Bild: Helmut Schütz

Was ist eigentlich Philosophie?

Vom Philosophen Odo Marquard kann man viel darüber lernen, was Philosophie eigentlich ist. Ich habe Zitate von ihm gesammelt, die dazu anregen können, sich in seine Schriften einzulesen und mehr über Vernunft und Metaphysik, Theorie und die Wahrheitsfrage zu erfahren. Die in Klammern angegebenen Stichworte verweisen auf die ausführlichen Literaturangaben in der chronologisch nach Jahreszahlen geordneten Bibliographie mit 103 Schriften von Odo Marquard.

 

Was ist eigentlich Philosophie?

Was ist Vernunft?

Zum Begriff und zur Bewertung der Metaphysik

Was ist Theorie?

Gibt es philosophisch verbindliche Wahrheit?

 

Was ist eigentlich Philosophie?

 

Lachmuskel Gehirn
[D]as Lachen ist ein Denken; und Denken – merkende Vernunft und also auch Philosophie – ist die Fortsetzung des Lachens unter Verwendung des Lachmuskels Gehirn als Mittel. Das gilt nicht vom rohen Auslachen: denn dadurch – durch Wegspotten – vertreibt man Wirklichkeiten aus unserem Leben. Wohl aber gilt es vom humoristischen Lachen: denn dadurch bittet man – liebevoll spöttisch – zusätzliche Wirklichkeit, die offiziell geleugnet wird, wenigstens inoffiziell in unser Leben hinein; denn man lacht sie nicht aus, sondern man lacht ihr zu, lacht sie an und lacht sie sich an. Der Humor … läßt im offiziell Nichtigen das Geltende und dadurch im offiziell Geltenden das Nichtige sichtbar werden; er zeigt das Menschliche als Allzumenschliches und das Allzumenschliche als Menschliches. (Loriot, 1985, S. 95)

 

Inkompetenz
Erst war die Philosophie kompetent für alles; dann war die Philosophie kompetent für einiges; schließlich ist die Philosophie kompetent nur noch für eines: nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz. (Inkompetenzkompensationskompetenz, 1973, S. 24)

 

Magd der Theologie?
Die soteriologische Herausforderung verlangte von der Philosophie, zum Heil der Menschen zu führen, aber das – und dies zeigte sich, als das Christentum die Philosophie überbot – konnte sie nicht: so war es um ihre Heilskompetenz geschehen und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla theologiae. (Inkompetenzkompensationskompetenz, 1973, S. 25)

 

Knecht der Emanzipation?
Die politische Herausforderung verlangte von der Philosophie, sie solle zum gerechten Glück der Menschen führen; aber das – und das zeigte sich, als die politische Praxis die Philosophie, sei es durch Aktivität, sei es durch Sinn fürs Tunliche, Mögliche und Institutionelle überbot – konnte sie nicht: so war es um ihre politische Kompetenz geschehen und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla emancipationis, als Magd (oder sagen wir wegen der Gleichberechtigung: als Knecht) der Emanzipation, als Geschichtsphilosophie. (Inkompetenzkompensationskompetenz, 1973, S. 25)

 

Kompetenzverlust
Dieser ganze Prozeß des Kompetenzverlusts der Philosophie, er läßt sich ja schließlich auch ganz anders lesen: nicht als Weg der Enteignung, sondern als Weg der Erleichterung; denn vielleicht ist dieser Pflichtenverlust der Philosophie für sie in Wirklichkeit ein Gewinn von Freiheiten; ihre Verdrängung kann ihre Entlastung bedeuten: wenn sie jetzt nichts mehr muß, dann könnte das gerade heißen, daß sie jetzt nahezu alles darf. (Inkompetenzkompensationskompetenz, 1973, S. 28)

 

Kompetenznostalgie
Etwas zu sein, danach sehnt sich die Philosophie; und sie war etwas: das kann sie nicht vergessen, auch nicht dadurch, daß sie sich einredet, sie sei noch etwas, wenn sie das Überflüssige ist. … sie ist kompetenznostalgisch jenes Überflüssige, das in das Nützliche verliebt ist, und zwar unglücklich. Inkompetenzkompensationskompetenz, 1973, S. 30)

 

Große Fragen
[D]as war die Philosophie und das ist sie geblieben: die Wissenschaft der großen Fragen, an die sich die Erwartung von großen Antworten knüpft. Aber – so ist das doch – wehe der Philosophie, wenn sie diese Antworten gibt; und doppelt wehe ihr, wenn sie diese Antworten nicht gibt. Neidvoll blickt die Philosophie auf die Wissenschaften der kleinen Fragen und Antworten. (Heiterkeit, 1976, S. 62)

 

Stuntman
[D]ie Philosophie ist keine spekulative Holding der Spezialwissenschaften und der Philosoph nicht der Generalsekretär ihrer intellektuellen Dachorganisation; er ist … überhaupt nicht mehr der Mann fürs Totale, sondern etwas durchaus anderes: nämlich – analog zur freiwilligen Feuerwehr (nicht ohne Sinn für Trompeten) – der Mann für jenes hyperriskante Semidetail, bei dem die anderen Wissenschaftler es aus szientifischen Reputierlichkeitsgründen einstweilen vorziehen, die maßvoll trauernden Hinterbliebenengemeinde zu bilden, falls dem Philosophen bei seiner Bearbeitung etwas zustößt: der Philosoph – nicht mehr der Experte fürs Ganze – ist vielmehr der Stuntman des Spezialisten, also sein Double fürs Gefährliche. Das Thema Universalgeschichte – und sein Seitenthema in Moll, die Multiversalgeschichte – ist etwas dieserart Gefährliches, so daß in dieser Vortragsreihe ganz plausiblerweise ein Philosoph vorangeschickt wird, um auszuprobieren, ob man bei der Entsorgung dieses brisanten Problems draufgeht, natürlich ein auswärtiger Philosoph: denn mit den einheimischen muß man pfleglich umgehen. Ich akzeptiere diese Rolle… (Multiversalgeschichte, 1982, S. 55)

 

Nichteinigungstradition
Philosophen … bringen … aus ihrer Fachtradition – einer zweieinhalbtausendjährigen Tradition der Nichteinigung über Grundsatzpositionen – etwas mit, was interdisziplinär nützlich ist: nämlich leben zu können mit offenen Aporien und Dissensüberschüssen. Das uralte Laster der Philosophen – ihr chronisches Konsensdefizit – erweist sich als hochmoderne interdisziplinäre Tugend: vor allem als Fertigkeit, Gesprächskonfusionen unentmutigt zu überstehen. (Unvermeidlichkeit, 1985, S. 113)

 

Unwissenschaftliche Weisheitslehre?
[V]or knapp fünfzehn Jahren in meinem Beitrag „Inkompetenzkompensationskompetenz“ … hatte ich in meiner Ultrakurzgeschichte des Kompetenzverlustes der Philosophie auch ihre Alleinkompetenz für die Weisheit verloren gegeben. … Der Weg der Philosophie – so lautet die große Veränderungsthese – führt von der Weisheitsliebe zur Wissenschaftstheorie, die die Weisheitslehre denen überläßt, die unwissenschaftlich sind: den Nichtphilosophen. (Weisheit, 1988, S. 97f.)

