in das Eigene, ta idia, und von der Ablehnung durch die Eigenen, hoi idioi, zurückweist, dass auch diese Auslegung zumindest möglich, wenn nicht sogar am naheliegendsten ist. Auch am Anfang des 1. Buches Mose, auf den Johannes 1,1 unübersehbar anspielt, wird ja nacheinander von der Schöpfung Adams, also der Menschheit, und vom Werden Israels inmitten der Völker erzählt.

Gleichwohl verweist Beutler zu Recht darauf, dass nach Johannes 1,12-13 die durch das Vertrauen auf den Namen Jesu vermittelte Gotteskindschaft „nicht die Frucht von Fleisch und Blut“ ist. Damit könnte Johannes ähnlich wie Paulus (Galater 3,7; vgl. auch Matthäus 3,9 und Lukas 3,8) andeuten wollen, dass die Zugehörigkeit zum Volk Gottes letztes Endes auf Gottvertrauen beruht. Und da dieses Vertrauen Johannes zufolge nach dem Kommen des Messias Jesus an das Vertrauen auf seinen Namen gebunden ist, ist es um so bestürzender, dass gerade hoi idioi, die Angehörigen des erwählten Volkes, diesen Messias ablehnen. Auf die bereits erwähnte innerjüdische politische Brisanz dieses Gegensatzes zwischen messianischen und rabbinischen Juden geht Beutler allerdings nicht ein. Stattdessen diskutiert er christlich- dogmatische Folgerungen aus dem johanneischen Prolog:

Nicht die Herkunft des Menschen bestimmt also seine Heilsmöglichkeit in Christus, sondern allein das Geschenk des Glaubens. Dabei bleibt freilich eine Polarität erhalten: nach V. 13 wird die Gotteskindschaft denen verheißen, die an Jesus glauben. An Jesus glauben auf der anderen Seite diejenigen, die aus Gott gezeugt sind. Über ein solches zirkuläres Verhältnis führt das Johannesevangelium letztlich nicht hinaus. Vielleicht kann man hier ein Vorspiel des Streites um das Verhältnis von Gnade und Freiheit erkennen. Der Vierte Evangelist löst das Problem der Prädestination nicht logisch, sondern durch Gegenüberstellung komplementärer Aussagen. In ihrer Polarität werden sie dem Zugleich von Gnade und Freiheit gerecht.

Der Ausblick auf spätere dogmatische Diskussionen im Christentum verstellt hier den unmittelbaren Blick darauf, dass völlig im Unklaren bleibt, was Johannes eigentlich mit dem Wort pisteuein, „glauben“ oder „vertrauen“, meint, wenn er es auf die Beziehung zu Jesus anwendet. Geht es um den Glauben an Jesus als den Sohn Gottes, der mir den Zugang zum ewigen himmlischen Heil verschafft? Oder ist Johannes der Überzeugung, dass nur im Vertrauen auf den Messias Jesus die herrschende Weltordnung von Unterdrückung und Ausbeutung überwunden wird und die kommende Weltzeit von Freiheit, Recht und Frieden anbrechen kann?

↑ 2.2 Wie stellt sich Johannes die Rettung der Welt vor, die Gott entgegensteht?

Als zweiten „Text des Johannesevangeliums, der vom Angebot des Heils für alle Menschen spricht“, geht Beutler auf Johannes 3,16 ein, dem er den Titel seines Aufsatzes entnommen hat:

„Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.“ Innerhalb des Johannesevangeliums steht diese Aussage einzig da. Sie erstaunt deswegen, weil sich durch das gesamte Evangelium der bereits eingangs erwähnte Gegensatz zwischen Gott und der „Welt“ als dem Raum und Inbegriff der widergöttlichen Mächte zu ziehen scheint.

Letzten Endes scheint Beutler den Widerspruch zwischen der „Welt“, die den Jüngern, Jesus und Gott mit Hass entgegensteht, der aber dennoch (266) „selbst im Gebet von Joh 17 noch eine Heilsmöglichkeit“ offensteht, als ziemlich rätselhaft zu empfinden. Ihm zufolge muss man

zwischen der „Welt“ im weiteren Sinne als Raum der Sendung Jesu und der Jünger und im engeren Sinne als Inbegriff der Ablehnung Jesu durch den Unglauben unterscheiden. Nur die letztere hat keine Heilsmöglichkeit mehr.

Aber stellt Beutler damit nicht von christlichen Vorstellungen her zwei Weltbegriffe einander gegenüber, die den johanneischen Voraussetzungen kaum schon entsprochen haben? Unterscheidet man zwischen der Welt als dem Lebensraum der Menschen, der von Gott (durch sein Wort) gut geschaffen wurde, und dem kosmos als der herrschenden Weltordnung, durch die dieser Lebensraum tiefgreifend in Unordnung gebracht, wenn nicht zerstört wurde, dann wird verständlich, dass Gott mit dem kosmos im ersteren Sinn solidarisch sein kann, um ihn vom kosmos im letzteren Sinn, der auf dem ersteren lastet, zu befreien. Nach Beutler dagegen geht es Johannes nicht um diesseitiges Leben der kommenden Weltzeit, sondern um religiös verstandenes ewiges Leben jenseits dieser Welt. Ganz gleich, ob man „die ‚Gabe‘ des ‚einzigen‘ Sohnes durch Gott“ auf seine „Hingabe in den Tod“ hin interpretiert oder „von seiner Sendung in die Welt her definiert“,

auf jeden Fall erscheint von der göttlichen Liebe zunächst niemand ausgegrenzt. Allein der Glaube entscheidet darüber, ob der Mensch das „ewige Leben“ findet oder zugrundegeht.

Da der letztere Satz entgegen dem ersteren eine massive Ausgrenzung formuliert, ist von entscheidender Bedeutung, wie er zu begreifen ist. Ist mit dem „Glauben“ das Vertrauen auf den befreienden NAMEN des Gottes Israels und seines Messias Jesus gemeint, dann verwirklicht sich dieses in der tätigen Erwartung der kommenden Weltzeit, wer sich hingegen diesem Vertrauen auf den NAMEN und der daraus folgenden Praxis der agapē verweigert, bleibt den tödlichen Machenschaften dieser Weltordnung verhaftet und „stirbt in seinen Sünden“, die als Verstrickung in widergöttliches Unrecht und als Abirrung von der Tora der Freiheit und des Rechts zu begreifen sind. Die von Beutler verwendete Formulierung legt aber etwas ganz anderes nahe, nämlich die letzten Endes engstirnige Suche nach einem religiösen Heil, das daran hängt, ob man auf eine ganz bestimmte Weise an den ganz bestimmten Heilsbringer Jesus glaubt.

