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Kultur der Vergebung

Eine Kultur der Vergebung auch im öffentlichen Leben müsste erst noch entwickelt werden, wozu gehören würde: Keine Verfehlungen verharmlosen, zu eigenen Verschuldungen stehen und notwendige Konsequenzen ziehen, aber niemanden menschlich fertigmachen, auch dann, wenn er sich wirklich etwas hat zuschulden kommen lassen.

Zwei Gliederpuppen, die in hellem und dunklem Feld stehen, klatschen einander mit erhobenen Händen zum Zeichen der Versöhnung ab
Ein Zeichen der Versöhnung? (Bild: succoPixabay)

Rede am Volkstrauertag, den 15. November 1987, um 11.30 Uhr in Heuchelheim und um 14.00 Uhr in Reichelsheim

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!

Am Volkstrauertag sind wir im gemeinsamen Trauern versammelt, um das Schicksal derer nicht zu vergessen, die unter dem Terror von Krieg und Rassenverfolgung leiden mussten. Wir sind mit denen vereint, denen fremdes oder eigenes Leid als Folge der Weltkriege nach wie vor zu schaffen macht. Dieses Trauern und dieses Gedenken ist uns zugleich Anlass, um innezuhalten und öffentlich darüber nachzusinnen, wie heute der Friede bewahrt werden kann.

Dankbar können wir sein für erste Abrüstungschritte, die in diesem Jahr möglich wurden, u. a. auch dadurch, dass deutsche Politiker über ihren eigenen Schatten springen konnten.

Wir können aber nicht darüber hinwegsehen, dass wir uns im Augenblick große Sorgen machen müssen um den inneren Frieden in unserem Land. Darüber möchte ich heute zu ihnen sprechen, weil wir alle durch aufwühlende Ereignisse in unserem Gewissen herausgefordert sind.

In den vergangenen Monaten haben wir mit Betroffenheit spüren müssen, wohin es führt, wenn aus dem Streben, sich politisch durchzusetzen, ein mit allen Mitteln geführter Machtkampf wird. In Kiel hat das zu schmutzigen Versuchen geführt, anderen Politikern die Ehre abzuschneiden. An der Startbahn West ist das Recht jedes Bürgers, seiner Auffassung auch durch öffentliche Demonstration Nachdruck zu verleihen, durch feigen Mord schändlich missbraucht worden. Wir trauern heute auch um die beiden Polizisten, die während ihrer Pflichterfüllung im Einsatz, um Rechte von Bürgern zu schützen, erschossen wurden. Und ebenso ist auch der Tod des ehemaligen Ministerpräsidenten Uwe Barschel ein Anlass zur Volkstrauer, weil sein Tod eng zusammenhing mit großen Gefahren für die politische Kultur in unserem Land. Bei diesen Themen sollte es sich niemand von uns leicht machen und nur mit dem Finger auf andere zeigen. Wer es verharmlost hat, wenn Demonstranten Steine oder Molotowcocktails warfen, muss sein Gewissen ebenso befragen wie derjenige, der es mit der Wahrheit nicht ganz so genau nahm, wenn es um die Ehre des politischen Gegners oder den Nutzen der eigenen Partei ging.

Unter dem Eindruck der Gewalttaten an der Startbahn West ist die Angst vor dem Terror wieder gewachsen. Wichtig ist, dass dadurch nicht die Besonnenheit abgetötet wird. Auf der einen Seite des politischen Spektrums muss man noch konsequenter einen klaren Trennungsstrich zwischen gewaltfreien Demonstranten und kriminellen Gewalttätern ziehen; wer z. B. angetreten ist, um sich für die Erhaltung unserer Umwelt einzusetzen, darf sich nicht für die Deckung von Gewalttaten missbrauchen lassen. Auf der anderen Seite der Parteienpalette muss man die Frage glaubwürdig beantworten, ob man wirklich nur dem Terror wirksam entgegentreten will oder ob man im Grunde jeglichen, auch demokratischen und gewaltlosen Protest im Keim ersticken will.

