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Die politische Dimension in der Biographie

Eine politische Dimension durchdringt viele Bereiche der Arbeit in der Klinik, insbesondere die Biographien von Patienten und Mitarbeitenden.

In der Veröffentlichung eines Jahresberichtes zu einem Aspekt der Arbeit in der Klinikseelsorge habe ich die Biographien der erwähnten Personen so verfremdet, dass sie nicht erkannt werden können. Auch die Abkürzungen der Namen entsprechen nicht den tatsächlichen Anfangsbuchstaben.

Zwei gleiche Köpfe im Profil stehen einander Auge in Auge gegenüber, die Köpfe bilden das Ende eines halbkreisförmigen Strahls, der oben in der Bildmitte beginnt.
Hass auf einen Feind, der dem eigenen Selbstbild erschreckend ähnlich ist (Bild: John HainPixabay)

Inhalt

Vorbemerkung

Durch totalitäre Systeme beeinflusste Biographien

Nationalistisch gefärbter Hass als Kompensation für Verletzlichkeit und Demütigung

Gewalttätigkeit als Folge einer Inhaftierung unter polizeistaatlichen Bedingungen

Psychische Erkrankungen im Zusammenhang mit der Flucht aus unerträglichen politischen Verhältnissen

Der Einfluss des sozialen Netzes in der Bundesrepublik auf Biographien von Patienten

Alkoholabhängigkeit als Problem persönlicher Verantwortung und als Problem für Träger von sozialen Hilfen

Soziale Anspruchshaltung als Versuch, die eigene Machtlosigkeit zu überwinden

Einfluss der Einstufung als Pflegefall auf den Verlauf einer Krankheit

PatientInnen als Gewaltopfer und Gewalttäter

Ausnutzung der Tatsache, ein armes Opfer zu sein

Unbewusste Mechanismen, durch die ein Opfer potentielle Täter zur Tat verführt

Gewalttat als Folge unbewältigter Lebensverhältnisse

Selbsttötung als letzter „Ausweg“ in einer Suchtkarriere

Betroffenheit durch den Golfkrieg

Biographien unter dem Einfluss einer psychiatrischen Klinik

Patienten als Opfer im Beziehungsgeflecht der Mitarbeiter auf einer psychiatrischen Station

Pflegekräfte als Opfer der Personalsituation in einer psychiatrischen Klinik

Die Biographie des Krankenhauspfarrers unter dem Einfluss der psychiatrischen Klinik

Vorbemerkung

Zunächst einmal sträubte sich in mir alles, meinen Jahresbericht unter das obige Thema zu stellen. Nicht weil ich etwas gegen politische Fragestellungen hätte (galt ich doch jahrelang als der „grüne Pfarrer“ in meiner früheren Gemeinde). Aber in meiner seelsorgerlichen Arbeit in der Klinik stand dieser Aspekt dermaßen im Hintergrund, dass ich Mühe hatte, ihn als roten Faden für einen einigermaßen repräsentativen Überblick über meine Arbeit zu verwenden. Allerdings sind mir bei näherer Überlegung doch eine ganze Reihe von Begegnungen mit Patienten eingefallen, in der der obige Aspekt in gewisser Weise eine Rolle spielte. Je mehr ich mich ins Thema vertiefte, um so mehr fiel mir auf, in welchem Maße politische bzw. strukturelle Fragestellungen viele Bereiche der Arbeit in der Klinik durchdringen.

Durch totalitäre Systeme beeinflusste Biographien

Nationalistisch gefärbter Hass als Kompensation für Verletzlichkeit und Demütigung

Zum Thema Opfer/Täter, politisch gesehen, mit dem besonderen Blick aufs Dritte Reich, ist mir als erstes die Begegnung mit einem alt gewordenen Offizier, Herrn A. eingefallen, der nach dem Tode seiner Frau suizidal wurde … . Herr A. erwähnte seinen Hass auf die Russen, die den Deutschen so viel angetan hätten, und verstieg sich sogar zu der Äußerung: Wenn es noch einmal Krieg mit den Russen gäbe, würde er keine Gefangenen nehmen, sondern alles niedermachen. Ganz dicht neben diesen rachsüchtigen, brutalen Äußerungen nahm ich sehr sensible, gefühlsbetonte Seiten an diesem Mann wahr, wenn er weinend von seiner Frau erzählte, die für ihn alles bedeutet habe, wenn er von seinem Glauben an Gott sprach oder wenn er über die seiner Ansicht nach entwürdigende Behandlung durch seinen Sohn oder durch die Schwestern auf der Station klagte.

Was war Herr A. damals als Soldat? Opfer oder Täter? Oder beides? Was war er in seiner Ehe? Was ist er heute in seiner Familie? …

Ich spürte in meinem ersten Gespräch mit ihm, als er seinen Hass auf die Russen äußerte, zunächst den Impuls, ihn reden zu lassen, ohne ihm zu widersprechen, da er nicht so belastbar schien und da er ja auch nicht mehr die Gelegenheit haben würde, seinem Hass auch entsprechende Taten folgen zu lassen. Aber so unangenehm es mir auch war, ich nahm meinen Mut zusammen und äußerte als der so viel Jüngere an einer späteren Stelle meinen Einwand zu seiner Einstellung (ich zitiere aus meiner Erinnerung): „Herr A., mir ist vorhin etwas aufgefallen an dem, was sie erzählt haben, das kriege ich nicht ganz zusammen. Sie haben erzählt, dass Sie an Gott glauben, dass Sie Christ sind, und Sie haben von ihrem Hass auf die Russen gesprochen. Aber nun hat doch Jesus gesagt, dass man sogar die Feinde lieben soll. Wie passt das bei Ihnen zusammen?“

Herr A. sagte daraufhin, er habe das vielleicht etwas härter ausgedrückt, als er das gemeint habe, aber ich müsste doch verstehen, was den Deutschen damals von Russen angetan worden sei; er schilderte mir auch konkrete Vorfälle mit russischen Soldaten, die mir seine Betroffenheit verständlich machten. Grausamkeiten nahm er zunächst nur bei den Russen wahr. Er berichtete dann aber auch von deutschen Racheakten an Russen, die mit den von anderen begangenen Grausamkeiten gar nichts zu tun hatten. Und mir schien es, als ob hier so etwas wie eine Einsicht aufkeimte, in der Richtung, dass vielleicht auch manche Russen Grund gehabt haben könnten, die Deutschen für grausam zu halten.

Mir schien es unangebracht, dieses Thema noch weiter zu vertiefen, um den Patienten nicht zum Opfer inquisitorischer Fragen zu machen. Aber die sanfte Konfrontation mit meiner abweichenden Meinung war eine gute Basis für meine weitere Beziehung zu Herrn A.

Später nahm ich einen Zusammenhang wahr zwischen der Art, in der Herr A. sich im Krieg als Opfer russischer Gewalttaten erlebt hatte, durch die er sich dazu berechtigt fühlte, seinerseits Gleiches mit Gleichem zu vergelten (sein Christentum war eher an der Regel „Auge um Auge“ orientiert als an christlicher Feindesliebe), und seiner Art, sich in der Familie und auf der Station als Opfer zu fühlen – und zugleich seine Umgebung zu tyrannisieren. Ich bemühte mich, wann immer er von Gefühlen sprach, seine Verletztheit ernstzunehmen und ihn zu unterstützen, zu seinem Recht zu kommen, zugleich aber ihn darauf aufmerksam zu machen, wo er seinerseits anderen Personen zu nahe trat. Als er ankündigte, dass er seinen Sohn enterben wollte, wenn der ihn nicht bei sich aufnähme, sprach ich ihn darauf an, ob das wohl ein gutes Zusammenleben werden könnte, wenn er seinen Sohn mit solchem Druck dazu zwingen wollte. Was er darauf erwiderte, weiß ich nicht mehr; bei seiner Entlassung jedenfalls erfuhr ich von ihm, dass er bei seinem Sohn – zumindest für einige Zeit – leben könne.

Später erzählte mir die Stationspsychologin beiläufig, dass sie gerade am Beispiel von Herrn A. beobachtet habe, wie ein selbstbewusst und fordernd auftretender Patient von einem Teil des Personals „geduckt“ werde. Man habe veranlasst, ihm mehr (beruhigende) Medikamente zu geben, dadurch aber habe er irgendwann (als Nebeneffekt) Durchfall bekommen und sich die Kleider verunreinigt. Ein Mann wie Herr A. habe sich dadurch tief gedemütigt gefühlt. Dieses Verhalten des Personals sei um so unverständlicher, als man passive Patienten mit großer Mühe zur Selbständigkeit zu führen versuche. Auf die Frage, inwiefern das Personal in einem ähnlichen Täter-Opfer-Dilemma steckt, gehe ich unter Punkt 5.2. näher ein.