Bestätigt sieht Beutler seine Auslegung von Johannes 3,16 durch den unmittelbar folgenden Vers Johannes 3,17: „Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird“. Außerdem ist auch in 12,47 „von Jesu Sendung bzw. seinem ‚Kommen‘ zur ‚Rettung‘ der Welt“ bzw. in 5,34 und 10,9 „in Auseinandersetzung mit einer jüdischen Hörerschaft von der Möglichkeit der ‚Rettung‘ durch den Glauben an ihn“ die Rede. Überall an all diesen Stellen muss aber wiederum entschieden werden, ob das Wort sōzein religiös als Rettung oder Erlösung der menschlichen Seele zu verstehen ist (Luther übersetzt: „selig werden“) oder politisch als Befreiung Israels und der gesamten Menschenwelt von der Weltordnung, die auf ihr lastet.

↑ 2.3 Inwiefern kommt das Heil von den Juden und ist Jesus der Retter der Welt?

Weiter betrachtet Beutler (267) zwei Verse im vierten Johanneskapitel, die von „diesen Aussagen abzuheben sind“ und „in denen Jesus vom ‚Heil‘ spricht bzw. als ‚Heiland, Retter‘ bezeichnet wird.“ In seinen Augen wäre es „leichtfertig“, das Wort Johannes 4,22: „Denn das Heil kommt von den Juden“, als nachträglich hinzugefügt zu streichen:

Es gibt aus der Sicht des Evangelisten vermutlich nur die heilsgeschichtliche Tatsache wieder, daß das (in Jesus gekommene) Heil von Israel, ja im engeren Sinne von Juda und Jerusalem seinen Ausgangspunkt nahm, sich die Samaritaner für ihren religiösen Anspruch also nicht auf ihre Tradition berufen können. Freilich führt der Text selbst sofort über diese Perspektive hinaus: in der jetzt angebrochenen eschatologischen Stunde gibt es keinen bevorzugten Ort der Gottesverehrung mehr. Gott will im Geist und in der „Wahrheit“ angebetet werden, und diese ist letztlich in Jesus verkörpert.

Auch hier muss aber wieder gefragt werden, ob Gottes Geist und seine alētheia, „Wahrheit“, konkret als die Treue Gottes zu seinem Volk Israel verstanden wird oder als allgemeine religiöse Wahrheit ohne Bezug zu den Verheißungen der jüdischen Bibel. Es ist zwar richtig, dass es nach dem Jüdischen Krieg für Johannes keinen mit Steinen gebauten Tempel mehr gibt, weder für Samaritaner noch für Judäer, in dem der Gott Israels seinen NAMEN wohnen lässt, sondern dass dieser Ort nunmehr im Leib des Messias, also in der messianischen Gemeinde, als dem in drei Tagen neu errichteten Tempel gesucht werden muss. Aber gerade das Werben Jesu um das Vertrauen der Frau am Jakobsbrunnen, die er seiner Leserschaft als die Repräsentantin der verlorenen zehn Stämme des israelitischen Nordreiches vor Augen stellt, und damit um die Versöhnung der miteinander verfeindeten Schwestervölker der Samaritaner und Judäer, zeigt doch, wie sehr sich Jesus im Johannesevangelium auf die Sammlung ganz Israels konzentriert, statt wie bei Paulus, Lukas oder Matthäus eine generelle Völkermission ins Auge zu fassen.

Im abschließenden Bekenntnis der Samaritaner, Johannes 4,42: „Er ist wirklich der Retter der Welt“, sieht Beutler

die universale Dimension des von Jesus gebrachten Heils unmißverständlich zum Ausdruck gebracht. Die anschließende Reise Jesu nach Galiläa bringt ihm auch dort Aufnahme unter Nicht-Judäern (Joh 4,45). Damit schließt sich ein Kreis, den das zweite Kana-Zeichen (Joh 4,46-54) auch literarisch abschließt: Jesus ist wirklich der Retter aller.

Auf diese Weise erweckt Beutler den Eindruck, Jesus habe mit seiner Reise nach Galiläa, die ihn zunächst durch Samaria führte, die missionarische Absicht verbunden, diese beiden nichtjüdischen Gebiete sozusagen stellvertretend für die gesamte Menschenwelt für den Glauben an sich als den Retter oder Erlöser der Welt zu gewinnen. Außer Acht bleibt dabei, dass sowohl Samaria, wie eben gesagt, als auch Galiläa in den Augen des Johannes auf jeden Fall zu Israel gehören. Galiläa galt zwar aus der Sicht der Führung Judäas als randständige und unbedeutende Provinz, aus der kein Prophet aufsteht (Johannes 7,52), aber die messianische Gemeinde Jesu konstituiert sich gerade hier, was in den beiden Zeichen zu Kana zum Ausdruck gebracht und später in der Speisung der Fünftausend und ganz zum Schluss im wunderbaren Fischfang am See Tiberias bestätigt wird.

Was bedeutet dann aber das Bekenntnis der Samaritaner zu Jesus als dem sōtēr tou kosmou, „Retter der Welt“? Begreift man die fünf Männer, die die samaritanische Frau gehabt hat, <8> nicht als „irgendwelche individuellen Gatten, sondern baˁalim, Herrscher, Könige, vor denen das Volk von Samaria sich verneigen musste, die Könige Assurs und Babels, die Könige Persiens und der Griechen aus dem Süden (Ägypten) und dem Norden (Syrien), die Könige Judäas, ihre Ordnungen, ihre Götter“, und den gegenwärtigen Mann, der auch nicht „ihr Mann“ ist, sondern ein unterdrückender „Baal“ (vgl. Hosea 2,18), als Symbol für die römische Gewaltherrschaft, unter der sowohl Samaritaner als auch Juden leiden, dann muss man Jesus genauer als den „Befreier der Welt“ bezeichnen, denn nur, wenn die gesamte Menschenwelt von der herrschenden Weltordnung befreit wird, die auf ihr lastet, kann auch ganz Israel befreit werden, und zwar ein Israel, das nicht nur aus Judäa und Galiläa besteht, sondern auch aus den verlorenen Stämmen Samarias.

Erst aus dieser Perspektive mag erwogen werden, ob und in welcher Weise Johannes – ähnlich wie Paulus, Lukas und Matthäus – über Israel hinaus auch an nichtjüdische Menschen als Adressaten seiner Botschaft denkt. Im Evangelium selbst geschieht das sehr zurückhaltend, wie wir noch sehen werden.

