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Gott erleben mitten in der Hölle

Die Klagelieder der Bibel und ein Roman von Edgar Hilsenrath lehren uns Menschlichkeit. Wer im zerstörten Jerusalem oder im Prokower Ghetto von der Güte und Barmherzigkeit Gottes reden oder Gott erleben kann, der kann am Leben der Menschen festhalten und das Leben wollen nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere.

Gott erleben mitten in der Hölle: Das Foto aus dem Warschauer Ghetto zeigt Frauen und Kinder mit erhobenen Händen, die von bewaffneten Soldaten bedroht werden
Ein Foto aus dem Warschauer Ghetto (Bild: WikiImagesPixabay)

#predigtGottesdienst am 17. Sonntag nach Trinitatis (mit einem Text vom 16.), 11. Oktober 1981, in Weckesheim und Reichelsheim
Orgelvorspiel

Ich begrüße Sie herzlich im heutigen Gottesdienst!

Wenn wir heute gemeinsam hier sind, stehen wir unter dem Eindruck zweier Ereignisse von großer Bedeutung, und ich möchte das auch hier im Gottesdienst kurz ansprechen. Ich bin – wie sicher viele von Ihnen – betroffen über den Mord an Ägyptens Präsident Sadat, betroffen auch darüber, dass es im Nahen Osten nun noch schwieriger sein wird, zum Frieden zu finden.

Und ich bin dankbar für den friedlichen Verlauf der bisher größten Demonstration in unserem Land, die von christlichen Friedensorganisationen gestern in Bonn veranstaltet wurde.

Heute im Gottesdienst ist der Text zur Predigt ein Abschnitt aus den Klageliedern des Jeremia, und ich werde meine Gedanken mit Ihnen teilen wollen zu den Fragen: Können wir Gott erleben mitten in dunklen Erfahrungen? Können wir menschlich handeln mitten in unmenschlichen Zeiten? Können wir mutig, selbstbewusst und menschlich handeln, mitten in vielen Ängsten? Oder stumpfen wir ab und schweigen?

Nun schweigen wir nicht, nun singen wir ein Lied:

Lied EKG 336 (EG 440), 1-4:

1. All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu; sie hat kein End den langen Tag, drauf jeder sich verlassen mag.

2. O Gott, du schöner Morgenstern, gib uns, was wir von dir begehrn: Zünd deine Lichter in uns an, lass uns an Gnad kein Mangel han.

3. Treib aus, o Licht, all Finsternis, behüt uns, Herr, vor Ärgernis, vor Blindheit und vor aller Schand und reich uns Tag und Nacht dein Hand,

4. zu wandeln als am lichten Tag, damit, was immer sich zutrag, wir stehn im Glauben bis ans End und bleiben von dir ungetrennt.

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. „Amen.“

Christus Jesus hat dem Tod die Macht genommen und unvergängliches Leben ans Licht gebracht durch das Evangelium. Amen.

Herr, der Tod umgibt uns in vielerlei Form. Liebe Menschen, die uns sterben, Beziehungen, die kaputt gehen, Hoffnungen, die enttäuscht werden, und auch die sture Gleichgültigkeit, die nicht sieht, wo unser Weg in den Abgrund führt. Herr, du machst uns nicht zu angstfreien Menschen, du hast gesagt: In der Welt habt ihr Angst. Aber du hast uns auch zugesagt: Ich habe die Welt überwunden! Gott, hilf uns, dass wir so werden, wie es der Dichter Rudolf Otto Wiemer in dem folgenden Gedicht beschreibt, dass wir uns wiederfinden und ermutigen lassen in dem Bild von des Zitterpappel:

An die Zitterpappel
Schriftlesung – Johannes 11, 1+3+17-27:

1 Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta.

3 Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank.

17 Als Jesus kam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen.

18 Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa eine halbe Stunde entfernt.

19 Und viele Juden waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders.

20 Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, geht sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen.

21 Da sprach Marta zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.

22 Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.

23 Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen.

24 Marta spricht zu ihm: Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird – bei der Auferstehung am Jüngsten Tage.

25 Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt;

26 und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?

27 Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.

Lied EKG 284, 1-3 (im EG nur im Anhang Bayern/Thüringen 623):

1. Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut im Himmel und auf Erden; wer sich verlässt auf Jesus Christ, dem muss der Himmel werden. Darum auf dich all Hoffnung ich gar fest und steif tu setzen. Herr Jesu Christ, mein Trost du bist in Todes Not und Schmerzen.