Gewalttätigkeit als Folge einer Inhaftierung unter polizeistaatlichen Bedingungen

Szenenwechsel: Einen anderen Patienten, Herrn B., …, der eine ganze Reihe von Jahren in einem DDR-Gefängnis hinter sich hatte, traf ich zunächst bei mehreren Aufenthalten in der geschlossenen akutpsychiatrischen Station an, später auf einer mittelfristigen Station. Er war … amnestiert worden, gleich in den Westen übergesiedelt und kam hier offensichtlich mit seiner neugewonnenen Freiheit nicht zurecht. Es waren immer Gewalttätigkeiten oder Gewaltandrohungen, die zu seinen Einweisungen in die Klinik (bzw. von der offenen wieder auf die geschlossene Station) führten.

Was mir nie klar wurde, ist der eigentliche Grund für seine Haft in der DDR. Wieder die Frage: War er ursprünglich ein „Täter“ gewesen, der zu Recht bestraft worden war? Oder war er damals als Jugendlicher nur das „Opfer“ einer Unrechtsjustiz gewesen, die ihn erst später auch zum „Täter“ werden ließ? Wegen Republikflucht habe er eingesessen, sagte er mir. Außerdem sei ihm auch insofern Unrecht geschehen, als man in seiner Gefängniszeit eine operative Behandlung … so unfachmännisch durchgeführt habe, dass er für immer entstellt sei. Seine Entstellung war auch einer der Gründe dafür, dass er immer wieder Anlässe fand, sich mit Gewalt zu wehren, wenn man Bemerkungen über sein Aussehen machte (oder er sich das nur einbildete). Ein anderer Grund für seine Neigung zur gewaltsamen Reaktion war der, dass er manche Erlebnisse auch im „freiheitlichen Westen“ so deutete, als ob hier im Grunde auch ein Unrechtsregime an der Macht sei – z. B. seine polizeiliche Einweisung in die Nervenklinik, die Behandlung durch einzelne, etwas ruppige Pfleger, bis hin zum gerichtlichen Beschluss über sein Verbleiben in der Anstalt.

In meinen Gesprächen mit ihm war ich darauf bedacht, ihn wissen zu lassen, dass ich ihn wegen seines Aussehens weder abweisen würde noch allzu schonend behandeln wollte. Als er am Anfang nur immer schimpfte, besonders auf einen bestimmten Pfleger, der ihn „gefressen“ habe, und auf immer wiederkehrende Ungerechtigkeiten auch hier in der BRD, die er nun wirklich satt habe, da fragte ich ihn behutsam nach seinem eigenen Anteil an diesen Konflikten. Und ich machte ihm z. B. deutlich, dass es einfach nicht OK sei, sich mit Gewalt gegen eine Schwester Ausgang zu verschaffen, wenn ihm etwas gegen den Strich gehe. Irgendwie sah er das dann auch ein – bis zum nächsten Vorfall. Als er dann irgendwann mit einem Gerichtsbeschluss für längere Zeit auf der „Geschlossenen“ saß, schien aber endlich die Einsicht bei ihm zu wachsen, dass er nun endlich auch an seinem eigenen Verhalten etwas ändern müsse.

Es gab dann noch einmal einen Rückfall in alte Verhaltensweisen, als Herr B. sich in eine Patientin verliebte, die er recht schnell heiraten wollte. Als die Patientin dabei nicht mitzog, fing er an, sie unter Druck zu setzen. Mich wollte er einspannen, um Kontakt mit ihr herzustellen, die mittlerweile auf eine anderen Station gekommen war. Aber nach Gesprächen mit der Patientin, die sich zu krank fühlte für eine dauerhafte Beziehung zu ihm, sah ich meine Aufgabe eher darin, mit ihm darüber zu sprechen, dass er sich hier Illusionen machte und wieder einmal mit einer Enttäuschung fertig werden musste. Er sah schließlich ein, dass Druck und Gewalt keine Mittel sind, um sich vor Enttäuschungen zu schützen und dass man die Liebe einer Frau nicht erzwingen kann.

Psychische Erkrankungen im Zusammenhang mit der Flucht aus unerträglichen politischen Verhältnissen

Das erste Opfer der politischen Verhältnisse in der DDR hatte ich übrigens vor der Wende … auf der gleichen geschlossenen Abteilung der Akutpsychiatrie kennengelernt. Eine junge Frau, …, war aus der DDR geflohen, weil sie den dauernden Druck dort nicht mehr ausgehalten hatte und meinte, dort keine Zukunft zu haben. Frau C. war gemeinsam mit ihrem Freund geflohen, der hatte sie aber bald nach der Ankunft im Westen verlassen. Nun war sie zwar bei irgendwelchen Verwandten untergekommen, fühlte sich aber sehr einsam und sehnte sich eigentlich nach ihrer Familie in der DDR zurück. Eine Depression mit Selbstmordabsichten war die Folge, deswegen kam sie in die Klinik. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, erwartete auch Ratschläge von mir. Ich fragte zurück, was es für sie bedeuten würde, sich so oder so zu entscheiden; damals schien es ja noch eine unwiderrufliche Sache zu sein, wenn sie wirklich wieder in Honeckers Reich zurückkehren würde; aber umgekehrt war die Frage, ob sie psychisch stabil genug war, um hier im Westen allein ein neues Leben aufzubauen. Wie sie sich letztlich entschied, weiß ich nicht; sie wollte damals zunächst bei den offiziellen Stellen anfragen, wie es überhaupt mit der Möglichkeit einer Rückkehr stand. Mittlerweile mag sie längst unter veränderten Umständen wieder in ihrer früheren Heimat Fuß gefasst haben.

Das Ehepaar D., …, das … aus Rumänien (Banat) in die Bundesrepublik übergesiedelt war, kurz vor den revolutionären Ereignissen in …, hat erst vor ein paar Tagen mit mir Kontakt aufgenommen (er ist seit längerer Zeit als schizophrener Patient auf einer mittelfristigen Station untergebracht; sie kam später auf eine offene Akut-Station). Sie versprachen sich von mir Hilfe bei der Wohnungssuche und im Umgang mit Geldforderungen; außerdem erwähnte Frau D. Glaubensprobleme, die sie mit mir allein besprechen wolle. Im Blick auf Wohnungs- und Geldprobleme verwies ich die beiden an die Sozialarbeiterin, die zwar vielleicht auch nicht viele, aber immerhin mehr Möglichkeiten habe als ich, in diesen Fragen zu helfen (ich fragte später kurz bei der Sozialarbeiterin nach, und sie bestätigte mir, dass man diese Dinge in den Griff bekommen könne).

Mit Frau D. führte ich dann zwei Gespräche allein. Sie und ihr Mann waren schon vorher psychisch krank gewesen und waren vor allem deshalb hierher gekommen, um die besseren Möglichkeiten zur Behandlung ihrer Krankheit wahrzunehmen. Sie mussten nun aber feststellen, dass ihnen die als unpersönlich erfahrene Klinik-Medizin und die Einsamkeit in einem Leben ohne ihre gewohnten intensiven Familienbeziehungen noch mehr zusetzten. Frau D. entwickelte so starke Ängste, dass sie sich mehrfach zum Suizid gedrängt fühlte. Zu mir kam sie wegen schwerer Glaubenszweifel, die auch eine Ursache in den politischen Verhältnissen ihrer Heimat haben: im Banat waren die deutschstämmigen Familien alle katholisch, aber die christliche Erziehung war von Staats wegen verpönt. Nur ihre Großmutter habe sie im christlichen Glauben unterwiesen, so recht und schlecht sie es eben vermochte, mit der Folge, dass eine starke Bindung an einen als sehr fordernd und strafend empfundenen Gott mit dem Gefühl einherging, von Gott und der Bibel eigentlich viel zu wenig zu wissen. Dass ein Gott, der Menschen so krank werden lasse, die Menschen liebe, das kann sich Frau D. einfach nicht vorstellen. Ich spüre einen Zwiespalt zwischen ihrer starken, unmittelbaren Gottesbeziehung, die sich z. B. darin äußert, dass sie – wenn sie allein ist – zu Gott unter Tränen schreien und klagen kann, und den scheinbar religiös begründeten Einschränkungen, denen sie sich unterwerfen zu müssen glaubt, etwa dass man nur leise und in vorformulierten Texten zu Gott beten dürfe.

