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Geheilte Kränkungen

Wie helfe ich mir selbst, wenn ich mich gekränkt fühle? Verbreite ich das Virus der Kränkung, indem ich wiederum Unbeteiligte kränke? Aber auch, wenn ich mich selber als wertlos empfinde, bin ich in der Sünde gefangen, indem ich meine, ich müsse wertvoll sein aus eigener Kraft, ich müsse den Leuten beweisen, stark zu sein, auch wenn ich mich schwach fühle.

Skulptur eines Mannes, der den Kopf auf seine Hand stützt - gekränkt?
Wie können Kränkungen geheilt werden? (Bild: photosforyouPixabay)

#predigtGottesdienst am Sonntag Okuli, den 23. März 2014, um 10.00 Uhr in der evangelischen Pauluskirche Gießen

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Am 3. Sonntag in der Passionszeit begrüße ich alle herzlich im Gottesdienst in der Pauluskirche mit dem Wort aus Psalm 25, 15:

Meine Augen sehen stets auf den HERRN; denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen.

In der Passionszeit lädt die christliche Kirche dazu ein, darüber nachzudenken, was der Leidensweg Jesu Christi bis hin zu seinem Tod am Kreuz für unser Leben bedeutet. Wir beginnen damit in diesem Gottesdienst, indem wir aus dem Passionslied 88 die Strophen 1 und 5 singen:

1. Jesu, deine Passion will ich jetzt bedenken; wollest mir vom Himmelsthron Geist und Andacht schenken. In dem Bilde jetzt erschein, Jesu, meinem Herzen, wie du, unser Heil zu sein, littest alle Schmerzen.

5. Wenn mir meine Sünde will machen heiß die Hölle, Jesu, mein Gewissen still, dich ins Mittel stelle. Dich und deine Passion lass mich gläubig fassen; liebet mich sein lieber Sohn, wie kann Gott mich hassen?

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Wir beten mit Psalm 34:

18 Wenn die Gerechten schreien, so hört der HERR und errettet sie aus all ihrer Not.

19 Der HERR ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben.

20 Der Gerechte muss viel erleiden, aber aus alledem hilft ihm der HERR.

23 Der HERR erlöst das Leben seiner Knechte, und alle, die auf ihn trauen, werden frei von Schuld.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Wem es gut geht und wer zur Zeit keine Sorgen hat, der mag es überflüssig und unangenehm finden, über Jesu Leiden nachzudenken.

Aber wer selber Leid und Nöte kennt und wer sich auch in guten Zeiten des eigenen Lebens für die Probleme anderer Menschen interessiert, der findet vielleicht im Glauben an Jesus Hilfe.

Herr Jesus Christus, du bist vor Schwachheit und Leid nicht geflohen. Du warst nicht nur ein Täter der Liebe, du hast dich und dein Schicksal auch akzeptiert, wo du in die Ohnmacht, in die Demütigung, in den Tod hineingeführt wurdest. Hilf uns, mit unseren Schwächen und Schwachheiten umzugehen. Hilf uns, Menschen zu akzeptieren, die keine Kraft mehr haben, die beim besten Willen nicht mehr schaffen, was sie immer geschafft haben. Wir rufen zu dir:

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Gott, du befreist uns von falschem Stolz und richtest uns auf, wenn wir uns so klein und unbedeutend machen, als seien wir nicht deine geliebten Kinder. Darum lasst uns dir lobsingen:

„Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende“.

Der Herr sei mit euch „und mit deinem Geist.“

Gott, lass uns begreifen, warum dein Sohn für uns leiden und sterben musste. Wir bitten dich um Selbsterkenntnis und um dein Erbarmen im Namen Jesu Christi, unseren Herrn. „Amen.“

Wir hören die Lesung aus dem Buch Jesus Sirach 18. Es sind Worte der Barmherzigkeit über Menschen in ihrer Schwachheit:

7 Was ist der Mensch? Wozu taugt er? Was kann er nutzen oder schaden?

8 Wenn er lange lebt, so lebt er hundert Jahre. Wie ein Tröpflein Wasser im Meer und wie ein Körnlein Sand, so gering sind seine Jahre im Vergleich mit der Ewigkeit.