↑ 3. Welche Bedeutung hat Jesu Erhöhung zum VATER für das Heil der Welt?

Nach der „absteigenden, inkarnatorischen Linie des Heils im Johannesevangelium“ betrachtet Beutler eine ihr entsprechende „aufsteigende, die durch den Heimgang Jesu zum Vater in seiner ‚Erhöhung‘ am Kreuz vorgezeichnet ist“ und die „[s]treng genommen“ (268) „den Schluß- und Höhepunkt seiner Sendung zum Heil der Welt“ darstellt, wie Jesus selbst sagt, Johannes 16,28: „Vom Vater bin ich ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater“.

Zusammenfassend bezeichnet Beutler diese aufsteigende Linie des Heils als „Jesu Heimgang zum Vater“, deren „Bedeutung … für das Heil der Welt … vor allem in dem der Passion unmittelbar vorausgehenden Abschnitt der Kapitel 10-12“ zum Ausdruck kommt:

An drei Stellen sehe ich hier vor allem den Gedanken der Universalität des Heils zum Ausdruck gebracht: in der Ankündigung der künftigen „Sammlung“ der Gotteskinder in Joh 11,52; im Kommen der Griechen zu Jesus (Joh 12,20ff) und im Wort Jesu vom „An sich Ziehen aller“ bei seiner „Erhöhung“ in Joh 12,32. Gehen wir diese Texte nacheinander durch.

↑ 3.1 Bezieht sich die Sammlung der versprengten Gotteskinder auf alle Völker?

Die erste Stelle, Johannes 11,51-52, bezieht sich auf die als „prophetisch“ bzw. „soteriologisch“, also im Sinne einer Rettung gedeutete Aussage des Hohenpriesters Kaiphas in den Versen 49-50 (269), dass „es besser sei, daß ein Mensch für das Volk sterbe, als daß das ganze Volk zugrundegehe“:

durch seinen Tod schenkt Christus seiner Gemeinde das Leben. Dieses Leben wird letztlich als eschatologische Sammlung des Gottesvolkes verstanden. Nach V. 51 stirbt Jesus für das Gottesvolk Israel, das hier abweichend vom sonstigen Sprachgebrauch nicht mehr laos, sondern (wie die Heidenvölker) ethnos genannt wird, vermutlich deswegen, weil es durch die bisherige Ablehnung Jesu sein Vorrecht als (exklusives) Gottesvolk verwirkt hat. Die Aussage in V. 52 geht einen Schritt weiter: der Tod Jesu führt auch die eschatologische Sammlung der Gotteskinder herbei. Die israelitische Perspektive scheint hier aufgegeben.

Zwei Argumente führt Beutler dafür an, dass die endzeitliche „Sammlung des Gottesvolkes“ sich hier nicht mehr auf Israel, sondern auf alle Völker bezieht. Erstens meint er allen Ernstes, im Übergang von der Bezeichnung laos (einmal in Vers 50) zur Bezeichnung ethnos (dreimal in den Versen 50 bis 51) für das Volk Israel ein Indiz dafür entdecken zu können, dass Gott die auserwählte Position Israels gegenüber den Völkern aufgehoben hätte. Dem steht aber entgegen, dass bereits in der jüdischen Bibel das Volk Israel nicht nur als laos, sondern auch als ethnos bezeichnet werden kann (2. Mose 19,5-6 [= LXX 23,22-23]; 33,13; 5. Mose 4,6; 2. Samuel 7,23; 1. Chronik 17,21; Psalm 33,12 [= LXX 32,12]; Haggai 2,14; Jesaja 1,4).

Ton Veerkamp <9> legt eine alternative Deutung der Verwendung dieser beiden Begriffe laos und ethnos für das Volk Israel im Munde des Hohenpriesters Kaiphas vor:

Jetzt müssen wir auf den Unterschied zwischen Nation, ethnos, und Volk, laos, aufmerksam machen. Ethnos ist auf hebräisch goj, und laos ist ˁam. Deuteronomium 4,6 begegnen beide Wörter in einem Satz: „Was ist das doch für ein weises und vernünftiges Volk (ˁam-chakham we-navon), diese große Nation (ha-goj ha-gadol ha-se).“ Ein ethnos/goj ist ein Volk, wie es nach außen, auf die Außenwelt wirkt. Ein laos/ˁam ist ein Volk, wie es nach innen zusammengehalten wird. Die Römer haben es mit einem ethnos/goj zu tun; wenn sie das Volk als ethnos/goj anerkennen, gewähren sie ihm ein gewisses Maß an Selbstverwaltung. „Die Nation aufheben“ ist einem Volk das Recht auf Selbstverwaltung nehmen. Genau das befürchtet die politische Führung.

Folgerichtig ist der kohen gadol (archiereus), der Großpriester, gefragt. Er tritt als der überlegene Vorstandsvorsitzende auf, der das ratlose Management („Ihr wisst gar nichts“) auf Kurs bringen muss. Er appelliert nicht an die Moral, sondern an die Interessen: „Ihr bedenkt nicht, dass es in eurem Interesse ist (sympherei hymin).“ Um das Heiligtum und somit das Volk als laos/ˁam zu retten – und das heißt in den Augen der Führung, den Untergang des ethnos/goj zu verhindern -, muss ein Mensch sterben. Politisches Interesse geht vor Moral; Kaiphas sagt, wie später Brecht sagte: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Es geht ihnen nicht um das Volk, sondern um ihr Selbstverwaltungsmodell, um den Status des ethnos Ioudaion. Ihr politisches Interesse ist die Aufrechterhaltung der örtlichen Selbstverwaltung. Denn auf sie reduziert sich ihre Vorstellung vom Ort, maqom. Es geht ihnen nicht um „den Ort (ha-maqom), den der EWIGE erwählt, um dort seinen Namen wohnen zu lassen (Deuteronomium 16,2 usw.)“.

Diese listige Begriffsverwirrung, diese Kontamination von laos mit ethnos, gehört zum ständigen Repertoire aller Politik. Hyper tou laou, des Volkes wegen, ist hier das propagandistische Element. Das zögerliche Führungskollektiv muss begreifen, dass Jeschua sowohl in ihrem Interesse (der eigentliche Grund) als des Volkes wegen (Propaganda) getötet werden muss.

