Toleranz und Religionsfreiheit

Zu ihrem alljährlich stattfindenden „Tag der Religionsstifter“ lud die Ahmadiyya Muslim Gemeinde Gießen im Jahr 2015 in den Netanya-Saal des Alten Schlosses ein. Neben Dow Aviv, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Gießen, und Abdullah Uwe Wagishauser, dem Bundesvorsitzenden der Ahmadiyya Muslim Jamaat, hielt auch Helmut Schütz, Pfarrer der Evangelischen Paulusgemeinde Gießen, einen Vortrag zum Thema „Toleranz und Religionsfreiheit“.

Die drei Vortragenden zum Thema "Toleranz und Religionsfreiheit" beim Tag der Religionsstifter 2015 in Gießen: Helmut Schütz, Abdullah Uwe Wagishauser und Dow Aviv
Helmut Schütz, Abdullah Uwe Wagishauser und Dow Aviv hielten Vorträge zum Tag der Religionsstifter in Gießen (Bild: Ahmadiyya Muslim Jamaat Gießen)

Vortrag von Pfarrer Helmut Schütz zum „Tag der Religionsstifter“ am Dienstag, 28. April 2015, um 19.00 Uhr im Netanyasaal im Alten Schloss Gießen

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich habe gerne zugesagt, heute einen christlichen Beitrag zum „Tag der Religionsstifter“ zu leisten, der sich mit dem Thema „Toleranz und Religionsfreiheit“ befasst. Ich verhehle aber nicht, dass es kein leicht zu behandelndes Thema ist. Nicht weil es nicht viel dazu zu sagen gäbe. Im Gegenteil, ich könnte ausufern. Die erste Schwierigkeit besteht darin, auswählen zu müssen.

Eine zweite Schwierigkeit sehe ich darin, dass man in der Geschichte der christlichen Kirche leider auch viele Beispiele für Intoleranz und Religionszwang findet. Und wer als Christ unduldsam und fanatisch denkt und handelt, der findet auch Texte in der Bibel, mit denen eine solche Haltung sich zumindest scheinbar begründen lässt. Die Frage ist aber: Lässt sich mit Recht alles aus der Bibel belegen, oder entspricht dem Geist der christlichen Religion nicht doch eher eine Haltung der Toleranz, ja der Achtung gegenüber Andersglaubenden?

Eine dritte Schwierigkeit ist ein kleines Unbehagen, das ich gegenüber der Bezeichnung für den Anlass dieser Veranstaltung hege: „Tag der Religionsstifter“. Ich kann nämlich nicht so genau sagen, wer der Stifter der christlichen Religion ist.

Jesus wollte definitiv keine neue Religion stiften, er verstand sich als Menschensohn, als Davids Sohn, als Messias seines Volkes Israel. Die Apostel Jesu Christi, allen voran Paulus, aber auch schon Petrus und den Bruder Jesu, Jakobus, könnte man eher als Religionsstifter bezeichnen, da sie begannen, die Menschen, die an Jesus glaubten, in eigenen Gemeinden zu sammeln, mehr und mehr auch in Abgrenzung zu den jüdischen Versammlungen in den Synagogen.

Und genau das machte es damals schwer, tolerant miteinander umzugehen: Juden und Christen entwickelten sich auseinander, wurden mit der Zeit zu eigenständigen Religionen; zwar waren sie einig in der Intoleranz gegenüber den Götzen des Römischen Reiches. Ein Kniefall vor dem als Gott verstandenen Kaiser oder vor anderen Staatsgöttern wurde von beiden als Verstoß gegen das erste Gebot abgelehnt. Nun galt die jüdische Religion im Römischen Reich als erlaubt, von Juden verlangte man die Anbetung der Staatsgötter nicht. Aber je mehr die Christen als eigene Religionsgemeinschaft angesehen wurden, die mit einem von der römischen Staatsmacht gekreuzigten Anführer als staatszersetzend gelten konnte, mussten sie mehr oder weniger schwerwiegende Verfolgungen erdulden. Später kehrte sich das Verhältnis um; zum Sündenfall der christlichen Kirche gehört es, dass sie sich schon nach wenigen Jahrhunderten mit der politischen Staatsmacht verbündete und sowohl gegen heidnische Religionen als auch immer wieder gegen Juden und innerchristliche Abweichler mit Gewalt einschritt.