Meine Aufgabe in diesem Kontext sehe ich darin, sie in ihrer persönlichen Beziehung zu Gott zu stützen und ihr dabei auch neue Erfahrungen mit Gott und mit der Bibel zu ermöglichen. Sie folgte dann auch meiner Einladung zum Bibelgesprächskreis, den ich einmal wöchentlich für die offenen Akut-Stationen anbiete, und kann dort hoffentlich im Gespräch mit der Bibel und mit anderen Christen neu erfahren, wie menschenfreundlich Gott ist und dass es auch in der Klinik nicht nur unpersönlich zugehen muss. Anderen Patienten ging es jedenfalls schon so, dass sie sowohl die beschützend-annehmende Atmosphäre im Bibelkreis als auch das inhaltliche Sich-Ansprechen-Lassen durch biblische Worte, Bilder und Geschichten als sehr befreiend, stützend, ermutigend und heilsam erlebten (die Teilnahme ist freigestellt, und es kommen immer zwischen drei bis acht Patienten bzw. Patientinnen).

Ich erinnere mich an eine weitere Frau, die aus Rumänien ausgesiedelt war: Frau E. war im Alter von über … Jahren mit ihrer Familie aus Siebenbürgen gekommen und in … ansässig geworden. Sie wurde ähnlich wie Frau D. nicht so leicht mit der völlig anderen Mentalität der Bundesbürger fertig; ihr fehlten vor allem der gewohnte dörflich-nachbarschaftliche Zusammenhalt der alten Heimat und die intensive Frömmigkeitspflege. So sehnte sich Frau E. geradezu nach Gesprächen über Gott und nach einem Menschen, mit dem sie z. B. die alten, vertrauten Lieder singen und beten konnte. Die Andachten, die ich auf den gerontopsychiatrischen Stationen mittlerweile im 14-tägigen Rhythmus anbiete, waren ihr eine große seelische Bereicherung.

In diesem Zusammenhang stellt sich mir als „kirchenpolitische“ Frage, wie die Aufgabe zu bewältigen ist, die große Zahl von stark traditionell geprägten Christen aus Osteuropa, die nach Deutschland eingewandert sind, in einer Volkskirche zu betreuen, die zugleich auf Weltoffenheit und Weltverantwortung bedacht ist. In meiner Gemeindetätigkeit vor der Klinikpfarramtszeit hatte ich oft den Eindruck, dass es kein Einzelfall ist, wenn gerade die aus Rumänien stammenden Christen in unseren volkskirchlichen Strukturen nur schwer eine geistliche Heimat finden.

Der Einfluss des sozialen Netzes in der Bundesrepublik auf Biographien von Patienten

Die politische Dimension spielt allerdings nicht nur in der Biographie von Menschen eine Rolle, die in einem der totalitären Regime unseres Jahrhunderts gelebt haben. Auch die Strukturen eines demokratisch verfassten Staatswesens üben einen Einfluss auf die psychische Verfassung von Menschen aus und auf die Art, wie sie mit Problemen unterschiedlicher Art umgehen.

Alkoholabhängigkeit als Problem persönlicher Verantwortung und als Problem für Träger von sozialen Hilfen

Im Bereich des Alkohol- und Drogenentzugs treffe ich auf die Täter-Opfer-Problematik gleich in mehrfachem Sinne. Einerseits kann man die gesellschaftlichen Trinksitten und die Einschätzung des Alkohols als eines legalen Stimmungsveränderers als mit ursächlich für die große Zahl von Abhängigen mit ansehen. Andererseits benutzen abhängige Patienten gern auch gesellschaftliche Missstände als eine weitere Begründung für ihr Trinkverhalten.

Ich nehme auf dieser Station etwa alle 14 Tage an den täglich (ohne Therapeuten) stattfindenden Gruppengesprächen teil (die für die Patienten dieser Station Pflicht sind), um mich den nur kurz auf der Station verweilenden Patienten bekannt zu machen. Relativ selten sprechen mich anschließend Patienten wegen eines Gesprächs an.

Gelegentlich werde ich auch ins Gruppengespräch einbezogen. Z. B. einmal von Herrn F. „Helfen Sie eigentlich nur mit Worten, Herr Pfarrer“, sprach er mich an, „oder auch mit Taten?“ Ich fragte ihn, wie er das meine. Ja, ob ich z. B. auch helfen könne, ihm und seinesgleichen – er sei obdachlos – eine Bleibe zu besorgen. An dieser Stelle musste ich passen und verwies auf den Sozialarbeiter. „Den könnense in der Pfeife rauchen“, bekam ich zur Antwort. „Also doch nur mit Worten“, beschied er mich abschließend.

Ich muss sagen, dass ich fast geneigt war, nun mich selber als Opfer seines Angriffs auf den untätigen Vertreter der Kirche bzw. als Opfer meines schlechten sozialen Gewissens anzusehen. Aber ich habe dort auf der Station keinen sozialarbeiterischen Auftrag und muss mich mit der machtlosen Position dessen begnügen, der tatsächlich nur „mit Worten“ helfen kann – im Gespräch und im gemeinsamen Aushalten von Schwäche und Machtlosigkeit usw.

Aber hier bleibt nun trotzdem die andere Frage wach – ganz im Sinne unseres Leitthemas: Wie gehen wir damit um, dass Menschen, die in, trotz oder durch unser politisch-gesellschaftliches System zu Opfern werden, diese Anfrage an die Kirche richten: helft ihr nur mit Worten oder gelegentlich auch mit Taten? Als einzelner Seelsorger bin ich in der Regel überfordert und auch nicht die richtige Adresse, um hier die große Hilfe zu leisten. Aber die kirchliche Gemeinschaft als Ganze kann ihre Prioritäten zu überprüfen und schauen, ob im Bereich der Nichtsesshaftenhilfe noch weitere Angebote möglich und sinnvoll sind.

Soziale Anspruchshaltung als Versuch, die eigene Machtlosigkeit zu überwinden

Auf einer der geschlossenen akutpsychiatrischen Stationen traf ich Herrn G., …, der dort eingewiesen worden war, weil er der für ihn zuständigen Sozialarbeiterin auf dem Sozialamt sexuelle Anträge machte, bis hin zu eindeutigen Vergewaltigungsandrohungen. Herr G. fühlte sich als Opfer einer Gesellschaft, in der er – als „abgebrochener“ Student – keinen Arbeitsplatz fand und in der die ihm zustehende Sozialhilfe nicht für seine grundlegenden Lebensbedürfnisse ausreichte. Zu diesen elementaren Bedürfnissen zählte Herr G. auch den Besitz diverser Musikinstrumente, die er sammelte wie andere Leute Briefmarken.

Zu mir nahm er Kontakt auf, weil er gern auf der Kirchenorgel spielen wollte. Als ich von seinem suchtartigen Musikinstrumenten-Gebrauch hörte, hielt ich es jedoch für angebracht, diesen Wunsch nicht zu erfüllen (zumal er ohnehin keinen Ausgang hatte), sondern lieber über seine Art, mit Dingen und Menschen umzugehen, zu sprechen. Überdeutlich wurde in den Gesprächen, dass Herr G. auf alle mögliche Art und Weise versuchte, alle Welt unter Kontrolle zu bringen: seine Gesprächspartner z. B. dadurch, dass er pausenlos, ohne Punkt und Komma, redete; seine Gefühle durch extensives, lautstarkes Musizieren bis hin zur Demolierung der Instrumente; seine sexuellen Wünsche durch verschiedene Methoden, Frauen zunächst als Objekten begegnen zu können, bis er sie für sich einnehmen könnte (so hatte er versucht, ein Foto-Studio aufzumachen, um Frauen für Akt-Fotos zu gewinnen – nicht ohne Hintergedanken).

Meine Beziehung zu Herrn G. entwickelte sich zwiespältig. Zum einen reagierte er mit Tränen, als ich ihm meine Phantasie mitteilte, dass ich hinter seinen Bemühungen, alles in den Griff zu kriegen, einen verzweifelten kleinen Jungen wahrnähme, der traurig ist über seine Schwäche und Machtlosigkeit und der sich so sehr danach sehnt, geliebt zu werden, so wie er ist. Ich sagte ihm, dass er es doch nicht nötig habe, sich größer und stärker darzustellen, als er sich fühle. Zumal er sich selbst deutlich kleiner und schwächer wahrnahm, als er z. B. auf mich wirkte.

Als er jedoch in weiteren Gesprächen wieder sehr kontrolliert sprach und nach Möglichkeiten suchte, die Sozialhilfe zu überlisten, weigerte ich mich, dieses Spiel weiter mitzuspielen. Wenn er wolle, würde ich gern über seine Tränen sprechen, und wie er mit dem Schwach-Sein umgehen könne, ohne sich entwürdigt vorzukommen. Aber dazu war er, jedenfalls während dieses Klinikaufenthalts, (noch?) nicht bereit.

