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Schwachmacht

Stärke gewinnt Josua, indem Gott ihm etwas zutraut, indem er sich unablässig an die Worte Gottes hält, indem Gott ihn nicht allein lässt. Für Paulus ist Jesu zärtliche Liebe genug. Er weiß sich angenommen: „Du darfst schwach sein. Du musst nicht immer der große, immer perfekte, redegewandte Völkerapostel sein. Gerade so, wie du bist, bist du den Menschen ein Vorbild.“

Eine kleine Schildkröte auf einer großen Hand
Eine kleine Schildkröte auf einer großen Hand (Bild: Oscar CastilloPixabay)
direkt-predigtGottesdienst am Neujahrstag, den 1. Januar 2012, um 17.00 Uhr in der Pauluskirche Gießen

Guten Abend, liebe Gemeinde!

Am ersten Sonntag im Neuen Jahr, der dieses Mal zugleich der Neujahrstag ist, heiße ich alle herzlich willkommen zu einem gemeinsamen Gottesdienst der drei Gießener Nordgemeinden Michael, Paulus und Thomas. Zum elften Mal feiern wir in dieser Jahreszeit gemeinsam, in diesem Jahr allerdings wieder nicht „zwischen den Jahren“, weil es gar keinen Sonntag zwischen Weihnachten und Neujahr gab.

Besonders herzlich begrüße ich hier in der Pauluskirche die Mitglieder der Thomas- und der Michaelsgemeinde. Pfarrerin Carolin Kalbhenn und Pfarrer Helmut Schütz werden diesen Gottesdienst gemeinsam gestalten.

Im Mittelpunkt unserer Feier soll die Jahreslosung für 2012 stehen. Sie steht in 2. Korinther 12, 9:

„[Jesus Christus spricht:] Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“

Wir singen aus dem Lied 58 die Strophen 1 bis 3 und 6 bis 7:

1. Nun lasst uns gehn und treten mit Singen und mit Beten zum Herrn, der unserm Leben bis hierher Kraft gegeben.

2. Wir gehn dahin und wandern von einem Jahr zum andern, wir leben und gedeihen vom alten bis zum neuen

3. durch so viel Angst und Plagen, durch Zittern und durch Zagen, durch Krieg und große Schrecken, die alle Welt bedecken.

6. Ach Hüter unsres Lebens, fürwahr, es ist vergebens mit unserm Tun und Machen, wo nicht dein Augen wachen.

7. Gelobt sei deine Treue, die alle Morgen neue; Lob sei den starken Händen, die alles Herzleid wenden.

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Wir beten gemeinsam den Psalm 8, im Gesangbuch steht er unter der Nr. 705; ich lese gemeinsam mit den Männern die eingerückten Teile, Pfarrerin Kalbhenn gemeinsam mit den Frauen die linksbündigen Verse:

Was ist der Mensch, Herr, dass du dich seiner annimmst?

2 Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel!

3 Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen.

4 Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:

5 was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?

6 Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.

7 Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan:

8 Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere,

9 die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und alles, was die Meere durchzieht.

10 Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Gott, du Barmherziger! Ein altes Jahr haben wir hinter uns gelassen, für manche erfüllt von Freude, Glück und Erfolg, für andere ein Jahr der Krankheit, der Krise, der Kriege. Wir legen alles zurück in deine Hände, dankbar oder mit einem großen Seufzer. Für das, was vor uns liegt, bitten wir dich um deine Begleitung, um deine Kraft, um deine Vergebung, damit wir uns getrost in das Neue Jahr hineinwagen. Wir rufen zu dir:

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Als der Apostel Paulus nicht wusste, wie er ertragen sollte, was ihm auferlegt war, und in seiner Not zu Jesus betete, nahm Jesus seine Last trotzdem nicht von ihm. Doch Paulus hörte Jesus diesen Satz zu ihm sagen (2. Korinther 12, 9):

„Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende“.