9 Darum hat Gott Geduld mit den Menschen und schüttet seine Barmherzigkeit über sie aus.

10 Er sieht und weiß, wie bitter ihr Ende ist;

11 darum erbarmt er sich um so herzlicher über sie.

12 Die Barmherzigkeit eines Menschen gilt allein seinem Nächsten; aber Gottes Barmherzigkeit gilt der ganzen Welt.

13 Er weist zurecht, erzieht und belehrt und führt zurück wie ein Hirt seine Herde.

14 Er erbarmt sich über alle, die sich erziehen lassen und eifrig auf sein Wort hören.

15 Mein Kind, wenn du jemand Gutes tust, so tu’s nicht mit tadelnden Worten; und wenn du jemand etwas gibst, so kränke ihn nicht dabei.

Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Amen. „Amen.“

Glaubensbekenntnis

Wir singen aus dem Lied 292 die Strophen 1 bis 3:

Das ist mir lieb, dass du mich hörst
Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde, oft wird die Beschäftigung mit dem Leiden Jesu missverstanden. Es geht weder darum, dass das Leiden vergöttert werden soll, noch darum, dass Gott seinen Sohn absichtlich quält. Sicher, Gott mutet seinem Sohn viel zu. Er lässt ihn durch die Hölle gehen, die sündige Menschen einander hier auf Erden bereiten, aber nicht aus Quälerei oder weil sein Zorn sonst nicht gestillt werden kann, sondern um die Sünde und die Hölle zu überwinden.

Das Passionslied 82 möchte ich heute in der Predigt anschauen. Denn sein Text ist hilfreich für uns, wenn wir immer gern stark sind und alles im Griff haben wollen und uns schwer damit tun, wenn wir Dinge nicht ändern können: Leid in verschiedensten Formen, Krankheit, Tod und Trauer, innere Nöte, psychische Erkrankungen, Sorgen und Überforderungen. Manchmal besteht das Leid gerade darin, dass wir meinen, stärker sein zu müssen, als wir wirklich sind, und dadurch viel von unseren kleinen Kräften vergeuden.

Justus Gesenius hat das Lied 82 im Jahr 1646 gedichtet, gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges. Hören wir uns die erste Strophe an:

1. Wenn meine Sünd‘ mich kränken,
o mein Herr Jesu Christ,
so lass mich wohl bedenken,
wie du gestorben bist
und alle meine Schuldenlast
am Stamm des heilgen Kreuzes
auf dich genommen hast.

Ich stelle diese Strophe unter die Überschrift „Ich bin gekränkt“. Es wird wohl niemanden unter uns geben, der sich noch nie gekränkt gefühlt hat. Irgend jemand sagt etwas Gedankenloses oder gezielt Verletzendes über mich, und ich fühle mich beleidigt, innerlich verwundet, eben gekränkt. Wenn das häufig geschieht oder über Jahre geschehen ist, dann kann sich in mir ein Gefühl festsetzen: Ich bin nichts wert, oder ich bin nur dann etwas wert, wenn ich irgendwie die Ansprüche anderer Leute erfülle, damit sie keinen Grund finden, mich schlecht zu machen, mich zu kränken.

Wie helfe ich mir selbst, wenn ich mich gekränkt fühle? Es gibt zwei unschöne Möglichkeiten, damit umzugehen. Die eine ist: Ich sage mir, dass ich diese Kränkungen eigentlich verdiene. OK, ich bin halt von Haus aus nicht viel wert und muss damit leben, in der Meinung der Leute nur halbwegs akzeptiert zu werden; das führt dazu, dass ich immer wieder in Selbstmitleid bade. Kein angenehmer Zustand. Die andere Möglichkeit ist: Ich rebelliere gegen Menschen, die mich ungerecht behandeln, und suche Gelegenheiten, um mich zu rächen. Werde ich gekränkt, kränke ich andere eben auch. Sollen die doch selber auch einmal sehen, wie sich das anfühlt. Das Blöde ist nur, dass man damit meist nicht die trifft, die einen tatsächlich gekränkt haben, sondern unbeteiligte Menschen. Dadurch ist nichts gewonnen, sondern das Problem der Kränkung wird nur weiterverbreitet wie ein ansteckendes Virus.