In diesem Fall schien mir klar, dass Herr G. nicht wirklich das Opfer von unrechtmäßigem Verhalten einer Behörde geworden war. In anderen Fällen, wenn jemand über Sozialämter u. ä. klagte, verwies ich normalerweise an die Kollegen von der Sozialarbeit, weil ich mich nicht kompetent genug fühle, um die Feinheiten der behördlichen Abläufe zu durchblicken.

Einfluss der Einstufung als Pflegefall auf den Verlauf einer Krankheit

Manchmal sind soziale Anspruchshaltungen gar nicht so leicht zu erkennen. Ich hatte z. B. über ein Jahr lang regelmäßig Kontakt mit einer Patientin, zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt, die nach dem Tode ihres Mannes in soziale Not geraten war und über Depressionen klagte. Frau H. sprach sich gern bei mir und anderen aus, beharrte jedoch standhaft auf ihrer Ansicht, dass ihr doch nicht zu helfen sei. Weder Gott noch ein Pfarrer noch Ärzte noch Sozialarbeiter könnten ihr helfen. So drehten sich auch meine Gespräche mit ihr immer wieder im Kreise, und es gehörte eine Menge Geduld dazu, sie nicht als hoffnungslosen Fall oder als unverbesserliche Querulantin völlig links liegen zu lassen.

Das Stationsteam nahm bald an, dass es Frau H. in der Klinik im Grunde „zu gut“ ging, weil sie ja hier versorgt sei, sich nicht um ihre alltäglichen Sorgen kümmern müsse und auch der Entscheidung enthoben sei, vielleicht in ein Altenheim zu gehen und auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Denn immer wenn man annahm, dass sich bei ihr eine Besserung zeigte und sie entlassen werden sollte, wurde ihr Zustand wieder akut suizidal, und man musste sie weiter in der Klinik behandeln. Das änderte sich erst, als die Krankenkasse sie nach einem Jahr als Pflegefall einstufte und es für sie keinen Unterschied mehr machte, ob sie weiter in der Klinik oder z. B. in einem Altenheim untergebracht wäre. Da entschied sie sich sehr schnell für die Aufnahme in einer Langzeiteinrichtung, die ihr wenigstens noch Gelegenheit für bestimmte leichte Tätigkeiten bot.

Ein weiteres Beispiel zeigt, wie auch Angehörige von Patienten zuweilen von einer Anspruchshaltung geprägt sind, die die Suche nach der bestmöglichen Perspektive für den Patienten erschwert. Ich begegnete Frau I. gelegentlich, wenn sie ihren Mann besuchte, erst auf der offenen, später auf der geschlossenen Männerstation der Gerontopsychiatrie. Herr I. hatte sich durch ein hirnorganisches Psychosyndrom so sehr in seiner Persönlichkeit verändert, dass seine Frau ihn zu Hause im Grunde nicht mehr pflegen konnte. Die Kinder der Familie, die alle in gutsituierten Verhältnissen an anderen Orten wohnten, sahen das allerdings anders, weil sie den Vater ja nicht in seinen unruhigen und aggressiven Verhaltensweisen rund um die Uhr erlebten. Herr I. wäre auf die Dauer in einer Pflegeeinrichtung besser aufgehoben gewesen, die aber die Angehörigen sehr viel teurer gekommen wäre als der jetzige Klinikaufenthalt. Ich spürte, wie Frau I. einerseits darunter litt, ihrem Mann zu Hause nicht mehr gerecht werden zu können, wie sie andererseits auch keine Entscheidung treffen wollte, die ihren Kindern große finanzielle Opfer abverlangen würde. So blieb es lange Zeit bei einem Hin und Her von Entlassung aus der Klinik und Wiedereinweisung, bis auch in diesem Fall die Krankenkasse feststellte: Herr I. ist ein Pflegefall und im Krankenhaus nicht mehr richtig untergebracht.

Die zuletzt angeführten Beispiele führen zu den inzwischen ja auch in der Öffentlichkeit diskutierten Überlegungen, wie das Risiko, zum „Pflegefall“ zu werden, finanziell abgesichert werden kann. Es ist sicherlich menschenwürdiger, wenn beim Übergang von der Krankenbehandlung zur reinen Pflege das Gerangel zwischen Kostenträgern oder Familienangehörigen vermieden werden kann. Andererseits kann man es kaum verhindern, dass auch eine verbesserte Pflegekostenabsicherung von manchen Patienten im Sinne einer sozialen „Hängematte“ missbraucht wird. Manchem würde die Motivation fehlen, alle noch verfügbaren Kräfte zu einer Besserung seines Gesundheitszustandes zu mobilisieren, wenn es allzu einfach wäre, sich als Pflegefall zur Ruhe zu setzen.

PatientInnen als Gewaltopfer und Gewalttäter

Opfer und Täter – nirgendwo scheint man diese Charakterisierungen einfacher anwenden können als im Bereich von Straftaten. Aber es kommt vor, dass Opfer sich aus unbewussten Motiven heraus in Situationen begeben, in denen sie Gewalttaten geradezu provozieren; und es gibt auch Opfer von Gewalt, die ihre Situation dazu ausnutzen, nun ihrerseits andere Menschen zum Opfer ihrer Ansprüche zu machen. Umgekehrt gibt es Menschen, die zu Tätern werden, weil sie sich der Bewältigung ihrer Lebensumstände nicht gewachsen fühlen.

Ausnutzung der Tatsache, ein armes Opfer zu sein

Ich erinnere mich an Frau J., …, die gelegentlich an unserem Bibelkreis teilnahm, ohne dass sie sich persönlich sehr stark einbrachte, und die eines Tages ganz dringend einen Termin mit mir ausmachen wollte. Bei dem vereinbarten Gespräch erzählte sie mir, wie sie von einem Mann fast erwürgt worden sei, der es auf eine feste Beziehung mit ihr abgesehen hatte, von ihr aber abgewiesen worden war. Nun habe sie eine wahnsinnige Angst davor, dass dieser Mann nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis sie wieder bedrohen könnte. Ihre Therapeutin, die Stationspsychologin, habe ihr vorgeschlagen, doch einmal diesen Mann im Gefängnis aufzusuchen und mit ihm zu reden (im Beisein des Bewährungshelfers). Dann könne sie realistischer einschätzen, wie berechtigt ihre Angst sei. Nun versuchte Frau J., mich dazu zu bewegen, mit ihr gemeinsam nach … ins Gefängnis zu fahren; die Psychologin hielte das auch für gut, damit sie zusätzliche Unterstützung durch mich bei dem Gespräch habe.

Ich bekam ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache. Erstens eine ganz spontane Angst vor einem solchen Gespräch mit einem Gewalttäter, dessen Seelsorger ich nicht einmal war. Zweitens eine Unsicherheit bezüglich der Psychologin – sollte sie wirklich so einen Vorschlag gemacht haben, ohne es vorher mit mir abzusprechen? Und drittens große Zweifel am Sinn eines solchen Gesprächs überhaupt – würde sich die Angst der Patientin nicht noch verstärken, wenn sie dem Täter noch einmal gegenüber stünde? – würde sie ihm nicht signalisieren, dass sie ihn doch sehr wichtig nähme, und ihn möglicherweise gerade dadurch zu weiteren Annäherungsversuchen provozieren? Unsicherheit „zwei“ und Zweifel „drei“ äußerte ich gegenüber der Patientin – und wir vereinbarten, dass ich zuerst einmal Rücksprache mit der Psychologin halten würde (zwei Wochen später, weil diese nämlich gerade in den Urlaub abgereist war), bevor wir weitere Schritte unternehmen würden. Dass ich Angst „eins“ nicht recht wahrnehmen wollte bzw. dachte, ich dürfe mich doch als Seelsorger in so einer Situation nicht einfach aus Angst „drücken“, das sollte sich dadurch rächen, dass mir dieses ungute Gefühl doch noch eine ganze Weile nachging.

In dem Gespräch mit der Psychologin über das Ansinnen von Frau J. stellte sich übrigens heraus, dass die Psychologin überhaupt keinen derartigen Vorschlag gemacht hatte und im übrigen meine Bedenken teilte. Wir hatten beide den Eindruck, dass Frau J. – wieder einmal? – ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt hatte, zwei Autoritäten gegeneinander auszuspielen bzw. für ihre Zwecke einzuspannen. Frau J. kam noch einmal in den Bibelkreis, sprach mich aber nicht mehr auf ihren Wunsch an; von mir aus kam ich auch nicht mehr darauf zurück. Haben wir – die Psychologin und ich – sie einmal mehr in ihrem Glauben bestärkt, sie sei und bleibe eben ein armes Opfer und auf Autoritäten sei eben doch kein Verlass? Manchmal bleiben Zweifel…

Unbewusste Mechanismen, durch die ein Opfer potentielle Täter zur Tat verführt

Eine andere Frau von … kam in die Klinik, weil sie bereits mehrfach vergewaltigt worden war und mit den Folgen der Vergewaltigungen nicht fertig wurde. Frau K. suchte mich oft in meiner Sprechzeit auf („Sie als Pfarrer sind für mich keine Bedrohung“) und nahm auch regelmäßig am Bibelkreis teil. Mir fiel im Laufe der Zeit auf, dass sie es verstand, immer wieder andere Patienten und das Stationspersonal gegen sich einzunehmen, indem sie ein provozierendes Verhalten an den Tag legte.