Der Herr sei mit euch „und mit deinem Geist.“

Gott, unser Vater, wir bitten dich nun um Ohren, die dein Wort hören, um ein Herz, das dein Wort fassen kann, und um die Kraft, im Neuen Jahr nach deinem Wort zu leben. Darum bitten wir dich im Vertrauen auf dich und deinen Sohn Jesus Christus, unseren Herrn. „Amen.“

Wir hören aus dem Buch Josua im Kapitel 1 die Verse 1 bis 9:

1 Nachdem Mose, der Knecht des HERRN, gestorben war, sprach der HERR zu Josua, dem Sohn Nuns, Moses Diener:

2 Mein Knecht Mose ist gestorben; so mach dich nun auf und zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, gegeben habe.

3 Jede Stätte, auf die eure Fußsohlen treten werden, habe ich euch gegeben, wie ich Mose zugesagt habe.

4 Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang, das ganze Land der Hetiter, soll euer Gebiet sein.

5 Es soll dir niemand widerstehen dein Leben lang. Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein. Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen.

6 Sei getrost und unverzagt; denn du sollst diesem Volk das Land austeilen, das ich ihnen zum Erbe geben will, wie ich ihren Vätern geschworen habe.

7 Sei nur getrost und ganz unverzagt, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken, damit du es recht ausrichten kannst, wohin du auch gehst.

8 Und lass das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem, was darin geschrieben steht. Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen, und du wirst es recht ausrichten.

9 Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.

Herr, dein Wort ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege. Halleluja. „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Glaubensbekenntnis

Wir singen aus dem Lied 61 die Strophen 1 bis 2 und 4 bis 5:

1. Hilf, Herr Jesu, lass gelingen, hilf, das neue Jahr geht an; lass es neue Kräfte bringen, dass aufs neu ich wandeln kann. Neues Glück und neues Leben wollest du aus Gnaden geben.

2. Was ich sinne, was ich mache, das gescheh in dir allein; wenn ich schlafe, wenn ich wache, wollest du, Herr, bei mir sein; geh ich aus, wollst du mich leiten; komm ich heim, steh mir zur Seiten.

4. Herr, du wollest Gnade geben, dass dies Jahr mir heilig sei und ich christlich könne leben ohne Trug und Heuchelei, dass ich noch allhier auf Erden fromm und selig möge werden.

5. Jesus richte mein Beginnen, Jesus bleibe stets bei mir, Jesus zäume mir die Sinnen, Jesus sei nur mein Begier, Jesus sei mir in Gedanken, Jesus lasse nie mich wanken!

Dialogpredigt Carolin Kalbhenn und Helmut Schütz:
Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde,

da liegt es nun vor uns: dieses Neue Jahr 2012. Unberührt wie ein Stück Land, auf das noch keiner seinen Fuß gesetzt hat. Voller Möglichkeiten und Chancen. Was erwartet mich? Was werde ich machen aus diesem Jahr, das in der vergangenen Nacht laut oder leise, verzagt oder voller Hoffnung, mit großen Erwartungen oder auch mit manchen Befürchtungen begrüßt worden ist.

Und auch wenn wir ja de facto mit dem Beginn eines neuen Jahres nicht einfach so ganz neu anfangen können, erscheint es doch vielen so, dass dieser äußere Neuanfang auch die Möglichkeit mit sich bringt, im eigenen kleinen Leben neue Wege zu gehen. Die vielen guten Vorsätze, die in der Silvesternacht gefasst werden, sie erzählen davon, wie viele doch davon träumen, ausgetretene Pfade zu verlassen, aufzubrechen zu neuen Ufern, dem Leben eine andere Wendung zu geben. Gesünder leben, mehr Sport machen, sich mehr Zeit nehmen für die Kinder, oder auch grundsätzlicher: sich beruflich neu orientieren, einen schwelenden Konflikt nicht länger tot schweigen, Lösungen finden für das, was fesselt und unfrei macht in einem Leben. Gute Vorsätze in der Silvesternacht – sie erzählen von unserem Willen und unserer unbändigen Kraft, unser Leben in die Hand zu nehmen und zu gestalten.

