Bild: Helmut Schütz

Weltgeschichte und Gottesgeschichte

In der Lebensgeschichte Jesu von Nazareth nimmt Gottes Wort an unserer menschlichen Geschichte teil. Der Höchste durchlebt das Menschsein, wie es einer ganz unten erlebt, und er verändert es auf seine Weise. Denn auch als Mensch bleibt er das Wort des Höchsten. Das ist die Rede, das Wort, die Geschichte, die hier zu sehen ist im Kind in der Krippe.

Weihnachtsbaum in der Evangelischen Pauluskirche Gießen
Weihnachtsbaum in der Evangelischen Pauluskirche Gießen
direkt-predigtGottesdienst an Heiligabend, Mittwoch, 24. Dezember 2008, 18.00 Uhr in der evangelischen Pauluskirche Gießen

Guten Abend, liebe Gemeinde!

In der Christ-Vesper besinnen wir uns auf das Geheimnis der Heiligen Nacht, wie es geschrieben steht im Evangelium nach Johannes 1, 14:

Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit.

Zuerst singen wir aus dem Lied 23 die Strophen 1 bis 4 und 7:

1. Gelobet seist du, Jesu Christ, dass du Mensch geboren bist von einer Jungfrau, das ist wahr; des freuet sich der Engel Schar. Kyrieleis.

2. Des ewgen Vaters einig Kind jetzt man in der Krippen find’t; in unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewig Gut. Kyrieleis.

3. Den aller Welt Kreis nie beschloss, der liegt in Marien Schoß; er ist ein Kindlein worden klein, der alle Ding erhält allein. Kyrie­leis.

4. Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein‘ neuen Schein; es leucht‘ wohl mitten in der Nacht und uns des Lichtes Kinder macht. Kyrieleis.

7. Das hat er alles uns getan, sein groß Lieb zu zeigen an. Des freu sich alle Chri­stenheit und dank ihm des in Ewigkeit. Kyrieleis.

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Wie oft haben wir die Weihnachtsgeschichte schon gehört? Vielleicht Hunderte von Malen. Heute hören wir sie wieder, vertraute und doch fremde Worte. Enthält sie für uns noch etwas Neues? Haben wir sie je wirklich verstanden? Gott wird als Kind geboren – was geschieht da eigentlich zwischen Himmel und Erde?

Gott wird Mensch – kommt, lasst uns dieses Geheimnis anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Die Weihnachtsgeschichte nach Lukas, immer wieder dieselben Worte. Wir mögen sie, aber hören wir überhaupt noch hin? Gehören sie dazu wie der Weihnachtsbaum und die Tannenzweige?

Lasst uns ganz neu auf die Worte der Weihnachtsbotschaft hören. Denn wir haben es nötig, dass sie uns auf neue Weise ansprechen, dass sie uns berühren und rund-erneuern.

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Ist es uns bewusst, dass wir jeden Sonntag, wenn wir unsere normale Gottesdienstliturgie singen, in das Weihnachtslied der Engel auf dem Hirtenfeld einstimmen? Wir tun es auch heute, achten wir einmal bewusst auf den Text und stimmen wir in das Lied der Engel mit ein.

Ja, lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende.“

Der Herr sei mit euch „und mit deinem Geist.“

Gott, öffne unsere Augen und Ohren für die Bilder und Worte der Weihnachtsbotschaft. Öffne unsere Herzen für das Geheimnis: du Gott, wirst Mensch in Jesus Christus, unserem Herrn. „Amen.“

Wir hören die vertrauten Worte des Weihnachtsevangeliums nach Lukas in der Übersetzung Dr. Martin Luthers. Wie üblich hören wir sie aufgeteilt in drei Teile, aber heute etwas anders als sonst. Drei Mal steht im griechischen Original: „Und es geschah“, was Luther nicht wörtlich so übersetzt. Dieser Ausdruck markiert jeweils einen neuen Abschnitt, und ich folge heute dieser Einteilung:

Und es geschah:

1 Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.

2 Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war.

3 Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt.

4 Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war,

5 damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger.