 

Schöne Irrtümer
Inzwischen bin ich selber seniorenpaßberechtigt, jedoch noch kein bißchen altersweise. Auch insofern – mein damaliger Aufsatz war wirklich eine bemerkenswerte Häufung schöner Irrtümer – brauche ich die Philosophie immer noch und jetzt erst recht. Aber ist sie wirklich noch Liebe zur Weisheit? (Weisheit, 1988, S. 98)

 

Mut zur Weisheit
In der Aufklärungsdefinition Kants perenniert die Definition der Philosophie als Bezug zur Weisheit, freilich jetzt nicht mehr als Liebe zur Weisheit, sondern als Mut zur Weisheit. (Weisheit, 1988, S. 100)

 

Liebe zur Weisheit
Ich schlage … eine andere These vor, die man vielleicht die kleine Veränderungsthese nennen kann, nämlich diese: die Philosophie war von Anfang an Liebe zur Weisheit, und sie ist es – auch neuzeitlich, auch modern, und heute – immer noch. Nur eines hat sich – in Grenzen – geändert: das Verständnis der Weisheit. (Weisheit, 1988, S. 100)

 

Lebenskunst
Insgesamt handelt es sich … um eine Ergänzung der Ethik durch die Lehre von der Lebenskunst, der ars vivendi. Das „savoir vivre“ gehört wieder in die Philosophie hinein, wobei ja „savoir“ von „sapere“ herkommt, zu dem die „sapientia“ gehört: die Weisheit. (Weisheit, 1988, S. 105)

 

Brunnen
Wenn der philosophische Vater bzw. Großvater Martin Heidegger politisch geirrt hat: wie können die philosophischen Söhne und Enkel sicher sein, sich politisch nicht mehr zu irren? Vielleicht wird man nicht mehr ein zweites Mal in denselben Brunnen fallen; aber wird man deswegen überhaupt nicht mehr in einen Brunnen fallen? (Weisheit, 1988, S. 106f.)

 

Irrtumsressourcen
[M]an erhofft den Nachweis, daß ein einziger bedeutender Philosoph die politischen Irrtumsressourcen der Philosophie für ein ganzes Jahrhundert erschöpft hat, so daß für die späteren Philosophen – wegen einschlägig verbrauchter Ressourcen – an Irrtumsmöglichkeiten nichts mehr übrig bleibt. (Weisheit, 1988, S. 107)

 

Torheiten
Wie kommt es, daß die Philosophie … den Philosophen an Torheiten nicht hindert, zu denen der politische Irrtum und die politische Dummheit ebenso gehören wie andere lebensmäßige Dummheiten? (Weisheit, 1988, S. 107)

 

Philosophenkrieg
Es ist … ein klassischer Topos für die Philosophie, daß sie zwar die ‚eine‘ Philosophie sein will, in Wirklichkeit aber in „Sekten“, „Typen“, historisch verschiedene Gestalten zerfällt: als „Kampfplatz endloser Streitigkeiten“, wie Kant es ausdrückte, der … den zeitgenössischen Mathematiker Kästner einschlägig zitiert: „Auf ewig ist der Krieg vermieden, befolgt man, was der Weise spricht: dann halten alle Menschen Frieden, allein die Philosophen nicht.“ (Gewaltenteilung, 1988, S. 85)

 

Bewahrende Zwietracht
[D]ie internen Fachkonfusionen der Philosophie haben einen hohen Toleranz- und Pragmatisierungseffekt: sie erzeugen jene aktuelle Fähigkeit, extreme Gesprächskonfusionszustände unbeschädigt zu überleben, die heute gerade in interdisziplinären Disputen … unabdingbar ist. Das – diesen Verzicht auf den Verständigungsperfektionismus – (welcher den herrschaftsfreien Diskurs dann, wenn er alles, oder auch nur das meiste, konsensual regeln will, dazu treibt, den Plural der Menschen, d. h. das Individuum, überflüssig zu machen) – hat die Philosophie 2500 Jahre hindurch trainiert, indem sie das chronische Einigkeitsdefizit der Metaphysik auszuhalten gelernt hat, das der Skeptiker begrüßt: für Skeptiker kann es niemals zuviel Metaphysik geben, weil sie Fragen bewahrt, die man verliert, wenn man sie ultrakonsensual beantworten will. So bedarf es der bewahrenden Zwietracht. Denn: wer auf Probleme gar keine Antwort gibt, vergißt schließlich das Problem; das ist nicht gut. Wer auf ein Problem nur eine Antwort gibt, glaubt das Problem gelöst zu haben und wird leicht dogmatisch; auch das ist nicht gut. Am besten ist es, zu viele Antworten zu geben: das bewahrt das Problem, ohne es wirklich zu lösen. So hält es – darum mag sie der Skeptiker – die Metaphysik, die einen Überschuß kontroverser Antworten produziert, die einander neutralisieren und so – teile und denke! – die Probleme offenläßt, d. h. sie ans Individuum überweist, das dadurch Bedeutung erlangt in der Philosophie. Die Gewaltenteilung der Philosophie in Philosophien ermöglicht den philosophischen Eigenspielraum des Individuums. (Gewaltenteilung, 1988, S. 86f.)

 

Wahre Philosophie?
Johann Gottlieb Fichte [meinte…:] Es gibt … grundsätzlich drei Philosophiesorten: den freiheitsdurstigen „Idealismus“, den schicksals- und dinggehorsamen „Dogmatismus“ und den „Skeptizismus“, eine Art positivistische Philosophieverweigerung. … der „Idealist“ ist der wahre Mensch, der „Dogmatiker“ ist der falsche Mensch und der „Skeptiker“ ist fast gar kein Mensch. … Darum ist – meinte Fichte – der „Idealismus“ die wahre Philosophie; wer dem „Dogmatismus“ oder „Skeptizismus“ anhängt, ist – beim Fortschritt zur wahren Philosophie – zurückgeblieben und sozusagen reaktionär. Das … ist eine der Tendenz nach entwicklungsgeschichtliche Antwort auf die Frage, warum es mehrere Philosophien gibt. Hegel … hat … diese entwicklungsgeschichtliche Antwort subtil und reich ausgebaut, die die Hegelianer – also etwa Marx – dann wieder vergröbert haben… (Denkformen, 1991, S. 114f.)

 

Viele Philosophien
Man spricht von „der“ Philosophie. Aber die Philosophie ist nur im Plural wirklich: durch Philosophien, die mehrere Philosophien oder gar viele Philosophien sind. (Denkformen, 1991, S. 114)

 

Gegen Philosophie hilft nur Philosophie
Es gibt derzeit das Unbehagen an der Philosophie, das – weil die zur Einheitsideologie verkehrte Philosophie Ungutes angerichtet hat – am liebsten gar keine Philosophie mehr haben will. Doch das wäre ein schwerer Fehler; denn: gegen Philosophie hilft nur Philosophie; und gegen die pseudophilosophische Einheitsideologie hilft nur jene Philosophie im Plural, die – durch Gewaltenteilung im Reiche des Geistes – gerade die Vielfalt ihrer Denkformen respektiert und fördert: ihre synchrone Pluralität durch eine Mehrzahl systematischer Ansätze und ihre diachrone Pluralität – das ist nicht hoch genug zu veranschlagen – durch die Geschichte der Philosophie. (Denkformen, 1991, S. 123)

 