Wer gute Vorsätze fasst, der weiß auch, wie oft sie im dann doch im Sande verlaufen, wie unendlich mühsam es ist, der Zähigkeit der eigenen Gewohnheiten, den festgefügten Strukturen des eigenen Lebens etwas entgegen zu setzen oder sie gar zu überwinden. Dass einem dabei mehr oder weniger schnell die Puste ausgehen kann, Erschöpfung und Ernüchterung sich breit macht und man sich schließlich nur allzu schnell wieder auf den schon immer vertrauten Wegen des eigenen Lebens wiederfindet, auch wenn man ahnt, dass sie einen nicht in die richtige Richtung führen. Wer den Willen zur Veränderung in sich spürt, der ahnt oft genug gleichzeitig die eigene Ohnmacht, die eigene Schwäche, was die Verwirklichung der eigenen Pläne, Träume, der vielen guten Vorsätze angeht.

Der erste Tag im neuen Jahr – es ist ein Tag, der schillert zwischen dem Bewusstsein, schier unendliche Möglichkeiten in die Hand gelegt zu bekommen, dem Staunen, der Dankbarkeit, der Herausforderung, die man angesichts dessen vielleicht empfindet. Und zugleich der Überforderung, die das mit sich bringen mag, der Zweifel an der eigenen Kraft, die Frage nach dem Maß der eigenen Kräfte, die es zur Bewältigung all‘ dieser Herausforderungen bedarf.

Zwei biblische Botschaften haben wir in diesem Gottesdienst gehört, die den Zusammenhang von Stärke und Ohnmacht, von Kraft und Schwäche thematisieren, den für heute vorgesehenen Predigttext aus dem Buch Josua und die Jahreslosung, die über dem heute beginnenden Jahr 2012 steht. Im ersten hört Josua Gott zu sich sprechen: „Sei getrost und unverzagt“, oder wörtlich übersetzt: „Sei mutig und stark, denn Gott ist mit dir“. Im zweiten hört Paulus die Worte des Herrn Jesus: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“

Beide Worte können uns als Ermutigung begleiten; sie sagen uns eine Kraft zu, die wir uns selbst nicht geben können oder müssen, sondern die uns von Gott, von Christus, gegeben ist. Er ist bei uns, er wirkt in uns, dadurch gewinnen wir Stärke, Trost und einen Mut, mit dem wir auch schwere Herausforderungen bewältigen können.

Beide Worte klingen allerdings in manchen Ohren auch problematisch. „Sei getrost, sei unverzagt!“ – das wurde auch schon Menschen gesagt, die aus ihrer Verzagtheit, Mutlosigkeit, Depression dann doch nicht herauskamen. „Sei mutig, sei stark!“ Ein solcher Satz kann wie eine Überforderung, ein versteckter Vorwurf ankommen. Du glaubst zu wenig, du lässt dich zu wenig auf Gott ein, sonst würdest du seine Kraft spüren.

Und den Satz von der Kraft, die in den Schwachen mächtig ist, hat schon mancher so gehört, als ob es sich für einen Christen nicht gehöre, ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln oder auf seine eigenen Stärken stolz zu sein.

Wir denken, es lohnt sich, beide Worte in dem Zusammenhang zu betrachten, in dem sie in der Bibel stehen, und dann zu schauen, wie sie sich gegenseitig auslegen und ergänzen.

Vorhin haben wir gehört, in welcher Situation Josua die Ermutigung hört „Sei getrost und unverzagt!“, „Sei mutig und stark!“ Gott gibt ihm nach dem Tod des Mose den Auftrag, das Volk Israel in das Land Kanaan zu führen. Wenn man bedenkt, welcher Aufstand wegen einer Fernsehsendung wie „Wetten, dass…“ gemacht wird, weil viele annehmen, niemand könne in die Fußstapfen eines Entertainers wie Thomas Gottschalk treten, kann man sich ausmalen, vor welcher Herausforderung Josua stand. Die Schuhe des Mose waren wirklich groß; würde er sie ausfüllen können? Immerhin trägt Josua einen großen Namen: in „Joschua“ oder „Jeschua“ klingt das hebräische Wort für „Rettung“, „Hilfe“, „Befreiung“ an; die alte griechische Übersetzung der Hebräischen Bibel gibt den Namen mit „Jesus“ wieder. Ein erster Jesus soll das große Befreiungswerk des Mose weiterführen.

