Bild: Pixabay

Gerechtfertigt

Paulus geht davon aus: wir sind gerechtfertigt. Wir brauchen uns nicht selbst zu rechtfertigen. Wir könnten das gar nicht, denn wir sind voller grundlegender Fehler, durch die wir einander das Leben schwer machen. Einer nimmt uns an, obwohl er nicht alles gutheißt, was wir tun. Einer verurteilt uns nicht, obwohl wir für unsere Lieblosigkeit, unsere Sturheit ein hartes Urteil verdienen.

Ein Buch mit Brille, Handschuhen und Turnschuhen doziert fröhlich hinter einer zerbrochenen Scheibe
In den Scherben unseres Lebens sagt uns das Buch der Bücher: Du bist gerechtfertigt! (Bild: Mariana AnatoneagPixabay)

Predigt am 2. März 1980 im Gottesdienst in Reichelsheim mit einer Taufe
Predigttext: Römerbrief 5, 1-5

1 Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus;

2 durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird.

3 Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung,

5 Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist.

Liebe Gemeinde!

Dieser Paulus ist gar nicht leicht zu verstehen. Er ist Kind einer anderen Zeit. Er ist ein Denker, der nicht nur an der Oberfläche der Dinge bleiben will. Er benutzt eine Vielzahl von Begriffen – Glaube, Frieden, Gnade, Herrlichkeit, Drangsale, Ausdauer, Bewährung, Hoffnung, Liebe, heiliger Geist – die alle schon für sich nicht leicht dem Verstehen zugänglich sind. Bei einem einmaligen Hören rauscht der Text sicher fast vollständig an unseren Ohren vorbei.

Vielleicht folgen Sie mit mir dem Verlauf des Textes, indem wir ihn uns wie einen Spiegel vorhalten. Einen Spiegel, in dem wir uns wiedererkennen, so wie wir sind; in dem wir aber vielleicht auch Neues an uns entdecken, Möglichkeiten, die wir in uns verschlossen halten; in dem wir vielleicht aber auch Dinge an uns sehen, die uns nicht mehr gefallen, wenn wir uns so sehen, wie wir von außen gesehen werden.

„Aus Glauben also gerechtfertigt.“ Das ist der Ausgangspunkt. Wir sind gerechtfertigt. Das hat Paulus vorher breit dargestellt und erläutert. Gerechtfertigt – das klingt so, als ob wir einen Grund hätten, uns zu rechtfertigen, als ob wir etwas Böses getan hätten – wir alle. Ist das denn so? Was haben wir uns denn vorzuwerfen?

Diese Fragen zeigen schon: wir können fast nicht anders, wir rechtfertigen uns ständig, wir stellen uns so dar, dass wir anerkannt werden. Wir entkräften Vorwürfe, suchen Entschuldigungen, schieben anderen die Verantwortung zu. Wenn schon andre uns nicht anerkennen, wissen wir selbst wenigstens, was wir sind und getan haben – und die uns am nächsten sind, wissen das auch, wenigstens zum Teil. Die anderen sollen uns gestohlen bleiben.

Wenn wir bei dieser Einstellung stehen bleiben, dass wir gar nicht auf Rechtfertigung angewiesen sind, hat es kaum Zweck, weiterzulesen. Aber ist es nicht so, dass wir nur aus Resignation sagen: ich brauche die Anerkennung der anderen nicht? eben weil uns nicht alle so annehmen, wie wir sind, weil wir Fehler begehen, die uns andere nicht verzeihen? weil wir manchmal in die Irre gehen und die anderen verurteilen uns, helfen uns nicht, wieder die richtige Richtung zu finden?

Paulus geht davon aus: wir sind gerechtfertigt. Wir brauchen uns nicht selbst zu rechtfertigen. Wir könnten das gar nicht, denn wir sind voller grundlegender Fehler, durch die wir unseren Mitmenschen und uns das Leben schwer machen – und sei es nur dadurch, dass wir sagen: was gehen mich die anderen an? Für die fühle ich mich nicht verantwortlich.

