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Verlassen – und dennoch aufgenommen

Trauerfeier für eine Frau, in deren Familie es viele Erfahrungen gab, verlassen zu werden. Aber glückliches Leben wurde möglich, weil man es auch erleben konnte, aufgenommen zu werden.

Verlassen - und dennoch aufgenommen: Schatten von Vater, Mutter und zwei Kindern auf einer Wiese
Die Bibel kennt die Erfahrung des Verlassenwerdens (Bild: MonsterkoiPixabay)

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.

Liebe Trauergemeinde, wir sind hier versammelt, um Abschied zu nehmen von Frau W., die im Alter von [über 70] Jahren gestorben ist.

Wir denken zurück an ihr Leben.

Wir denken zurück an gemeinsam verlebte Zeit und denken nach über Prägungen, die uns bleiben.

Und wir besinnen uns auf Worte Gottes, die für uns gelten im Leben und im Sterben, im Tod und in der Ewigkeit.

Lasst uns beten mit Worten aus Psalm 27:

1 Der HERR ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der HERR ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen?

7 HERR, höre meine Stimme, wenn ich rufe; sei mir gnädig und erhöre mich!

9 Verbirg dein Antlitz nicht vor mir, verstoße [mich] nicht im Zorn…! Denn du bist meine Hilfe; verlass mich nicht und tu die Hand nicht von mir ab, Gott, mein Heil!

10 Denn mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der HERR nimmt mich auf.

11 HERR, weise mir deinen Weg und leite mich auf ebener Bahn…

12 Gib mich nicht preis dem Willen meiner Feinde!

13 Ich glaube aber doch, dass ich sehen werde die Güte des HERRN im Lande der Lebendigen.

14 Harre des HERRN! Sei getrost und unverzagt und harre des HERRN!

Liebe Trauergemeinde!

Als ich über Frau W. nachdachte, fiel mir Psalm 27, 10 ein, den wir eben gebetet haben:

Denn mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der HERR nimmt mich auf.

Verlassensein und dennoch Aufgenommenwerden – solche Erfahrungen ziehen sich durch das Leben der Verstorbenen hindurch.

Erinnerungen an entsprechende Erfahrungen im Leben der Verstorbenen

Auch in der nächsten Generation wiederholten sich Erfahrungen von Verlassenwerden und von Aufgenommensein.

Es ist traurig, wenn Familien auseinanderbrechen – sei es durch Tod oder Trennung, durch Schicksalsschläge oder menschliches Unvermögen. Doch in den Augen Gottes scheint es nicht so wichtig zu sein, welche Blutsbande uns mit anderen Menschen verbinden. Viel wichtiger ist es, wer uns aufnimmt, wer für uns sorgt, von wem wir die Liebe spüren, ohne die wir nicht leben können.

Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der HERR nimmt mich auf.

Unser Herr Jesus selbst hat es am eigenen Leibe erfahren – geboren von einer Jungfrau, das stellen wir uns relativ unglaublich und ansonsten himmlisch idyllisch vor – aber was hieß das damals: den Namen der Mutter zu tragen? Fast wäre es auch in seiner Familie so weit gekommen, dass Marias Verlobter sich von ihr getrennt hätte; Josef war nahe dran, sie und ihr Kind im Stich zu lassen – es war ja nicht von ihm. Doch dann geschieht das Wunder – eins von den wirklich schönen Weihnachtswundern: Josef entwickelt Vaterstolz und väterliche Verantwortung – und die Heilige Familie ist komplett (Matthäus 1, 18-25).

Wie schön, dass es so etwas bis heute gibt! Da gibt es Kinder, die väterliche oder mütterliche Liebe entbehren müssen – und andere liebevolle Menschen sind da, die einfach einspringen, wo sie gebraucht werden. Vielleicht konnte Frau W. das deswegen so gut tun, weil sie aus eigener Erfahrung wusste, wie weh es tut, Mutter und Vater früh im Leben zu verlieren – und später auch ein eigenes Kind.