Hier greift der politische Schriftsteller Johannes ein. Das alles sage Kaiphas nicht aus sich selbst, aus Jux und Laune, schreibt Johannes, sondern er müsse ja als Großpriester des Jahres als Prophet auftreten, das heißt hinweisen auf das, was politisch zwingend notwendig ist. Er gibt im Sanhedrin eine Regierungserklärung ab (das bedeutet hier prophēteuein), Jeschua solle der Nation wegen sterben, und so des Volkes wegen. Aber, so sagt Johannes, hier, im Sanhedrin, gehe es nicht um das Volk (laos), sondern um die Selbstverwaltung (ethnos). Jeschua werde sterben, aber nicht nur der Selbstverwaltung (ethnos) wegen, wie Kaiphas sagte, sondern um „auch alle Kinder Gottes, die auseinandergejagt wurden, in eins zusammenzuführen“.

Alle Kinder Gottes, ganz Israel, wo sie auch immer unter der herrschenden Weltordnung leben, in eine Synagoge zusammenzuführen (synagagein): Das ist das Ziel der johanneischen Politik. Wenn alle Gottgeborenen zusammengeführt worden sind, dann werde es den Ort geben, wo der Gott Israels seinen Namen wohnen lassen will. Denn es geht bei den Gottgeborenen nicht um die Kinder Adams, gar um die Kinder Gottes, um die Menschen allgemein, sondern um bestimmte Menschen, um die Kinder Israels. Und ein Kind Israels ist der Mensch, der „das Licht“ annimmt, „der nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes (Abrahams), sondern gottgemäß gezeugt worden ist“, 1,13.

Diaskorpizein, auseinanderjagen, bezieht sich immer auf das Schicksal Israels nach der Zerstörung des ersten Heiligtums. Diese zentrifugale Bewegung, die das Leben Israels in der Diaspora seit der ersten Zerstörung des Ortes bestimmte, wird in eine zentripetale Bewegung umgekehrt, auf den einen Ort hin. Das ist keine Erfindung des Johannes, sondern gute prophetische Tradition.

Die Botschaft bei Johannes ist nicht, dass „Jesus für alle Menschen gestorben ist“ und dass Israel nach dem Fleisch ausgedient hat, sondern dass die Bestimmung der Menschen, soweit sie „das Licht annehmen“, im neu geschaffenen Volk (ˁam nivraˀ) von Psalm 102 ihre Bestimmung finden. Das ist bei Johannes etwas anderes als Heidenmission und christliche Kirche.

Gegen diese von Veerkamp zum Schluss entfaltete Deutung der auseinandergejagten Gotteskinder in Johannes 11,52 allein auf die jüdische Diaspora richtet sich Beutlers zweites Argument dafür (269), dass die „israelitische Perspektive … hier aufgegeben“ sei, weil nämlich „die eschatologische Sammlung der Gotteskinder“ sich nicht wie bei den „exilischen und nachexilischen Propheten“ auf die „Sammlung der zwölf Stämme Israels aus Nord und Süd, Ost und West und ihr Einswerden unter einem Hirten (vgl. Jes 43,5f; Jer 23,3f.8; Ez 34,11-15.23f)“ beziehen, sondern „keinerlei Beschränkung“ unterliegen soll. Dazu verweist er einerseits auf seine eigene Deutung des Ausdrucks hoi idioi, „die Eigenen“, von Johannes 1,11 auf die gesamte Menschenwelt statt auf Israel, die ich oben in Frage gestellt habe. Außerdem sind ihm zufolge „im Alten Testament eher jene Texte zum Vergleich heranzuziehen, die von der endzeitlichen Völkerwallfahrt zum Zion sprechen (wie Jes 2,2-5; Mich 4,1-3; Ps 24 u. a.).“ Aber auch in diesen Texten geht es um die Weltzeit des Friedens, die hier auf Erden kommen soll, und zwar in Form einer um Israel und die Tora zentrierten Herrschaft des befreienden NAMENS Gottes. Keineswegs ist eine Herrschaft der Völker im Blick, die letzten Endes Israel seiner Heilsgüter enterben würde. Das heißt, ähnlich wie in der Auslegung von Johannes 1,11 ist es Beutler durchaus bewusst, dass die Erwähnung der „versprengten Gotteskinder“ eine Deutung auf die Juden der Diaspora nahelegt und im Alten Testament eindeutiger belegt werden kann als ihre Identifikation mit nichtjüdischen Völkern.

↑ 3.2 Führt Jesus als der gute Hirte ganz Israel in einer Herde zusammen oder auch die gesamte Völkerwelt?

Die „Führung der versprengten Gotteskinder zur ‚Einheit‘“, wie Beutler den Ausdruck synagagē eis hen, wörtlich: „dass er sie zusammenführe in eins“, übersetzt, gibt ihm zufolge

einerseits einen johanneischen Gedanken wieder, wie ein vergleichender Blick auf das sog. „Hohepriesterliche Gebet“ von Joh 17 (V. 21.23) zeigt, greift anderseits aber doch auch auf überliefertes Gut zurück, wie ein Paralleltext in Joh 10 erkennen läßt.

Dort läuft die „Hirtenrede von Joh 10,1-18“ letzten Endes darauf hinaus, dass sich „in V. 11-13 das ‚Zerstreuen‘ der Schafe durch den Wolf und in V. 14-18 das ‚Herbeiführen‘ zu ‚einer Herde‘ unter ‚einem Hirten‘ gegenüber“ stehen (269f.):

Dem Eigennutz des Wolfes wird dabei die Selbstlosigkeit Jesu gegenübergestellt, der sein Leben für seine Schafe hingibt. Dabei endet das Werk Jesu an seinen Schafen nicht mit der Hürde, in die sie gehören. Er wird auch andere Schafe herbeiführen, die sich nicht in der Hürde befinden. Der Ausdruck, daß dann „eine Herde“ und „ein Hirt“ sein werde, verweist von den Parallelstellen Ez 34,23; 37,24 her zwar auf das endzeitlich gesammelte Israel, weist im johanneischen Kontext jedoch über diesen hinaus. Man wird mit der Mehrheit der Autoren hier an die Heidenwelt denken, die der einen Herde unter dem einen Hirten Jesus weltweit zugeführt wird.