Je mehr ihr Vertrauen zu mir wuchs, um so mehr konnte ich ihr den Gedanken nahebringen, dass sie selbst eine gehörige Portion dazu beitrug, wenn andere Menschen ihr zu nahe traten. Das konnte ich allerdings erst tun, nachdem ihr klar war, dass ich sie nicht moralisch verantwortlich machen wollte für das Verhalten derer, die sie missbraucht hatten.

Sie war schließlich für die schmerzliche Einsicht offen, dass es eigentlich das kleine Mädchen in ihr war, das sich danach sehnte, ihren Vati irgendwie für sich zu gewinnen. (Der reale Vater hatte sich zu Beginn ihrer Pubertät von ihr abgewandt – vielleicht um sich davor zu schützen, sie zu missbrauchen. Aber wie sollte die kleine Tochter den plötzlichen Wechsel im Verhalten ihres Vaters deuten?) Und nun steckte sie in einem fürchterlichen Dilemma: entweder Männer dazu zu verführen, ihr zu nahe zu treten – dann hatte sie „den Vati“ für sich gewonnen, um den Preis der Gefühle des Missbrauchtwerdens und des Ekels vor Männern überhaupt. Oder auf die Nähe von Männern überhaupt zu verzichten – um den Preis, dass ihre Sehnsucht nie befriedigt werden würde und dass sie auch nie ein schönes Sexualleben mit ihrem Mann würde führen können.

Ich habe den Eindruck, dass es Frau K. mit der Zeit gelang, zu unterscheiden zwischen der väterlichen Nähe, die sie brauchte, um sich in der Welt zurechtzufinden und zu sich selbst zu stehen, und der sexuellen Nähe, die in eine Vater-Tochter-Beziehung nicht hineingehört und gegen die eine Tochter sich auch mit dem ganzen ihr zur Verfügung stehenden Zorn (und vielleicht mit mütterlichem oder seelsorgerlichem Beistand) wehren darf. In den Bibelgesprächen war es das Bild des liebenden, fürsorglichen Vatergottes, das sie besonders ansprach. Und vielleicht hat es ihr auch geholfen, sich zeitweise an mich als den männlichen Seelsorger anlehnen zu können, wobei ich ihr klar zu verstehen gab, dass ich mich von ihr nicht verführen lassen würde.

Ein Jahr nach ihrer Therapie rief mich Frau K. vor ein paar Tagen an und erzählte mir, es gehe ihr gut und sie sei jetzt als Künstlerin tätig – und zwar als eine sehr gute!

Es stellt sich an Beispielen wie diesem heraus, dass unsere angeblich im Blick auf Sexualfragen so frei gewordene Gesellschaft noch immer einen riesengroßen Nachholbedarf an sexualethischer Reife hat. Väter müssen z. B. lernen, verantwortlich mit ihren Gefühlen gegenüber ihren heranwachsenden Töchtern umzugehen, d. h. sie weder sexuell zu missbrauchen noch ihnen ihre väterliche Liebe und Nähe zu entziehen.

Gewalttat als Folge unbewältigter Lebensverhältnisse

Frau L., …, ist ein Beispiel dafür, wie eine Frau zur Täterin werden kann, die im Grunde selber ein Opfer ihrer Lebensumstände ist. Sie kam in die Psychiatrie, als sie in einer Phase totaler Überlastung und inneren Ausgebranntseins sich selbst und ihre kleine Tochter umbringen wollte. Ihr Therapeut, ein Oberarzt, versuchte sie zur Einsicht zu führen, dass sie einerseits lernen müsse, die Dinge gelassener auf sich zukommen zu lassen, dass sie andererseits endlich eine Entscheidung über ihre Ehe fällen müsse. In Gesprächen mit mir spielten ihre Schuldgefühle und ihre Glaubenszweifel eine große Rolle. Sie hätte gerne an Vergebung geglaubt, konnte sich aber nicht vorstellen, dass Gott sie noch lieb haben könne. Sie hätte gern die Dinge gelassener auf sich zukommen lassen, auch die Entscheidung, ob sie um ihre Ehe kämpfen oder die Trennung anstreben solle; aber sie fühlte sich zu schwach, um eine Entscheidung fällen zu können. Wie soll man „loslassen“ können, ohne irgendwo anders einen „festen Halt“ zu haben? Unsere Gespräche drehten sich bald im Kreise, und Frau L. fand es besser, sich auf die Therapie mit dem Oberarzt zu konzentrieren.

Mit mir hatte Frau L. allerdings weiterhin Kontakt im Gottesdienst oder bei kurzen Begegnungen. Ich versuchte, ihr zu vermitteln, dass ich sie nicht verurteilte, obwohl ich ihr das Schuldgefühl wegen der versuchten Tötung nicht ausreden wollte. Denn: obwohl Frau L. als Opfer des Zustands ihrer Ehe und ihrer psychischen Krankheit zur Täterin geworden war, trug sie doch auch ihr Stück Verantwortung für ihre Tat. Vergebung, so dachte ich, könne es ihr ermöglichen, neu anzufangen, ihre Probleme zu bewältigen.

Lange Zeit hindurch schien es so, dass ihr weder in der Therapie des Arztes noch in der Seelsorge durch den Pfarrer neue Kräfte erwuchsen, um mit ihrer Krankheit fertigzuwerden, entscheidungsfreudiger zu werden und ihre Verantwortung für sich und die Familie wieder wahrzunehmen. Erst als man auf die Idee kam, sie im Rahmen der Arbeitstherapie im Sekretariat der Klinikverwaltung als Sekretärin zu beschäftigen, wuchs langsam ihr Selbstbewusstsein, und sie wurde bald entlassen. Verurteilt wurde sie übrigens nicht.

Selbsttötung als letzter „Ausweg“ in einer Suchtkarriere

Auf der Entzugs-Station lernte ich Frau M., …, kennen, eine heroinabhängige Patientin, die mich zu sich rufen ließ. Ihr Freund war kurz zuvor durch eine Überdosis Heroin unfreiwillig aus dem Leben geschieden, und sie fühlte sich schuldig deswegen, weil sie dabei gewesen war und nichts dagegen unternommen hatte. Sie habe sich dann auch wieder etwas gespritzt, weil sie mit all dem nicht fertig wurde, und kam in die Klinik.

Auf die Frage, ob sie denn jetzt endgültig mit den Drogen aufhören wolle, wollte sie sich nicht festlegen. Nein, sie brauche eigentlich keinen Stoff mehr; nur für den Notfall wollte sie sich doch so ein Hintertürchen offen lassen. Sie gab sich zwiespältig. Einerseits sehr souverän – sie wisse genau, dass man hier auf der Station jeden Stoff besorgen könne, sie habe sogar selbst etwas im Schrank; sogar zwei Messer hätte sie durch die Kontrolle geschmuggelt. Auf die Frage, wozu sie die denn brauche, meinte sie, die hätte ihr ein Freund gegeben, aber sie selber brauche sie nicht.

Ich legte ihr zwei Dinge nahe: Zum einen, dass sie doch bitte die Messer abgeben solle, um niemanden in Gefahr zu bringen. Zum andern, dass ich nur zwei Möglichkeiten für sie sähe: entweder dass sie eine Langzeittherapie macht oder dass sie sich über kurz oder lang mit der Droge umbringt. Das mit dem Messer brachte sie in Ordnung. Für eine Langzeittherapie konnte sie sich aber nicht entscheiden. Sie „entließ“ sich kurz darauf selbst.

Ich sah sie noch einmal wieder, als sie jemand anders von der Station besuchte. Sie wirkte verzweifelt, ohne Hoffnung. Ich versuchte noch einmal, sie zu einer Therapie zu bewegen. Sie meinte, sie habe AIDS, was denn ihr Leben überhaupt noch für einen Sinn habe. Ich äußerte meine Betroffenheit, und suchte ihr zu vermitteln, dass der Sinn eines Lebens nicht in der Länge oder Kürze der Lebensjahre liege. Ich glaube, ich erzählte ihr auch von Jesus, der nicht alt wurde und dessen Leben trotzdem sinnvoll war. Darum zu kämpfen, clean zu werden und zu bleiben, das sei ihr Lebenssinn – und vielleicht noch mehr. Letzten Endes sei ich machtlos dagegen, wenn sie sich wirklich etwa antun wolle. Aber ich gab ihr zu verstehen, dass ich mir Sorgen um sie machte und dass ich traurig wäre, wenn sie sterben würde. An diesem Tag sah ich sie zum letztenmal.