Wir sind gerechtfertigt. Einer nimmt uns an, obwohl er nicht alles gutheißt, was wir tun. Einer verurteilt uns nicht, obwohl wir – wenn wir ehrlich sind – für unsere Lieblosigkeit, unsere Sturheit, unsere nicht eingestandenen Fehler ein hartes Urteil verdienen.

Liebe Konfirmanden, erinnert ihr euch an das Komplimentespiel? Die, die auf der Freizeit waren, haben es zum Teil erfahren: es ist schön, von anderen zu hören: „du bist ein dufter Typ“ oder „ich finde dies oder das gut an dir.“ Es ist schön, von den anderen akzeptiert zu sein. Und es kann dann auch hilfreich sein, zu hören, was die anderen denn nicht gut an mir finden. Es ist schön, wenn andere nicht zu mir sagen: „der ist halt so, der ändert sich nie“, sondern: „ich fände es schön, wenn du dies oder das an deinem Verhalten änderst, aber du musst selbst entscheiden, ob du das willst.“

„Aus Glauben also gerechtfertigt“, sagt Paulus. Glauben heißt hier: Vertrauen. Vertrauen gehört dazu, wenn man sich den anderen aussetzt und ehrliche Worte hören will: was sie gut, was sie nicht gut an einem finden. Hier meint Paulus das Vertrauen zu Gott. Nicht nur dieser oder jener Mensch erkennt uns an oder auch nicht, je nach unserem Verhalten, nicht wir selbst müssen uns rechtfertigen, sondern Gott nimmt uns an, obwohl er nicht alles gutheißt, ws wir tun.

Deshalb gilt: „Wir haben mit Gott Frieden.“ Vielleicht legen wir darauf gar keinen Wert, weil wir mit Gott, den wir nicht sehen, nichts anfangen können. Vielleicht zweifeln wir, ob es Gott gibt. Dann spüren wir sicher auch nichts vom Frieden mit Gott, vielleicht auch nichts vom inneren Frieden mit uns selbst. Denn ohne Gott ist diese Welt gefühllose Materie, und alles Leben, aller Geist kehren zu ihr zurück, Werden und Vergehen sind dem Zufall überlassen, letzte Verantwortlichkeiten des Menschen gibt es nicht, letzte Sinnerfüllung ebensowenig.

Wenn wir aber damit rechnen, dass ein Gott ist, könnte doch einer sagen: Frieden mit Gott spüre ich nicht, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott mich wirklich so akzeptiert, wie ich bin. Ich kann mir selbst nicht alles verzeihen, was ich getan habe, wie sollte ich das von Gott erwarten? Wenn ich mich auf Gott einlasse, müsste ich ein viel besserer Mensch werden, und das kann ich nicht.

Paulus sagt: wir haben Frieden mit Gott. Gott will nicht, dass wir uns nichts Besseres zutrauen. Er will nicht, dass wir ständig ein schlechtes Gewissen haben. Er hat das Recht, Schuld durchzustreichen und zu sagen: Nun fang neu an. Du musst nicht alles tun, was die anderen von dir verlangen. Aber du kannst neu anfangen, das Richtige zu tun, ein gutes Wort sagen, helfen, ermutigen, ermahnen, verzeihen, danken. Gott hat das Recht, uns zu vergeben und uns das zu sagen, denn er hat in unserer Welt gelebt, ein Mensch wie wir, Jesus; denn dieser Mensch hat meine Schuld auf sich geladen, dieser Mensch wurde stattdessen Opfer dessen, was wir Menschen einander antun. Er wurde gefoltert und getötet – und vergab seinen Folterknechten und Henkern, den Feinden, die ihn verurteilten, den Freunden, die ihn allein ließen. Daher sagt Paulus: „Wir haben mit Gott Frieden durch unseren Herrn Jesus Christus.“

Es könnte natürlich auch jemand sagen: Frieden mit Gott spüre ich nicht, denn Gott lässt das Böse und das Leiden zu. Wer so denkt, wünscht sich Gott als einen Marionettenspieler, der das Weltgeschehen so lenken soll, dass nichts passiert. Die Welt ist nicht so, und Gott ist nicht so. Wir haben Freiheit, auch Böses zu tun; in unserer Welt gibt es Aufbau und Zerstörung.