Um das zu tun, fordert Gott den Josua drei Mal auf, stark zu sein. Zuvor verspricht er ihm: „Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein. Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen.“ Warum muss Gott Josua drei Mal sagen, dass er stark sein soll? Wenn er das so eindringlich tun muss, weiß Gott offenbar, dass es nicht leicht ist, stark zu sein und zu bleiben. Und er verbindet diese Aufforderung mit drei verschiedenen Erläuterungen.

Beim ersten Mal sagt er: „Sei mutig und stark; denn du sollst diesem Volk das Land austeilen, das ich ihnen zum Erbe geben will, wie ich ihren Vätern geschworen habe.“ Das heißt: Stärke gewinnt Josua, indem er eine Aufgabe bekommt, indem Gott ihm etwas zutraut. Wir erleben es auch hin und wieder, dass ein Mensch mit seinen Aufgaben wächst. Wenn uns jemand etwas zutraut, ist das ein erster Schritt, es auch wirklich zu schaffen.

Beim zweiten Mal holt Gott weiter aus: „Sei mutig und stark, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken, damit du es recht ausrichten kannst, wohin du auch gehst. Und lass das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem, was darin geschrieben steht. Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen, und du wirst es recht ausrichten.“ Damit erinnert Gott an die Wegweisung, auf Hebräisch Tora, die er durch Mose seinem Volk gegeben hat. Stark wird Josua sein, indem er sich unablässig an diese Worte Gottes hält, niemals davon abweicht, sie Tag und Nacht mit dem Mund vorträgt, mit den Augen betrachtet und in allen Taten befolgt. Gottes Gebote sind keine Schikane für uns Menschen, sondern eine Hilfe, die Gott uns an die Hand gibt, um stark sein zu können. Wer Orientierung hat, kann selbstbewusst und mit aufrechtem Gang in der Verantwortung vor Gott leben.

Ein drittes Mal sagt Gott: „Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.“ Offenbar kann es auf dem Weg auch eines mutigen Menschen grauenerregende, entsetzliche Dinge geben, aber Gott verspricht noch einmal: ich lasse dich dabei nicht allein. „In allem, was du tun wirst, bin ich mit dir.“ Tu einfach, was du kannst, überfordere dich nicht, den Rest erledige ich. Mich spricht dabei an, dass beides ineinander geschieht, mein Tun und das mit-mir-Sein Gottes. Was ich tue, wird nicht abgewertet, sondern aufgewertet, dadurch, dass Gott mit mir ist. Ich darf Stärken entwickeln und selbstbewusst zu dem stehen, was ich kann.

„Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“, sagt Jesus. Ein Satz, der uns ermutigen soll an diesem Abend. In dem Sinne, wie Du, Helmut, es an dem Beispiel des Josua ausgeführt hast. Es traut uns einer was zu und gleichzeitig lässt uns einer nicht allein mit den Aufgaben, vor die er uns stellt. Das ist eine gute Botschaft am Anfang eines Jahres, von dem ich noch nicht weiß, was es mir bringt und welche Herausforderungen es im Großen wie im Kleinen zu bestehen gilt.

„Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ – es gibt allerdings auch etwas, das ich anstößig finde an diesem Wort und das ist die Erfahrung, dass Schwachheit ja auch instrumentalisiert wird, es oft genug Schwachheit ist, mit der über andere ungeheure Macht ausgeübt wird: „Es kümmert sich ja keiner um mich.“ oder „Du könntest ja auch mal anrufen.“ oder „Mich fragt ja keiner.“ Sätze, die die eigene Ohnmacht oder Schwäche, die eigene Resignation in einen Vorwurf dem anderen gegenüber wenden. Sätze, in denen die Kraft der Schwachen für den, an den sie gerichtet sind in unangemessener und übergriffiger Weise deutlich wird. Sätze, in denen die scheinbare Ohnmacht letztlich nur mehr oder weniger gut getarnte Macht ist.

Darum ist es mir wichtig, noch einmal darüber nachzudenken, worin denn die Kraft besteht, die in den Schwachen mächtig ist. Dazu möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen.