Einige Monate später hörte ich von einer anderen Patientin, dass Frau M. gestorben sei. Vor Weihnachten habe sie sich den „goldenen Schuss“ gesetzt. Ich war traurig.

Betroffenheit durch den Golfkrieg

Am ersten Tag des Golfkriegs traf sich nachmittags der Bibelgesprächskreis. In der Anfangsrunde, in der wir jedesmal zunächst schauen, was die einzelnen TeilnehmerInnen an Vorschlägen, Fragen und Themenwünschen mitgebracht haben, herrschte diesmal die Betroffenheit durch den Beginn des Golfkriegs vor. Die Art der Betroffenheit war jedoch unterschiedlich. Eine junge Frau erzählte vom amerikanischen Mann ihrer Freundin, der jetzt an den Golf müsse und nicht wisse, ob er zurückkehren werde. Eine andere Patientin sprach davon, wie sie gebetet habe, dass Gott diesen Krieg nicht zulassen solle. Mehrere depressive Patientinnen sagten, dass sie möglichst wenig an den Krieg zu denken versuchten. Eine Frau äußerte sich so: sie sei froh, dass sie in der Klinik als Patienten das Recht hätten, sich um die Weltpolitik nicht zu kümmern. Sollen die Gesunden sich Gedanken darum machen!

Mir ging es an diesem Tag so, dass ich zwar Angst und Betroffenheit spürte, aber nicht Panik. Irgendwie fühlte ich ein ganz tief gegründetes Vertrauen zu Gott. Ich musste an das (von Hoimar von Ditfurth bereits vor Jahren aufgegriffene) Wort Martin Luthers vom Apfelbäumchen denken, das ich pflanzen kann, selbst wenn morgen die Welt untergeht. Davon erzählte ich anderen, und mehr vermochte ich in diesen Tagen nicht zu tun.

Ich war nicht in der Lage, mich intensiver in die Lage derer zu versetzen, die im Golfkrieg leiden und sterben. Ich hatte auch Schwierigkeiten, mich hundertprozentig für die pazifistische Position meiner Dekanatskollegen, unseres Propstes und unserer Kirchenleitung stark zu machen, da ich die Argumentation vor allem der Israelis gut verstehen konnte, dass man der Gewalt eines Aggressors doch irgendetwas entgegensetzen müsse. Aber was? Die amerikanische Reaktion war ja alles andere als verhältnismäßig… Ich stelle meine Gedanken so ausführlich dar, weil ich ähnlich zwiespältige Empfindungen auch in Gesprächen mit Patienten feststellen konnte, bereits in den Tagen vor dem Golfkrieg, aber auch später.

Bei den Andachten im gerontopsychiatrischen Bereich und auch im sonntäglichen Gottesdienst in der Klinik-Kapelle sprach ich das Thema nicht allzu ausführlich an, um Patienten nicht tiefer in eine Angst hineinzutreiben, mit der umzugehen ich ihnen in dieser Situation nicht helfen konnte. Vertrauens- und Fürbittlieder spielten in dieser Zeit eine besondere Rolle (z. B. „Nun lasst uns gehn und treten“, „Harre meine Seele“, „Jesu, geh voran“), mit denen ich zum Ausdruck bringen wollte: Wir sind nicht von Gott verlassen, trotz allem. Wir können für die beten, die ihm Krieg sterben, auch für die Soldaten, die am Krieg beteiligt sind, obwohl wir den Krieg nicht verherrlichen können und obwohl wir nicht begreifen können, warum Gott solche Kriege zulässt.

Ich muss an dieser Stelle zugeben, dass es mir entgegenkommt, in der Nervenklinik mich nicht so sehr unter dem Druck zu fühlen, politisch zu predigen, politisch aktiv zu sein In der Gemeinde hatte ich lange Zeit den Anspruch, ich müsse auch einen Beitrag dazu leisten, dass die Friedens- und Umwelt-Verantwortung der Gemeinde nicht zu kurz kommt. Mit der Gefahr, dass ich entweder mich überforderte, indem ich als Einzelkämpfer gegenüber dem Kirchenvorstand unermüdlich Friedens- und Umweltthemen einbrachte, die kaum jemanden interessierten, oder dass ich die Gemeindeglieder überforderte, die einfach in Ruhe gelassen werden wollten mit Themen, im Blick auf die sie sich machtlos fühlten. Ich bin nach wie vor ein politisch denkender Mensch, habe aber mit der Zeit gelernt, behutsam mit politischen Themen umzugehen, vor allem in Situationen, in denen kein Gespräch möglich ist, wie z. B. während der Predigt. Auf keinen Fall darf die politische Einstellung als Kriterium für wahre Christlichkeit herangezogen werden. Und ich denke auch, dass nicht jeder zu jeder Zeit in der Lage und willens sein muss, sich politisch zu engagieren.

In besonderer Weise war übrigens eine Patientin, Frau N., von Auswirkungen des Golfkriegs betroffen, deren Ex-Freund zu den in der Türkei stationierten Bundeswehreinheiten gehörte und der ihr von dort einen Liebesbrief schrieb, um die Beziehung noch einmal neu zu beginnen. Sie war hin- und hergerissen zwischen dem Impuls, es doch noch einmal mit ihm zu versuchen – auch um ihn nicht zu enttäuschen, der jetzt in einer so bedrohlichen Situation leben musste -, und dem deutlichen Gefühl, dass er sie nicht wirklich mit Leib und Seele, sondern nur körperlich begehrte. Ich ermutigte sie, nicht ihrem schlechten Gewissen, sondern ihrem Gefühl zu folgen, das sie vor einer weiteren Beziehung zu dem jungen Mann warnen wollte.

Biographien unter dem Einfluss einer psychiatrischen Klinik

Auch durch den Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik selbst können Menschen zu Opfern gemacht werden. Zum Beispiel ganz einfach und ganz legal durch die Unterbringung in geschlossenen Stationen oder durch Fixierungen. Oder auch durch die als Stigma empfundene Selbst- und Fremdeinschätzung als jemand, der „nervenkrank“ ist und zu den „Bekloppten“ gesteckt wird.

Patienten als Opfer im Beziehungsgeflecht der Mitarbeiter auf einer psychiatrischen Station

Als ein Beispiel möchte ich Frau O. erwähnen; die Begegnungen mit ihr habe ich in folgendem Gesprächs-Protokoll nachgezeichnet, das ich zu Supervisionszwecken angefertigt hatte:

Frau O., zwischen 70 und 80 Jahre alt, war Patientin auf der offenen gerontopsychiatrischen Station unserer Klinik, bis sie wegen Suizidgefahr auf die geschlossene verlegt wurde. Ich erinnere mich an kurze Kontakte mit ihr auf dem Flur, bei denen aber kein intensiveres Gespräch zustandekam. Sie ging oft unruhig den Gang auf und ab, sie jammerte und weinte viel, wobei man ihre Worte oft kaum verstehen konnte, gelegentlich äußerte sie: „Sie können mir auch nicht helfen“. An den Andachten, die ich auf der Station anbot, nahm sie gelegentlich teil.

Eines Tages spricht mich Frau O. zum erstenmal von sich aus an, auf dem Flur ihrer Station (O = Frau O; S = Seelsorger; K = Krankenschwester).

O1: Herr Pfarrer, könnten Sie mir nicht einen Schuhlöffel besorgen?

S2: Einen Schuhlöffel? Gibt es denn hier auf der Station keinen?

O3: Nein, die Schwestern sagen, es ist keiner da. Und sie wollen mir auch keinen besorgen. (fängt an zu weinen)

In diesem Augenblick kommt eine Schwester vorbei und hört zufällig, was Frau O. sich von mir erbeten hat.

K4: Frau O., wir können doch nicht extra wegen einem Schuhlöffel in die Stadt gehen und einen kaufen! Und außerdem haben Sie Ihre Schuhe doch auch so anbekommen. Mit ein wenig Geduld geht das auch. (sie geht gleich weiter)

O5: (undeutlich wegen des Weinens und ein wenig aggressiv) Das sagt sich so leicht; da muss ich immer so lange machen und mich bücken und das geht so schwer. Können Sie mir nicht einen Schuhlöffel besorgen, Herr Pfarrer?

S6: Ich glaube, ich komme heute oder morgen noch in die Stadt, da schaue ich mal, ob ich einen kriege. Übermorgen bin ich wieder hier im Haus und kann ihn vorbeibringen.