Mitphilosophen
Wenn ich ein philosophisches Pensum traktiere, begegne ich Philosophen, die es anders traktiert haben oder traktieren: Von ihnen habe ich mehr als von denen, die es genauso traktieren wie ich. Bei den letzteren gibt es zwei Sorten: die, die es schlechter traktieren als ich, und die, die es besser traktieren als ich; jene bringen mich zum Gähnen, diese zum Verstummen. Ich wünsche mir Mitphilosophen, die mich nicht zum Gähnen und – manchmal – auch nicht zum Verstummen bringen; anders gesagt: In dieser Situation bin ich Pluralist. (Manifest, 1994, S. 116)

 

Selbstsicherheitsverlust
Wo die Philosophie ihre Selbstsicherheit – und das Selbstvertrauen ihrer Sprache – nicht mehr durch die Überlieferungsbestände ihrer Schulen und noch nicht durch die Forschungsstände des Wissenschaftsfortschritts gewinnt, ist – auch dann, wenn weder die Schulsprache noch die Fortschrittssprache der Philosophie angemessen ist – ihre Lage – auch ihre rhetorische Lage – der Selbstsicherheitsverlust. (Sprachpluralismus, 2002, S. 73)

 

Selbstsicherheitssurrogate
Man kann die großen philosophischen Jargons als Gegenbesetzungen, als Selbstsicherheitssurrogate der philosophischen Sprache interpretieren. (Sprachpluralismus, 2002, S. 74)

 

Philosophische Jargons
Günther Anders hat nicht nur diese beiden Jargons – den Jargon der Eigentlichkeit von Heidegger und den Jargon der Authentizität der Frankfurter Schule – kritisiert, sondern die Esoterik insgesamt der Universitätsphilosophie und ihrer Sprache als „Großsiegelbewahrerin der Abseitigkeit“. … Die Universitätsphilosophen – meint Anders – tun so, als ob sie ein gefährliches Geheimnis hätten, das sie durch ihre Sprache tarnen müssen, obwohl sie in Wirklichkeit überhaupt kein gefährliches Geheimnis haben. (Sprachpluralismus, 2002, S. 77)

 

Normalitäts-Blindheit
Günther Anders – der ja auch sonst etwas gegen Pluralismen hat – tendiert zur philosophischen Einsprachigkeit: zum Sprachmonismus der apokalyptischen Warnung. Die Warnungsphilosophie wird bei ihm zur Inversion des Revolutionsdenkens: Sie negativiert die Welt – ihre „Verbiederungen“ angreifend – zur absolut entfremdeten Welt, und „übertreibt“ dies kunstvoll und macht dann doch einen Rückzieher durch den „Wunsch […] daß keine meiner [sc. Günther Anders‘] Prognosen recht behalten werde“. Es ist, meine ich, der Außerordentlichkeitsbedarf, der diese Philosophie leitet… Sie ersetzt die „Apokalypse-Blindheit“ durch Normalitäts-Blindheit. … Seine Philosophensprache ist ausnahmezustandssüchtig; er ersetzt das „Sein zum Tode“ durch das Sein zum Tode der Menschheit; die apokalyptische Warnung wird bei ihm zum Jargon der Eigentlichkeit der Philosophie. (Sprachpluralismus, 2002, S. 78f.)

 

Begriffsgeschichte
Was die Ausdrücke der – pluralistischen – Philosophensprache sind, sagt nur ihre Geschichte. So wird auch die scheinbar riesige Differenz zwischen Alltagssprache und Philosophensprache unterlaufen: Es ist die Geschichte der philosophischen Begriffe, die zeigt, wo alltagssprachliche und wo fachsprachliche Ausdrücke angebracht sind und wo sogar Ausdrücke von Jargons. (Sprachpluralismus, 2002, S. 80)

 

Traditionen
Natürlich haben wir alle den Ehrgeiz, Fortschrittliches und Neues zu erkennen und zu sagen. Aber man muss auch beachten, ob wir das Niveau jener Traditionen, aus denen wir kommen, noch erreichen: vermutlich scheuen wir, systemselig, den – historischen – Vergleich mit diesen Traditionen. Es ist also wichtig, auf diese philosophischen Traditionen – die Rittersche und andere – aufmerksam zu sein, denn in ihren Spuren gehen wir, und durch sie werden wir bestimmt, die Philosophie anspruchsvoll fortzusetzen. Philosophie ist – sage ich zuweilen (und habe es 1974 bzw. 1976 wohl zuerst gesagt) – Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt. Zugleich … trifft zu: gegen Philosophie hilft nur Philosophie. (Dankrede, 2003, S. 46)

 

Universität
Sage mir, wie wichtig deine Universität die Philosophie nimmt, und ich sage dir, ob sie eine Universität ist. (Dankrede, 2003, S. 47)

 

Schafherde
Wilhelm Schapp [war] für mich alsbald der, bei dem man lernen konnte, was die Phänomenologen … in Wirklichkeit und in concreto wirklich taten, sozusagen das Berufsgeheimnis der phänomenologischen Schule: daß sie – unterwegs „zu den Sachen selbst“ – ganz ganz konkrete Beobachtungen und ergiebige Beschreibungen lieferten… Das war jene phänomenologische Sachlichkeitseinstellung, die in jener kurzen Geschichte – Stichwort: Abschattungsanalyse – zum Ausdruck kommt, in der ein Phänomenologe und ein Nichtphänomenologe an einer großen Schafherde vorbeikommen. Der Nichtphänomenologe sagt: Die Schafe dieser Herde sind allesamt frisch geschoren. Drauf der Phänomenologe: Wenigstens auf der Seite, die sie uns zukehren. (Geschichten, 2003, S. 58)

 

Was ist Vernunft?

 

Lachen und Weinen
Die menschliche Vernunft hat mehr mit Lachen und Weinen zu tun, als sie normalerweise anzuerkennen bereit ist: mehr mit dem Weinen, als die fundamentale Unerschütterlichkeit einer präzisionspedantisch methodenkühlen Vernunft, die auf Messen und Berechnen aus ist, wahrhaben will, und mehr mit dem Lachen, als es der moralischen Empörung einer anklagenden Vernunft, die mit dem Weltgericht unverzüglich ernst und nur noch ernst machen will, lieb sein kann. Darum ersetze ich hier den Satz, daß die Vernunft nicht lachen und nicht weinen darf, durch den Satz, daß Lachen und Weinen das paradigmatisch Vernünftige sind. Freilich: wer dieserart die Vernunft selber in den Umkreis der Grenzreaktionen rückt, bindet sie elementar an das, was begrenzt ist: das Endliche… (Vernunft, 1981, S. 39)

 

Zusätzliche Wirklichkeit
Die Vernunft – möglicherweise – verrät am meisten über sich selber nicht dort, wo sie ausschließt, sondern dort, wo ihr das nicht gelingt…, wo sie Grenzen öffnet und zusätzliche Wirklichkeit einläßt: wo sie im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden läßt. (Vernunft, 1981, S. 43)

 

Inklusive Vernunft
Es gibt vormals so genannte Übel, die neuzeitlich – sozusagen – den numerus clausus fürs Gute und Vernünftige geschafft haben und ebendadurch diesen numerus clausus fürs Vernünftige fortan in Frage stellen: im Sinne eines Übergangs von der exklusiven Vernunft zur inklusiven Vernunft. (Vernunft, 1981, S. 45)

 

Optimierungsvernunft
Der Leibnizoptimismus ist nicht … ein ungetrübtes Wonnesystem…, sondern der ontologische Rückzug in eine haltbare Verteidigungsstellung… Die Welt ist … nicht übel, wenn auch nicht übelfrei gut… und auch Gott ist dann verteidigt: Er ist nicht böse, wenn auch nicht liebenswert weltfremd, sondern im Sinne der Durchsetzungs- und Erhaltungsklugkeit optimierungsvernünftig: Das aber etabliert einen neuen Vernunftbegriff. (Vernunft, 1981, S. 48)