Damit belegt Beutler zum dritten Mal ausdrücklich (270), dass die Sammlung einer Herde unter einem Hirten sich von der jüdischen Prophetie her auf die endzeitliche Zusammenführung Israels und Judas bezieht (Hesekiel 37,19), bleibt aber trotzdem bei dem in seinen Augen „durch die bisherigen Texte gestützten Befund, daß der Vierte Evangelist in der Tat ein christliches Heil für die Völker im Blick hat.“ Wie wir gesehen haben, ist dieser Befund bisher gar nicht so eindeutig gestützt worden. Die in Johannes 10,16 erwähnten Schafe aus einem anderen als dem judäischen Hof (aulē) dürften im Kontext des johanneischen Evangeliums jedenfalls eher auf die Samaritaner zu beziehen sein, die für die verlorenen zehn Stämme Israels stehen und durch den Messias mit den Stämmen Judas (Judäas) zusammengeführt werden.

Die Möglichkeit eines solchen Bezuges von Vers 16 auf die Vereinigung von Israel und Juda, Judäa und Samaria, zieht Beutler allerdings gar nicht in Betracht. Er beschränkt sich darauf, denjenigen einen Zirkelschluss vorzuwerfen, die eine angeblich mit dem Vers 16 gemeinte Völkermission „gerade wegen ihres ‚kirchlichen‘ Charakters als sekundär auszuscheiden“ versuchen, da sie nämlich „den Beweis schuldig bleiben, daß der Evangelist Johannes nicht in ekklesiologischen Kategorien denke“, also auf die ekklēsia, die Kirche bezogen. Umgekehrt kann aber derselbe Schuh daraus werden, denn bisher konnte Beutler keine wirklich überzeugenden Argumente dafür vorlegen, dass Jesus im Johannesevangelium über Israel, Samaria und die jüdische Diaspora hinaus eine generelle Völkermission ins Auge fasst.

↑ 3.3 Ist mit den Griechen, die Jesus sehen wollen, die ganze Menschheit auf dem Weg, sich Jesus anzuschließen?

Wie überzeugend ist nun Beutlers Rückgriff auf den Abschnitt Johannes 12,20-36, in dem er klar belegt sieht, dass „die Völkerwelt zum Heil in Christus berufen ist“?

Eine große Volksmenge zog Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem aus der Stadt entgegen, beeindruckt nicht nur von seiner Erscheinung, sondern auch von den Berichten über das „Zeichen“ der Auferweckung des Lazarus. Die Reaktion der Pharisäer ist Ratlosigkeit bzw. wachsende Entschlossenheit, den entstandenen Zustand zu beenden, denn „seht, die (ganze) Welt ist hinter ihm hergelaufen“ (Joh 12,19). Man kann dieses Wort durchaus zu den bewußt doppeldeutigen Ausdrücken im Johannesevangelium zählen. In der Tat ist die „Welt“ im Sinne der Menschheitsfamilie dabei, sich Jesus anzuschließen. Eben dies zeigt der Beginn der sog. „Hellenenrede“. Hier kommen nun „Griechen“, um Jesus zu sehen.

Fraglich ist, ob Johannes das Wort kosmos in Johannes 12,19 wirklich bewusst doppeldeutig verwendet. Die Pharisäer beziehen sich mit ihrem resignierenden Ausruf doch wohl ausschließlich auf die Juden, die zum Fest gekommen sind und Jesus in Jerusalem als messianischen König begrüßen.

In Johannes 12,20-21 werden dann Hellēnes tines, „einige Griechen“, erwähnt, von denen ausdrücklich gesagt wird, dass sie zum Fest kommen, um sich vor dem Gott Israels „zu verneigen“, proskynēsōsin, und Jesus zu „sehen“, idein. Aber ist es nicht stark übertrieben, von diesen wenigen Leuten her den Schluss zu ziehen, dass die ganze „Menschheitsfamilie“ nun im Begriff ist, „sich Jesus anzuschließen“? Überhaupt scheint es mir verfehlt, die Verse 23 bis 36 als „Hellenenrede“ zu bezeichnen, da Jesus in ihr nirgends die zu ihm gekommenen Griechen anredet, während in Vers 29 und 34 der ochlos, das jüdische Volk, als Zuhörerschaft vorausgesetzt wird.

Zu Recht nimmt Beutler allerdings an, dass diese Hellēnes nicht „einfach nur Juden der griechischsprechenden Diaspora“ sind, sondern (270f.)

sog. ‚Gottesfürchtige‘…, die einen Teil der Observanz der jüdischen Thora übernommen hatten, ohne sich beschneiden zu lassen, und die zu Hochfesten nach Jerusalem hinaufzogen, um dort am Kult Israels teilzunehmen. Darauf deutet der Text ausdrücklich hin. Das Erscheinen der Griechen fällt zusammen mit Jesu bewußt akzeptiertem Todesschicksal, wie es gerade in diesem Abschnitt noch einmal angekündigt wird (vgl. 12,23-28).

Damit ist also keineswegs von der ganzen „Menschheitsfamilie“ die Rede, die sich zu Jesus aufmacht, sondern lediglich von einigen Gottesfürchtigen aus den Völkern, die sich mit Israel, Samaria und der jüdischen Diaspora zur Sammlung ganz Israels hinzugesellen wollen. Da von diesen „Griechen“ weiter nichts erzählt wird, außer dass sie nur durch die Vermittlung der jüdischen Schüler Philippus und Andreas überhaupt zu Jesus gelangen können, mag es Johannes an dieser Stelle möglicherweise bewusst offen lassen, ob es eine so gute Idee ist, größere Zahlen von Menschen aus den Völkern in die Sammlung der messianischen Gemeinde Israels mit hineinzunehmen. Keine Rede ist jedenfalls davon, dass Jesus auch nur einen einzigen Griechen in seine Schülerschaft aufnimmt, geschweige denn von einem Aufruf zur generellen Völkermission.

Beutler vermutet (271) im Hintergrund des gesamten Abschnitts „das Vierte Gottesknechtslied von Jes 52,13 – 53,12 nach dem Septuagintatext“. <10> Aus diesem Lied

läßt sich auch der Wunsch von Menschen, die bisher nicht gesehen haben, zu sehen, aus dem genannten Septuagintakontext verständlich machen: er findet sich wörtlich, und zwar abweichend vom masoretischen Text, in Jes 52,15 LXX: „Denn diejenigen, denen von ihm nichts verkündet worden ist, werden sehen, und diejenigen, die nicht gehört haben, werden zur Einsicht kommen.“ Daß hier die Heidenwelt gemeint ist, zeigt zum einen der Beginn von V. 15 im Septuagintatext (wo von „Völkern“ und „Königen“ die Rede ist), zum andern ein interessanter Vergleichstext bei Paulus zu Ende des Römerbriefes (Röm 15,18-21). Paulus begründet hier sein Missionswerk unter den Heiden fernab von Jerusalem bis hin nach Illyrien damit, daß er nicht auf fremdem Fundament bauen wolle. „Denn es heißt in der Schrift: Sehen werden die, denen nichts über ihn verkündet wurde, und die werden verstehen, die nichts gehört haben.“ Der Vers aus dem Vierten Gottesknechtslied dient hier also klar der Begründung der Heidenmission.