Unser Lied behauptet nun: es sind meine Sünden, die mich kränken. Wer sich gekränkt fühlt und dieses Gefühl nicht abschütteln kann, der glaubt ja, er sei nichts wert. Aber würde ich mehr auf Gott vertrauen, würde ich Jesus wirklich glauben, dann dürfte ich wissen: „Ich bin etwas wert! Ich bin von Gott geliebt!“ Ich muss also niemandem glauben, der mich abwertet. Ich darf mich so annehmen, wie ich bin, sogar wenn ich versage, sogar wenn ich schuldig werde, sogar wenn ich in den Augen anderer Leute nichts auf die Reihe bringe. Ich muss nicht in Selbstmitleid baden, ich darf mich selbstbewusst so sehen, wie Gott mich sieht: als Menschen, der trotz aller Fehler und Schwachheit liebenswert ist und bleibt. Gerade wenn ich mich als wertlos, als von Gott nicht gewollt empfinde, bin ich in der Sünde gefangen, indem ich meine, ich müsse wertvoll sein aus eigener Kraft, ich müsse den Leuten beweisen, stark zu sein, auch wenn ich mich absolut schwach fühle. Ich fühle mich gekränkt und mag nicht sehen, dass es ein Heilmittel für meine Kränkung gibt.

Unser Lied sieht ein Heilmittel in der Art, wie Jesus gestorben ist. Das klingt verrückt: Wie kann Jesu Tod am Kreuz mir helfen, wenn ich mich gekränkt fühle? Vielleicht indem ich mir einiges klar mache: Der Gott, der in Jesus menschliche Gestalt angenommen hat, der ist ja auch gekränkt worden, und zwar in krasser Weise.

Jesus wird gequält und gedemütigt durch schwerste grausame Folter: Man peitscht ihn aus mit Geißeln, die ihm die Haut aufreißen. Man drückt ihm eine Königskrone auf den Kopf, die aus Dornen besteht. Man nagelt ihn durch Handgelenke und Füße an ein Kreuz, wo er qualvoll ersticken muss.

Außerdem beleidigt man ihn noch dafür, dass er sich wie ein Opfer behandeln lässt. Man lacht ihn aus, weil er nicht mit verbundenen Augen sagen kann, wer ihn geschlagen hat, und fordert ihn auf: „Steig doch vom Kreuz herunter, wenn du es kannst!“

Jesus erträgt diese Kränkungen; er weiß, dass der Vater im Himmel ihn liebt, auch wenn er ihm zumutet, all das zu ertragen. Oder zweifelt Jesus doch an der Liebe Gottes, als er schreit (Markus 15, 34 und Psalm 22, 2):

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Wenn ja, dann ist Jesus für uns dennoch ein Vorbild darin, dass er diesen Zweifel seinem Vater entgegenschreit, ihm trotzdem in der Verzweiflung verbunden bleibt. Es ist ja der 22. Psalm, den Jesus da betet; der himmlische Vater Jesu ist derselbe Gott, der schon das verzweifelte Schreien Israels hörte und der auch uns hört, wenn wir am Ende sind. Sogar unsere stummen Schreie hört er, die wir nicht wagen, laut werden zu lassen.

Die zweite Strophe kriegt von mir die Überschrift: „Ich bin verloren“:

2. O Wunder ohne Maßen,
wenn man’s betrachtet recht:
es hat sich martern lassen
der Herr für seinen Knecht;
es hat sich selbst der wahre Gott
für mich verlornen Menschen
gegeben in den Tod.

