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Blinder Jünger Jesu

John Hull sagt zu Jesus: „Ich lebe immer im Dunkeln. Aber wer im Dunkeln lebt, ist für dich der Inbegriff des Bösen. Auch ich will Kind des Lichts sein, wenn mit diesem Licht Gottes Liebe gemeint ist! Du musst mich nicht heilen, aber würdest du mich als deinen Jünger annehmen, auch wenn ich blind bleibe?“

Eine Statue mit ausgebreiteten Armen im Dunkeln, rechts oben sieht man einen hellen Schimmer
Wie kann jemand, der immer im Dunkeln lebt, ein Kind des Lichts sein? (Bild: (El Caminante)Pixabay)

#predigtGottesdienst am Sonntag Estomihi, 10. Februar 2013, um 10.00 Uhr in der evangelischen Pauluskirche Gießen

This service in English!

In diesen Gottesdienst sind Gedanken aus folgendem Artikel von Professer John M. Hull eingeflossen:
Open Letter from a Blind Disciple to a Sighted Saviour

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Zur Zeit ist in der Stadt Fastnacht angesagt; in der evangelischen Kirche werden wir an diesem Sonntag allerdings schon auf die Leidenszeit Jesu eingestimmt.

Das Wort zur Woche aus dem Evangelium nach Lukas 18, 31, lautet:

Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.

Auf diesem Weg nach Jerusalem, so werden wir es nachher aus der Bibel hören, geschieht dann auch ein großartiges Wunder: Jesus heilt einen Blinden. Was uns diese Geschichte sagen kann, hören wir in der Predigt.

Lied 303, 1+5+6:

1. Lobe den Herren, o meine Seele! Ich will ihn loben bis in‘ Tod; weil ich noch Stunden auf Erden zähle, will ich lobsingen meinem Gott. Der Leib und Seel gegeben hat, werde gepriesen früh und spat. Halleluja, Halleluja.

5. Zeigen sich welche, die Unrecht leiden, er ist’s, der ihnen Recht verschafft; Hungrigen will er zur Speis bereiten, was ihnen dient zur Lebenskraft; die hart Gebundnen macht er frei, und seine Gnad ist mancherlei. Halleluja, Halleluja.

6. Sehende Augen gibt er den Blinden, erhebt, die tief gebeuget gehn; wo er kann einige Fromme finden, die lässt er seine Liebe sehn. Sein Aufsicht ist des Fremden Trutz, Witwen und Waisen hält er Schutz. Halleluja, Halleluja.

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. „Amen.“

Wir beten im Wechsel den Psalm 146. Er steht im Gesangbuch unter der Nr. 757:

1 Halleluja! Lobe den Herrn, meine Seele!

2 Ich will den Herrn loben, solange ich lebe, und meinem Gott lobsingen, solange ich bin.

3 Verlasset euch nicht auf Fürsten; sie sind Menschen, die können ja nicht helfen.

4 Denn des Menschen Geist muss davon, und er muss wieder zu Erde werden; dann sind verloren alle seine Pläne.

5 Wohl dem, dessen Hilfe der Gott Jakobs ist, der seine Hoffnung setzt auf den Herrn, seinen Gott,

6 der Himmel und Erde gemacht hat, das Meer und alles, was darinnen ist; der Treue hält ewiglich,

7 der Recht schafft denen, die Gewalt leiden, der die Hungrigen speiset. Der Herr macht die Gefangenen frei.

8 Der Herr macht die Blinden sehend. Der Herr richtet auf, die niedergeschlagen sind. Der Herr liebt die Gerechten.

9 Der Herr behütet die Fremdlinge und erhält Waisen und Witwen; aber die Gottlosen führt er in die Irre.

10 Der Herr ist König ewiglich, dein Gott, Zion, für und für. Halleluja!

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Was meint die Bibel, wenn sie sagt, dass Gott die Blinden sehend macht? Er heilt ja nicht alle Blinden. Ist das symbolisch gemeint? Geht es um Ein-Sicht, um Durch-Blick?

Gott, der du das Licht bist, schenke uns das Licht deiner Wahrheit, egal wie gut oder schlecht unsere Augen sehen können. Lass uns nicht blind sein für deine Liebe.

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Lasst uns beten mit Psalm 27, 1:

Der HERR ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der HERR ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen?

Lasst uns Gott lobsingen! Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende.

Der Herr sei mit euch! „Und mit deinem Geist!“

Oft sagen wir: „Der redet wie ein Blinder von der Farbe.“ Aber wir Sehenden reden oft gedankenlos von Blindheit, ohne blinde Menschen zu fragen, wie sie selber ihre Blindheit empfinden.