Nun steht außer Frage, dass Paulus den Septuaginta-Vers Jesaja 52,15 zur Rechtfertigung der Völkermission verwendete; immerhin zitiert er ihn wörtlich, und zwar einschließlich der Verbform opsontai, „sie werden sehen“. In Johannes 12,21 ist dagegen lediglich vom Wunsch einiger Griechen die Rede, Jesus zu „sehen“, idein. Aber selbst wenn sich auch Johannes damit auf Jesaja 52,15 in der Version der Septuaginta bezieht, muss er daraus nicht dieselben Folgerungen ziehen wie Paulus. Immerhin geht es im Jesajabuch überall zentral um Israels Zukunft inmitten der Völker, das heißt, am Einfluss des Gottes Israels auch auf die Völker ist der Prophet deswegen interessiert, weil nur auf diesem Umweg die Befreiung Israels und seine Heimkehr aus der Deportation möglich sind. Eine ähnliche Perspektive scheint auch der Evangelist Johannes zu vertreten: Nur auf dem Wege der Befreiung der gesamten Menschenwelt von der Weltordnung, die auf ihr lastet, ist unter den Bedingungen der römischen Gewaltherrschaft die Sammlung und Befreiung Israels vorstellbar.

↑ 3.4 Der erhöhte Messias Jesus wird „alle“ zu sich ziehen – wer ist damit gemeint?

„Ein letzter, zusammenfassender Text, wo vom universalen Heil durch Jesus die Rede ist“, ist nach Beutler ebenfalls in der von ihm so genannten „Hellenenrede“ Jesu zu finden, Johannes 12,32: „Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen“. Auch diesen Vers deutet er „im Licht der jesajanischen Überlieferung“, und zwar konkret vom letzten „Gottesknechtslied des Jesaja“ her (272):

Das „An sich Ziehen aller“ könnte man von einer gern herangezogenen Parallelstelle bei Johannes (14,3) vielleicht im Sinne der eschatologischen Heimholung der Gerechten deuten, wie sie in Joh 14,4-14.15-24 neu gedeutet wird. Doch würde uns hier der jesajanische Text wenig helfen. Im Gottesknechtslied bei Jesaja findet sich eher ein anderer Gedanke, nämlich derjenige, daß der Gottesknecht „viele erben wird“ (Jes 53,11) und „die Sünden vieler auf sich nahm und für deren Sünden hingegeben wurde“ (53,12). Johannes dürfte die biblische Mengenangabe („viele“ im Sinne von „Vielheit“, „alle“) verdeutlicht und das Bild auf den (am Kreuz und dann zum Vater) „Erhöhten“ im Sinne von Jes 52,13 LXX bezogen haben. So steht am Schluß dieser Reihe von Texten eine Aussage von ungewöhnlicher Kraft und Tiefe, die die universale Heilsbedeutung Jesu in zugleich biblischer und johanneischer Sprache unüberbietbar zum Ausdruck bringt.

Gemessen an dieser Überschwänglichkeit erscheint die Ausbeute der zuvor gebrachten Argumente außerordentlich mager. Sie besteht lediglich in der Vermutung, dass Johannes die biblische Mengenangabe polloi, „viele“, aus Jesaja 53,11-12 im Sinne von pantes, „alle“, interpretiert (wobei in Jesaja 53,11 die von Beutler zitierte Wendung, dass „der Gottesknecht ‚viele erben wird‘“, nicht einmal zu finden ist).

Ton Veerkamps <11> Deutung von Johannes 12,32 erscheint mir angemessener:

„Wenn ich von der Erde erhöht werde, werde ich alle zu mir selbst ziehen.“ „Alle“ heißt „nicht nur die Nation, sondern alle auseinandergejagten Kinder Gottes“, 11,52, und vielleicht Leute wie jene Griechen, wenn sie die Bedingungen der Schülerschaft erfüllen.

In seiner Auslegung von Johannes 6,44 schlägt Veerkamp außerdem vor, das Wort helkein, „ziehen“, das Jesus in beiden Versen verwendet, von den Propheten Hosea und Jeremia her zu begreifen:

„Niemand kommt zu mir, es sei der VATER, der mich sandte, der schleppt ihn zu mir.“ Das Verb bedeutet etwas mehr als bloß ziehen. Wir denken an Hosea 11,4: „Mit menschlicher Bindung zog ich dich, mit Stricken der Liebe“, oder an Jeremia 31,2f. (LXX 38,2f.):

So sagt der NAME:
„Gunst hat das Volk in der Wüste gefunden,
das dem Schwert entkommene,
Israel ging – beruhigt.“
Von weitem ließ sich der NAME von mir sehen.
„Mit Weltzeitliebe liebte ich dich (ˀahavath ˁolam ˀahavthikh),
so schleppte dich meine Solidarität
(meschakhtikh chessed, heilkysa se eis oiktirēma).“

Natürlich sieht die christliche Auslegung hier die „Gnade Gottes“, die allein die Bekehrung von Juden und Heiden bewirken soll. Die Auslegung des Johannes ist eine andere. So wie die Liebe und die Solidarität (ˀahavath, chessed) seines Gottes Israel in der Wüste durchgeschleppt hat (maschakhthi, heilkysa), so „schleppt“ oder „zieht“ (heilkysē auton) der Name/Vater Israel durch die Wüste Roms. Ohne ihn, ohne auf ihn zu hören, kann Israel die Wüste Sin nicht überleben, ohne den Messias nicht die römische Wüste.

↑ 3.5 In welcher Weise existiert Jesus als „Fleisch für das Leben der Welt“?