Uns modernen Menschen ist es nicht mehr vertraut, von Herren und Knechten zu sprechen. Wir unterwerfen uns nicht gern einem Herrn, wollen nicht abhängig sein in Dienstverhältnissen, als seien wir Sklaven. Wir pochen auf unsere Rechte. Aber auch wenn es persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, wie sie früher zwischen einem Herrn und seinem Sklaven bestanden, in der Regel heute nicht mehr gibt, fühlen wir uns doch auch in der modernen Welt nicht wirklich frei. Wir sind den Zwängen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ausgeliefert. Die Risiken der Spekulation auf den internationalen Börsen wenigstens einzudämmen, scheint unmöglich zu sein. Mächtige Internetfirmen und andere Konzerne und sogar unsere befreundete Weltmacht USA spionieren uns schamlos aus, wo es um uns als potentielle Kunden geht, denen man Geld aus der Tasche locken will, oder wo grundsätzlich jedem unterstellt wird, er könne als Terrorist die Sicherheit der Welt bedrohen.

Was den Sinn unseres Lebens angeht, ist jeder heute frei, seinen eigenen Weg zu suchen. Aber gerade damit fühlt sich mancher vielleicht auch sehr alleingelassen – und verloren.

Unser Lied greift dieses Gefühl der Verlorenheit auf und sagt: Wir dürfen an ein Wunder glauben. Wer sich verloren vorkommt, darf wissen: Unser Gott begibt sich selber in unsere Verlorenheit hinein. Er macht unsere Verlorenheit zu seiner Sache, zur Chefsache, und lässt sich selber martern, foltern, quälen. Damit zeigt er, wohin all die Zwänge führen, die falsche Herren anderen Menschen aufzwingen, und er bietet sich uns an als ein Herr, der uns nicht leiden lässt, sondern unser Leiden mit uns trägt.

Hören wir die 3. Strophe, der ich die Überschrift gebe: „Ich bin verdammt“:

3. Was kann mir denn nun schaden
der Sünden große Zahl?
Ich bin bei Gott in Gnaden,
die Schuld ist allzumal
bezahlt durch Christi teures Blut,
dass ich nicht mehr darf fürchten
der Hölle Qual und Glut.

Es mag nicht viele Menschen geben, die sich heute von Gott verdammt fühlen. Aber ich kenne welche, die die Hölle auf Erden erleiden, Tag für Tag, weil sie glauben, sie seien nichts wert, sie hätte im Grunde kein Lebensrecht, kein Recht auf ein bisschen Glück, weil sie schon lange versagt haben und es auch nicht schaffen aus ihrem Teufelskreis des Versagens und der Verzweiflung herauszukommen.

Unser Lied stellt einfach fest: Egal wie viele Sünden mir andere vorhalten oder ich mir selber vorwerfe, sie können mir nichts schaden. Auch wenn wir das Bild von Christi Blut nicht begreifen, mit dem er unsere Schuld bezahlt, wir dürfen akzeptieren, dass unsere Schuld nicht ausreicht, um uns in die Hölle zu verdammen. Jemand hat bereits die Rechnung beglichen, von der wir annehmen, dass sie noch offen ist. Wir mögen böse Anteile haben, mögen keinen Weg sehen, wie wir aus den Verstrickungen in unsere Sünde herauskommen sollen – Gottes Gnade ist trotzdem stärker. In seinen Augen ist keine Schuld offen.

Darum darf ich die Hölle nicht mehr fürchten, Gott verbietet mir es geradezu. Das klingt paradox und ist immer noch schwer anzunehmen für den, der gelernt hat, sich niemandem auf Gedeih und Verderb auszuliefern; wie sollen wir das denn glauben können, dass die Gnade Gottes uneigennützig ist, dass sie uns nicht in unserer menschlichen Würde demütigen will? Ich wünsche allen verzweifelten Menschen, dass sie es lernen können, darauf zu vertrauen: Gottes Gnade demütigt uns nicht, sie richtet uns auf, sie macht uns frei aus Höllenqualen.

Die nächste Strophe enthält ein siebenfaches Dankeschön an Jesus Christus:

4. Drum sag ich dir von Herzen
jetzt und mein Leben lang
für deine Pein und Schmerzen,
o Jesu, Lob und Dank,
für deine Not und Angstgeschrei,
für dein unschuldig Sterben,
für deine Lieb und Treu.