Wir bitten dich, Gott, dass wir mit der Sprache, die wir benutzen, niemanden verletzen. Lass uns eine Gemeinde sein, in der sich niemand ausgeschlossen fühlen muss. Darum bitten wir dich im Namen Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

Wir hören die Lesung aus dem Brief an die Epheser 5:

1 So folgt nun Gottes Beispiel als die geliebten Kinder

2 und lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat…

8 Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Lebt als Kinder des Lichts;

9 die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.

Herr, dein Wort ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege. Halleluja. „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Glaubensbekenntnis
Lied 302, 1+5+6+8:

1. Du meine Seele, singe, wohlauf und singe schön dem, welchem alle Dinge zu Dienst und Willen stehn. Ich will den Herren droben hier preisen auf der Erd; ich will ihn herzlich loben, solang ich leben werd.

5. Er weiß viel tausend Weisen, zu retten aus dem Tod, ernährt und gibet Speisen zur Zeit der Hungersnot, macht schöne rote Wangen oft bei geringem Mahl; und die da sind gefangen, die reißt er aus der Qual.

6. Er ist das Licht der Blinden, erleuchtet ihr Gesicht, und die sich schwach befinden, die stellt er aufgericht‘. Er liebet alle Frommen, und die ihm günstig sind, die finden, wenn sie kommen, an ihm den besten Freund.

8. Ach ich bin viel zu wenig, zu rühmen seinen Ruhm; der Herr allein ist König, ich eine welke Blum. Jedoch weil ich gehöre gen Zion in sein Zelt, ist’s billig, dass ich mehre sein Lob vor aller Welt.

Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Wir hören den Text zur Predigt aus dem Evangelium nach Lukas 18, 31-43:

31 [Jesus] nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.

32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden,

33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.

34 Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.

35 Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege saß und bettelte.

36 Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre.

37 Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei.

38 Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!

39 Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!

40 Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn:

41 Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann.

42 Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen.

43 Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.

Herr, schenke uns Einsicht des Herzens für dein Wort. Amen.

Liebe Gemeinde, ist das eine schöne oder eine ärgerliche Geschichte? Und wenn sie schön oder ärgerlich ist, welcher Teil ist schöner oder ärgerlicher?

Zuerst kündigt Jesus an, was man mit ihm machen wird: verspotten, misshandeln, anspucken, auspeitschen, elend verrecken lassen am Kreuz. Dass er am Ende auferstehen wird, kann man leicht überhören. Später im Lukasevangelium ist zu lesen, wie zwei Jünger nach Jesu Tod auf dem Weg nach Emmaus sich genau daran nicht erinnern können. Was Jesus hier voraussieht, ist für sie eine furchtbare Katastrophe und keine schöne Geschichte. Ganze drei Mal betont Lukas, dass die Jünger einfach nichts kapieren: Sie begreifen nicht, der Sinn der Worte Jesu ist ihnen verborgen, sie verstehen nicht, was er sagen will.

Unmittelbar danach erzählt Lukas, wie Jesus auf dem Weg zu seinem eigenen, persönlichen Elend einem Mann begegnet, der schon jetzt im Elend lebt. Er ist blind, das bedeutet damals: er kann sich nicht selber versorgen, er muss betteln, er gilt als bestraft von Gott, man schubst ihn herum und versucht ihn zum Schweigen zu bringen, als er sich in den Vordergrund drängt. An diesem Mann tut Jesus ein Wunder; Jesus heilt ihn, macht ihn sehend. Diesen zweiten Teil der Geschichte findet das Volk damals schön. Loblieder werden angestimmt, toll, dass Jesus so etwas tun kann, Blinde sehend machen. Damit beweist er, dass er wirklich der Sohn Davids ist und ein Friedenskönig sein wird, in dessen Reich niemand mehr im Elend leben oder krank und behindert bleiben muss.

Aber wie würde heute ein blinder Mensch auf den zweiten Teil unserer Geschichte reagieren? In meinem Studienurlaub vor anderthalb Jahren lernte ich den englischen Religionspädagogen John M. Hull kennen, der vor 33 Jahren im Alter von 45 Jahren sein Augenlicht verlor. Sehr beeindruckt war ich von einem „Offenen Brief an Jesus“, in dem er unter anderem darstellte, wie sehr ihn nach seiner Erblindung solche Wunderberichte von Jesus ärgerten. Natürlich freut er sich über jeden, der sein Augenlicht wiederbekommt. Aber Jesus heilt ja eben nicht jeden. Oder würde er das tun, wenn der einzelne Blinde mehr glauben, mehr beten, vielleicht einen Heilungsgottesdienst besuchen würde? John Hull fühlte sich nie frei, „solche Gottesdienste zu besuchen, weil das hätte missverstanden werden können. Manche Leute könnten denken, ich würde die Wiederherstellung meiner Sehkraft erwarten“, so seine Bedenken. Ihm kam es fast so vor, als ob Jesus sich nur für blinde Menschen interessieren würde, um sie heilen zu können. Aber warum war unter den Jüngern Jesu kein einziger Blinder?