Aber nehmen wir mal Jesus als zentrale Gestalt unseres christlichen Glaubens, und nehmen wir Paulus als den herausragenden Verkünder Jesu Christi unter den Weltvölkern: Was sagen die beiden zum Thema „Toleranz und Religionsfreiheit“?

Wörtlich genommen natürlich gar nichts. Beide Begriffe kommen mit der uns seit der Zeit der europäischen Aufklärung vertrauten Bedeutung in der Bibel noch nicht vor. Ich habe aber doch einmal nach dem Wort „tolerantia“ in den lateinischen Bibelübersetzungen gesucht, und ein einziges Mal habe ich es gefunden. Im 2. Korintherbrief des Paulus 1, 6 wird das griechische Wort „hypomonee“ ins Lateinische mit „tolerantia“ übertragen; ins Deutsche muss es an dieser Stelle wörtlich mit „Erdulden“ übersetzt werden. Ich zitiere den Zusammenhang, denn er ist aufschlussreich. Paulus erwähnt Nöte und Leiden, denen er und seine Gemeinde in der erwähnten Verfolgungssituation ausgesetzt sind, und er schreibt (2. Korinther 1, 3-6):

3 Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes,

4 der uns tröstet in aller unserer Trübsal, damit wir auch [die] trösten können, die in allerlei Trübsal sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott.

5 Denn wie die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch Christus.

6 Haben wir aber Trübsal, so geschieht es euch zu Trost und Heil. Haben wir Trost, so geschieht es zu eurem Trost, der sich wirksam erweist, wenn ihr mit Geduld dieselben Leiden ertragt, die auch wir leiden.

[Im Lateinischen wird der letzte Satz so übersetzt: „exhortamur pro vestra exhortatione quae operatur in tolerantia earundem passionum quas et nos patimur.“]

Paulus ruft seine Glaubensgeschwister dazu auf, Leiden zu ertragen „en hypomonee“, „in tolerantia“, „in Geduld“. Toleranz ist hier also nicht die Anerkennung einer anderen Religion als gleichwertig auf Augenhöhe, sondern für Paulus ist Toleranz die Haltung der Standfestigkeit und der Geduld, die erforderlich ist, um die Verfolgung durch Menschen auszuhalten, die der Ausübung des eigenen Glaubens feindlich gegenüberstehen. Und zwar ohne Gewalt auszuüben, ohne Verfolgung mit Verfolgung zu vergelten.

Und was sagt Jesus zur Toleranz? Im Neuen Testament kommt der Wortstamm von „tolerare“ in der lateinischen Übersetzung nur noch ein einziges weiteres Mal vor, und zwar im Evangelium nach Matthäus 10, 15. Der Zusammenhang ist an dieser Stelle folgender: Jesus sendet seine zwölf Jünger als Verkünder des Evangeliums aus und sagt ihnen unter anderem:

5 Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht in keine Stadt der Samariter,

6 sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel.

7 Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.

8 Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt böse Geister aus. Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebt es auch.

11 Wenn ihr aber in eine Stadt oder ein Dorf geht, da erkundigt euch, ob jemand darin ist, der es wert ist; und bei dem bleibt, bis ihr weiterzieht.

12 Wenn ihr aber in ein Haus geht, so grüßt es;

13 und wenn es das Haus wert ist, wird euer Friede auf sie kommen. Ist es aber nicht wert, so wird sich euer Friede wieder zu euch wenden.

14 Und wenn euch jemand nicht aufnehmen und eure Rede nicht hören wird, so geht heraus aus diesem Hause oder dieser Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen.

15 Wahrlich, ich sage euch: Dem Land der Sodomer und Gomorrer wird es erträglicher ergehen am Tage des Gerichts als dieser Stadt.

16 Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.

22 Und ihr werdet gehasst werden von jedermann um meines Namens willen. Wer aber bis an das Ende beharrt, der wird selig werden.