Als ich der Schwester etwas später begegne, fragt sie mich:

K7: (lächelnd, ein wenig herausfordernd) Hat sie Sie rumgekriegt, einen Schuhlöffel zu besorgen? Sie nervt uns dauernd wegen irgendwas. Und wenn sie’s bei uns nicht kriegt, versucht sie’s bei jemand anderem.

S8: Ich hab mir das schon überlegt. Sonst hat sie eigentlich immer nur gejammert, aber heute hat sie einen ganz bestimmten Wunsch geäußert. Und es ist ja eine Hilfe für sie, um etwas selber zu tun.

K9: Na ja, jedenfalls wir haben keine Zeit, in die Stadt zu fahren und auch noch Schuhlöffel zu besorgen.

S10: Das würde ich auch nicht von Ihnen erwarten. Aber ich komme sowieso noch in die Stadt.

Einige Zeit später treffe ich die Schwester nochmal im Stationszimmer.

K11: Sie müssen das nicht falsch verstehen, was ich vorhin sagte. Aber Frau O. liegt uns wirklich ständig in den Ohren, sie will dies, sie will das, und irgendwen kriegt sie irgendwann dazu, dass er tut, was sie will. Und manchmal, wenn man nicht drauf eingeht, ist es ihr dann gar nicht mehr so wichtig.

Als ich zwei Tage später den Schuhlöffel auf die Station bringe, ist Frau O. gerade bei der Beschäftigungstherapie; ich lasse ihn da, die Schwestern sagen, dass sie ihn ihr geben. In der Woche darauf begegne ich Frau O. wieder, anlässlich einer Andacht, und erfahre, dass sie den Schuhlöffel noch nicht erhalten hat. Ich frage die Schwester danach.

K12: Ach, wir dachten, dass der Schuhlöffel im Stationszimmer bleibt für die Patienten, die ihn brauchen. Sehen Sie, Frau O. hat seitdem gar nicht wieder danach gefragt.

Ich sage Frau O., die mich noch einmal darauf anspricht, dass sie doch im Stationszimmer nachfragen solle.

Wieder ein paar Tage später treffe ich Frau O. im Flur an, als sie gerade auf ihr Zimmer gehen will.

S13: Guten Tag, Frau O. Wie geht es Ihnen denn?

O14: Ach, ganz schlecht. (fängt an zu weinen)

S15: Möchten Sie mir sagen, warum es Ihnen so schlecht geht?

O16: Ich darf nicht mehr allein nach draußen.

S17: Warum denn nicht?

O18: Ich war gestern runter gegangen zum Malen, aber da hatte ich nicht daran gedacht, dass es früher ist als sonst, und da ging ich um drei Uhr runter, und da war es schon fertig; und weil ich so aufgeregt war, bin ich aus dem Keller die eine Treppe rauf und dann gleich in die erste Station links rein. (während ihre eigene Station noch ein Stockwerk höher liegt) Und deshalb sperrt man mir jetzt den Ausgang. Und wenn jetzt am Wochenende meine Tochter kommt, darf sie mich noch nicht mal mit nach Hause nehmen, auf den Friedhof und so.

S19: Das weiß ich jetzt auch nicht, warum der Arzt das angeordnet hat. Was für einen Grund könnte er dafür haben?

O20: (aggressiv) Für den Arzt bin ich doch nur eine Null. Da habe ich nichts zu melden.

S21: Ich verstehe, dass Sie sich verletzt fühlen. Allerdings hätte ich eigentlich von unseren Ärzten hier nicht gedacht, dass sie die Patienten so gering achten.

O22: Doch, doch. Ich hab mich doch bloß im Stockwerk geirrt, bin da in unten in die Station reingelaufen, und dann heißt es gleich: kein Ausgang mehr, sie darf nicht mehr allein raus.

S23: Fragen Sie doch noch mal den Arzt, vielleicht dürfen Sie dann doch mit Ihrer Tochter am Wochenende auch mal mit nach Hause fahren.

O24: Ich seh den Arzt ja nie. Und vielleicht kommt meine Tochter auch gar nicht; sie hat angerufen, wenn es am Wochenende schneit, dann können sie nicht kommen.

Etwas später kommt sie dann noch auf den Schuhlöffel zurück, den sie inzwischen bekommen hat. Sie bedankt sich und bezahlt auch dafür.

Von der Stationsschwester erfahre ich, dass Frau O. auch deshalb keinen Ausgang mehr habe, weil sie in den Telefonzellen der Klinik enorm viel Geld vertelefoniere und in dieser Beziehung keine Grenzen mehr kenne.

Ich breche das Protokoll hier ab, anhand dessen man sehr ausführlich das konfliktreiche Beziehungsgeflecht im psychiatrischen Krankenhaus zwischen Patienten – Pflegepersonal – Angehörigen – Ärzten – und dann irgendwo dazwischen auch noch dem Pfarrer untersuchen könnte (was wir auch in der Supervision getan haben, was aber hier den Rahmen des Berichtes sprengen würde). Wichtigstes Ergebnis der Supervision für mich war, dass ich als Seelsorger, der auf der Station nicht das therapeutische Konzept mitträgt oder verändern kann, in einer relativ machtlosen Position bin, in der ich aber der Patientin gerade so auch sehr nahe sein kann.

Darüber hinaus führt die Frage, wie man – politisch – die personelle Ausstattung der psychiatrischen Krankenpflege so verbessern kann, dass es nicht aus Überlastung des Personals dazu kommt, dass sich Patienten menschenunwürdig behandelt fühlen.

Pflegekräfte als Opfer der Personalsituation in einer psychiatrischen Klinik

Zwischen der Ebene des direkten Kontakts des Seelsorgers zur Patientin und der Ebene politischer Veränderungen liegen aber noch andere Möglichkeiten. Denn einerseits fühlt sich zwar die Patientin als das Opfer des Arztes und der Schwestern (mit ihr auch die Angehörigen), aber andererseits wird das Verhalten des Personals ebenfalls aus einer Opferrolle heraus verständlich. Durch den ständigen Personalmangel, vielleicht auch durch einen Mangel an Erfolgserlebnissen, was die Heilung von Patienten angeht, bleibt den Pflegekräften nicht viel Zeit, sich um die vielen kleinen Extrawünsche einer „schwierigen“ Patientin zu kümmern. Fängt ein Pfarrer an, das zu tun, wird er eher als Störenfried erlebt, der auch noch ein schlechtes Gewissen macht. Eben diesem Eindruck kann ich als Seelsorger nun aber entgegentreten, z. B. indem ich deutlich mache, dass ich nicht nur „Patientenpfarrer“, sondern „Krankenhauspfarrer“, somit auch Seelsorger für die Mitarbeiter der Klinik bin.

Zum Beispiel spricht mich Pfleger P., ein Pfleger der Geronto-Männerstation, oftmals auf die Belastungen an, die er durch seine Tätigkeit mit sich herumschleppt. Etwa wenn Patienten auf der Station im Sterben liegen und niemand Zeit hat, sich zu ihnen zu setzen. Oder wenn sich einer mal für einen Patienten mehr Zeit nimmt, die anderen aber dann die restliche Arbeit für ihn mit erledigen müssen. Manche Patienten sterben plötzlich, von denen man sich noch gar nicht verabschieden wollte; andere müssen sich lange quälen und man weiß nicht warum. Wenn man nicht über diese Belastungen sprechen könne, fresse man alles in sich herein, und über kurz oder lang melden sich Folgeerscheinungen – psychosomatische Reaktionen, ständiges Unlustgefühl usw.

Gespräche wie dieses mit Pfleger P. führten mich dazu, gemeinsam mit dem Oberarzt der Station einmal im Rahmen der hausinternen Fortbildung das Thema „Sterbende begleiten“ anzusprechen. Dabei war ein gewisses Interesse spürbar, später auch einmal andere Themen mit mir gemeinsam in einer Fortbildung zu behandeln.

Im Kreiskrankenhaus, in dem ich die beiden „Nachsorgestationen“, Innere 3 und Chirurgie 3, betreue, hatte eine solche Fortbildung zum Thema „Gespräche mit Sterbenden und ihren Angehörigen“ an drei Nachmittagen bereits im Herbst letzten Jahres stattgefunden. Die Zahl der TeilnehmerInnen schwankte zwischen zehn und vier, und einige nutzten das Angebot zu einer sehr intensiven Aufarbeitung belastender Erfahrungen im Umgang mit sterbenden Patienten. Als mein Kollege und ich versuchten, dieses Angebot in Absprache mit der Pflegedienstleitung zu einem regelmäßigen Gesprächskreis auszuweiten, war die Resonanz allerdings gleich null. Zufällig mitgehörter Kommentar eines Zivildienstleistenden: „Das ist ein Gesprächskreis für solche, die nicht so recht mit der Arbeit auf der Station klarkommen“. Wie dem auch sei, ob wir falsch geworben haben oder ob es wirklich so schwierig ist, sich über die Belastungen in der Arbeit regelmäßig auszutauschen – wir haben das Angebot zunächst einmal einschlafen lassen. Möglicherweise werden auch in Zukunft punktuelle Veranstaltungen zu besonderen Themen eher angenommen als supervisionsähnliche Veranstaltungsreihen.