Vor 34 Jahren machte ich, bevor ich meine erste Gemeindepfarrstelle antrat, ein Spezialpraktikum in einer Blindenschule. Damals in Friedberg sprachen wir im Unterricht einmal über das Gebet. Eine blinde Schülerin meinte: „Wenn ich eine schwierige Sache vor mir habe und ich bete, dann werde ich meistens ruhiger, dann strenge ich mich mehr an, dann gelingt es mir oft besser, manchmal aber auch nicht.“ Unmögliches würde sie nicht erbitten. Früher hätte sie oft geweint und gebetet: „Warum kann ich nicht sehen?“ Doch jetzt würde sie bitten: „Hilf mir, mit meiner Blindheit fertigzuwerden, gib mir Menschen, denen ich vertrauen kann.“

Ein anderer blinder Schüler fand die Geschichte nicht gut, wo Jesus mit Speichel und Lehm einen Blinden heilt. Das wäre ja nicht möglich. Er selbst habe vielleicht auch gar nicht den Wunsch, wieder sehen zu können. Aber trotzdem würde er beten, dann bekomme er wieder Hoffnung für sein Leben. Eine der 12jährigen Schülerinnen hatte ein Kruzifix, und wenn sie ganz traurig war, umfasste sie es beim Beten und fühlte den Mann am Kreuz und war getröstet.

Die blinden Schüler glaubten also an Jesus, fühlten sich von ihm angenommen. Aber mit den Geschichten, wie er Blinde heilt, konnten sie ebensowenig anfangen wie der blinde Professor John M. Hull.

Was machen wir nun mit der Geschichte, die uns Lukas erzählt?

Immerhin erzählt er nicht einfach nur von der Heilung. Durchaus einfühlsam schildert er den blinden Mann als sehr aktiv, nicht als nur passives Opfer seiner Behinderung. Als er die Menschenmenge hört, forscht er nach, was los ist. Er nutzt seine Fähigkeit, nachzufragen und erhebt lautstark seine Stimme und ruft: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Sogar als man ihn wütend anfährt, ist er nicht bereit, endlich Ruhe zugeben. Für diese Aufsässigkeit hat sowohl Lukas als auch Jesus Verständnis. Interessant ist auch, dass der blinde Mann der einzige im ganzen Lukasevangelium ist, der Jesus den Sohn Davids nennt. Vielleicht kann kein anderer besser als er die Hoffnung aller im Elend lebenden Menschen im Volk Israel in Worte fassen. Er besteht darauf: Wenn der Messias Jesus sein Friedensreich aufbaut, dann will er sich und seinesgleichen nicht ausschließen lassen.

Und was tut Jesus? Er lässt sich aufhalten. Er bleibt stehen. Warum geht er nicht selber hin zum Blinden? Vielleicht weil er ihm seine Art, aktiv zu bleiben, lassen will. Der blinde Mann muss geführt werden, und auf diese Weise kommt er selbstständig zu Jesus. Jesus erlaubt dem Blinden, in seine Nähe zu kommen, überschreitet aber nicht von sich aus eine Grenze, die der Blinde vielleicht nicht überschritten haben möchte. Und dann fragt Jesus: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Wieder lässt Jesus ihm die Verantwortung für sein Leben, nimmt ihn ernst als eigenständige Person.

Der konkrete Blinde in der konkreten Geschichte der Bibel will wieder sehen können. Ich vermute, dass seine spezielle Blindheit heilbar war, weil sie seelische und keine rein körperlichen Ursachen hatte. Wer erblindet war, weil er zum Beispiel als Kind Missbrauch erlebt hatte und das Schreckliche buchstäblich nicht mehr sehen wollte, der kann unter Umständen durch eine Psychotherapie sein Augenlicht wiedergewinnen. Indem Jesus ihm sagt: „Sei sehend!“, ermutigt er ihn, endlich wieder seine Augen zu gebrauchen und die Welt neu wahrzunehmen. Sie ist nicht nur schrecklich, nicht nur blutrot, sie hat auch die Farbe der Hoffnung und der Liebe. „Dein Glaube, dein Vertrauen hat dir geholfen.“