In diesem Jahr ist ein Misstrauen gegenüber allem entstanden, was mit Politik und Parteien zusammenhängt. Es sitzt so tief, gerade auch schon bei Jugendlichen, dass man es nicht einfach wegwischen kann. Wenn manche Politiker nun dem alten Rezept folgen und nur immer dem politischen Gegner Schandtaten nachzuweisen versuchen, damit man selber nicht gar so schlecht dasteht – das macht alles nur noch schlimmer.

Aber welche Konsequenzen sind zu ziehen? Sich ganz heraushalten aus der schmutzigen Politik? Aus der Partei austreten, der man angehört hatte? Das würde bedeuten: Die Politik noch mehr denen zu überlassen, die die Macht auch zu ihrem eigenen Vorteil missbrauchen.

„Suchet der Stadt Bestes!“ (Jeremia 29, 7)

– so wird Gottes Volk schon in der Bibel zum Einsatz für das Gemeinwohl aufgefordert und ermutigt. Im Grunde kann sich heute keiner ganz heraushalten aus der Politik; sogar das Nichtstun kann weitreichende Wirkungen haben. Niemand kann sein Gewissen beruhigen und sagen: „Ich habe von nichts gewusst, ich habe nichts getan.“

Aber was können wir denn tun? Wir können z. B. mit dazu beitragen, dass gerade jetzt die besonnensten, gewissenhaftesten und damit glaubwürdigsten Leute in die Politik hineingehen und sich bestätigt sehen. Solche Politiker gibt es ja, die auch über Parteigrenzen hinaus Anerkennung finden, ich nenne nur von Weizsäcker, Süßmuth, Hamm-Brücher, Eppler, Brandt, Schily oder die Gebrüder Vogel. Hier am Ort könnten wir auch solche Frauen und Männer aufzählen, die politische Verantwortung nicht nur im Dienste ihrer eigenen Fraktion tragen. Es käme darauf an, gerade die Feinfühligen, die Nachdenklichen zu unterstützen, auch wenn sie nicht immer gleich perfekte Rezepte anzubieten haben. Wir sollten niemandem eine politische Chance lassen, der mit dem Holzhammer auf den Andersdenkenden losgeht, damit nicht nur die Leute mit dem dicksten Fell es in der politischen Arena überhaupt aushalten.

Bis jetzt ist es noch ein öffentlicher Makel, wenn man Fehler und falsche Einschätzungen nachträglich zugibt bzw. korrigiert. Politiker werden entweder in den Himmel gelobt, wobei man übersieht, dass niemand von ihnen unfehlbar ist, oder sie werden mit Abscheu fallengelassen, wenn sich der Verdacht eines Verschuldens ergibt. Eine Kultur der Vergebung auch im öffentlichen Leben müsste erst noch entwickelt werden, wozu gehören würde: Keine Verfehlungen verharmlosen, zu eigenen Verschuldungen stehen und notwendige Konsequenzen ziehen, aber niemanden menschlich fertigmachen, auch dann, wenn er sich wirklich etwas hat zuschulden kommen lassen.

Als Wähler und Mitwirkende an der öffentlichen Meinung müssen wir nicht immer den Leuten nachlaufen, die die volltönendsten Versprechungen abgeben; gerade in der Politik müssen wir nicht immer die Vollkommenheit zum Maßstab erheben, an dem man dann doch nur die anderen misst. Wir könnten zugestehen, dass der politische Gegner auch einmal Recht haben könnte, wir könnten lernen, ihm wenigstens zuhören. Wir bräuchten es nicht für eine Katastrophe zu halten, wenn die Politiker, denen man nahesteht, Macht abgeben müssen. Das sind Stichworte für mehr Menschlichkeit in der Politik, um Frieden zu halten im eigenen Land.

Wenn wir das können, fällt es auch leichter, zur Versöhnung zwischen Völkern beizutragen, auch wenn wir dabei Gegensätze zwischen Kulturen und Systemen überbrücken und an der Last vergangener Schuld mittragen müssen.

Trauer am Volkstrauertag darf nicht nur rückwärtsgewandt sein. Gedenktage sind immer auch Tage der Mahnung. Lasst uns also eine Mahnung in den Alltag unseres Gemeinwesens mit hineinnehmen: Statt mit dem Finger auf andere zu zeigen, zunächst unser eigenes Gewissen zu schärfen.

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