Als einen allerletzten Text (272), „der das durch Jesus gestiftete universale Heil in einen eucharistischen Kontext stellt“ zitiert Beutler dann noch Johannes 6,51 (272f.):

In einer überraschenden Wendung leitet Jesus in der Lebensbrotrede von Joh 6,26-58 in V. 51 von dem Brot, das er ist, zu dem Brot über, das er (eucharistisch) gibt: „Und zwar ist das Brot, das ich geben werde, mein Fleisch für das Leben der Welt“. Es besteht Konsens darüber, daß hier eine johanneische Neuformulierung der bei Paulus und den Synoptikern überlieferten Einsetzungsworte vorliegt. Jesu Leib ist geradezu – und fast schockierend – sein „Fleisch“, und dies nicht nur für „euch“ oder für „viele“, sondern „für das Leben der Welt.“

Auch diesem Konsens folgt jedenfalls Ton Veerkamp nicht. <12> Im letzten Absatz aus dem zuletzt von ihm zitierten Text entwickelt er seine Auslegung des griechischen Begriffes sarx, „Fleisch“, im Johannesevangelium und bezieht die Kurzformel „mein Fleisch für das Leben der Welt“ auf sein Verständnis von kosmos im Sinne der herrschenden römischen Gewaltordnung:

Fleisch nennt Johannes das Leben der Menschen unter der Weltordnung. Kurzformel für die Existenz des Messias ist: „Fleisch für das Leben der Welt.“ Welt lebt nicht; Menschen leben, Menschen in der Welt, das heißt, Menschen, lebend unter den Bedingungen einer real herrschenden Weltordnung. Menschsein ist immer in-der-Welt-sein, unter-der-Weltordnung-sein. Die Existenz des Messias ist Fleisch, ist in-der-Welt-sein, unter-der-Weltordnung-sein, und zwar für-die-Welt-sein, damit ihre Ordnung eine Ordnung des Lebens sein kann.

Das ist sicher in dieser Kürze nur schwer verständlich und nachvollziehbar. Es sei zitiert, um erstens den von Beutler behaupteten angeblichen Konsens nicht einfach im Raum stehen zu lassen, und zweitens als Anregung, sich näher mit der Auslegung Ton Veerkamps zu beschäftigen. <13>

↑ 4. Überwindet nur der Glaube an Jesus die „Gottferne“ von Juden und aller Welt?

In einem abschließenden Fazit sieht Beutler nochmals seine christlich-dogmatische Auffassung durch das Johannesevangelium bestätigt, dass

ein Heil für alle Menschen trotz des durchgängigen Dualismus in der Perspektive des Johannesevangeliums liegt. Die Scheidung der Wirklichkeit in „oben“ und „unten“ schließt also nicht aus, sondern ein, daß jemand aus dem Bereich der Gottferne in die Gemeinschaft mit Gott geführt wird. Es gibt grundsätzlich für jeden Menschen eine Möglichkeit des Glaubens, auch wenn diese ihm von Gott geschenkt werden muß. Freiheit und Prädestination bleiben komplementär aufeinander bezogen, so daß Gotteskindschaft sowohl zum Glauben führt als auch diesen voraussetzt.

Dass Johannes in diesen Bahnen denkt, hat Beutler von vornherein vorausgesetzt und nirgends bewiesen. Er hat nicht einmal ansatzweise die Möglichkeit in den Blick genommen, dass es dem Evangelisten nicht um einen neuen Weg der Überwindung religiöser „Gottferne“ durch den Glauben an Jesus geht, durch den ja wohl, was bei Beutler unausgesprochen bleibt, der Bund Israels mit Gott letzten Endes als aufgehoben betrachtet werden muss, <14> sondern um Israels Befreiung aus dem weltweit herrschenden Sklavenhaus der römischen Weltordnung durch das Vertrauen auf den Messias Jesus, der den befreienden NAMEN des Gottes Israels verkörpert.

Wie gering Beutlers Interesse an der Verwurzelung des Johannesevangeliums in den Traditionen Israels ist, zeigt sich darin, dass nicht nur „die Griechen“ als „[p]aradigmatisch für die Völkerwelt“ stehen sollen, sondern auch „die Samaritaner“:

Die Religion der Samaritaner vollendet sich in der „Anbetung in Geist und Wahrheit“, die die Samaritaner mit den zum Glauben gekommenen Juden verbindet.

Damit erweckt Beutler fälschlich den Eindruck, als sei die „Religion der Samaritaner“ grundlegend von der jüdischen Religion zu unterscheiden, obwohl der Evangelist die Frau am Jakobsbrunnen unübersehbar als Repräsentantin eines Israel darstellt, das durch den Messias ebenso von der Unterdrückungsmacht der römischen Weltordnung befreit werden muss wie Judäa. Der markante Unterschied zwischen dem befreienden Gott Israels, dem sich sowohl Judäa als auch Samaria im Vertrauen auf den Messias Jesus wieder zuwenden sollen, und jeglichen Fremdgöttern, die der Legitimation unterdrückender Herrschaft dienen, wird unsichtbar, und Beutler kann so tun, als ob das Volk Israel sich nur aus ethnischen Gründen von allen anderen Völkern abgesondert hätte und die jüdische Religion eine beliebige Religion unter allen anderen sei:

Doch bleibt das Heil nicht auf Palästina beschränkt. Im Kommen der Griechen zu Jesus kündigt sich das Kommen der Welt zum Glauben an. Im Tod des Gottesknechtes und Menschensohnes, der seine Sendung unter die Menschen abschließt und vollendet, öffnet sich der Völkerwelt die Möglichkeit des Heils über alle ethnischen und religiösen Schranken hinweg.

Würde das Wort „Heil“ hier im Sinne des Lebens der kommenden Weltzeit auf Erden in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden verstanden, dann könnte in der Erwähnung der wenigen Griechen von Johannes 12,20-21 eine zurückhaltende Hoffnung des Evangelisten wahrgenommen werden, dass auch Menschen aus den Völkern sich den befreienden Verheißungen des Gottes Israels anschließen und in der Praxis liebevoller Solidarität die Überwindung der herrschenden Gewaltordnung erwarten.

↑ 5. Ist vom Johannesevangelium her ein christliches Gespräch mit den Weltreligionen vorstellbar?

Ganz zum Schluss beschäftigt sich Beutler noch mit einer Frage, auf die er „im Johannesevangelium kaum eine Antwort“ findet,

nämlich diejenige nach der Heilsbedeutung nichtchristlicher Religionen. Die von uns befragten Texte sprechen von einer Möglichkeit der Rettung für Juden, Galiläer und Samaritaner, die den Glauben an Jesus annehmen. Über die Möglichkeit, daß sie als Juden, Galiläer oder Samaritaner das Heil finden könnten, hat der Vierte Evangelist nicht nachgedacht.