Was tut Jesus hier? Er schickt seine Jünger als Missionare für sein Evangelium, seine Frohe Botschaft, aus. Sie sollen in allen Orten Israels ankündigen, dass Gottes Reich des Friedens, der Gerechtigkeit, der Liebe, jetzt anbricht. Unter anderem gibt er ihnen diese Regel mit auf den Weg: Wenn Menschen in einer Stadt oder in einem Haus seine Missionare nicht aufnehmen oder anhören wollen, dann sollen sie einfach von dort weggehen, ohne diese Leute zum Glauben zu nötigen oder zu zwingen. Allerdings kündigt er an, dass Gott diejenigen strafen wird, die sich dem Reich Gottes nicht öffnen. Er sagt sogar, dass Sodom und Gomorra, die sprichwörtlich von Gott gestraften und in Feuer und Schwefel untergegangenen Städte, ein erträglicheres Schicksal haben werden. Erträglicher heißt auf Lateinisch „tolerabilius“, tolerierbarer. Das war das Stichwort, auf Grund dessen ich überhaupt auf diesen Text gekommen bin.

Aus diesem Text geht hervor: Auch Jesus kennt keine Toleranz im Sinne der Anerkennung der Wahrheit einer anderen Religion. Er ist überzeugt, dass Gott dabei ist, seine Friedensherrschaft über die Welt anzutreten, und er will die Menschen dazu bringen, sich diesem Gott vertrauensvoll zu öffnen. Aber er verwehrt es seinen Jüngern, diesen Glauben mit Gewalt zu verbreiten. Im Evangelium nach Lukas 9, 52-56, wird folgende Szene erzählt:

52 Und er [Jesus] sandte Boten vor sich her; die gingen hin und kamen in ein Dorf der Samariter, ihm Herberge zu bereiten.

53 Und sie nahmen ihn nicht auf, weil er sein Angesicht gewandt hatte, nach Jerusalem zu wandern.

54 Als aber das seine Jünger Jakobus und Johannes sahen, sprachen sie: Herr, willst du, so wollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel falle und sie verzehre.

55 Jesus aber wandte sich um und wies sie zurecht.

56 Und sie gingen in ein andres Dorf.

Zu dieser Erzählung muss man wissen, dass Samariter und Juden zur Zeit Jesu Probleme miteinander hatten, wie vielleicht heutzutage Christen und Zeugen Jehovas oder Sunniten und Ahmadiyya oder Aleviten. Sie beriefen sich zum Teil auf die gleichen Heiligen Schriften, legten sie aber unterschiedlich aus und sprachen einander den wahren Glauben ab. Weil die Samariter Jesus nach Jerusalem gehen sehen, denken sie, er gehört zu den Juden, darum nehmen sie Jesus nicht auf.

Und nun wird es interessant. Zwei Jünger Jesu, die beiden Brüder Jakobus und Johannes, tragen nicht ohne Grund den Spitznamen „Donnersöhne“. Die machen Jesus den Vorschlag: „Lass doch zur Strafe auf die Stadt der Samariter Feuer vom Himmel regnen.“ Vielleicht erinnerten sie sich dabei an den Propheten Elia, der einmal im Konflikt mit einem König von Samaria Feuer vom Himmel regnen ließ (2. Könige 1). Jesus lehnt das ab; er hält sich an die Weisung Gottes, dass gewaltsame Rache und Strafe Gott zu überlassen ist. Das Fazit auch der Haltung Jesu ist wie bei Paulus: Er rechnet damit, dass seine Anhänger um seinetwillen gehasst werden, und er will, dass sie „beharren bis ans Ende“, um selig zu werden, also eine Lebenserfüllung von Gott als Geschenk zu erhalten, die nicht von der Bewahrung des irdischen Lebens abhängt.

Durch den Zufall der Suche nach wortwörtlicher Toleranz in der Bibel bin ich auf eher unbekanntere, „sperrige“ Texte unserer Überlieferung gestoßen, die gleichwohl deutlich machen: Im Konfliktfall mit Menschen, die ihren Glauben anderen aufzwingen wollen, erwarten sowohl Jesus als auch Paulus von dem, der an Gott glaubt, Toleranz im Sinne des Erduldens von Leid und den Verzicht darauf, die Wahrheit mit Gewalt durchzusetzen.