2. Und wenn‘s gleich wär dem Teufel sehr und aller Welt zuwider, dennoch bist du es, Jesu Christ, der sie all schlägt darnieder. Und wenn ich dich nur hab um mich mit deinem Geist und Gnaden, so kann fürwahr mir ganz und gar nicht Tod und Teufel schaden.

3. Dein tröst ich mich ganz sicherlich, denn du kannst mirs wohl geben, was mir ist not, du treuer Gott, für dies und jenes Leben. Gib wahre Reu, mein Herz erneu, errette Leib und Seele. Ach höre, Herr, dies mein Begehr und lass mein Bitt nicht fehlen!

Gott lasse uns wachsen, wachsen auch in unserer Angst und auch an ihr. Amen.

Liebe Gemeinde!

Als wir vor zwei Wochen auf dem Gemeindeausflug in Frankfurt waren, da fiel mir im Zoo im Affenhaus ein Schild auf neben einem Gitter, und da stand drauf: „Hier sehen Sie das gefährlichste Raubtier der Erde“. Wenn man dann, neugierig geworden, in den Käfig blicken wollte, sah man in einem Spiegel – sich selbst. Und dazu eine Erläuterung: keine Tierart hat so die Natur, die Tierwelt und auch die Menschenwelt selbst zerstört wie eben der Mensch. Das Erschütternde daran ist, dass wohl die meisten, die in diesen Spiegel schauen, von sich sagen würden: ich bin nicht grausam, ich will nicht andere Menschen oder ganze Tierarten ausrotten. In Zeiten wie den unseren sind es fast unmerkliche Entscheidungen, die von vielen wissend oder unwissend mitgetragen werden, die zu ungeheuren Bedrohungen unserer Umwelt und des Weltfriedens führen.

Die Älteren unter uns wissen noch von Zeiten, in denen es auch dem einzelnen schwer fiel, noch an Menschlichkeit zu glauben oder selbst an Menschlichkeit festzuhalten, z. B. Kriegs- und Nachkriegszeiten. Wir kennen den Ausdruck, dass Menschen „wie die Tiere“ werden können, womit ja gemeint ist: mörderischer, als Tiere je sein könnten. Mitten in einer Zeit der Unmenschlichkeit ist der Text für diese Predigt entstanden. Er steht im Buch der Klagelieder 3, 22-26.31-33:

Die Güte des Herrn ist‘s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.

Denn der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschen.

Wenn man diese Sätze nur so aus dem Zusammenhang gerissen hört, könnte man kaum erraten, in welcher Zeit sie geschrieben worden sind. Sie klingen zuversichtlich, fast gelassen. Nur wenn man genau hinhört, spürt man etwas von der Bedrängnis, aus der sie hervorgegangen sind: „Dass wir nicht gar aus sind“ – das heißt immerhin, dass es noch nicht ganz aus ist mit uns, wir sind dem Garaus noch eben entkommen. Und: „Er betrübt wohl“ – da lässt sich schwere Traurigkeit mit Händen greifen.

Aber lesen Sie einmal das kleine Buch der Klagelieder von vorn bis hinten (es steht zwischen den Prophetenbüchern Jeremia und Hesekiel), dann erfahren Sie, wovon in diesen Sätzen, die wir gehört haben, nur zwischen den Zeilen die Rede ist. Die Klagelieder beweinen das zerstörte Jerusalem, das die Babylonier 597 vor Christus und dann noch einmal zehn Jahre später in Schutt und Asche verwandelt haben. Auf die verbrannte Erde fallen die Tränen der wenigen, die übriggeblieben sind (Klagelieder 1):

1 Wie liegt die Stadt so verlassen, die voll Volkes war!

– so beginnt diese Klage. Dann wird der Schrecken in bildhaften Worten anschaulich geschildert.

Von Kriegsgefangenschaft ist die Rede:

5 Ihre Kinder sind gefangen von dem Feind dahingezogen.

Der Schwarzmarkthandel blüht:

11 Alles Volk seufzt und geht nach Brot, es gibt seine Kleinode um Speise, um sein Leben zu erhalten.

Manche sind zu Bettlern geworden, die dies zu werden sich nie hatten träumen lassen:

19 Meine Priester und meine Ältesten sind in der Stadt verschmachtet, sie gehen nach Brot, um ihr Leben zu erhalten.

Kinder sterben vor Hunger (Klagelieder 2):

12 Zu ihren Müttern sprechen sie: ‚Wo ist Brot und Wein?‘, da sie auf den Gassen in der Stadt verschmachten wie die tödlich Verwundeten und in den Armen ihrer Mütter den Geist aufgeben.