Wenn Johannes die „Rettung für Juden, Galiläer und Samaritaner“ allerdings ganz anders versteht als Beutler, nämlich nicht im Sinne eines durch einen bestimmten religiösen Glauben zu erlangendes ewiges Seelenheil, sondern als die Befreiung ganz Israels aus der Versklavung unter die herrschende Gewaltordnung, dann müsste er eher entsetzt darüber gewesen sein, dass schon wenige Jahrzehnte nach Fertigstellung seines Evangeliums eine von Heiden dominierte und sich „christlich“ nennende Kirche damit begann, das Heil ins Jenseits zu verlagern, sich selbst als das wahre Israel zu begreifen und das Judentum seiner Heilsgüter zu enterben.

Gleichwohl sieht Beutler „im Gespräch Jesu mit der Samariterin eine Richtung angedeutet“, in der vom Johannesevangelium her (273f.) „ein christliches Gespräch mit den Weltreligionen – nicht zuletzt den großen Religionen Asiens –“ geführt werden könnte:

Wenn Jesus der Samariterin verheißt, die Stunde werde kommen und sei schon da, in der die wahren Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten würden (Joh 4,24), und damit über die Kontroverse des Heiligtums auf dem Garizim oder auf dem Zion hinausweist, so blickt er in eine Richtung, in der bisherige verfaßte Religiosität überstiegen wird, ohne daß an ihre Stelle eine vergleichbare neue träte.

Eine christliche Kirche, die ernsthaft in dieser Richtung denkt, müsste einerseits fähig dazu sein, auf eine Werkgerechtigkeit des Glaubens zu verzichten, die als Vorbedingung ewigen Heils einen dogmatisch genau definierten religiösen Glauben voraussetzt. Andererseits müsste sie ernst nehmen, was es nach Johannes bedeutet, „den Vater in Geist und Wahrheit“ anzubeten. In diesem Vater atmet die Inspiration, ruach, pneuma, „Geist“, des Gottes Israels, die in seinem befreienden NAMEN zum Ausdruck kommt und erst dann zu ihrem letzten Ziel gekommen ist, wenn alle unterdrückende, ausbeutende und entmenschlichende Herrschaft auf Erden überwunden sein wird – einschließlich jeglicher Herrschaft, die im Namen irgendeiner Religion über andersdenkende und -glaubende Menschen ausgeübt wird.

↑ Anmerkungen

<01> Ton Veerkamp hat mit Johannes Beutler nicht nur die Gemeinsamkeit des Geburtsjahres 1933, sondern wie dieser war auch er katholischer Priester und Mitglied des Jesuitenordens, wenngleich nur wenige Jahre seines Lebens.

<02> Johannes Beutler, So sehr hat Gott die Welt geliebt (Joh 3,16). Zum Heilsuniversalismus im Johannesevangelium, in: Studien zu den johanneischen Schriften, Stuttgart 1998, 263-74. Die im folgenden Text in runden Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die jeweils folgenden Zitate aus diesem Aufsatz. Sind solche Zitate als eigener Absatz eingerückt, werden sie blau hervorgehoben.

<03> Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jeschua Messias von ganz Israel, in dieser Form nur veröffentlicht auf der Internet-Seite Bibelwelt, ursprünglich in: Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, I. Teil: Johannes 1,1-10,21, in: Texte und Kontexte 109-111, 2006 (fortan zitiert mit „Veerkamp 2006“), und II. Teil: Johannes 10,22-21,25, in: Texte und Kontexte 113-115, 2007 (fortan zitiert mit „Veerkamp 2007“). Als eigenen Absatz eingerückte Veerkamp-Zitate werde ich rot hervorheben.

<04> Vgl. dazu vor allem 2. Mose 3,7-8.13-14. Juden verzichten darauf, den mit den vier Buchstaben JHWH geschriebenen Gottesnamen auszusprechen, um seine Unverfügbarkeit anzudeuten und ihn nicht zu Beschwörungszwecken zu missbrauchen; dem entspreche ich, indem ich den Gottesnamen mit dem Wort „NAME“ in Großbuchstaben umschreibe. Nach Johannes gibt sich Jesus mit den Worten „ICH BIN“ als die Verkörperung des NAMENS zu erkennen, auf den er sich selber mit dem Wort patēr, „VATER“, bezieht.

<05> Klaus Wengst, Das Johannesevangelium, Stuttgart 2019, 54.

<06> Ton Veerkamp, Das Wort und die menschliche Wirklichkeit, 1,14, Abs. 7 (Veerkamp 2006, 21).

<07> Dass es nicht um Ethnizismus in einem völkisch-nationalistischen Sinn ging, sondern um soziale Befreiung, zeigte sich etwa darin, dass sich mit Israel auch allerhand „fremdes Volk“ auf die Flucht aus der ägyptischen Sklaverei begab (2. Mose 12,38).

<08> Das folgende Zitat stammt von Ton Veerkamp, Der Mann, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann, 4,16-19, Abs. 7 (Veerkamp 2006, 80).

<09> Ton Veerkamp, Sterben für die Nation, 11,46-54, Abs. 7-13 (Veerkamp 2007, 21-22).

<10> Johannes Beutler, Griechen kommen, um Jesus zu sehen (Joh 12,20f), in: J. HAINZ, Hrsg., Methodenstreit zum Johannesevangelium, Frankfurt a. M. o. J., 162-179, auch veröffentlicht in: Johannes Beutler, Studien zu den johanneischen Schriften, Stuttgart 1998, 175-189.

<11> Ton Veerkamp, Jetzt ist meine Seele erschüttert, 12,27-33, Abs. 18 (Veerkamp 2007, 34) und Murren. Brot des Lebens, Fleischessen, 6,41-51, Abs. 7-9 (Veerkamp 2006, 120).

<12> Ton Veerkamp, Murren. Brot des Lebens, Fleischessen, 6,41-51, Abs. 14 (Veerkamp 2006, 121).

<13> Ton Veerkamp entfaltet sie näher in seiner Auslegung von Johannes 6,52-59, Der Streit unter den Judäern, 6,52-59 (Veerkamp 2006, 122-123). Vgl. dazu außerdem meine Auseinandersetzungen mit Entwürfen, die die Lebensbrotrede Jesu vom christlichen Abendmahl oder von antiken Mysterienreligionen her zu interpretieren versuchen: Welche Nachtigall singt im Johannesevangelium? und Jesu Fleisch kauen – wie beim Gott Dionysos?

<14> Vgl. dazu Adele Reinhartz, Cast Out of the Covenant: Jews and Anti-Judaism in the Gospel of John (Lanham: Lexington Books-Fortress Academic, 2018) und meine Auseinandersetzung mit diesem Buch: Befreiung für ganz Israel durch den Messias Jesus.

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