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„Liebt eure Feinde!“

Es ist schwer, das Problem zu lösen, dass so viele Menschen aus dem Elend in ein Land wie unseres flüchten. Es ist schwer, menschliche Lösungen zu finden, damit es so gerecht wie möglich zugeht. Keine Lösung ist es, feindseligen Gefühlen Raum zu geben. Gott lässt seine Sonne scheinen über allen, sein Regen ist für alle da. Davon können wir lernen.

Gottes Welt mit Regen und Sonnenschein spiegelt sich in einem großen Wassertropfen in einer Pfütze
Gottes liebevolle Sorge für seine Welt spiegelt sich in einer Wasserpfütze (Bild: Mystic Art DesignPixabay)

#predigtGottesdienst am 21. Sonntag nach Trinitatis, den 20. Oktober 1991, um 9.30 Uhr in der Kapelle der Landesnervenklinik Alzey und um 13.30 Uhr in der evangelischen Kirche Ensheim

Herzlich willkommen im Gottesdienst am 21. Sonntag nach Trinitatis!

Um ein nicht ganz einfaches Thema geht es in den Bibeltexten dieses Sonntags: um den Umgang mit Feinden. Wie ist das, wenn Menschen uns Unrecht tun, wenn wir uns von Menschen in unseren Lebensmöglichkeiten eingeschränkt fühlen, wenn wir vielleicht sogar tief enttäuscht wurden von Menschen, die uns nahestehen? Ich lade Sie ein, sich von Worten der Bibel anregen zu lassen, über diese Fragen nachzudenken! Auch die Lieder, die wir singen, habe ich so ausgesucht, dass in den Liedtexten schon etwas davon deutlich wird: Wie geht Gott mit Feinden um – wie sollen wir mit Feinden umgehen.

Lied 205, 1-3 und 6:

1) Lob Gott getrost mit Singen, frohlock, du christlich Schar! Dir soll es nicht misslingen, Gott hilft dir immerdar. Ob du gleich hier musst tragen viel Widerwärtigkeit, noch sollst du nicht verzagen, er hilft aus allem Leid.

2) Dich hat er sich erkoren, durch sein Wort auferbaut, bei seinem Eid geschworen, dieweil du ihm vertraut, dass er deiner will pflegen in aller Angst und Not, deine Feind niederlegen, die schmähen dich mit Spott.

3) Kann und mag auch verlassen ein Muttr ihr eigen Kind und also gar verstoßen, dass es kein Gnad mehr findt? Und ob sichs möcht begeben, dass sie so gar abfiel: Gott schwört bei seinem Leben, er dich nicht lassen will.

6) Gott solln wir billig loben, der sich aus großer Gnad durch seine milden Gaben uns kundgegeben hat. Er wird uns auch erhalten in Lieb und Einigkeit und unser freundlich walten hie und in Ewigkeit.

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Hören wir Worte aus Psalm 74, Worte der Klage über das Unrecht, das dem Gottesvolk angetan wurde:

1 Eine Unterweisung Asafs. Gott, warum verstößest du uns für immer und bist zornig über die Schafe deiner Weide?

2 Gedenke an deine Gemeinde, die du vorzeiten erworben und dir zum Erbteil erlöst hast…

3 Richte doch deine Schritte zu dem, was so lange wüste liegt. Der Feind hat alles verheert im Heiligtum.

4 Deine Widersacher brüllen in deinem Hause und stellen ihre Zeichen [Bilder falscher Götter] darin auf.

5 Hoch sieht man Äxte sich heben wie im Dickicht des Waldes.

6 Sie zerschlagen all sein Schnitzwerk mit Beilen und Hacken.

7 Sie verbrennen dein Heiligtum, bis auf den Grund entweihen sie die Wohnung deines Namens.

8 Sie sprechen in ihrem Herzen: Lasst uns sie ganz unterdrücken! Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Lande.

9 Unsere Zeichen sehen wir nicht [die Zeichen unseres eigenen Gottes], kein Prophet ist mehr da, und keiner ist bei uns, der etwas weiß.