Aber stellen wir uns auch einmal vor, der blinde Mann damals wäre nicht in seinem Urvertrauen geschädigt, sondern aus einer rein körperlichen Ursache heraus blind gewesen. Ich möchte so weit gehen, mir ein Gespräch zwischen Jesus und dem von mir erwähnten blinden Professor auszumalen. Immerhin hat John Hull ja selber einen Offenen Brief an Jesus verfasst; was hätte er wohl auf die Frage Jesu geantwortet: „Was willst du, das ich für dich tun soll?“

Ich denke, Professor Hull hätte vielleicht gesagt: „Ich weiß, dass meine Erblindung auf körperliche Ursachen zurückgeht. Selbst du kannst mir mein Augenlicht nicht zurückgeben. Aber ich danke dir, dass du mich fragst, was du für mich tun sollst.

Ich werde dich jetzt nicht um Bücher in Blindenschrift bitten oder um einen guten MP3-Player oder um einen Computer, damit ich mich per Email mit anderen Menschen verständigen kann, denn all diese Dinge gab es zu deinen Lebzeiten noch nicht. Dennoch bin ich Gott dankbar dafür, dass er Menschen inzwischen dazu fähig gemacht hat, alle diese Dinge zu erfinden, denn sie sind ein großer Segen für mich, um lesen zu können und mich mit anderen Menschen auszutauschen, ja, um weiter wissenschaftlich arbeiten zu können.

Es gibt aber doch etwas, um das ich dich bitten möchte. Ich bitte dich um Verständnis für meine Situation als blinder Mensch. Du hast dich einmal über die Pharisäer geärgert und sie beschimpft (Matthäus 15, 14):

Lasst sie, sie sind blinde Blindenführer! Wenn aber ein Blinder den andern führt, so fallen sie beide in die Grube.

Ich weiß, dass du das sinnbildlich gemeint hat, aber so ein Satz verletzt mich trotzdem. Denn eigentlich müsstest du wissen, dass ein blinder Mensch, der sich mit einem Weg vertraut gemacht hat, sehr gut einen anderen Blinden führen kann. Besser sogar als mancher Sehender. Als mich einmal ein sehender Freund durch ein Kaufhaus führte, verlor ich beinahe den Boden unter den Füßen. Das ist auch so etwas, das es zu deiner Zeit noch nicht gab. ‚Sorry‛, sagte er, ‚ich vergaß, dir zu sagen, dass hier eine Rolltreppe ist.‛“

Und weiter könnte John Hull zu Jesus gesagt haben: „Ich finde es auch nicht gut, wenn du das Leben in der Finsternis als Bild für die Sünde verwendest. Ich lebe immer im Dunkeln, für mich gibt es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Aber solche Menschen sind für dich der Inbegriff des Bösen. Verstehst du: Auch ich möchte mich als Kind des Lichts fühlen, wenn mit diesem Licht Gottes Liebe gemeint ist! Du musst mich nicht heilen, das erwarte ich nicht, aber würdest du mich als deinen Jünger annehmen, auch wenn ich blind bleibe?“

Wer weiß, vielleicht hätte Jesus geantwortet: „Du hast besser verstanden als meine Jünger, was ich ihnen eben gesagt habe. Wir sind ja auf dem Weg nach Jerusalem, und ich habe ihnen gesagt, was schon die Propheten vorausgesehen haben, und zwar nicht mit ihren körperlichen Augen, sondern mit ihrem Herzen, mit Augen des Glaubens. Man wird mich den römischen Behörden ausliefern, den Heiden, die nicht an den einen Gott glauben, der uns frei macht. Man wird mich verspotten, misshandeln, anspucken, auspeitschen und töten. Aber nichts davon begreifen sie, und erst recht nicht, dass das alles trotzdem nicht das Ende sein wird. Meine Feinde können nicht Gottes Liebe töten. Alle Bosheit der Menschen kann nicht verhindern, dass Gott mich auferwecken wird zu einem neuen, ewigen Leben. Meine Jünger haben davon nichts kapiert.“

An dieser Stelle würde John Hull Jesus unterbrechen: „Sag mir, verstehe ich dich also richtig, dass du wirklich, wie der Knecht Gottes, von dem der Prophet Jesaja spricht, ‚unsere Krankheit auf dich nimmst und unsere Gebrechen mit uns erträgst‛? (Jesaja 53, 4) Wenn du das tust, dann hilft mir das viel mehr, als wenn du einem einzelnen Blinden die Blindheit wegnimmst, aber alle anderen bleiben ohne Hilfe.“