Noch ist Jesus nicht geboren, noch ist die ganze Szenerie der Weihnachtsgeschichte geprägt von den Bestimmungen der damaligen Weltpolitik und ihrer heidnischen Machthaber. Wir singen aus dem Lied 4 die Strophen 1 bis 4:

1. Nun komm, der Heiden Heiland, der Jungfrauen Kind erkannt, dass sich wunder alle Welt, Gott solch Geburt ihm bestellt.

2. Er ging aus der Kammer sein, dem königlichen Saal so rein, Gott von Art und Mensch, ein Held; sein‘ Weg er zu laufen eilt.

3. Sein Lauf kam vom Vater her und kehrt wieder zum Vater, fuhr hinunter zu der Höll und wieder zu Gottes Stuhl.

4. Dein Krippen glänzt hell und klar, die Nacht gibt ein neu Licht dar. Dunkel muss nicht kommen drein, der Glaub bleib immer im Schein.

Und es geschah:

6 Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte.

7 Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

8 Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde.

9 Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.

10 Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird;

11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.

12 Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.

13 Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen:

14 Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Wir haben gehört, was hier quer zur Weltpolitik aus dem Himmel Gottes auf Erden geschieht.

Wir halten inne und singen das Lied der Gottesboten in der Nachdichtung Dr. Martin Luthers, Nr. 24, Strophe 1 bis 6:

1. »Vom Himmel hoch da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär; der guten Mär bring ich so viel, davon ich singn und sagen will.

2. Euch ist ein Kindlein heut geborn von einer Jungfrau auserkorn, ein Kindelein so zart und fein, das soll eu’r Freud und Wonne sein.

3. Es ist der Herr Christ, unser Gott, der will euch führn aus aller Not, er will eu’r Heiland selber sein, von allen Sünden machen rein.

4. Er bringt euch alle Seligkeit, die Gott der Vater hat bereit‘, dass ihr mit uns im Himmelreich sollt leben nun und ewiglich.

5. So merket nun das Zeichen recht: die Krippe, Windelein so schlecht, da findet ihr das Kind gelegt, das alle Welt erhält und trägt.«

6. Des lasst uns alle fröhlich sein und mit den Hirten gehn hinein, zu sehn, was Gott uns hat beschert, mit seinem lieben Sohn verehrt.

Und es geschah:

15 Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.

16 Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen.

17 Als sie es aber gesehen hat­ten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war.

18 Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten.

19 Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.

20 Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.

Was die Hirten im Lied der Engel gehört haben, das sehen sie mit ihren eigenen Augen, und sie breiten die Geschichte aus, die da geschehen ist, die sie gehört und gesehen haben. Wir singen das Lied 48:

1. Kommet, ihr Hirten, ihr Männer und Fraun, kommet, das liebliche Kindlein zu schaun, Christus, der Herr, ist heute geboren, den Gott zum Heiland euch hat erkoren. Fürchtet euch nicht!

2. Lasset uns sehen in Bethlehems Stall, was uns verheißen der himmlische Schall; was wir dort finden, lasset uns künden, lasset uns preisen in frommen Weisen. Halleluja!

3. Wahrlich, die Engel verkündigen heut Bethlehems Hirtenvolk gar große Freud: Nun soll es werden Friede auf Erden, den Menschen allen ein Wohlgefallen. Ehre sei Gott!

Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde, in der Weihnachtsgeschichte stellt Lukas uns ein Drama in drei Akten vor Augen. Jeden dieser drei Akte beginnt er mit dem Ausdruck: „Und es geschah“, den er aus der hebräischen Bibel übernimmt. Dort kommt er fast 500 Mal vor, um zu beschreiben, was sich auf Gottes Erde unter dem Himmel abspielt.

Weltgeschichte

Den ersten Akt, die ersten fünf Verse, könnte man mit dem Stichwort „Weltgeschichte“ überschreiben. Er bereitet sozusagen die Bühne vor, auf der im 2. und 3. Akt dann Gott selbst seine eigene Geschichte schreibt:

1 Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.

Weltgeschichte wird hier geschrieben, indem der unumstrittene Herrscher der damaligen Weltmacht Rom eine Einschreibung in Steuerlisten befiehlt. Wörtlich erlässt er ein Dogma für die ganze Ökumene, also die gesamte bewohnte Welt. In diesen größtmöglichen Zusammenhang stellt Lukas seine Geschichte.