10 Ach, Gott, wie lange soll der Widersacher noch schmähen und der Feind deinen Namen immerfort lästern?

11 Warum ziehst du deine Hand zurück? Nimm deine Rechte aus dem Gewand und mach ein Ende!

12 Gott ist ja mein König von alters her, der alle Hilfe tut, die auf Erden geschieht.

15 Du hast Quellen und Bäche hervorbrechen lassen und ließest starke Ströme versiegen.

16 Dein ist der Tag und dein ist die Nacht; du hast Gestirn und Sonne die Bahn gegeben.

17 Du hast dem Land seine Grenze gesetzt; Sommer und Winter hast du gemacht.

18 So gedenke doch, HERR, wie der Feind schmäht und ein törichtes Volk deinen Namen lästert.

19 Gib deine Taube nicht den Tieren preis; das Leben deiner Elenden vergiss nicht für immer.

21 Lass den Geringen nicht beschämt davongehen, lass die Armen und Elenden rühmen deinen Namen.

22 Mach dich auf, Gott, und führe deine Sache; denk an die Schmach, die dir täglich von den Toren widerfährt.

23 Vergiss nicht das Geschrei deiner Feinde; das Toben deiner Widersacher wird je länger, je größer.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Barmherziger Gott, von Feindschaft hören wir nicht gern, die meisten unter uns haben es lieber harmonisch, wir leben nicht gern mit Konflikten. Wir sehnen uns nach Frieden, aber doch erleben wir es, wie wir Menschen einander Unrecht tun, miteinander streiten und zanken, ja sogar einander hassen und verletzen und Krieg gegeneinander führen. Wir sehnen uns nach Frieden, und wir ertappen uns selbst dabei, dass wir unfriedliche Gedanken haben, dass wir Menschen nicht verzeihen können, die uns enttäuscht haben, dass wir Angst haben vor den vielen Fremden, die in unserem Land eine Zuflucht suchen vor Verfolgung und Elend, dass wir es als Schwäche empfinden, in einem Streit nachzugeben.

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

So spricht Paulus im Brief an die Römer 12, 21. Gott, hilf uns zum Frieden, schenke uns Deine Liebe! Das erbitten wir von dir im Namen Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

Wir hören die Lesung aus dem Evangelium nach Matthäus 5, 38-48. Das ist zugleich der heutige Predigttext:

38 Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.«

39 Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar;

40 wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel;

41 wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.

43 Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen.

44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen,

45 damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.

46 Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?

47 Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?

48 Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Halleluja! „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Lied 246, 3-6:

3) Die Lieb nimmt sich des Nächsten an, sie hilft und dienet jedermann; gutwillig ist sie allezeit, sie lehrt, sie straft, sie gibt und leiht.

4) Ein Christ seim Nächsten hilft aus Not, tut solchs zu Ehren seinem Gott. Was seine rechte Hand reicht dar, des wird die linke nicht gewahr.

5) Wie Gott lässt scheinen seine Sonn und regnen über Bös und Fromm, so solln wir nicht allein dem Freund dienen, sondern auch unserm Feind.

6) Die Lieb ist langmütig, freundlich, sie eifert nicht noch bläht sie sich, glaubt, hofft, verträgt alls mit Geduld, verzeiht gutwillig alle Schuld.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

Zwei Bibeltexte haben wir gehört, einen aus den Psalmen des Volkes Israel und einen aus der Bergpredigt Jesu. Sie haben etwas gemeinsam: beide reden von Feinden. Der Psalm malt aus, wie die Feinde des Volkes Gottes den heiligen Tempel kaputtgemacht haben, wie sie das Volk unterdrücken. Und Jesus spricht von Feinden, die einem ins Gesicht schlagen, das letzte Hemd wegnehmen oder einen dazu zwingen, bestimmte Dienste zu tun. Der Dichter des Psalms denkt an die Assyrer oder Babylonier, die das Land Israel überfallen hatten; Jesus denkt an die Römer, die zu seiner Zeit die Fremdherrscher im Lande waren.