Aber es stimmt nicht, wenn wir denken: der Zustand unserer Welt lässt Gott kalt. Er leidet darunter. Er leidet darunter, dass wir auf Kosten anderer leben, dass wir leben, als ob wir keinen Grund zur Dankbarkeit hätten. Er leidet nicht nur in Gedanken mit, sondern – wie gesagt – in dem Mann Jesus leidet Gott wirklich, ist Gott allen Leidenden ganz nahe. Er leidet nicht, weil er Leiden schön findet, sondern weil es der einzige Weg für ihn war, das Böse zu überwinden. Hätte er sich mit Gewalt seinem Urteil entzogen, wäre er sich untreu geworden, hätte er den Teufelskreis des Bösen nicht durchbrochen, sondern fortgeführt.

„Aus Glauben also gerechtfertigt, haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus. Durch den haben wir“, so fährt Paulus fort, „im Glauben Zugang zu diesem unserem Gnadenstande erlangt.“ Paulus betont also noch einmal: Dass wir Frieden mit Gott erfahren, dass wir das Bewusstsein haben, vor Gott viel wert zu sein und neu anfangen zu können – das ist keine Sache des Wissens oder Beweisens, sondern eine Sache des Glaubens, das heißt des Vertrauens. Den Frieden mit Gott nennt Paulus unseren Gnadenstand, unser Stehen in der Gnade. Mit dem Wort Gnade meint er, dass es hier wirklich nicht um eigene Verdienste oder Leistungen geht, für die wir bei Gott anerkannt werden, sondern dass er uns ohne Vorleistungen annimmt.

Genauso wie alle sich etwas zutrauen dürfen, genauso wenig soll einer sich etwas einbilden auf Dinge, die er besser kann als andere, auf besondere Verdienste und Opfer, die er bringt. Statt sich selbst ins rechte Licht zu rücken und eigene Vorzüge zu rühmen, rühmt Paulus sich anderer Dinge:

Erstens: „Wir rühmen uns erhoffter Herrlichkeit Gottes.“ Das heißt, wir freuen uns, dass Gott dieser oft nicht herrlichen Welt etwas ganz Schönes sagt. Unrecht und Leiden, Gleichgültigkeit und Tod haben nicht das letzte Wort. Hoffnung auf den Gott, der eine neue Erde schaffen kann, ist das Wort, auf das wir uns verlassen können. Wir freuen uns nicht nur auf eine zukünftige herrliche neue Welt, sondern über jedes Zeichen von Liebe und Vertrauen, von gegenseitiger Verantwortung – sei es in der Familie, sei es in der Konfirmandengruppe, im Kirchenvorstand, in der Schule, am Arbeitsplatz, im Ringen um politisch richtige Entscheidungen oder in der Suche nach der Erfüllung des eigenen Lebens.

Paulus geht aber noch weiter: „Nicht aber nur das: Wir rühmen uns vielmehr auch der Drangsale.“ Das leuchtet schwer ein. Wer denkt bei der Klage über sein Leid daran, dass diese Klage umschlagen könnte in eine Äußerung der Freude? Wer denkt im Ärger über einen verkorksten Tag daran, seiner inneren Unzufriedenheit etwas Gutes abzugewinnen? Wer denkt in der Enttäuschung über das Verhalten seiner Mitmenschen daran, diese Situation als Herausforderung anzunehmen? So aber, als Herausforderung nämlich, versteht Paulus sowohl die Drangsale und Leiden, denen er die Christen mehr noch als andere Menschen ausgesetzt sieht.