2 Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war.

Historiker mögen darüber streiten, ob Augustus wirklich der erste war, der die Idee zu einer solchen globalen Steuerschätzung hatte, und wann sie tatsächlich stattfand. Zur genaueren örtlichen und zeitlichen Einordnung nennt Lukas den Statthalter Quirinius in der römischen Provinz Syrien; so wie Pontius Pilatus später der Statthalter des Todes Jesu sein wird, so markiert Quirinius den Zeitpunkt seiner Geburt. Lukas begreift Jesus als Person der innerhalb der irdischen Weltgeschichte, und zwar im Gegenüber zu den mächtigsten Vertretern des damaligen Weltstaates.

3 Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt.

Zum dritten Mal das Wort „Schätzung“, wörtlich „Einschreibung“. Lukas betont an dieser Stelle, dass sich keiner auf der ganzen von Rom beherrschten Welt der vom Kaiser beabsichtigten Globalisierung entziehen konnte. Der Kaiser pfeift, alle müssen tanzen.

4 Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war,

5 damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger.

Auch im vierten Satz des ersten Aktes noch einmal das Wort „schätzen“, „einschreiben“. Zuerst fällt der Blick auf den Kaiser in Rom und sein ganzes Weltreich, dann holt Lukas wie mit einer Lupe ein einzelnes Ehepaar aus all den Millionen, die sich dem Kaiser unterwerfen müssen, in unser Blickfeld. Gibt es etwas Besonderes an diesem Ehepaar? Die Herkunft Josefs wird beschrieben: Er wohnt in Galiläa, dem unbedeutenden Hinterland der Juden in der unruhigen Provinz Syrien-Palästina. Ursprünglich stammt er aber aus Bethlehem, und das ist etwas Besonderes, da es die Stadt Davids ist. Ein zweites Mal erwähnt Lukas den Namen „David“, um Josef als Nachkommen Davids hervorzuheben. Aber das Reich Davids ist 1000 Jahre her; heute regieren andere, weit­aus mächtigere Herrscher. Lukas legt Wert auf diesen Gegensatz: Dort der scheinbar unbezwingbare Machthaber der Gegenwart, hier der ihm scheinbar machtlos ausgelieferte Nachkomme eines längst verstorbenen Judenkönigs. Die letzten acht Worte des ersten Aktes, im Urtext nur sieben, erwähnen eine Frau, Josefs Verlobte, Maria. Sie geht mit Josef, „schwanger seiend“, wie es im Griechischen kurz und knapp heißt.

Gottesgeschichte

Am Beginn des zweiten Aktes unterschlägt Martin Luther in seiner Übersetzung die Worte „Und es geschah“. Im Griechischen stehen sie aber trotzdem da, und sie zeigen an, dass jetzt das eigentliche Geschehen einsetzt, auf das es Lukas ankommt:

6 Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte.

Es geschah, als sie dort waren, dass sich die Tage für sie erfüllten, um zu gebären.

So deutet die Heilige Schrift im Hebräischen ein außerordentliches Geschehen an: Einmal durch die Einleitung: „Und es geschah“, und dann durch die Erwähnung der Tage, die erfüllt waren. Die Bibel spricht nicht wie wir abstrakt von der Zeit allgemein, sondern von unseren menschlichen Lebenstagen. Die Bibel weiß, dass wir nicht „alle Zeit der Welt“ haben, wie oft so dahingesagt wird, sondern dass uns die Zeit von Gott in Form von einzelnen Tagen geschenkt ist. Heute erinnern wir uns an einen der wichtigsten, vielleicht den wichtigsten dieser Tage, als die Zeit erfüllt war für Maria, ihren ersten so besonderen Sohn zur Welt zu bringen:

7 Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

Dass ein besonderer Sohn geboren wird, scheint hier aber durch nichts bestätigt zu werden. Windeln sind doch nichts Besonderes für ein Baby, und eine Krippe als Wiege ist eher im Negativen Sinn besonders; wer möchte schon sein Kind in den Viehtrog eines Stalles hineinlegen. Lukas legt es darauf an, die Armut dieses Kindes und seiner Eltern hervorzuheben.