 

Kram
[I]nklusive Vernunft … ist … lebenskräftig vorhanden: zumindest als hermeneutische Vernunft und als historische Vernunft. … Interpretieren heißt ja: suchen nach einem Kram, in den etwas paßt, was (noch) nicht in den Kram paßt. (Vernunft, 1981, S. 59)

 

Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben
Es gibt manche Formen der Einwilligung in das Zufällige. Die „Grenzreaktionen“ Lachen und Weinen gehören ebenso dazu wie jene Grenzreaktion, die die Vernunft ist: der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben. (Skeptiker, 1984, S. 10)

 

Produktives Mißverständnis
Konsens … ist keineswegs immer nötig; viel wichtiger ist das produktive Mißverständnis; und am wichtigsten ist schlichtweg Vernunft: der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben. (Unvermeidlichkeit, 1985, S. 113)

 

Zum Begriff und zur Bewertung der Metaphysik

 

Hobelkunst und Musik
Es kommt, glaube ich, in der Philosophie fast mehr als auf alles andere darauf an, im richtigen Augenblick schwer von Begriff zu sein. Vielleicht ist man es hier im richtigen Augenblick, wenn man zunächst einmal nicht begreift, wieso – und das ist ja bei Kant der Fall – wieso eigentlich das Schicksal der Metaphysik von der Reichweite mathematischer Naturwissenschaft abhängen soll. Was denn in aller Welt haben diese beiden menschlichen Möglichkeiten miteinander zu tun? Ist das nicht so ähnlich, als wolle man das Schicksal der Musik von der Hobelkunst der Tischler abhängig machen? Das Musizieren liegt außerhalb der Reichweite des Hobelns, also ist Musizieren unmöglich; die Metaphysik liegt außerhalb der Reichweite mathematischer Naturwissenschaft, also ist Metaphysik unmöglich. (Ästhetik, 1960, S. 25f.)

 

Nichtfertigwerden
Daß gerade ein Skeptiker – ich – auf die Theodizee, also ein exemplarisch metaphysisches Pensum, verweist, ist nur scheinbar paradox. Die Metaphysik ist jene kognitive Branche, die Probleme hat, mit denen sie nicht fertig wird; und die Theodizee ist das – wie ich hier partiell mitbelegt zu haben glaube – in exemplarischer Weise. Probleme zu haben, mit denen man nicht fertig wird, ist wissenschaftstheoretisch ärgerlich, aber menschlich normal. Skeptiker sind – meine ich – jene Leute, die wissenschaftstheoretische Ärgernisse verschmerzen zugunsten menschlicher Normalität: für sie ist Metaphysik – das Nichtfertigwerden – gerade kein Gegner, sondern das Menschliche; so kann es für Skeptiker – die für das Menschliche optieren – niemals genug Metaphysik geben. Es existieren menschliche Probleme, bei denen es gegenmenschlich, also ein Lebenskunstfehler wäre, sie nicht zu haben, und übermenschlich, als ein Lebenskunstfehler, sie zu lösen. Die skeptische Kunst, diese Kunstfehler nicht zu begehen, ist die Metaphysik; und professionelle Metaphysiker sind Leute, die sorgfältig und erfolgreich gelernt haben, mit Problemen nicht fertigzuwerden: gerade darin liegt ihr Wert. (Entlastungen, 1983, S. 28f.)

 

Fragentransportmittel
Man muß … ablassen vom Unsinn des Sinnfragenverbots … Darum plädiere ich – obzwar Skeptiker – für Metaphysik, weil die Metaphysik Sinnfragen festhält. Sie tut das zwar durch metaphysische Antworten; aber zuweilen kann man Fragen nur durch Antworten festhalten (Antworten sind häufig vor allem ein Fragentransportmittel), und Sinnfragen kann man häufig nur durch metaphysische Antworten festhalten. (Sinnerwartung, 1983, 48)

 

Metaphysik als Musik
Die Metaphysik ist eine Art Musik: das war … vor allem die These von Schopenhauer und Nietzsche. … Der dominierende Strang der Metaphysik im 19. Jahrhundert, der dies so sieht, gibt also sozusagen die metaphysische Frage, die Seinsfrage, in die Hände der Musik. Die Seinsfrage aber – das hat Heidegger in Sein und Zeit dargelegt – erwartet als Antwort stets Zeitbestimmungen. … ihr Horizont ist die Zeit. (Musik, 1990, S. 140)

 

Metaphysikverbote?
Zugleich aber ließ Hans Blumenberg sich nicht durch die heute gängigen Metaphysikverbote schrecken. Er hielt an den großen Fragen der Philosophie fest: Gott, Welt und Mensch, Tod, Übel; z. B. an der Frage: Kommt der Tod durch die Sünde oder nicht vielmehr umgekehrt die Sünde durch den Tod in die Welt?, etwa auch dadurch, daß der Mensch, das Wesen, das „zögert“ und dadurch „nachdenklich“ sein kann, zu wenig Lebenszeit hat, um genug zögern zu können? (Entlastung, 1996, S. 116)

 

Metaphysikkritik
Das kritisiert Kants Metaphysikkritik: daß Laborwissenschaft verwechsungsphysisch zu Ding-an-sich-Erkenntnissen gemacht werden sollen, daß Reduktionismen metaphysisch wild werden. Weil die Laborwissenschaften die göttliche Erkenntnis so nach Kant nicht mehr repräsentieren, werden sie häresieunfähig mit halbwegs uneingeschränkten Neugierlizenzen. Bei Kant wird diese These ungemein vorsichtig entwickelt: Es ist nur die – in ihren formalen Bedingungen aus dem menschlichen Ich entspringende – Laborwissenschaftswelt der „Erscheinungen“, nicht die Lebenswelt der „Dinge an sich“, die durch das menschliche Bewußtseins-Ich produziert wird, und es ist die Geschichte der Fortschritte dieser Laborwissenschaftswelt, die – wie die allgemeine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht – vom Menschen gemacht wird, so daß der Weltschöpfer Gott durch den Erscheinungsweltschöpfer Mensch entlastet wird. (Optimismus, 2005, S. 102)

 

Was ist Theorie?