Ein belebter Samstag in der Gießener Fußgängerzone. Ein Mann im Weihnachtsmannkostüm fabriziert aus Luftballons Tiere. Er bläst sie auf, dreht einmal hier und dann einmal da – und fertig ist eine Eule, eine Schnecke oder ein Hund. In Windeseile scharen sich Kinder um ihn. Jeden Alters. Große und Kleine. Manche bleiben länger stehen und schauen zu, andere verlieren schnell die Lust. Ein Mädchen im roten Kleid steht schon eine Weile da. Am Rand. Ganz genau beobachtet sie, was der Mann da macht. Als er schließlich anfängt, seine Tiere zu verschenken, kommt Bewegung in die Menge der Kinder. Die Großen drängen sich nach vorne. Einige Mütter schieben ihre kleinen Kinder von hinten unsanft an anderen vorbei. Das Hauen und Stechen hat begonnen. Das Mädchen im roten Kleid bleibt an seiner Stelle stehen, es betrachtet den Mann und wartet. Der schaut unter den Kindern herum und beginnt die letzten drei Ballons zu verschenken. Zwei Kinder rechts von dem Mädchen im roten Kleid beginnt er. Und als er gerade die gelbe Schnecke dem Mädchen hinhalten will, kommt ein größeres Kind von hinten, es streckt die Hand aus und ist eine Sekunde schneller als das Kind im roten Kleid, das verdattert guckt, sich dann still umdreht und weg geht.

Mich hat dieses Kind noch lange beschäftigt. Seine Schwäche, seine Unterlegenheit. Aber wie viel Würde hat es ausgestrahlt. Wie viel mehr hat es mich berührt und angerührt als die anderen, die offensichtlich Stärkeren, die sich um die Ballons gerissen haben.

Dieses Kind hat den Wunsch, die Sehnsucht in mir berührt, die wir vermutlich alle in uns tragen. Die Sehnsucht nach einer Welt, in der jeder zu seinem Recht kommt, wo nicht allein das Recht des Stärksten zählt und nicht der hinten runter fällt, der sich scheinbar schwach zeigt, weil er nicht nur sich, sondern auch die andere im Blick hat. Dieses Kind hat mich darauf gestoßen, dass die Macht der Schwachen eine ganz andere ist als die Macht der Starken. Es ist eine Kraft, die anrührt, aber nicht bedrängt. Es ist eine Kraft, die ganz ohne Gewalt auskommt und doch so viel nachhaltiger und durchsetzungsfähiger ist. Es ist eine Kraft, in der sich widerspiegelt, wie die Welt auch sein könnte und wo sie sichtbar wird, da hat ganz zart die Welt schon begonnen, sich zu verändern.

Liebe Carolin, das Bild dieses Mädchens rührt auch mich sehr an. Und ich hätte mir ein Happy End für das Mädchen gewünscht. Oder ist es „happy“ genug, wenn das Mädchen diese Würde und diese Sehnsucht nach einer barmherzigeren Welt ausstrahlt?

Dann habe mich erinnert an den kleinen Jungen, der ich einmal war, dem ist es manchmal auch so gegangen wie dem kleinen Mädchen. Und vielleicht habe ich manchmal auch versucht, ohne dass mir das bewusst war, mit meiner Schwäche und Unterlegenheit andere zu manipulieren.

Aber irgendwann saß ich einmal in einer Selbsthilfegruppe und schwieg hilflos den Gruppenleiter an, und der sagte mir auf einmal: „Weißt du eigentlich, wie stark du bist? Du lässt dir nicht helfen. Du sagst bei jedem Ratschlag ‚Ja, aber!‛ Wenn ich dich frage, was du brauchst, schweigst du mich an. Anscheinend weißt du genau, was du nicht willst. Ich kann und will deinen Widerstand nicht brechen. Gegen deinen Willen kann ich dir nicht helfen.“

Und dann ließ er mich sitzen und machte mit jemand anderem weiter. Mir ging es damit dreckig. Aber zugleich staunte ich, dass jemand mich als stark empfand, wo ich selber mich innen drin doch so schwach fühlte. Und mit der Zeit lernte ich, mit meiner Stärke und mit meiner Schwachheit anders umzugehen. Konkret um Hilfe zu bitten, wo ich Hilfe brauchte. Zu meiner Stärke zu stehen, auch wenn ich mich nicht perfekt fühlte und meine Angst überwinden musste.