Ich füge einen letzten Gedankengang an, um zu begründen, warum ein Christ anderen Religionen in einer Haltung der Toleranz, ja des Respekts begegnen sollte.

Wenn nur ein Gott ist und Gottes Tiefen unergründlich sind, dann kann ich einem Andersglaubenden den Respekt vor seiner Art der Gotteserkenntnis nicht von vornherein verweigern. Wir sind Menschen, wir müssen davon ausgehen, dass wir jeweils nur einen Teil der Gotteserkenntnis haben. Das gilt für alle Religionen.

Für mich als Christ ist Jesus zum Beispiel Gottes Sohn. Damit glauben wir nicht an mehrere Götter, das wäre ein Missverständnis, und wir vergötzen damit auch nicht einen Menschen, das wäre absolut nicht im Sinne Jesu. Wer uns Götzendienst vorwirft, gegen den wehren wir uns mit Argumenten. Zugleich kann ich begreifen und respektieren, dass ein Jude Jesus nicht als Messias akzeptiert, so lange die Welt noch kein Friedensreich ist. Und ich kann es begreifen und respektieren, dass für einen Muslim die Vorstellung unerträglich ist, Gott habe einen Sohn und dieser Sohn sei auch noch gekreuzigt worden. Für uns Christen bleibt die Botschaft von der Kreuzigung und Auferstehung Jesu zentral; für Paulus war es genau diese Botschaft, durch die der Gegensatz zwischen Juden und Weltvölkern überwunden werden konnte. Alle gemeinsam sind schuld an Jesu Tod, Feinde wie Freunde, Juden und andere Völker, und alle gemeinsam erhalten Vergebung und werden gemeinsam – bildlich gesprochen – im Leib des auferstandenen Christus, also in einer neuen Gemeinschaft aus Juden und Weltvölkern zusammengeschlossen.

Wichtig ist dabei: Die Botschaft vom Reich Gottes, die Jesus verkündet, nimmt die Verheißungen seiner Heiligen Schrift, der Bibel Israels, unseres so genannten Alten Testamentes auf. Er hebt sie nicht auf, sondern sie gelten weiterhin für Israel und zusätzlich auch für die Völkerwelt: Befreiung, Gerechtigkeit, Liebe, Frieden, in einem Wort: Schalom! All das soll wachsen, das ist mit dem „Reich Gottes“ gemeint.

Und das bedeutet: Jede Religion, die auch solche Früchte trägt, kann nicht mit dem identifiziert werden, was die Bibel in ihren beiden Teilen mit Götzendienst, Gottlosigkeit, Sünde meinen. Damit ist ein Glaube an falsche Götter oder Todesmächte gemeint, die die Menschen versklaven, entrechten, töten, egal ob sich die entsprechenden Bewegungen nun als ägyptisches Pharaonenreich, kanaanäischer Baals- und Astartekult, römische Staatsverehrung, Kreuzrittertum, Nationalsozialismus, Stalinismus oder Islamischer Staat darstellen.

Im Dialog mit Menschen anderer Religionen, die zu eben diesem Dialog bereit sind, entdecke ich hingegen immer wieder erstaunliche Gemeinsamkeiten trotz der sehr unterschiedlichen Ausprägung des Glaubens. Am wichtigsten ist dabei die Barmherzigkeit Gottes, die in Tora, Evangelium und Koran im Mittelpunkt steht. In den interreligiösen Feiern, die wir seit einigen Jahren regelmäßig gemeinsam mit Muslimen und Aleviten feiern, zuletzt waren auch Jesiden dabei, gehen wir davon aus, dass es Gottes Gnade ist, die uns dazu fähig macht, nach dem Willen Gottes zu leben: Tora zu tun, Nächstenliebe zu üben, rechtgeleitet zu leben, in recht verstandener Menschenliebe miteinander verbunden zu sein.

Ich hoffe, ich habe Ihre Aufmerksamkeit nicht über Gebühr beansprucht und mich einigermaßen verständlich ausgedrückt. Für Rückfragen und Kritik bin ich selbstverständlich offen.

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