Doch nun gibt es auch Unterschiede in beiden Texten. Der Psalmdichter fleht Gott um Hilfe an gegen die Feinde: „Mach ein Ende! – Mach dich auf, Gott, und führe deine Sache; denk an die Schmach, die dir täglich von den Toren widerfährt. Vergiss nicht das Geschrei deiner Feinde; das Toben deiner Widersacher wird je länger, je größer.“ Wie würden wir das normalerweise verstehen? Gott soll eingreifen, er soll die Feinde bestrafen, er soll helfen, dass man sie aus dem Land verjagt! Auch zur Zeit Jesu gab es Gruppen im Land, sie nannten sich Zeloten, Eiferer, die wollten Gott damit dienen, dass sie die Römer gewaltsam aus dem Land zu vertreiben suchten.

Aber nun hören wir von Jesus ganz andere Töne: „Liebt eure Feinde!“ Wie hört sich das an – auf dem Hintergrund der Erfahrungen, die das Volk Israel jahrhundertelang gemacht hatte? Man hatte ihren Tempel entweiht. Sie wurden geknechtet und entwürdigt. Jeder hergelaufene römische Soldat durfte einen auf der Straße vorbeikommenden Juden dazu zwingen, ihm eine ganze Meile weit sein Marschgepäck zu schleppen. Ungestraft durfte er einem Juden ins Gesicht schlagen, und wenn er zurückschlug, konnte er wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, wegen Aufruhrs und Terror, vielleicht sogar gekreuzigt werden. Dazu kam, dass im Lande nicht die Gesetze Gottes herrschten, nein, Reiche nahmen sich das Recht heraus, die Armen schamlos auszubeuten, manche nahmen einem hochverschuldeten armen Mann buchstäblich das letzte Hemd, sein letztes Untergewand, und ließen ihm gerade noch das allerletzte Bekleidungsstück, sein Obergewand, das nun wirklich nicht mehr gepfändet werden durfte, weil es auch als Zudecke zum Schlafen in der Nacht diente.

Wie kann Jesus gegenüber solchen Gewalttätern und Ausbeutern dazu auffordern: „Liebt eure Feinde!“? Wäre es nicht viel natürlicher, zu sagen: „»Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen!“? Nebenbei bemerkt: Nirgends in der Bibel der Juden, im Alten Testament, steht dieser Satz ausdrücklich: „Du sollst deinen Feind hassen!“ Das weiß natürlich auch Jesus. Aber diese Haltung gegenüber einem Feind ist so weit verbreitet, bis heute, dass Jesus sicherlich auf etwas eingeht, was er auch bei seinen Volksgenossen gespürt hat: Einem Feind kann man doch nur mit Abwehr, Zorn und Hass begegnen!

Dennoch sagt Jesus: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen!“ Warum? Ja, warum? Jesus sagt als Begründung: „…damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“

So etwas ähnliches stand auch schon in dem Psalm den wir gehört haben: „Du hast Quellen und Bäche hervorbrechen lassen… Dein ist der Tag und dein ist die Nacht; du hast Gestirn und Sonne die Bahn gegeben… Sommer und Winter hast du gemacht.“ Aber dort war noch nicht der Schluss gezogen worden, dass Gott die Sonne ja für alle Menschen scheinen und den Regen für alle Menschen Fruchtbarkeit bringen lässt.

Jesus sieht Gott offensichtlich anders als die, die meinen, Gott müsste alle bestrafen, die ihn nicht anerkennen. Jesus weiß, dass Gott einen anderen Weg kennt, mit Feinden umzugehen. Die Leute zu lieben, die einem sowieso nahestehen, das wäre ja nichts Besonderes, das tun alle, Jesus nennt als Beispiele die Zöllner und die Heiden, also Leute, die von den rechtgläubigen Juden verachtet und abgelehnt wurden: „Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?“ Wer wirklich an Gott glaubt, soll mehr tun, soll auch ernstnehmen, dass Gott auch seinen Feinden Gutes tut, dass er Sonne und Regen auch denen schenkt, die nichts von ihm halten. Seid doch auch so wie Gott, geht mit Feinden auch so um, wie Gott es tut! Oder habt ihr es erlebt, dass Gott jede eurer Sünden gleich bestraft? Dass es jedem Bösewicht gleich an den Kragen geht? Hat er nicht unendliche Geduld mit den Menschen? Davon sollt ihr lernen!