Ich kenne andere Menschen, die waren immer stark, mussten es immer sein, hätten anders nicht überleben können. Irgendwann brennen sie aus, können auch die stärksten Menschen nicht mehr rund um die Uhr auf Hochtouren laufen. Ihre Kräfte reichen nicht einmal mehr aus, um einfachste Anforderungen des Alltags zu bewältigen, und sie schämen sich dafür. Keiner versteht das; nicht die anderen, und am wenigsten sie selbst. Die Stimmen außen und die Stimmen innen rufen mit vereinten Kräften: Das schaffst du schon, reiß dich zusammen, du hast es doch immer geschafft!

Aber eine kleine andere Stimme meldet sich ganz leise und hoffentlich immer lauter: Nein! Ich möchte es nicht mehr schaffen! Nicht mehr allein! Ich will mich auch mal gehen lassen! Ich will auch mal, dass andere für mich da sind!

Und zugleich meldet sich die Angst: Was wäre, wenn wirklich jemand sagen würde: „Komm, lehn dich an meine Schulter und mach einfach gar nichts. Ich bin für dich da. Ich nehm dich in den Arm. Wein dich bei dir aus.“ Könnte ich mich darauf einlassen, mich so fallenlassen, mich so anvertrauen? Wer könnte solch ein Vertrauen rechtfertigen? Wer würde mich nicht enttäuschen?

Paulus erfährt Jesus als ein solches Gegenüber. Jesus ist ziemlich hart zu ihm. Drei Mal hat Paulus zu ihm gebetet, er solle ihn von den Schlägen befreien, die ihm der Satan zufügt. Kein Mensch weiß, was für eine Qual, was für eine Krankheit, was für ein psychisches Leiden sich hinter diesen Worten verbirgt. Paulus verrät es uns nicht. Er verrät nur, dass Jesus ihm zumutet, mit dieser unerträglichen Qual weiter leben zu müssen. „Da musst du durch!“ Aber trotzdem fühlt Paulus sich von Jesus nicht im Stich gelassen. Er hört Jesus sagen: „Lass meine Gnade genug für dich sein. Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Offenbar ist Jesu Gnade, diese zärtliche Liebe und Nähe Jesu wirklich genug für Paulus. Er weiß sich angenommen, gerade so, wie er ist: auch einmal schwach und nicht immer stark. „Du darfst schwach sein. Du musst nicht immer der große, immer perfekte, redegewandte Völkerapostel sein. Gerade so, wie du bist, bist du den Menschen ein Vorbild.“

Das dürfen wir uns auch heute gesagt sein lassen: Jesus nimmt uns an, so wie wir sind. Stark oder schwach, mutig oder ängstlich. Die einen ermutigt er, zu ihrer Stärke zu stehen, die anderen, dass sie sich endlich einmal erlauben, schwach zu sein. Denn, so sagt er zu uns allen: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.

Wir singen das Weihnachtslied 38:

Wunderbarer Gnadenthron
Fürbitten und Stille und Vater unser

Aus dem Lied 58 singen wir die Strophen 11 bis 15:

10. Schließ zu die Jammerpforten und lass an allen Orten auf so viel Blutvergießen die Freudenströme fließen.

11. Sprich deinen milden Segen zu allen unsern Wegen, lass Großen und auch Kleinen die Gnadensonne scheinen.

12. Sei der Verlassnen Vater, der Irrenden Berater, der Unversorgten Gabe, der Armen Gut und Habe.

13. Hilf gnädig allen Kranken, gib fröhliche Gedanken den hochbetrübten Seelen, die sich mit Schwermut quälen.

14. Und endlich, was das meiste, füll uns mit deinem Geiste, der uns hier herrlich ziere und dort zum Himmel führe.

15. Das alles wollst du geben, o meines Lebens Leben, mir und der Christen Schare zum sel’gen neuen Jahre.

Abkündigungen

Empfangt Gottes Segen:

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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