Oder sie werden sogar gegessen von ihren Müttern, die sonst verhungern würden (Klagelieder 4):

10 Es haben die barmherzigsten Frauen ihre Kinder selbst kochen müssen, damit sie zu essen hatten.

Frauen und Mädchen werden vergewaltigt (Klagelieder 5):

11 Sie haben die Frauen in Zion geschändet und die Jungfrauen in den Städten Judas.

Und ein Unterton in der ganzen Schilderung weist auf das Schrecklichste in diesen ganzen Schrecken hin: dass Gott sein Volk verstoßen hat, erniedrigt unter alle Völker. Von Gott heißt es (Klagelieder 2):

6 Er hat sein eigenes Zelt zerwühlt wie einen Garten und seine Wohnung vernichtet.

Und die Sieger spotten – wie später die Soldaten, die den sterbenden Jesus am Kreuz auslachen:

15 Alle, die vorübergehen, klatschen in die Hände, pfeifen und schütteln den Kopf über die Tochter Jerusalem: ‚Ist das die Stadt, von der man sagte, sie sei die allerschönste, an der sich alles Land freut?‘

So sieht der Garaus aus, dem die übriggebliebenen Bewohner Jerusalems um ein Haar entronnen sind. Sie sprechen die Worte unseres Textes zur Predigt (Klagelieder 3):

22 Die Güte des Herrn ist‘s, dass wir nicht gar aus sind,

aber kann man denn sagen, dass noch nicht alles ganz aus ist, wenn so etwas geschehen ist? Wie kann man in den Trümmern Jerusalems, unter lauter toten und geschändeten Menschen, von der Güte und Barmherzigkeit Gottes reden?

Es ist die gleiche Frage, vor der vielleicht auch mancher unter Ihnen gestanden hat, in der Zeit des letzten Krieges, oder danach, als Kriegsgefangener oder Vertriebener, als Angehöriger eines Gefallenen oder als Verwundeter. Es ist die gleiche Frage, die sich uns in kleinerem Maßstab, aber für den einzelnen ebenso bedrängend, jedesmal stellt, wenn wir Menschen, ob jung oder alt, den Herz- oder Krebstod sterben sehen, wenn wir an Verkehrsunfälle und Mordtaten, an Naturkatastrophen oder an die Verhungernden in der Welt denken.

Wie kann man von der Güte Gottes reden in diesen Zusammmenhängen, von der Güte Gottes, die nicht beschränkt ist auf beschauliche und feierliche Stunden?

In einem Roman von Edgar Hilsenrath mit dem Titel „Nacht“ wird mit einer in unausdenkbare Einzelheiten gehenden Genauigkeit die Geschichte der Juden im damaligen ostrumänischen Gebiet Transnistrien ab Oktober 1941 erzählt. Sie liest sich wie eine Langfassung der Klagelieder.

Im Prokower Ghetto sterben die Kinder wie in Jerusalem, oder sie werden zu Prostituierten gemacht, damit sie etwas zu essen einbringen. Im Prokower Ghetto gehen Menschen betteln und stehlen, die sich das nie hätten träumen lassen. Im Prokower Ghetto gibt es noch eine einzige Regel menschlichen Anstands: Man darf Goldzähne erst aus dem Mund der Toten reißen; so lange noch ein Hauch Leben in einem Menschen ist, sind seine Zähne unantastbar. Alle Überlegungen im Ghetto sind auf ein einziges Ziel aus: aufs Überleben. Die Beziehungen zwischen den Menschen sind Zweckbündnisse, geschlossen unter diesem einzigen Gesichtspunkt.

Die Hauptfigur dieses Kampfes heißt Ranek: ein zäher, listiger, verschlagener Bursche, Sieger und Opfer zugleich, alles andere als böse, aber zum Guten längst nicht mehr fähig, weil die Verhältnisse nicht so sind. Ranek grinst höhnisch, sobald jemand etwas zur Sprache bringt, was jenseits des Kampfes ums Überleben ist. Er glaubt an nichts mehr als an das, was irgend essbar ist.

Und da bringt Debora, die Frau seines Bruders, eines Tages diesen Bruder, den fast Toten, auf ihren Schultern ins Ghetto getragen. „Wie hast du das nur fertiggebracht?“ fragt Ranek. „Ich habe gebetet“, kam es jetzt leise über ihre Lippen. „Während du ihn getragen hast?“ „Ja, die ganze Zeit. Die ersten paar Schritte waren schwer, und ich konnte kaum auf den Füßen stehen, aber dann, als ich zu beten anfing, wurde es leichter und immer leichter. Gott hat mich erhört. Und Ranek sagte lächelnd: „Ich weiß nicht, ob er dich erhört hat, aber eines weiß ich: Du hast ihn erlebt. Das ist schon sehr viel, Debora, weißt du, wenn man Gott erleben kann, wer das noch kann.“