Aber zu den Windeln gibt es noch etwas zu erwähnen. Der Prophet Hesekiel 16, 4-5 redet in seinem Buch von der Stadt Jerusalem:

4 Bei deiner Geburt war es so. Am Tag, als du geboren wurdest, … hat man dich … nicht in Windeln gewickelt.

5 Denn niemand sah mitleidig auf dich und erbarmte sich, … sondern du wurdest aufs Feld geworfen. So verachtet war dein Leben, als du geboren wurdest.

Immerhin, Jesus wird in Windeln gewickelt und wenig­stens in eine Krippe gelegt; so verachtet ist er nicht, noch nicht, dass man ihn einfach wegwirft. Er hat Eltern, die für ihn da sind.

Aber warum erzählt Lukas uns diese Geschichte? Was geht es uns an, dass da die Verlobte eines hergelaufenen Josef, des verarmten Nachkommen eines Judenkönigs, ein Kind bekommt, in Windeln wickelt und in eine Futterkrippe legt?

Lukas weiß, dass die Szene, die er so schildert, bedeutungslos erscheinen könnte. Über ihre wahre Bedeutung für alle Menschen müssen die Menschen erst noch aufgeklärt werden. Diese Aufklärung erfolgt sofort, und zwar von ganz oben, vom Himmel, an Menschen, die ganz unten leben:

8 Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde.

Hirten, die im Freien bei ihren Herden übernachteten, gehörten zu den Ärmsten der Armen und galten als unzuverlässige Zeugen. Angeblich nahmen sie es mit dem Eigentum anderer nicht so genau. Ausgerechnet ihnen offenbart der Höchste unter Umgehung sämtlicher menschlicher Hierarchien, was in Bethlehem geschieht:

9 Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.

Ein Bote von Gott steht auf einmal bei den Hirten; wir müssen ihn uns nicht mit zarten Flügelchen ausmalen. Die Klarheit, die von ihm ausstrahlt, heißt auf Griechisch Doxa, auf Lateinisch Gloria und kann ins Deutsche auch mit Herrlichkeit oder Ehre übertragen werden. Gemeint ist der von Gott ausgehende strahlende Gegensatz zu allem, was auf unserer Erde im Argen liegt: die ganze Wucht der Allmacht und Liebe Gottes. Darum stellt sich Lukas den Boten Gottes sicher nicht wie ein Rokoko-Engelchen vor, eher wie einen gestandenen Mann; immerhin fürchten sich die Hirten vor seiner Erscheinung, „sie fürchteten sich mit großer Furcht“, heißt es hier wörtlich. Weihnachten, heilige Nacht, und die Hirten haben Todesangst. Sie begegnen ja Gott, und wer Gott sieht, muss der nicht sterben?

10 Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird;

11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.

Nein, sie müssen sich nicht fürchten, sie dürfen sich vielmehr freuen, gemeinsam mit allem Volk, denn der Heiland und Befreier ist geboren. Heiland? Retter? So ließ sich damals der Kaiser in Rom nennen. Aber nicht den meinte der Engel, sondern den Christus, also den von Gott selbst gesalbten und be­auftragten König. Geboren ist der Herr, der dem Kaiser in Rom sämtliche Titel streitig macht, obwohl er noch als Kind in der Krippe liegt, in der Stadt Davids.

12 Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.

Der Bote Gottes beschließt seine Verkündigung an die Hirten, indem er ihnen die Zeichen nennt, an denen sie die Wahrheit seiner Worte erkennen sollen; diese Zeichen bestehen in dem, was wir schon wissen: das Kind liegt in einer Krippe, es gehört also zu den vom Schicksal benachteiligten Menschen, und es hat Windeln, es ist von liebenden Eltern umsorgt.

Am Ende des zweiten Aktes beobachten wir, wie den einen Boten Gottes auf einmal sämtliche Heerscharen des Himmels umgeben:

13 Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen:

14 Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Die Streitmächte Gottes, sie kämpfen nicht, sie singen hier ein Loblied für Gott. Der durchkreuzt von oben nach unten die Weltgeschichte, indem er in Bethlehem das Kind zur Welt kommen lässt, das der Welt Frieden bringt. So und nicht anders kommt Gottes Ehre, Macht, Herrlichkeit zur Geltung: indem sein Sohn, sein Beauftragter, sein Christus, scheinbar ganz ohne Macht und Herrlichkeit in einer Krippe liegt.