Wenn wir das, was uns niederdrückt, als Herausforderung ansehen, dann bewirkt es „Ausdauer, Bewährung und Hoffnung, die nicht zuschanden werden lässt.“ Die Zeichen der Herrlichkeit Gottes spürt vielleicht gerade einer, der nach Meinung der Leute nichts mehr hoffen kann, einer, der durch viele Leidensstationen hindurchgegangen ist und am Ende den Tod vor Augen hat. Er kann vielleicht – ich habe solche Menschen kennengelernt – ganz intensiv die Freude über jedes geschenkte kleine Glück empfinden, über jede tiefe menschliche Zuwendung, über jede gelungene eigene Anstrengung, die gut war für sich selbst oder für einen anderen.

Oder wenn wir gar nichts mehr sehen als nur noch Menschen, die uns ärgern, lästig sind, Vorschriften und Vorwürfe machen, wenn wir uns selbst nicht leiden mögen in unserer Unzufriedenheit und Gereiztheit, wenn wir kein Ziel mehr sehen und keinen Erfolg, obwohl unser Tag ausgefüllt ist bis in die Nacht hinein – weil wir einen Berg voll unerledigter Arbeit und ungelöster Probleme vor uns herschieben – dann können wir auch das als Herausforderung ansehen. Dann kann nach einer Zeit der Ausdauer ein Gespräch mit Freunden das ganze in einem anderen Licht erscheinen lassen. Dann kann Verständnis wachsen für einige derer, die uns auf die Nerven fallen. Dann bleibt es vielleicht nicht bei bloßer Höflichkeit als Maske, hinter der man seine wahren Gefühle versteckt. Auch nicht bei oberflächlichem Ärger, dem man im Gespräch übereinander Luft macht. Vielleicht gelingt es, das Vertrauen zu finden, über die hinter dem Ärger liegenden Gefühle zu reden, die Schwäche und die Angst, die Enttäuschung und die Demütigung oder was auch immer das sein mag. Vielleicht lernt man es, einander zu akzeptieren, einander zu sagen, was man vom anderen erwartet, einander näherzukommen. Vielleicht kann man sogar von einem, über den man sich geärgert hat, besonders viel lernen. Deshalb sagt Paulus: „Wir rühmen uns auch der Drangsale.“

Und er fährt fort: Schließlich „ist doch Gottes Liebe in unsere Herzen ausgegossen durch den uns geschenkten heiligen Geist.“ Ausdauer, Bewährung und Hoffnung sind nicht Leistungen, die wir uns abringen müssen. So lange wir nach Verdiensten streben, so lange wir den Herausforderungen aus eigener Kraft begegnen und sie meistern wollen, so lange bleiben wir auf dem Weg der Selbstrechtfertigung und des Unfriedens mit Gott und mit uns selbst. „Gottes Liebe ist ausgegossen in unsere Herzen“ – sie ist uns geschenkt, wir können von ihr Gebrauch machen. Gottes eigener Geist handelt durch uns, wenn wir das tun. Deshalb können wir das alle. Lassen wir uns darauf ein.

Ich bete mit einem Gebet von Tagore:

„Lass mich nicht bitten, vor Gefahr bewahrt zu werden, sondern ihr furchtlos zu begegnen, lass mich nicht das Ende der Schmerzen erflehen, sondern das Herz, das sie besiegt, lass mich auf dem Kampffeld des Lebens nicht nach Verbündeten suchen, sondern nach meiner eigenen Stärke, lass mich nicht in Sorge und Furcht nach Rettung rufen, sondern hoffen, dass ich Geduld habe, bis meine Freiheit errungen ist, gewähre mir, dass ich kein Feigling sei, der seine Gnade nur im Erfolg erkennt; lass mich aber den Halt deiner Hand fühlen, wenn ich versage.“

Amen.

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken des Kommentars stimmen Sie seiner Veröffentlichung zu (siehe Datenschutzerklärung). Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.