Merkwürdig klingt die Liste dieser Geschenke, die wir von Jesus bekommen. Für Liebe und Treue zu danken, das fühlt sich OK an. Aber wer will und kann von Herzen sein Leben lang dankbar sein für Pein, Schmerzen und Not, für Angstgeschrei und ein ungerechtes Todesurteil, das Jesus erleidet? Normalerweise sind wir dankbar für materielle Geschenke oder wenigstens für handfeste Taten. Hier werden wir aufgefordert dankbar zu sein für Passivität, für eine paradoxe Form von Stärke, die im Erleiden absoluter Ohnmacht und Schwäche besteht.

Damit fasst unser Lied noch einmal zusammen, was in den ersten drei Strophen gesagt wurde. Wo wir uns gekränkt, verloren und verdammt fühlen, da dürfen wir wissen: Es gibt einen Ausweg. Jesus, der Sohn Gottes, nimmt auf sich, was uns kränkt, macht uns zu Gewinnern, indem er sich unserer Verlorenheit aussetzt, und aus der Hölle, in die er sich selber hinunterstoßen lässt, holt er uns heraus. Er hält aus, was wir für unerträglich halten: gepeinigt zu sein, Schmerzen zu erleiden, Not zu erdulden. Er tut das nicht, ohne mit der Wimper zu zucken, sondern er schreit vor Angst und Schmerzen. Er erleidet eine Todesstrafe, die er nicht verdient, damit wir leben dürfen, auch wenn wir das nicht verdienen oder meinen, das nicht zu verdienen. Gott ist und bleibt die Liebe, er hält treu zu uns, die wir von ihm geschaffen sind, damit wir aufatmen können und uns als von ihm geliebte Menschen annehmen.

Wir singen die Strophen 1 bis 4 aus dem Lied 82:

1. Wenn meine Sünd‘ mich kränken, o mein Herr Jesu Christ, so lass mich wohl bedenken, wie du gestorben bist und alle meine Schuldenlast am Stamm des heilgen Kreuzes auf dich genommen hast.

2. O Wunder ohne Maßen, wenn man’s betrachtet recht: es hat sich martern lassen der Herr für seinen Knecht; es hat sich selbst der wahre Gott für mich verlornen Menschen gegeben in den Tod.

3. Was kann mir denn nun schaden der Sünden große Zahl? Ich bin bei Gott in Gnaden, die Schuld ist allzumal bezahlt durch Christi teures Blut, dass ich nicht mehr darf fürchten der Hölle Qual und Glut.

4. Drum sag ich dir von Herzen jetzt und mein Leben lang für deine Pein und Schmerzen, o Jesu, Lob und Dank, für deine Not und Angstgeschrei, für dein unschuldig Sterben, für deine Lieb und Treu.

Jetzt ist Halbzeit in unserem Lied. In der ersten Hälfte hat Justus Gesenius uns dazu angeleitet, dankbar zu sein für das Leiden Jesu. Dass Jesus sich so radikal nicht nur an die Seite aller Leidenden stellt, sondern sich sogar mitten ins Leiden hineinbegibt und darin trotzdem Gottes Sohn bleibt, das kann nun Konsequenzen in unserem Leben haben.

Erste Konsequenz: Mein Blick auf mich selbst kann anders werden.

5. Herr, lass dein heilig Leiden
mich reizen für und für,
mit allem Ernst zu meiden
die sündliche Begier,
dass mir nie komme aus dem Sinn,
wie viel es dich gekostet,
dass ich erlöset bin.

Wie darf ich mich selber anblicken? Ich muss mich nicht mehr größer oder kleiner machen, als ich bin. Ich bin erlöst, dass heißt, ich kann anfangen, Zwänge loszulassen, muss nicht jeder Begierde folgen, kann aufhören, einen falschen Stolz zu pflegen, als ob ich alles allein schaffen müsste. Wenn Jesus dazu stehen konnte, schwach zu sein, wenn wir sein Leiden sogar heilig nennen dürfen, dann haben wir es nicht nötig, unsere eigene Schwachheit zu verstecken. Wer stärker oder größer erscheinen will, als er ist, fühlt sich meist kleiner, als er ist, und verliert das Augenmaß für den eigenen wahren Wert in Gottes Augen. Stell dir vor, sagt uns der Liederdichter Justus Gesenius: Es hat Jesus sein eigenes Leben und große Qualen gekostet, sich an deine Seite zu stellen. So wertvoll bist du in seinen Augen! Darum hab den Mut, deine Lebenslüge loszulassen, du müsstest allen beweisen, dass du ein wertvoller Mensch bist. Musst du nicht! Bist du schon! Hab den Mut, deinen Stolz loszulassen, du müsstest alles allein können. Musst du nicht! Du darfst Hilfe suchen und annehmen! Und zu guter Letzt: Hab den Mut, ehrlich zu deinen Schwächen zu stehen, dann sparst du eine Menge an Kraft und Energie, mit der du deine Fassade auf Hochglanz poliert hast, um niemandem zu zeigen, wie es wirklich in dir aussieht.