Das ist der Punkt: Gott erleben im Prokower Ghetto. Oder im zerstörten Jerusalem. „Das ist schon viel, wer das noch kann.“

Debora ist der einzige Schimmer Tag in dieser „Nacht“, die einzige, die eine Spur Menschlichkeit in den alles bestimmenden Kampf ums Überleben trägt. Mitten in der Hölle vermag sie Gott zu erleben, und darum kann sie menschlich sein. Wer im zerstörten Jerusalem oder im Prokower Ghetto von der Güte und Barmherzigkeit Gottes reden oder Gott erleben kann, der kann am Leben der Menschen festhalten und das Leben wollen nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere.

Was fangen wir nun heute mit diesen alten Erfahrungen an, die 2568 Jahre beziehungsweise 40 Jahre vergangen sind. Wir wünschen uns ja nicht solche Situationen, die ich persönlich und ihr Konfirmanden – Gott sei Dank! – nicht erleben mussten. Aber es gibt viele, die auch in unserer Zeit, in der es mehr Möglichkeiten zur Menschlichkeit gibt, sich fragen, ob es denn überhaupt lohnt, sich für eine menschlichere Welt einzusetzen, ob im Kleinen, in der Familie oder Nachbarschaft, im Bus oder in der Schulklasse, am Arbeitsplatz oder im Verein, oder im Großen, im Streit der gesellschaftlichen Gruppen, in der Beziehung zu anderen Völkern, in unserem Verhältnis zu unserer Umwelt. Wenn es schon in so schweren Zeiten wie im zerstörten Jerusalem oder im Prokower Ghetto noch Möglichkeiten zum Glauben an den gütigen Gott gab und damit Möglichkeiten, menschlich zu handeln, dann gibt es sie allerdings heute erst recht.

Aber einfach ist das nicht. Es fällt sehr schwer, eine persönliche Krise oder Krankheit so durchzustehen, dass man nachher gereifter dasteht, oder einem anderen Menschen beizustehen, wenn er sein Sterben oder sein Trauern durchleiden muss. Es fällt ja auch schwer, zuzugeben, dass man selbst Hilfe braucht, etwa von einem Freund, oder von einem Seelsorger, oder von einer Beratungsstelle. Aber das sind Möglichkeiten der Menschlichkeiten: anderen helfen und auch sich selbst helfen zu lassen.

Größere Angst noch befällt viele, wenn sie auf Fragen angesprochen werden, die nur viele Menschen gemeinsam lösen oder verändern können. Ich denke zum Beispiel an die vielerlei Ängste, die es im Zusammenhang mit der gestrigen großen Friedensdemonstration in Bonn gegeben hat. Angst davor, in jeder Demonstration könnten die gewalttätigen Kräfte ein günstiges Betätigungsfeld finden. Angst vor abweichenden Meinungen. Angst vor dem Ausnutzen friedfertiger Naivität durch berechnende Machtpolitiker der anderen Seite. Aber all diese Ängste führen viele Menschen dazu, eben lieber nichts zu tun, das Nachdenken über den Frieden den Politikern zu überlassen. Die werden‘s schon recht machen. Aber waren sie es nicht, die unzählige Kriege verantwortet haben, einschließlich der Folgen, z. B. im zerstörten Jerusalem und in Prokower Ghetto?

Ich habe Angst, wenn mir jemand seelenruhig sagt: Der Dritte Weltkrieg kommt bestimmt. Oder wenn man meint, immer nur von Abrüstung reden zu dürfen, während man gleichzeitig mit immer ausgeklügelteren Waffen aufrüstet – in West und Ost. Einer muss doch einmal den ersten Schritt in die andere Richtung tun, damit der andere irgendwann nachzieht. Darüber muss doch wenigstens geredet werden können. Darüber muss eine friedlich ausgetragene Auseinandersetzung in unserem Land möglich sein. Denn sonst, wenn der Atomkrieg – unmerklich für den einzelnen – doch immer mehr „führbar“ wird, mit berechenbaren Siegeschancen für eine der Supermächte – dann könnte es einmal zu spät sein, seine Stimme zu erheben, seine Angst vor dem Sich-Informieren und Sich-Einsetzen zu überwinden. Es ist die Frage, ob es nach einem Atomkrieg in Europa noch Überlebende gäbe, die die Klagelieder Jeremias lesen könnten.