Und an dieser Stelle sagt Jesus sogar das Wort: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“

Dieses Wort darf man übrigens nicht aus dem Zusammenhang reißen. Sonst verstehen wir es völlig falsch! Denn in einem allgemeinen Sinn kann niemand außer Gott vollkommen sein. Jesus sagt sogar über sich selbst, als ihn einer mit „guter Meister“ anredet (Lukas 18, 19):

Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein.

Und noch etwas: Im Lukasevangelium wird unser Predigttext ganz ähnlich überliefert. Aber es gibt einen interessanten Unterschied: Lukas verwendet nicht das Wort „vollkommen“. Bei Lukas sagt Jesus nicht: „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“ Dort sagt Jesus (Lukas 6, 36):

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.

So bekommt das, was Jesus sagt, einen anderen Klang. Vollkommen sein, so wie wir es normalerweise verstehen – das würde uns überfordern. Da denken wir, wir dürften keine Fehler machen, wir müssten immer Nr. 1 sein, immer die Größten und Besten sein. Aber im Zusammenhang unseres Textes meint Jesus mit dem Wort Vollkommenheit wirklich nicht Perfektion auf allen Gebieten. Wir sollen vielmehr einfach barmherzig sein. Und Barmherzigkeit schließt auch ein: Einen Menschen annehmen, auch wenn er Fehler macht. Einem Menschen vergeben, wenn er schuldig geworden ist. Einen Menschen liebhaben, auch wenn er unvollkommen ist. Nur auf dem einen Gebiet sollen wir Gott gleich zu werden versuchen: auf dem Gebiet der Barmherzigkeit, auf dem Gebiet der Liebe. Und wenn wir selbst das nicht vollkommen schaffen – wird Gott mit uns dennoch barmherzig sein.

Gott ist ein barmherziger Gott, der allen seine Wärme schenkt, den Bösen und den Guten, und der allen das kostbare Wasser zukommen lässt, egal ob sie gerecht oder ungerecht sind. Ob uns das nun passt oder nicht – Gott macht gerade keine Unterschiede zwischen vollkommeneren Menschen und unvollkommeneren, er liebt nicht die Guten mehr als die Bösen, er findet nicht nur die Gerechten liebenswert, sondern auch die, die schon einmal Unrecht getan haben.

Aber wie können wir denn nun anders mit Feinden umgehen – müssen wir uns denn nicht wehren, wenn sie uns angreifen? Kann man denn Unrecht einfach so hinnehmen?

Jesus zeigt an Beispielen, was man tun kann. Er beginnt mit einem Satz, den wir wohl alle schon einmal gehört haben: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.«“ Wenn dir einer einen Zahn ausschlägt, dann schlage ihm auch einen Zahn aus, wenn dich einer am Auge verletzt, dann füge ihm eine gleiche Verletzung zu. Wenn dir einer weh tut, dann zahle es ihm mit gleicher Münze heim. Das kennen wir, das ist bis heute so geblieben.

Auge um Auge, Zahn um Zahn, das war immerhin schon als ein Fortschritt gedacht gegenüber einem vielfachen Vergeltungsdenken: Wenn dir einer ein Unrecht zufügt, dann zahle es ihm doppelt und dreifach heim. Aber aus alltäglichem Streit, z. B. unter Kindern, wissen wir, dass es gar nicht so einfach ist, nur immer in genau gleicher Münze heimzuzahlen. Da streiten sich zwei, und jeder sagt: der andere hat angefangen. Max sagt: Der hat mir eine Ohrfeige gegeben, da musste ich ihn vors Schienbein treten. Und Moritz sagt: Der hat Hornochse zu mir gesagt – da musste ich ihm eine runterhauen. Und Max sagt wieder: Der hat mich angerempelt, da musste ich ihm doch die Meinung sagen. Und Moritz: Das war doch nur versehentlich. Und Max: Aber du hast dich überhaupt nicht entschuldigt.