Das führt unmittelbar zur nächsten Strophe unseres Liedes, in der es um das geht, was „die Leute“ sagen:

6. Mein Kreuz und meine Plagen,
sollt‛s auch sein Schmach und Spott,
hilf mir geduldig tragen;
gib, o mein Herr und Gott,
dass ich verleugne diese Welt
und folge dem Exempel,
das du mir vorgestellt.

Warum haben wir so viel Angst, den eigenen Stolz loszulassen, uns zu zeigen, wie wir sind? Wir möchten nicht ausgelacht werden. Wir finden es peinlich, wenn alle merken, dass wir etwas nicht schaffen. Unser Liederdichter bittet um Geduld, damit er es aushält, wenn man ihn demütigt und verspottet. Damit ist nicht gemeint, dass er den Spöttern Recht gibt! Er bittet Gott: „Hilf mir, die Welt zu verleugnen. Hilf mir, nicht so wichtig zu nehmen, was die Leute sagen.“ Ich darf Nein sagen, wenn „die Leute“ schlecht über mich reden, als ob ich nichts wert sei. Ich darf dazu stehen, dass ich bin, wie ich bin, auch wenn das manchmal nicht einmal meine eigene Familie oder meine Freunde einsehen wollen.

Aber dürfen wir als Christen so handeln? Stoßen wir damit nicht andere Menschen vor den Kopf? Unser Lied fordert uns auf, die anderen Menschen eben nicht als „die Leute“ zu behandeln, sondern als „unsere Nächsten“. Um die geht es in der nächsten Strophe:

7. Lass mich an andern üben,
was du an mir getan;
und meinen Nächsten lieben,
gern dienen jedermann
ohn Eigennutz und Heuchelschein
und, wie du mir erwiesen,
aus reiner Lieb allein.

Also darum geht es: Nicht „so tun, als ob“, damit wir gut dastehen in den Augen der anderen, sondern gerne mithelfen, dass es nicht nur mir, sondern auch den anderen in meiner Umgebung wirklich gut geht. Da geht es nicht um große Taten, sondern um kleine Schritte. Vor allem ist das Miteinander viel entspannter, wenn man einander nichts vormachen muss, sondern sich so geben und nehmen kann, wie man ist.

Eine letzte Strophe in unserem Lied öffnet den Blick über diese Welt hinaus in die Ewigkeit:

8. Lass endlich deine Wunden
mich trösten kräftiglich
in meiner letzten Stunden
und des versichern mich:
weil ich auf dein Verdienst nur trau,
du werdest mich annehmen,
dass ich dich ewig schau.

Die Art, wie Jesus gestorben ist, kann uns auch Trost geben im Blick auf den Tod. Wenn wir uns Sorgen machen über die Bilanz unseres Lebens, ob wir im Tod nicht doch verloren gehen oder einfach in einem sinnlosen Nichts verschwinden, ist sich der Liederdichter dessen gewiss: In der Ewigkeit begegnen wir Jesus persönlich, und er nimmt uns an, egal, ob wir das verdienen. Verdienen könnten wir uns seine Liebe sowieso nicht, müssen wir auch nicht, denn er liebt uns, weil er das einfach will. Darauf dürfen wir vertrauen, auf diese Liebe von ganz oben kommt es an. So sind und bleiben wir von Gott akzeptiert und in guten Händen, ob wir leben oder sterben. Er heilt unsere Kränkungen, unsere Verlorenheit und holt uns heraus aus jeder Hölle, damit wir dankbar und getrost leben können. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.