Gottes Geschichte inmitten der Weltgeschichte sehen

Der dritte Akt fehlt noch. Er beginnt wieder mit den Worten „Und es geschah“, die wieder in Luthers Übersetzung fehlen:

15 Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.

Auf den ersten Blick ist das nur eine Wiederholung von dem, was wir schon gehört haben. Was sie gehört haben, wollen die Hirten nun auch wirklich sehen. Interessant ist aber, wie sie das sagen: Sie wollen die Geschichte sehen, wörtlich die Rede, das Wort, das da geschehen ist. Wie kann man eine Rede, ein Wort, eine Geschichte sehen? Wir hatten das Thema schon einmal am Anfang dieses Jahres, da ging es um Augenzeugen des Wortes Gottes. Sogar Blinde können Gottes Wort sehen, wenn Gott ihnen die Bedeutung seines Wortes erschließt. Es geht hier um das, was in der Bibel „Wort Gottes“ heißt. Immer ist dieses Wort zugleich auch Tat oder Ding, was Gott spricht, setzt sich um in handgreifliche Wirklichkeit. Das ist in der Schöpfung so, Gott spricht, und die Dinge werden, vom Licht bis zu den Lebewesen. Das ist so in der Geschichte des Volkes Israel: Gott spricht zu seinen Propheten, und sein Volk erfährt je nachdem Befreiung, Bewahrung, Wegweisung oder auch Bestrafung und Zurechtweisung. Hier wird das Wort Gottes selber Fleisch, wie wir es im Johannesevangelium lesen. In der konkreten Lebensgeschichte dieses Jesus von Nazareth, in Bethlehem geboren, nimmt Gottes Wort selbst an unserer menschlichen Geschichte teil. Der Höchste wird einer von uns, er durchlebt das Menschsein, wie es einer ganz unten erlebt, und er verändert es auf seine Weise. Denn auch als Mensch bleibt er das Wort des Höchsten. Das ist die Rede, das Wort, die Geschichte, die hier zu sehen ist, die hier beginnt im Kind in der Krippe. Gottes Wort der Liebe nimmt Gestalt an in diesem Kind.

16 Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen.

Indem die Hirten auf das Wort der Gottesboten hören und sich in Bewegung setzen, finden sie das Kind in der Krippe. Die Windeln sind hier nicht erwähnt, wohl aber die Eltern des Kindes, die es lieben und versorgen.

17 Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war.

Die Hirten sind hier an der Krippe zu Sehenden geworden. Sie haben genug Einsicht gewonnen in die Geschichte, die hier geschieht, in diesem Kind hier sehen sie das Wort Gottes, das zur Welt kommt. Und sofort werden sie nun selber zu Boten Gottes. Sie breiten aus, was ihnen die Engel gesagt haben. Welche Wirkung hat nun die Verkündigung der Hirten?

18 Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten.

Alle verwundern sich. Alle? Wen meint Lukas?

So wie er am Anfang wie mit einer Lupe dieses einzelne Menschenpaar Josef und Maria aus der weltweiten Menschheitsgeschichte herausgepickt hat, um von ihrem Kind eine ganze andere Geschichte zu erzählen, so vergrößert er jetzt wieder den Blickwinkel und lässt die Botschaft von dem Kind in der Krippe zu allen Menschen gelangen. Letztlich meint Lukas alle, die sein Evangelium lesen und hören, letztlich meint er uns.

Alle verwundern sich. Was, diese Geschichte soll auch uns angehen? Dieser Jesus ist auch für uns geboren, dass unser Leben anders wird? Kaum zu glauben.

19 Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.

Später wird Lukas in seinem Evangelium von einer Frau berichten, die zu dem erwachsenen Jesus sagt (Lukas 11):

27 Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, an denen du gesogen hast.