Jesus stellt dieses ganze Denken in Frage, dass man unbedingt Unrecht mit Unrecht heimzahlen muss. Wenn einem einer weh getan hat, was hat man denn davon, wenn dem nun auch etwas weh tut? Nun gut, mögen wir sagen: Dann spürt er wenigstens selber, was er mir zugefügt hat. Aber oft gelingt es gar nicht, wirklich ganz genau Gleiches mit Gleichem zu vergelten, dann fühlt der andere sich ungerecht behandelt, schlägt wieder zurück, und es kommt zu endlosem Streit. Und unter Erwachsenen sogar manchmal zu Mord und Totschlag, unter Völkern und Volksgruppen zu blutigem Krieg, wie jetzt in Jugoslawien.

Jesus weiß, dass ein liebevoller Vater im Himmel ist. Ein Vater, der für alle seine Geschöpfe etwas übrig hat. Ein Vater, der nicht möchte, dass seine Menschenkinder im Streit und Krieg miteinander leben. Und deshalb versteht Jesus gar nicht, dass es so wichtig sein soll, unbedingt jedes Unrecht mit einem anderen Unrecht auszugleichen. Jesus geht davon aus: Wenn Gott mit uns barmherzig ist, wenn Gott uns lieb hat trotz unserer vielen Fehler, dann haben wir es nicht nötig, uns über die Fehler anderer Menschen allzusehr aufzuregen. Dann sollten wir vor allem bemüht sein, selber kein Unrecht zu tun, auch nicht dem gegenüber, der uns Unrecht getan hat. Das heißt nicht unbedingt, dass wir nicht zornig werden dürften, uns überhaupt nicht wehren dürften. Wir sollen aber jedenfalls eins nicht tun: Selber ein böse Tat tun, weil ein anderer böse zu uns war.

Stattdessen will Jesus uns auf eine ganz andere Idee bringen: nämlich dass wir uns um Versöhnung bemühen. Das ist viel wichtiger, als unbedingt Recht zu behalten, unbedingt dem anderen auch weh zu tun. Wir haben viel mehr davon, wenn der Feind nachher ein Freund ist. Wir haben nichts davon, wenn der Feind nachher tot ist.

Drei Beispiele führt Jesus an, aus denen deutlich wird, wie man das machen kann: Selbst kein Unrecht zu begehen und – vielleicht – den Feind dazu zu kriegen, ein Freund zu werden.

Erstens: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“ Der Schlag auf die rechte Backe ist normalerweise ein Schlag mit dem Handrücken, eine schwere Beleidigung. Die normalste Reaktion wäre natürlich: Zurückschlagen! Aber noch mutiger finde ich die Reaktion Jesu: Die andere Backe auch hinhalten. Dem Schläger damit zu verstehen geben: Ich will dich nicht als Feind haben. Ich will dir nicht auch weh tun. Ich will nicht aus der Haut fahren, will nichts Unbedachtes tun. Ich will nicht nachher als der größere Schläger dastehen. Ich will, dass du einsiehst, du hast Unrecht getan.

Im zweiten Beispiel sagt Jesus: „Wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.“ Davon hatte ich vorhin schon gesprochen: Wenn ein Geldeintreiber in Israel einem armen Menschen sein letztes Hemd pfänden wollte, dann musste er ihm wenigstens seinen Mantel zurücklassen – der war nicht pfändbar. Jesus schlägt nun vor, dem Geldeintreiber demonstrativ auch noch den Mantel zu geben, damit ihm sein Unrecht bewusst wird.

Und das dritte Beispiel: „Wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei!“ Ich sagte schon: Jeder römische Soldat hatte damals das Recht, einen zufällig vorbeikommenden Juden als Lastträger zu missbrauchen – und zwar für eine ganze Meile. Jesus schlägt vor: Lasst das nicht einfach über euch ergehen, vielleicht mit der geballten Faust in der Tasche, sondern tut mehr, als der Soldat von euch verlangt. Zeigt dem Römer, dass ihr keine Knechte seid, sondern freie Menschen, die sogar mehr geben können, als das, wozu man sie zwingt.