Wir singen nach der Predigt die zweite Hälfte des Liedes 82, Strophe 5 bis 8:

5. Herr, lass dein heilig Leiden mich reizen für und für, mit allem Ernst zu meiden die sündliche Begier, dass mir nie komme aus dem Sinn, wie viel es dich gekostet, dass ich erlöset bin.

6. Mein Kreuz und meine Plagen, sollt’s auch sein Schmach und Spott, hilf mir geduldig tragen; gib, o mein Herr und Gott, dass ich verleugne diese Welt und folge dem Exempel, das du mir vorgestellt.

7. Lass mich an andern üben, was du an mir getan; und meinen Nächsten lieben, gern dienen jedermann ohn Eigennutz und Heuchelschein und, wie du mir erwiesen, aus reiner Lieb allein.

8. Lass endlich deine Wunden mich trösten kräftiglich in meiner letzten Stunden und des versichern mich: weil ich auf dein Verdienst nur trau, du werdest mich annehmen, dass ich dich ewig schau.

Lasst uns beten!

Herr Jesus Christus, hilf uns, dein Leiden zu bedenken und recht zu begreifen: nicht damit wir uns nach Leiden sehnen und in Selbstmitleid baden, sondern damit wir uns durch deine Liebe selber annehmen, wie wir sind, mit all unseren starken und schwachen Seiten, mit dem, was wir brauchen, und mit dem, was wir geben können. Hilf uns, die Sünde des falschen Stolzes abzulegen und aufzuatmen im glücklichen Stolz darauf, dass wir mit dir gemeinsam Kinder des Vaters im Himmel sind. Hilf uns loszulassen, womit wir uns klein machen und lähmen, wenn wir zu sehr auf das starren, was andere Leute möglicherweise von uns wollen. Hilf uns, solidarisch zu sein mit Menschen, an deren Seite du dich und uns gestellt hast: Außenseiter der Gesellschaft, Verachtete und Gemobbte, Sünderinnen und Sünder. Hilf uns, Sünde bei ihrem richtigen Namen zu nennen, und denen, die in sie verstrickt sind, heraus und wieder auf die Beine zu helfen. Herr Jesus Christus, lass deine Kraft in uns Schwachen mächtig sein!

Insbesondere beten wir heute zu dir für Herrn …, der im Alter von … Jahren gestorben ist. Du hast ihm mit seinem Konfirmationsspruch das Versprechen gegeben: „Wer aber beharret bis ans Ende, der wird selig“ (Matthäus 24, 13). Im Vertrauen darauf, dass du ihn in deiner Liebe mit Ehren annimmst in deinem himmlischen Reich, haben wir ihn kirchlich bestattet, und wir bitten dich, du wollest ihm Frieden schenken in Ewigkeit. Für seine Angehörigen bitten wir um deine Begleitung in der Trauer und auf allen zukünftigen Wegen.

In der Stille bringen wir vor dich, was wir persönlich auf dem Herzen haben:

Gebetsstille und Vater unser

Wir singen die Strophen 1, 5, 6 und 10 aus dem Passionslied 91. Da werden einige Gedanken aus meiner Predigt noch einmal in anderer Form aufgenommen und vertieft:

1. Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken, mich in das Meer der Liebe zu versenken, die dich bewog, von aller Schuld des Bösen uns zu erlösen.

5. Seh ich dein Kreuz den Klugen dieser Erden ein Ärgernis und eine Torheit werden: so sei’s doch mir, trotz allen frechen Spottes, die Weisheit Gottes.

6. Es schlägt den Stolz und mein Verdienst darnieder, es stürzt mich tief, und es erhebt mich wieder, lehrt mich mein Glück, macht mich aus Gottes Feinde zu Gottes Freunde.

10. Wenn endlich, Herr, mich meine Sünden kränken, so lass dein Kreuz mir wieder Ruhe schenken. Dein Kreuz, dies sei, wenn ich den Tod einst leide, mir Fried und Freude.

Abkündigungen

Geht mit Gottes Segen:

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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