Zurück zur Nervenklinik: Schwester Q. klagt über die belastende Situation auf der einzigen Langzeit-Geronto-Station, die eigentlich als „mobile Station“ gilt, d. h. mit Patienten belegt ist, die sich weitgehend selbst anziehen und waschen können und nicht bettlägerig oder stark pflegebedürftig sind. Das hat zur Folge, dass die Station meist nur mit einer Pflegekraft besetzt ist bzw. dass, wenn einmal zwei Schwestern anwesend sind, bei Engpässen auf anderen Stationen zunächst einmal hier die Zweitkraft abgezogen wird. Schwester Q. hat sich schon lange darüber beklagt, dass die Patienten, je älter und hinfälliger sie werden, immer mehr auch pflegerische Hilfestellungen benötigen, und dass sie vor allem auch jemanden bräuchten, der sich Zeit nimmt, mal mit ihnen etwas zu unternehmen, sich zu ihnen zu setzen usw. Dazu hat eine einzelne Kraft auf der Station aber keine Zeit – eine unbefriedigende Situation. Zur Möglichkeit einer Aussprache über diese Probleme in der internen Klinik-Fortbildung merkt Schwester Q. an, dass sie sowieso an keiner Fortbildung teilnehmen könne, da sie in der Regel die „Übergabezeit“ – mittags zwischen 13.30 und 14.30 Uhr, der besten Zeit für die interne Fortbildung – dazu benötige, dringende Besorgungen für die Station zu erledigen. – Ich als einer der Klinikseelsorger bemühe mich seither, auch als Sprachrohr solcher Klagen gegenüber dem Oberarzt und Klinikchef zu fungieren – mit wieviel Erfolg, ist noch nicht abzusehen.

Eine weitere Schwester, Schwester R., die im Begriff war, ihren Mann aufgrund seiner Alkoholprobleme zu verlassen, suchte einerseits selber meine seelsorgerliche Begleitung und machte andererseits auch ihren Mann darauf aufmerksam, dass er sich an mich wenden könne, wenn er sich bei jemandem aussprechen wolle.

Neben dieser persönlichen Begleitung einzelner Mitarbeiter und neben den Gruppengesprächen im Rahmen der Mitarbeiterfortbildung finde ich es ungeheuer wichtig, auf den Stationen nicht den Eindruck der Besserwisserei hervorzurufen, sondern mich auch in die Probleme des Personals einzufühlen. Ich halte bewusst den Kontakt zu den Schwestern und Pflegern, frage nach einzelnen Patienten, trinke gelegentlich Kaffee mit; dabei werde ich dann gelegentlich z. B. auch darauf angesprochen, ob nicht Gemeindeglieder auch mal Patienten zum Gottesdienst abholen könnten und ähnliches.

Dieser Kontakt mit dem Pflegepersonal ist auch um der Patienten willen wichtig, aus zwei Gründen: einmal weil man diejenigen unter den Pflegekräften, die etwas unsensibel sind, ja nicht dazu zwingen kann, behutsamer mit Patienten umzugehen, sondern nur im vertrauensvollen Umgang miteinander gelegentlich auf dieses oder jenes Problem hinweisen kann. Und zum zweiten, um mir als Pfarrer nicht die Möglichkeiten zu verbauen oder zu erschweren, selber sinnvolle Arbeit auf den Stationen zu tun.

Zum ersten Punkt: Ich bin ja nicht der einzige, der auf der Station seelsorgerlich mit den Patienten umgeht; jede Handreichnung, jedes Wort, das vom Pflegepersonal zu den Patienten gesagt wird, jede Minute Zeit, die sie sich für die Patienten nehmen, ist eine stetige Chance auch zur Sorge für die Seele der Patienten. Gerade auf den gerontopsychiatrischen Station spüre ich immer wieder, dass meine eigene seelsorgerliche Anwesenheit demgegenüber oft nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann.

Und zum zweiten: Insgesamt habe ich den Eindruck, dass meine Arbeit auf den Stationen nicht als Einmischung in Angelegenheiten gesehen wird, die mich nichts angehen. Ich bin halt jemand, der für Gespräche mit Patienten etwas mehr Zeit hat als die anderen Mitarbeiter; und insbesondere schätzt man sehr die Andachten, in der beim Singen, Beten, Zuhören zum einen eine Menge alter Erinnerungen mobilisiert wird, zum andern hier und jetzt ein Stück Trost und Ermutigung, oder schlicht eine Abwechslung angeboten wird.

Die Biographie des Krankenhauspfarrers unter dem Einfluss der psychiatrischen Klinik

Letzter Punkt: Wie wirkt sich die Arbeit in der Klinik auf mich als Seelsorger selbst aus? Immerhin war es die Befürchtung mancher Gemeindeglieder vor meinem Weggang aus der Gemeinde: „Die Belastung in der psychiatrischen Klinik ist zu groß. Der dauernde Umgang mit psychisch Kranken – das färbt ab!“ Und auch jetzt höre ich oft von Besuchern in der Klinik: „Wie halten Sie das nur aus, täglich dieses Elend zu sehen?“

Nach zwei Jahren in Alzey kann ich sagen: Ich halte die Belastungen in meiner jetzigen Arbeit besser aus als die Beanspruchungen damals in der Gemeindearbeit. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich gern intensiv in seelsorgerlichen Beziehungen engagiere und dass ich mich in der Gemeinde der Verzettelung in unzähligen gemeindlichen Arbeitsfeldern nicht so gut erwehren konnte. Außerdem genieße ich es, regelmäßiger und intensiver in und mit meiner Familie leben zu können, z. B. freie Abende, und gelegentlich auch freie Wochenenden zu haben.

Tagtäglich in der Psychiatrie zu arbeiten, ist mir auch deshalb nicht nur eine Belastung, weil ich das, was viele Außenstehende nur hilflos und entsetzt als „dieses Elend“ bezeichnen können, genauer anzuschauen gelernt habe – in der Nachfolge des Gottes, der „das Elend des Armen nicht verachtet noch verschmäht und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen hat“ (Psalm 22, 25). Denn dann sehe ich eben nicht mehr namenloses Elend, sondern menschliche Gesichter, menschliche Schicksale, die mir nicht nur fremd gegenüber stehen, sondern die mir verwandt sind – darin, dass wir alle angewiesen sind auf den Vater Jesu Christi, der uns lieb hat.

Die gute Zusammenarbeit mit den Seelsorgerkollegen – sowohl in der Nervenklinik als auch im Krankenhaus, sowohl zur evangelischen als auch zur katholischen Seite hin – spielt natürlich auch eine Rolle. Wie angenehm ist es, sich unter „Amtsbrüdern“ nicht wie Kain und Abel zu fühlen, sondern in einem fruchtbaren Austausch zu stehen und sich gegenseitig zu unterstützen! Wichtig ist für mich auch die regelmäßige Supervision der Arbeit, wobei ich nach wie vor ein doppeltes Angebot nutze: einmal die Supervisionsgruppe speziell für Psychiatrieseelsorger im Seminar für Seelsorge in Frankfurt, geleitet von Dieter Roos (bis Ende 1990 mit Ingrid Adam zusammen), und außerdem die transaktionsanalytische Supervision bei Thomas Weil, ebenfalls nach wie vor in Frankfurt, die die ganze Bandbreite helfender Berufe vom Therapeuten über den Sozialarbeiter, Erzieher und Lehrer bis hin zum Pfarrer anspricht.

Was mich zu einem letzten kirchenpolitischen Ausblick hinführt: Wie ist es zu erreichen, dass überall in den kirchlichen Arbeitsfeldern

  • die hauptamtlichen Mitarbeiter sich nicht verzetteln und aufreiben müssen,
  • dass es selbstverständlich wird, sich als Seelsorger auch selbst seelsorgerliche Begleitung zu suchen (die katholische Kirche ist uns da um eine Nasenlänge voraus, vielleicht aus der Tradition des „Beichtvaters“ heraus, indem Bischof Lehmann kürzlich Leitlinien zu einer solchen geistlichen und fachlichen Begleitung von Priestern und Mitarbeitern herausgegeben hat),
  • dass die Dekanatskonferenzen zu einem Ort werden, wo man sich – trotz aller sachlichen Differenzen – gegenseitig stützt und Mut macht, statt sich fertigzumachen?

Pfarrer Helmut Schütz

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