Jesus wird dann dieser Frau scheinbar ausweichend antworten:

28 Ja, selig sind, die das Wort Gottes hören und bewahren.

Hier in der Geburtsgeschichte klingt an, dass Lukas die Mutter Maria als unser Vorbild hinstellt: Sie ist die erste, die die Worte der Hirten nicht nur hört und sich darüber verwundert, sondern sie bewahrt und bewegt sie in ihrem Herzen. Sie wird dem Kind, das uns Frieden bringt, eine gute Mutter sein. Sie wird akzeptieren, dass sie sich um ihn Sorgen machen und um seinetwillen Leid tragen muss. Am Ende wird sie zu der Gemeinde gehören, die auf ihren Sohn hört und auf seinen Wegen geht. Was Maria schon hier in der Weihnachtsgeschichte tut, dazu fordert uns Lukas auf: Macht es wie Maria, behaltet die Worte der Geschichte, die hier geschehen ist, und bewegt sie in eurem Herzen, in eurem Leben.

Wir kommen zum Schluss des dritten Aktes. Jetzt tun die Hirten auf Erden das, was die Engel am Ende des zweiten Aktes vom Himmel her getan haben:

20 Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.

Wie die Engel zurück in den Himmel gegangen sind, so kehren die Hirten zurück zu ihren Schlafplätzen, zurück in ihren Alltag. So werden auch wir gleich zurück in unsere Häuser und Wohnungen gehen und die Bescherung feiern oder auf andere Weise unser Weihnachtsfest zu Hause feiern. Und nach Weihnachten wird auch unser Alltag weitergehen. Vom Alltag Marias und Josefs und des Kindes wissen wir, dass er bald ziemlich turbulent zugehen wird, das Kind muss in Sicherheit gebracht werden. Danach folgen ruhige Kindheits- und Jugendjahre, bis Jesus als erwachsener Mann dem Auftrag seines Vaters im Himmel folgen wird.

Aber bevor das alles geschieht, bevor es Alltag wird nach der Weihnachtsnacht, lassen die Hirten uns noch einmal hören, was wir nicht vergessen sollen: Dass Gott nicht nur heute Nacht, sondern an jedem Tag die höchste Ehre gebührt. Warum und wofür? Für alles, was damals die Hirten zu hören und zu sehen bekamen: dass in Jesus das Wort Gottes selber zur Welt gekommen ist, der Heiland, der Retter, der Befreier der Welt. Er bringt uns Frieden. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.

Wir singen das Lied 46:

1) Stille Nacht, heilige Nacht! Alles schläft, einsam wacht nur das traute, hochheilige Paar. Holder Knabe im lockigen Haar, schlaf in himmlischer Ruh, schlaf in himmlischer Ruh.

2) Stille Nacht, heilige Nacht! Hirten erst kundgemacht, durch der Engel Halleluja tönt es laut von fern und nah: Christ, der Retter, ist da, Christ, der Retter, ist da!

3) Stille Nacht, heilige Nacht! Gottes Sohn, o wie lacht Lieb aus deinem göttlichen Mund, da uns schlägt die rettende Stund, Christ, in deiner Geburt, Christ, in deiner Geburt.

Heiliger Gott, du lässt dich erkennen und anbeten in dem Kind in der Krippe. Du lässt deine Friedensgeschichte mit uns Menschen dort anfangen, wo es keiner vermuten würde, du lässt die Geschichte weiterverkünden durch Hirten, denen keiner glauben würde, du vertraust dennoch darauf, dass wir der Verkündigung der Hirten unser Vertrauen schenken.

Schenke uns den Frieden, der mit Jesus beginnt, wo wir aufhören, uns überall selber behaupten zu müssen, wo wir Schuld zugeben und um Vergebung bitten können, wo wir erste Schritte zur Versöhnung tun, wo wir barmherzig mit uns sind und aufhören, uns zu überfordern, wo wir barmherzig mit dem sind, der uns auf die Nerven geht. Schenke uns Trost, wo wir nicht weiter wissen, trockne unsere Tränen, die wir an Weihnachten weinen, und lass uns die Liebe zeigen, die wir für andere Menschen übrig haben.

In der Stille bringen wir vor dich, Gott, was wir persönlich auf dem Herzen haben.

Stille und Vater unser

Wir singen das Lied 44:

1) O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit! Welt ging verloren, Christ ist geboren: Freue, freue dich, o Christenheit!

2) Christ ist erschienen, uns zu versühnen: Freue…

3) Himmlische Heere jauchzen dir Ehre: Freue…

Abkündigungen und Segen

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