 

Linientreue?
[W]o Theorien etwas beherrschen oder bewirken und recht behalten und Folgen haben wollen, werden sie stets zu Gefangenen ihres Anfangs; sie haben ihren point of no return: politische Formationen kehren nicht mehr um, wenn in ihrem Namen zu viel Blut, wissenschaftliche Formationen kehren nicht mehr um, wenn in ihrem Namen zu viel Geist und Ansehen und Tinte vergossen oder auch nur zu viel Zeit vertan wurde: sie kapitulieren dann nicht mehr. Aber wenn eine Theorie nicht mehr kapituliert, muß sie jene Hilfsinterpretationen und Zwecklügen in sich aufnehmen, die sie braucht, um zu bleiben, was sie schon war; gerade durch diese Anstrengung, die eigene Linie zu halten, wird sie selber ein offiziell Geltendes, welches dasjenige, was nicht in den Kram paßt, als Nichtiges traktiert: aber just dadurch hört sie auf, das zu sein, was sie doch sein wollte: Theorie, also Zusehn, wie es wirklich ist. (Heiterkeit, 1976, S. 61)

 

Erlösungsglaube statt curiositas
Theorie, das ist [bei den Griechen] das Glück, über der Betrachtung des fernsten Kosmos die Leiden der nächsten Welt vergessen zu können. Dagegen erhob das Christentum Einspruch: Der Mensch kann seiner Leidenswelt nicht durch Vergessen entkommen, sondern nur auf dem Wege der Erlösung durch jenen Gott, der selber die Leiden dieser Leidenswelt auf sich nimmt, um diese durch die Sünde korrumpierte Welt aufzuheben: durch eschatologische Weltvernichtung. Theorie reicht da nicht aus; man muß an Gottes Erlösungsverheißung glauben: notfalls – das war die gnostische Zuspitzung etwa bei Marcion – auf Kosten der Anhänglichkeit an die vorhandene Welt und ihren Demiurgen. So muß die Theorie entweder – heilsrelevant durch Zumutung von Unfehlbarkeitspflichten – in den Dienst des Glaubens treten oder sie wird geächtet: Und als Bezeichnung für diese geächtete Theorie beginnt das Wort „Neugier“, lateinisch „curiositas“ (zu dem es ein griechisches Äquivalenzwort nicht wirklich gibt), seine philosophische Karriere, zunächst bei Augustinus… (Neugier, 1984, S. 77f.)

Könnte nicht eine Versöhnung des christlichen Glaubens mit der Theorie dort möglich sein, wo einerseits die Erlösung als Versöhnung des existentiell zum Sünder gewordenen Menschen mit seiner essentiellen Gottesebenbildlichkeit als Gottes Geschöpf verstanden wird, und wo andererseits (eben darum) die Theorie nicht das Leiden, das Schicksalhafte, das Endliche ausblenden muss? (Helmut Schütz am 12.8.2004)

 

Zukunftskonformismen?
Alte Menschen sind in besonderem Maße theoriefähig; denn zum Alter gehört – mindestens – das Ende jener Illusionen, die durch Zukunftskonformismen entstehen. (Alter, 1999, S. 135)

 

Revoltiergreise
Diese Theoriefähigkeit – die Illusionsresistenz – des Alters ist nicht ungefährdet. Die Gefahr kommt unter anderem in liebenswertester Gestalt: durch die Enkel. Die Alten wollen an der Zukunft junger Menschen teilnehmen und mit ihnen noch einmal alles vor sich haben. Deshalb kommt es so leicht zur generationsüberspringenden Kumpanei zwischen Großeltern und Enkeln zu Lasten des elterlichen Realitätsprinzips. Später bedanken sich die Enkel durch Nostalgiewellen bei den Großeltern für das, was deren Generationsrolle war: für die Verwöhnung der Enkel, die der Versuch ist, an ihrer Zukunft teilzunehmen. Um sie zu verwöhnen, stecken die Großeltern – entgegen dem ja wenigstens zuweilen vernünftigen Verbot der Eltern – den jungen Enkeln süße Bonbons und den älteren Enkeln süße Weltanschauungen zu, jenes heimlich, dieses unheimlich: Die Rolle der Revoltiergreise – etwa Herbert Marcuses – als Anfeuerer der Studentenbewegung war dafür nur ein Beispiel. (Alter, 1999, S. 137f.)

 

Gibt es philosophisch verbindliche Wahrheit?

 

Irrtümer
[Z]u den entscheidendsten Leistungen der Geistesgeschichte gehört die Produktion jener Irrtümer, die zu dem provozierten, was einige weitere Generationen dann als Wahrheitsfindung betrachtet haben. (Unbewußt, 1966, Anm. 62, S. 141)

 

Modus vivendi mit der Wahrheit
Eines ist die Wahrheit, ein anderes, wie sich mit der Wahrheit leben läßt: für jene ist – kognitiv – das Wissen, für dieses sind – vital – die Geschichten da. Denn das Wissen hat es mit Wahrheit und Irrtum zu tun, die Geschichten mit Glück und Unglück: ihr Pensum ist nicht die Wahrheit, sondern der modus vivendi mit der Wahrheit (darum – nota bene – ist es tröstlich, von den Dichtern zu wissen, daß sie wenigstens lügen können). … das Wissen ist nicht das Grab, sondern das Startloch der Mythologie. (Polytheismus 1, 1978, S. 95)

 

Tödlicher Wahrheitsanspruch
Die Rechthaberei des Wahrheitsanspruchs der eindeutigen Auslegung des absoluten Textes kann tödlich sein: das ist die Erfahrung der konfessionellen Bürgerkriege. Wenn – in bezug auf den heiligen Text – zwei Ausleger kontrovers behaupten: Ich habe recht; mein Textverständnis ist die Wahrheit, und zwar – heilsnotwendig – so und nicht anders: dann kann es Hauen und Stechen geben. Genau auf diese Situation antwortet die Hermeneutik mit ihrer Verwandlung zur pluralisierenden durch die Frage: Läßt sich dieser Text nicht doch auch noch anders verstehen und – falls das nicht reicht – noch einmal anders und immer wieder anders? Sie entschärft so – potentiell tödliche – Auslegungskontroversen, indem sie das rechthaberische Textverhältnis in das interpretierende verwandelt: in ein Textverständnis, das – notfalls ad libitum – mit sich reden läßt;und wer mit sich reden läßt, schlägt möglicherweise nicht mehr tot. Die Hermeneutik, die zur pluralisierenden sich wandelt, tut etwas statt dessen: sie ersetzt das „Sein zum Totschlagen“ durch das Sein zum Text: durch das Sein zum konzilianten Text mit Vermeidungswert und Ersparungsvalenz; das bedeutet eineTolerantmachung der Texte auch in Dingen des wirkungsgeschichtlichen Willens zur Macht. (Hermeneutik, 1979, S. 130)

 

Texte, die mich umverstehen
[H]ermeneutische Inversion … ist wichtig, weil sich gegen das pluralisierende Verfahren der literarischen Hermeneutik, die alle Geschichten immer noch wieder anders lesen und interpretieren kann, leicht der Einwand erhebt: ihre polymythische Lesung sei eine unverbindliche Lesung. Das aber stimmt nicht. Freilich: man muß einen gemäßigten, gemilderten, temperierten Verbindlichkeitsbegriff ins Spiel bringen, um das geltend zu machen, einen, der der literarischen Hermeneutik entspricht. … ich – als Subjekt, als Norm – interpretiere einen Text – als Objekt, als Fall…; als Subjekt der Interpretation suche ich interpretierend sozusagen einen Kram, in den dieser Text – als Objekt der Interpretation – paßt; aber indem ich interpretiere, wird peu à peu der interpretierte Text – das scheinbare Objekt und der scheinbare Fall – zum Kram, in den ich – das scheinbare Subjekt und die scheinbare Norm – passe: ich interpretiere den Text, aber in Wirklichkeit interpretiert der Text mich. … Wo diese merkwürdige und bemerkenswerte Subjekt-Objekt-Vertauschung – diese so nur angedeutete hermeneutische Inversion – stattfindet: da ist – meine ich – keine Unverbindlichkeit, und zwar auch dann nicht, wenn dieser Text ständig umverstanden wird, weil er dabei mich selber umversteht. (Trost, 1981, S. 122)

 

Legierung
Ist das wirklich ein Gegensatz: das Wirkliche und das Fiktive? … heutzutage kommen Realität und Fiktion nur noch als Legierung vor und nirgendwo mehr rein… (Antifiktion, 1983, S. 82)