Eins will Jesus also nicht: Er will uns nicht zu Feiglingen erziehen. Das ist hier gar nicht das Thema. Es geht nicht darum, ob man es aus Angst nicht wagt, sich zu wehren. Für Jesus ist es zwar eine natürliche Sache, Angst zu haben und sie zu spüren, denn nur dann kann man sie auch überwinden – z. B. mit der Hilfe anderer Menschen und mit der Hilfe Gottes im Gebet. Aber hier geht es gar nicht um Angst. Hier geht es darum, ob man in einem Feind nur noch den sieht, der bestraft oder gar vernichtet werden muss, oder ob man auch im Feind einen Menschen sieht, der im Grunde so ist wie ich selbst, der auch ein geliebtes Kind Gottes ist, der eine Chance verdient, sich zu ändern.

Wir in Deutschland heute haben keine feindliche Besatzungsmacht im Land, die uns unterdrückt. Wir erleben auch nicht solche Feindschaft, wie sie gegenwärtig in Jugoslawien zwischen fanatischen Serben und Kroaten herrscht. Wir können auch dankbar dafür sein, dass die Feindschaft zu Russland und Polen allmählich überwunden wird – so wie die frühere Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland längst vergessen ist. Wir erleben selten Übergriffe in der Art, wie Jesus sie beschrieben hat.

Aber trotzdem: auch in unserem Land mehren sich wieder Anzeichen von Gewalt. Junge Menschen begehen Morde aus völlig unverständlichen Motiven – z. B. jetzt in Norddeutschland an den beiden Polizisten – was treibt sie zu dieser Gewalt? Die Gewalt an den Schulen, vor allem in Großstädten nimmt zu; Anschläge auf Ausländerwohnheime werden verübt.

Letzte Woche traf ich auf dem Friedhof in Bingen zufällig zwei Tippelbrüder, die von Hamburg nach Rheinhessen gekommen waren, um in der Weinlese zu arbeiten. Sie regten sich furchtbar auf über die polnischen Saisonarbeiter, die ihnen die Arbeit weggenommen hätten. Und sie schimpften auf die Politiker, die immer mehr Ausländer ins Land ließen. Denen ginge es besser als manchen Deutschen, die ihr Leben lang gearbeitet hätten.

Ich kann solche Gedanken und Gefühle verstehen. Aber aus ihnen heraus können leicht ganze Gruppen von Menschen sozusagen zu Feinden werden. Und wir sehen ja, was dann geschehen kann: Einzelne meinen dann, es ist recht, Gewalt gegen Ausländer anzuwenden, Asylantenheime anzuzünden usw.

Es ist wirklich sehr schwer, nach Lösungen für das Problem zu suchen, dass so viele Menschen aus dem Elend in ein Land wie unseres flüchten. Es ist schwer, menschliche Lösungen zu finden, damit es so gerecht wie möglich zugeht.

Aber es ist keine Lösung, feindseligen Gefühlen Raum zu geben oder einem Denken, dass nicht genug für alle da sei. Gott lässt seine Sonne scheinen über allen, sein Regen ist für alle da. Davon können wir lernen.

Auf ein letztes Beispiel von Feindschaft möchte ich noch eingehen. Feindschaft dort, wo wir sie am wenigsten ertragen können, nämlich unter Menschen, die uns eigentlich am nächsten stehen. So schlimm es sich anhört: Manchmal werden uns sogar Menschen zu Feinden, die wir lieben oder geliebt haben, z. B. Ehepartner oder die eigenen Kinder oder Eltern.

Viele Beispiele könnte ich nennen: Ehefrauen, die von ihrem alkoholkranken Mann verprügelt werden. Töchter, die der eigene Vater missbraucht. Kinder, die ein Leben lang darunter leiden, dass die Mutter dem Kind zum Vorwurf macht: Nur weil du geboren wurdest, konnte ich nicht meinen Beruf ausüben, bin ich krank geworden.