Die Klagelieder sagen uns: auch in furchtbaren Zeiten ist noch Menschlichkeit möglich. Sie sagen uns aber noch deutlicher: In nicht so furchtbaren Zeiten ist Menschlichkeit von uns geradezu gefordert. Alles, was wir dazu brauchen, ist uns geschenkt: Hände, die geöffnet werden können, statt in den Taschen vergraben zu werden oder Steine zu werfen. Einen Mund, mit dem wir vertrauten Menschen unsere Ängste sagen können, um sie zu überwinden, mit ihnen zu leben oder gemeinsam anzugehen – je nachdem. Andere Menschen in unserer Kirchengemeinde, die wir darauf ansprechen können, dass sie auch Christen sind. Einen Verstand, mit dem wir uns informieren und kritisch abwägen können. Und unser Gefühl, mit dem wir spüren können, welche Ängste uns eingeredet werden und welche von einer wirklichen Bedrohung herrühren, unser Gefühl, mit dem wir spüren, wer uns liebt und ernstnimmt, ja unser Gefühl, von dem her wir auch entscheiden, wem wir nahe sein wollen – in Zuneigung oder auch in kritischer Auseinandersetzung.

Die Zitterpappel aus dem Eingangsgebet kann ein Gleichnis sein für diese Art von Menschlichkeit, die uns möglich wird, wenn wir heute Gott erleben. Sie zittert und wächst. Wir können Angst haben und wachsen, brauchen nicht abzustumpfen und zu schweigen. Wir können von der Güte und Barmherzigkeit Gottes reden und gemeinsam menschlich leben. Gott bewahre uns davor, Menschlichkeit je im Prokower Getto oder in den Trümmern Jerusalems suchen zu müssen.

Wenn wir nun wieder gemeinsam ein Lied über Gottes Führung singen, und es heißt dort: ich gebe mich in seinen Willen, so ist nicht gemeint, alles über sich ergehen zu lassen, was andere Menschen über mich beschließen. Sondern das Lied will Mut machen, schwere Wege zu gehen, denen man nicht ohne Schaden ausweichen kann, ungewohnte Wege, für die man vielleicht belächelt wird und die unbequem sind. Der Vaterwille Gottes ist ein Wille der Menschlichkeit für unsere Welt; und der Weg im Glauben und Hoffen zur Liebe und zum Frieden geht oft auch durch Dornen und Hecken. Doch das muss uns nicht davon abhalten, immer wieder neu diesen Weg zu suchen und zu gehen. Wir können ihn gemeinsam gehen. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
Lied EKG 302, 4-6 (nicht im EG):

4. Wie Gott mich führt, so geb ich mich in seinen Vaterwillen. Scheints der Vernunft gleich wunderlich, sein Rat wird doch erfüllen, was er in Liebe hat bedacht, eh er mich an das Licht gebracht; ich bin ja nicht mein eigen.

5. Wie Gott mich führt, so bleib ich treu im Glauben, Hoffen, Leiden. Steht er mit seiner Kraft mir bei, was will mich von ihm scheiden? Ich fasse mit Geduld mich fest; was Gott mir widerfahren lässt, muss mir zum Besten dienen.

Herr, du lässt uns zittern und wachsen, zittern und wachsen zugleich. Wir zittern, weil wir uns ängstigen: vor den Träumen der Nacht, die uns mehr zeigen, als wir über uns wussten, vor manchem neuen Tag, vor unlösbaren Aufgaben, vor Streit und Verständnislosigkeit, vor unsren Gewohnheiten und vor der Enge unserer Spielräume. Du lässt uns wachsen, auch in unserer Angst und sogar an ihr. Du lässt uns groß werden – so, dass das Kleine zu uns gehören kann und in uns bleibt. Du lässt es zu, dass wir uns ängstigen, indem wir wachsen; du nimmst es an, dass wir, obgleich erwachsen geworden, das Zittern nicht überwunden haben. Danke, Herr, dass es so sein kann. Und wir bitten dich, dass uns der Friede so wichtig wird wie sonst nichts in der Welt, dass wir Menschen finden, mit denen wir auch über unsere Angst sprechen können, dass es im Nahen Osten und in unserem Land immer Menschen gibt, die weiter arbeiten für einen Frieden, der nicht mehr darauf angewiesen ist, anderen Völkern Angst zu machen. Das ist ein langer Weg, Herr. Manche sagen: das ist idealistisch und naiv. Aber du hast gesagt: Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Kinder Gottes heißen. Amen.

Vater unser
Abkündigungen
Segen
Lied EKG 140 (EG 157), 1:

Lass mich dein sein und bleiben, du treuer Gott und Herr, von dir lass mich nichts treiben, halt mich bei deiner Lehr. Herr, lass mich nur nicht wanken, gib mir Beständigkeit; dafür will ich dir danken in alle Ewigkeit.

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