 

Erfolgreichste Fiktion
[Nach Hans Vaihinger] kann „eine Fiktion als ein ‚legitimer Irrtum‘ gelten“, welcher „das Recht seines Bestehens durch den Erfolg nachzuweisen hat“… Das erinnert … an Nietzsches „Lehre vom bewußt gewollten Schein“; denn „Wahrheit“ ist auch nach Nietzsche – für jene „klugen Tiere“, die Menschen, die, in der hochmütigsten und verlogensten Minute der ‚Weltgeschichte‘ “, „das Erkennen erfanden“ – „Lüge im außermoralischen Sinn“: ein „Zurechtmachen“ der Wirklichkeit, ihre Umfälschung ins Lebensdienliche. … Wahrheit heißt die erfolgreichste Fiktion. (Antifiktion, 1983, S. 84)

Dazu fallen mir die „Lügen für Erwachsene“ aus dem Buch „Die Gelehrten der Scheibenwelt (The Science of Discworld)“ von Terry Pratchett, Ian Stewart und Jack Cohen ein… (Helmut Schütz)

 

Wahrheit 1983:
Die jeweils große Mehrheit der Handlungsteilnehmer ist nicht mehr in der Lage, den Realitätsgehalt der Orientierungsdaten wirklich zu beurteilen: synchron zur zunehmenden Legierung von Realität und Fiktion verwischt sich auch der Unterschied von Realitätswahrnehmung und Fiktionsbewußtsein… Darum ist es in unserem Jahrhundert so leicht, wirkliche Schrecklichkeiten zu ignorieren und von fiktiven Positivitäten überzeugt zu sein (und umgekehrt): was in den Kram paßt zu glauben, und was nicht in den Kram paßt zu verdrängen; die Illusionsbereitschaft wächst. (Antifiktion, 1983, S. 94)

 

Fiktur
Es ist also – Comte zum Trotz – nicht so, daß modern erstmals in vollem Umfang der Wirklichkeitssinn auf den Plan tritt; ganz im Gegenteil: Realitätsprinzip und Irrealitätsprinzip (Fiktionsprinzip) fusionieren; das neuzeitlich ‚positive Stadium‘ ‚überwindet‘ nicht, es ‚wird‘ das ‚fiktive‘: die spätmoderne Wirklichkeit wird – und zwar zunehmend und zunehmend auch willentlich – zur Fiktur. (Antifiktion, 1983, S. 95)

 

System
[W]o der Begriff Gottes und seiner Schöpfung als Begriff für das Gesamte in Zweifel gerät, wo aber zugleich an den Menschen als realen Gesamtschöpfer seiner Gesamtwirklichkeit – als Gesamtbeherrscher der Natur, als Gesamttäter der Geschichte – wegen berechtigter Zweifel an seiner Allmacht nicht wirklich geglaubt wird… [,] mußte ein Begriff für das Gesamte herbei, den diese Unentschiedenheit – Gott oder Mensch – nicht störte, weil er gegenüber beiden Gesamtsichten und Gesamttäterkonzeptionen neutral blieb: das war – als ein neuer Begriff des Gesamten – der Begriff des „Systems“… (Gesamtkunstwerk, 1983, S. 101)

 

Neugierlizenzen
Kants Transzendentalphilosophie … unterschied nachdrücklich den Menschen von Gott, das endliche Wissen vom absoluten Wissen: diese Bescheidenheit – durch die das endliche Wissenschaftswissen unbeschränkte Neugierlizenzen erhielt, weil es aufhörte, häresiefähig, d. h. an theologisch absoluten Relevanzgesichtspunkten meßbar zu sein – machte Kants Philosophie zur eigentlichen Philosophie der Neuzeit. Fichtes Wissenschaftslehre war das Ende dieser Bescheidenheit und insofern … der Anfang der Gegenneuzeit… sobald nur das Menschen-Ich absolut tut, tut es schon absolut, als ob es absolut weiß, und dies reicht… Alles soll für das Ich d. h. nichts soll gegen das Ich sein und darum vorsichtshalber auch nichts ohne das Ich. (Gesamtkunstwerk, 1983, S. 103)

 

Elfenbeinturm
Einsamkeit suchen – und brauchen – die Wissenschaftler… Durch Einsamkeit wird aus der Wissenschaft … die Isolierstation für das erkenntnismäßig Brisante. Wissenschaft ist: alles denken wollen. Man muß ohne Rücksicht auf Folgen denken dürfen. Dafür braucht es einen Ort, an dem die Denkfolgen gut entsorgt sind. Der Wissenschaftler muß sozusagen Sandsäcke zwischen sich und der übrigen Welt haben: für den Fall, daß sein Denken explodiert, damit dann kein anderer zu Schaden kommt. Dafür ist Einsamkeit nötig, jener Elfenbeinturm, dessen Elfenbein ist: der Berstschutz für Gedanken. (Einsamkeitsfähigkeit, 1983, S. 118)

 

Positivierte Neugier
Zentraler Antrieb der modernen Wissenschaften ist die positivierte Neugier, also die theoretische Einstellung in jener Form, in der sie gegen ihre christliche Ächtung neuzeitlich rehabilitiert wurde. (Neugier, 1984, S. 76)

 

Außerreligiöse Neugier
Weil der Mensch religiös nicht mehr neugierig sein durfte, wurde er außerreligiös neugierig: per Genese der modernen Wissenschaft. (Neugier, 1984, S. 79)

 

Sechstagerennen
Neutral wird jene Wissenschaft, die theologische Gesichtspunkte neutralisiert akkurat im sechstagerenntechnischen Sinn dieses Worts: Solange wissenschaftlich gefahren wird, wird theologisch nichts entschieden (et vice versa). Darum gilt zugleich die Mahnung des Albericus Gentilis: „Silete theologi in munere alieno“. (Neugier, 1984, S. 80)

 

Häresieunfähigkeit
Die exakte Wissenschaft … wird häresieunfähig und gerade dadurch … endgültig frei, nur noch neugierig zu sein und das Wissen ausschließlich um des Wissens willen zu suchen: Sie wird zur neugierigen Wissenschaft durch Entlastung vom Absoluten. (Neugier, 1984, S. 83)

 

Selbstbornierungsaufwand
Erst durch diese Entlastung vom Absoluten … konnte die moderne Wissenschaft vorbehaltlos neugierig, also … nur noch der Wahrheit verpflichtet sein. Diese Wahrheitsbindungsklausel artikuliert einerseits das aus Griechenland herkommende Theoriemotiv: das Glück, hinzusehen, wie es ist, wobei gerade dadurch, daß dabei Sichtgrenzen kollabieren, jene glückliche Erleichterung sich einstellt, die aus der Ersparung von Selbstbornierungsaufwand resultiert: durch Ablassen von der Anstrengung, dumm zu bleiben. (Neugier, 1984, S. 83)

 

Institution für folgenlose Irrtümer
Man kann die Wahrheitsbindungsklausel – als Nichteinmischungsprinzip – beschreiben als Abwehr der Unfehlbarkeitspflicht. … Wer … den Irrtum verbietet, verhindert auch die Wahrheit [Niklas Luhmann]. Es wäre reizvoll zu erforschen, wieviel Irrtum für wieviel Wahrheit aufgewendet werden muß. … Wissenschaft ist – was Selbstbehauptungsinstitutionen niemals sein können – die Institution für folgenlose Irrtümer, und Wissenschaftler im modernen Sinn – also Neugierprofis – sind Leute, deren Leidenschaft es ist, sich folgenlos zu irren. Wahrheitsbindung ist vor allem Irrtumslizenz… (Neugier, 1984, S. 84f.)