Alle, die in solcher Weise Unrecht erfahren haben in der eigenen Familie, werden erst frei von ihren seelischen Belastungen, wenn sie ihr Selbstwertgefühl wieder erlangen. Wenn sie den Mut bekommen, zu sagen: Sie haben mir unrecht getan. Ich habe ein Recht, zornig darauf zu sein. Und – ich muss dennoch nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Es genügt, wenn ich mich nicht selber schuldig fühlen muss für das, was sie getan haben. Es genügt, wenn ich nun doch spüre: Ich bin etwas wert, ich kann woanders bekommen, was ich brauche, ich habe es nicht mehr nötig, mich zu rächen. Dann ist es irgendwann auch möglich, zu verstehen, warum die Eltern so waren, wie sie eben waren. Vielleicht spürt man irgendwann sogar wieder, dass man die Eltern trotz allem lieb hat, dass man ihnen auch etwas verdankt. Und dann ist sogar Versöhnung möglich, nicht indem man wegschaut von dem, was schlimm war, sondern indem man – vergibt. Amen.

Und der Friede Gottes, der viel größer ist, als unser Denken und Fühlen erfassen kann, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Wir singen aus dem Pfingstlied 105 die Strophen 7-9, von dem Geist Christi, der ein Geist der Liebe auch zu den Feinden ist:

7) Du bist ein Geist der Liebe, ein Freund der Freundlichkeit, willst nicht, dass uns betrübe Zorn, Zank, Hass, Neid und Streit. Der Feindschaft bist du feind, willst, dass durch Liebesflammen sich wieder tun zusammen, die voller Zwietracht seind.

8) Du, Herr, hast selbst in Händen die ganze weite Welt, kannst Menschenherzen wenden, wie dir es wohlgefällt; so gib doch deine Gnad zu Fried und Liebesbanden, verknüpf in allen Landen, was sich getrennet hat.

9) Erhebe dich und steure dem Herzleid auf der Erd, bring wieder und erneure die Wohlfahrt deiner Herd. Lass blühen wie zuvor die Länder, so verheeret, die Kirchen, so zerstöret durch Krieg und Feuerszorn.

Barmherziger Gott, lehre auch uns Barmherzigkeit! Du gehst mit uns selber barmherzig um, so lass uns auch in jedem anderen Menschen jemanden erkennen, den du lieb hast. Gib uns Kraft, zu spüren, wie weh es tut, enttäuscht zu werden, verletzt zu sein. Gib uns Mut, davon auch zu sprechen, was uns auf der Seele liegt. Und gib uns die Einsicht, dass es niemandem hilft, wenn wir nun auch versuchen, dem andern wehzutun. Lass uns auf Ideen kommen, wie wir Feindschaft beenden können, wie wir mit Menschen ins Reine kommen können, die uns zu schaffen machen. Du liebst uns, auch wenn wir dir zu schaffen machen, dafür danken wir dir! Amen.

Alles, was uns heute bewegt, schließen wir im Gebet Jesu zusammen:

Vater unser

Zum Schluss singen wir aus dem Lied 383 die Strophen 1 und 4 bis 6:

1) O Gott, du frommer Gott, du Brunnquell guter Gaben, ohn den nichts ist, was ist, von dem wir alles haben, gesunden Leib gib mir, und dass in solchem Leib ein unverletzte Seel und rein Gewissen bleib.

4) Findt sich Gefährlichkeit, so lass mich nicht verzagen, gib einen Heldenmut, das Kreuz hilf selber tragen. Gib, dass ich meinen Feind mit Sanftmut überwind und, wenn ich Rat bedarf, auch guten Rat erfind.

5) Lass mich mit jedermann in Fried und Freundschaft leben, soweit es christlich ist. Willst du mir etwas geben an Reichtum, Gut und Geld, so gib auch dies dabei, dass von unrechtem Gut nichts untermenget sei.

6) Soll ich auf dieser Welt mein Leben höher bringen, durch manchen sauren Tritt hindurch ins Alter dringen, so gib Geduld; vor Sünd und Schanden mich bewahr, dass ich mit Ehren trag all meine grauen Haar.

Abkündigungen

Und nun lasst uns mit Gottes Segen in den Sonntag und in die neue Woche gehen:

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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