„Ja“, würde Jesus sagen. „Du mein blinder Jünger mit deinen blinden Augen blickst tiefer als meine sehenden Jünger, die ihre heilige Schrift nicht kennen, und das Volk, das sensationelle Wunder sehen will. Es kann ein größeres Wunder sein, wenn man eine Behinderung auf sich nehmen und damit leben kann, als wenn man sie mit einem Fingerschnipps weggenommen bekommt. Deine Worte machen übrigens auch mir selber Mut, denn was auf mich wartet, wird nicht leicht zu tragen sein. Ich danke dir, dass du mir hilfst, meinen eigenen Weg zu gehen, einen Kelch zu trinken, den ich eigentlich nicht trinken möchte.“

Soweit das ausgedachte Gespräch Jesu mit seinem blinden Jünger, dem Professor John M. Hull.

Später erzählt Lukas in seinem Evangelium, auf welche Weise die Männer, die Jesus gefangen halten, ihn verspotten und schlagen: Sie halten ihm die Augen zu und fragen ihn: „Weissage, wer ist’s, der dich schlug?“ (Lukas 22, 63-64) Sie demütigen ihn, indem sie ihn wie einen Blinden behandeln und dafür verspotten; am eigenen Leibe erfährt Jesus, was manche blinde von manchen sehenden Menschen erdulden müssen. In seinem Offenen Brief an Jesus schrieb John Hull über diese Szene: „Du bist ein Partner in meiner Welt geworden, einer, der mein Schicksal teilt, mein blinder Bruder.“

Noch später, kurz bevor Jesus am Kreuz stirbt, erzählt Lukas 23, 44-45:

Es kam eine Finsternis über das ganze Land…, und die Sonne verlor ihren Schein.

So muss Jesus sterben: die Welt wird für ihn vollkommen finster, er wird für die letzten Minuten seines Lebens praktisch blind, er muss den Spott derer aushalten, die ihn gekreuzigt haben und über ihn sagen (Lukas 23, 35):

Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes.

Jesus kann sich tatsächlich nicht vom Kreuz befreien. Er kann das Licht der Welt nicht mehr sehen. Und doch stirbt er nicht in totaler Verzweiflung. Vielmehr vertraut er sich dem Gott an, von dem er sich verlassen fühlt, der ihn aber auch in der Gottverlassenheit nicht verlässt. Zu ihm schreit er (Lukas 23, 46):

Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!

Da geschieht das wirklich große Wunder: er kann Vertrauen bewahren sogar in dunkelster Finsternis, im tiefsten Elend, verurteilt und verspottet von Feinden, im Stich gelassen sogar von Freunden.

Einen Jesus, der übernatürliche Wunder tut, brauche ich genau so wenig wie Professor John M. Hull. Aber ich finde es wunderbar, auf diesen Jesus vertrauen zu dürfen, der unsere Gebrechen und Vergehen trägt – so dass wir umkehren können von dem, was wir ändern können, und ertragen können, was nicht zu ändern ist.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.
Lied 236: Augen gabst du mir, sehen kann ich nicht

Lasst uns beten und unsere Fürbitten jeweils gemeinsam mit den Worten vor Gott bringen: Gott, unsere Hoffnung: „Wir bitten dich, erhöre uns!“

Barmherziger Gott, wir bitten dich für Menschen, die unter Behinderungen leiden oder darunter, dass Menschen, die sich nicht behindert fühlen, sie in ihren Lebensmöglichkeiten behindern. Hilf uns, dass wir einander annehmen, wie wir sind, mit unseren starken Seiten und unseren Fehlern und Schwächen, so dass wir gemeinsam den Leib Jesu, deine Gemeinde bilden, und einander dabei helfen mit unseren Stärken unsere Schwächen auszugleichen. Gott, unsere Hoffnung: „Wir bitten dich, erhöre uns!“

Barmherziger Gott, wir bitten dich, dass wir uns klar machen, was die wirklichen Wunder sind, die du auch heute noch in unserer Welt und auch an uns wirkst: dass wir Hoffnung gewinnen in auswegloser Lage, dass wir Vertrauen wagen inmitten unserer Angst und dass wir in einer nicht sehr gerechten und solidarischen Welt auf Liebe bauen und Liebe üben. Gott, unsere Hoffnung: „Wir bitten dich, erhöre uns!“

In der Stille bringen wir vor dich, Gott, was wir persönlich auf dem Herzen haben:

Gebetsstille und Vater unser
Lied 629: Liebe ist nicht nur ein Wort
Abkündigungen

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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