 

Entdramatisierung
Folgenlos kann der Irrtum nur dann werden, wenn auch die Wahrheit folgenlos wird: Jedenfalls wird sie undramatisch; in der neutralen Wissenschaft sinkt … der Sensationspegel ihrer Ergebnisse. Die Abweichung vom Bisherigen wird undramatisch durch den Verlust ihres Häresieappeals. Der letzte wirklich dramatische Vorgang der modernen Neugierwissenschaften war ihre Entdramatisierung. Und ich betone noch einmal, daß diese Entdramatisierung eine – historisch unselbstverständliche und darum ruinierbare – Errungenschaft ist. Durch sie aber wird fortan die Wissenschaft zunehmend unfähig, den menschlichen Aufregungsbedarf – der zu wesentlichen Teilen Häretisierungsbedarf und Bedarf an moralischer Empörung ist – zu decken: Die neutrale Wissenschaft erzeugt ein Aufregungsdefizit. (Neugier, 1984, S. 85)

 

Wissenschaftsethik
Was tun? Das ist hier eine Frage diesseits von Lenin und Zeus: … Es geht … um Veränderung der Wissenschaftsethik. Bei emphatischen Veränderungen aber … besteht die Gefahr, daß man, statt das bessere Neue zu erreichen, nur das Alte und mit ihm das Gute im Alten ruiniert. … Es könnte passieren, daß man – unbeabsichtigt – jene Neugierlizenz widerruft, von der die Wissenschaft lebt, und daß man aus Versehen und konsequenzenblind – jenes Alte und Gute im Alten abschafft, das die Neuzeit ist. (Neugier, 1984, S. 87)

 

Berstschutz für Gedanken
Zu bewahren und zu pflegen ist … die Trennung von Theorie und Praxis und die Bescheidung der Wissenschaft zur „small power“ diesseits der Selbstbehauptungspraxis. … Praxisnähe ist eine Wissenschaftsnot, keine Wissenschaftstugend; denn die Neugierfreiheit lebt von der Praxisferne: Die Wissenschaft muß alles denken dürfen; wer aber alles, was er denkt, auch tun will, darf sehr schnell nur noch das Wenige denken, was ihm dann zu tun noch erlaubt bleibt. Der Kurzschluß von Theorie und Praxis korrumpiert beide: Der Praxis trägt er Weltfremdheit, der Theorie Denkverbote ein. Ich plädiere, was die Wissenschaft betrifft, für so viel Elfenbeinturm wie möglich: Dabei sollte dann Elfenbein fortentwickelt werden zum Material, das geeignet ist als Berstschutz für Gedanken. (Neugier, 1984, S. 90f.)

 

Geschichtsschutz
Zu bewahren und zu pflegen sind die vorhandenen Institutionen der politischen Liberalkultur… Nicht nur Naturschutz ist nötig, sondern auch Geschichtsschutz… als Modernitätstraditionalist bin ich – gegen jeden (auch den emanzipatorischen) Antimodernismus, der das Ende der Neuzeit betreibt – für Umweltschutz zum Schutz auch und gerade jener Umwelt, die die Neuzeit und ihre Neugierwissenschaft ist. (Neugier, 1984, S. 91)

 

Wahrheitsfrage
Wer verstehen will, muß fremde Positionen argumentativ nachvollziehen können: er darf die Wahrheitsfrage nicht preisgeben. (Denkformen, 1991, S. 118f.)

 

Wirklichkeitsgebiete
Wie ist eine Typologie der philosophischen Denkformen ohne Preisgabe der Wahrheitsfrage möglich? Sie ist – das war Leisegangs Antwort – möglich, wenn man die Pluralität der philosophischen Denkformen nicht psychologisiert, sondern aus der Vielfalt der zu erkennenden Wirklichkeitsgebiete herleitet. Jede Denkform entsteht aus dem Blick auf ein bestimmtes Wirklichkeitsgebiet, eine bestimmte Wirklichkeitsschicht; und die Philosophien und ihre – wie Leisegang sagt – „Logiken“ sind mehrere und verschieden, weil sie sich an verschiedenen Wirklichkeitsgebieten orientieren: was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, an was für einem Wirklichkeitsgebiet man sich orientiert. (Denkformen, 1991, S. 119)

 

Pluralität der Denkformen
Der „Idealismus“ denkt in „Begriffspyramiden“, der „Vitalismus“ denkt in „Gedankenkreisen“, der „Materialismus“ denkt in „Linien“ und zählbaren Größen. Zum „Idealismus“ gehört die aristotelische Logik, zum „Vitalismus“ die dialektische Logik, zum „Materialismus“ die mathematische Logik. Jede der verschiedenen philosophischen Denkformen erschließt eine andere – aber jeweils wirkliche – Wirklichkeit. Sie … bleibt „wahr“, solange sie die von ihr erschlossene und für sie leitende Wirklichkeit mit der an ihr gewonnenen Denkform interpretiert; sie wird „falsch“, sobald sie ihre Denkform – reduktionistisch – auf Wirklichkeiten überträgt, wo sie nicht hingehört… Es liegt in der Konsequenz dieses Ansatzes von Hans Leisegang, die Pluralität der „Denkformen“ nicht streng an die Dreizahl von Typen zu binden, die die Tradition der Weltanschauungstypologien vorgegeben hatte. Leisegang … favorisiert die Öffnung der Typologie. So entdeckt er selber Zwischenformen… (Denkformen, 1991, S. 120)

 

Staat als Friedensstifter
Der Staat – der moderne Staat zunächst in absolutistischer Form – wurde als Friedensstifter gegen die konfessionellen Bürgerkriege nötig und wirklich: er befriedet sie nicht, indem er – angesichts der religiösen Kontroversen – entscheidet, was religiös die Wahrheit ist, sondern er befriedet sie, indem er gerade nicht entscheidet, was religiös die Wahrheit ist, sondern indem er durch seine Autorität und Macht das, was den blutigen Streit bringt, das kontrovers gewordene Religiöse, aus der Politik heraushält. Das Religiöse – die Wahrheitsfrage der Erlösung – wird politisch neutralisiert durch die profane Macht des Staates diesseits der Religion. Die Kunst kann dann ihrerseits – diesseits der vormals religiösen Gebundenheit – sich dazu bereit finden, die profan werdende politische Macht des Staates zu repräsentieren. Vor allem die barocken Anfangsgestalten dieser politischen Repräsentation stehen uns vor Augen: die Schlösser, die Gärten, die politische Plastik, die höfische Dichtung und Musik. (Repräsentation, 1993, S. 29)

 

Schatten
Das Urteil „alles falsch: sehr gut“ muß möglich sein, nicht nur, weil gilt: Gut geirrt ist halb erkannt. … Ein guter philosophischer Fachgutachter muß erstens durch Selbsterfahrung wissen, was philosophische Qualität ist, und er muß zweitens andere Ansätze nicht nur gelten lassen, sondern auch zur Geltung bringen können. Anders gesagt: er muß erstens philosophisch einen Schatten werfen, und er muß zweitens über diesen Schatten springen können: Dazu muß er mindestens ein evaluativer Pluralist sein. (Manifest, 1994, S. 116)

 

Sanfte Verbindlichkeiten
Dafür muß man freilich einen Preis zahlen. Man muß auf die absolute Verbindlichkeit einer absoluten Position verzichten: Pluralismen rechnen mit der Kontingenz jeder der pluralen Positionen einschließlich des Pluralismus selber. Dieser Abschied vom Prinzipiellen bedeutet aber nicht – wie man häufig hört – den Fall in die totale Beliebigkeit. Der Eindruck eines solchen Falls kann eigentlich nur durch Mangel an Aufmerksamkeit entstehen. Wer den Verbindlichkeitsstandard (Wahrheit, Moralität) auf die Höhe des Absoluten schraubt, wird blind für die Verbindlichkeiten, die es unterhalb dieser absoluten Höhe gibt: für die sanften Verbindlichkeiten. Die aber gibt es.
Positionen sind dadurch, daß sie kontingent sind, nicht auch schon beliebig, das heißt beliebig austauschbar. Niemand steht auf einem Nullpunkt der Wahl vor den Positionen, jeder steckt schon in Positionen: Man braucht Gründe, sie zu verlassen (nicht: sie einzunehmen, denn man hat sie ja schon), und so braucht man Zeit, sie zu verlassen. Die aber haben wir wegen unserer Lebenskürze nur in geringem Maß; denn unser Tod kommt immer allzubald. Eine sanfte Verbindlichkeit entsteht dadurch, daß wir an Positionen gebunden sind, weil wir nicht beliebig viel Zeit haben, sie in beliebigem Umfang zu verlassen. (Manifest, 1994, S. 120)

 

Einheitswissenschaft
Die Tendenz zur Einheitswissenschaft ist keine reine Wissenschaftstugend, sondern eher ein Wissenschaftslaster, weil sie Scheuklappen produziert und Merkverbote verhängt. (Wissenschaftspluralismus, 2000, S. 124)

 

Problemverluste durch Wissenschaft
Der Fortschritt zur Wissenschaft und durch Wissenschaft verlangt das Ausrangieren: es muß dasjenige vergessen, neutralisiert oder abgeschafft und weggeworfen werden, was den Fortschritt hemmt: also etwa … die Religion oder die Metaphysik. Dafür allerdings muß man einen Preis zahlen: daß – in den positiven Wissenschaften – nicht mehr alles zur Debatte stehen kann, was zuvor religiös und metaphysisch und inden Kulturtraditionen im Blick war. Ich nenne einige Beispiele: Wo bleibt in der empirischen Wissenschaft Psychologie die Seele und in den Kognitionswissenschaften der künstlichen Intelligenz der Geist? Philosophy of mind: never mind. Wo bleibt in der astrophysikalischen Kosmologie die menschliche Lebenswelt, in der wir Menschen tagtäglich unser Leben durchleben und durchsterben müssen? Wo bleibt in den harten Wissenschaften das Thema Gott, Freiheit, Sinn? Wo bleiben in der Evolutionsbiologie das Individuum, die Traditionen, die Geschichten? Offenbar bringen die modernen empirischen Wissenschaften nicht nur … Erkenntnisgewinne, sondern sie bringen auch Problemverluste. (Wissenschaftspluralismus, 2000, S. 127f.)

 

Wissenschaftstheorie mit Ontologiefunktion?
Die empirischen Wissenschaften entwickeln – während sie Probleme nicht nur gewinnen, sondern auch verlieren – das Interesse, zu sagen, was Wissenschaft sei und was nicht. Das bedeutet mindestens zweierlei. Es bedeutet erstens: … Die Wissenschaftstheorie fungiert als der Versuch, die modern wissenschaftlichen Problemverluste unauffällig zu machen, indem sie – etwa durch Anhebung des Exaktheitsstandards – ausschließt, daß die verlorengegangenen Probleme Probleme sind und ihr Verlust ein Verlust ist. Zweitens übernimmt die Wissenschaftstheorie Ontologiefunktion, indem sie dekretiert: Das Feld möglicher Probleme ist das Feld der im Sinne der Wissenschaftstheorie möglichen wissenschaftlichen Probleme. Von allem, was ist, ist genau nur dasjenige bemerkenswert, erörterungsfähig und erörterungswürdig, was wissenschaftsfähig ist. „Natur“ – schrieb Hermann Cohen – „ist nur als Naturwissenschaft gegeben“; Geschichte – meinten Positionen der sogenannten Theoriedebatte der Geschichtswissenschaften in den sechziger Jahren – ist nur als Geschichtswissenschaft gegeben. Aber das stimmt nicht: Natur ist etwa als Umwelt, etwa als Landschaft oder als Leiblichkeit gegeben; Geschichte ist primär als lebendige Tradition gegeben, als das Ensemble der Üblichkeiten, in denen wir leben. (Wissenschaftspluralismus, 2000, S. 128f.)

 

Physik oder Unsinn
Kant hatte – in seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft – „behauptet“, „daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist“ …; jetzt soll die mathematische Physik zur Universalwissenschaft werden, was ihr auch erleichtert, ultrateure Apparate – man denke an CERN – zu erlangen und rund um den Urknall als empirisierte Quasimetaphysik zu agieren. Physik ist gut; Metaphysik ist billiger: aber diese Kosten-Nutzen-Analyse wird heute vom Zeitgeist nicht geschätzt und abgelehnt. So bleibt – wie in den Annalen der Philosophie und ihrer Nachfolgezeitschrift Erkenntnis – die Physik die eigentliche Wissenschaft in der Wissenschaft; und im Anschluß an die „physikalistische“ Einheitswissenschaftsthese des Wiener Kreises kommt es zur Extremthese: Es gibt nur Physik oder Unsinn. Diese Aussage – ich nenne das die „monistische“ Paradoxie – selber ist nicht Physik. Was ist sie: Unsinn? Hier ergaben sich Probleme, die die Mitglieder dieses Kreises, insbesondere nach deren Emigration, zu differenzierteren Positionen der „analytischen Philosophie“ weitertrieben, zur „Ordinary Language-Philosophy“ und wieder zur Metaphysik. (Wissenschaftspluralismus, 2000, S. 129f.)

 

Physiküberschreitende Probleme
Entscheidend aber war zunächst … die Abwehr physiküberschreitender Probleme als Unsinn; daraus ergibt sich ihre Ohnmacht. Denn der wirksamste Effekt dieser Ächtung der physiküberschreitenden Probleme als Unsinn ist die Vergleichgültigung der Unterschiede innerhalb dieses – eminent lebensbedeutsamen – „Unsinns“: es wird gleichgültig, ob dieser vermeintliche „Unsinn“ vernünftig oder unvernünftig gelebt wird. (Wissenschaftspluralismus, 2000, S. 130)

 

Interdisziplinäres Gespräch
[Das] humanwissenschaftlich interdisziplinäre Gespräch muß nicht erst erfunden und dann mühsam verwirklicht werden; denn es ist … längst wirklich da und gelingt, wie die Erfahrung zeigt, in der Regel ohne spezialisierungsbedingte Verständigungsschwierigkeiten, wenn man diese nicht künstlich erzeugt durch jenen Verständigungsperfektionismus, der der eigentliche Feind des interdisziplinären Gesprächs ist: Konsens nämlich ist keineswegs immer nötig; viel wichtiger ist das produktive Mißverständnis und die Vielfalt der Sichtperspektiven; am wichtigsten ist schlichtweg Vernunft: der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben. (Wissenschaftspluralismus, 2000, S. 136f.)

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