Ein zurückgezogenes Leben führte Frau W., die Familie war ihr Lebensmittelpunkt. Früher las und strickte sie gern, oder sie puzzelte und spielte Karten, aber groß nach draußen zog es sie nicht. Durch gesundheitliche Beeinträchtigung verstärkte sich das noch, in den letzten Jahren kam sie kaum noch nach draußen.

Nun hat sie ihren letzten Umzug angetreten – den Weg, den wir alle einmal gehen werden, von dem unser Herr Jesus Christus sagt (Johannes 14, 2):

In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. … Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten.

Insofern können wir den Psalmvers von vorhin heute auch noch in einem anderen Sinn lesen und hören (Psalm 27, 10):

Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der HERR nimmt mich auf.

Je älter wir werden, erfahren wir es alle, dass Vater und Mutter uns verlassen – oder dass wir diese Welt verlassen und damit alle, die wir auf dieser Welt liebhaben. Dann zu wissen, dass wir trotzdem nicht allein auf der Welt sind, selbst dann nicht, wenn wir die uns vertraute Welt verlassen, mit unbekanntem Ziel, ist tröstlich.

Die Bibel lässt uns hoffen, ja sogar gewiss sein:

Der HERR nimmt mich auf.

Es ist nichts weiter nötig als schlichtes Vertrauen auf den Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat, auf den Gott, der größer ist als das Weltall und klein wie das Kind in der Krippe im Stall zu Bethlehem. Dieser Herr nimmt uns an, wenn wir verlassen sind – mutterseelenallein. Er nimmt uns an, selbst wenn wir uns unannehmbar fühlen. Er nimmt uns tröstend wie eine Mutter in die Arme, wenn wir verzweifeln. Er nimmt uns auf, wenn wir sterben. Er nimmt auch Frau W. gnädig in seinem Himmel auf und wird sie vermutlich auch so anreden wie alle, die sie geliebt haben: Hier bist du zu Hause, für immer und ewig.

Oder hören Sie diesen Psalmvers noch einmal anders?

Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der HERR nimmt mich auf.

Sie haben Ihre Mutter verloren, die Oma, die Frau, die Ihnen viel bedeutet hat. Das bedeutet Abschied nehmen, und das tut weh. In dieser Situation ist es gut zu wissen: Liebe hört nicht auf, wenn ein Mensch stirbt, der geliebt hat. Liebe ist in dieser Welt, weil Gott die Liebe ist und weil Gott in diese Welt ganz viel von seiner Liebe investiert hat. Oft spüren wir wenig davon, doch die Chance, Liebe zu spüren und vor allem Liebe zu geben, haben wir alle jederzeit.

Gerade die Weihnachtszeit, die für viele Menschen eine Zeit der Erinnerung an enttäuschte Sehnsucht ist, bietet sich an, sich auf verschüttete Erfahrungen von Liebe zu besinnen. Es gibt so vieles, was unwichtig ist. Es gibt so viele Klagen, die ins Leere laufen. Es gibt so viel Unzufriedenheit, die überflüssig ist. Wesentlich ist, die Menschen wahrzunehmen, die unsere Liebe brauchen. Oft stillen gerade sie auch unseren Hunger nach Liebe.

Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der HERR nimmt mich auf.

Wir müssen leben in dieser Welt – mit Verlassenheit, mit Schmerz, mit Trauer. Und doch können wir getrost unsere Verstorbenen loslassen und unser Leben zuversichtlich leben. Amen.

EG 533: Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand

Barmherziger Gott, nimm Frau W. gnädig auf in dein himmlisches Reich. Bewahre uns alle in deiner Liebe und hilf uns, dass wir einander beistehen in guten und schweren Zeiten, in der Freude und im Leid. Schenke uns Lebensmut und lass uns dankbar bewahren, was uns in den Prägungen und Begegnungen mit Frau W. geschenkt war. Lehre uns bedenken, dass wir alle sterben müssen und mach uns bewusst, wie kostbar das Leben ist, das du uns auf Zeit anvertraut hast. Lass uns verantwortlich leben in dieser Welt und dazu beitragen, dass Kinder sich nicht verlassen fühlen müssen, sondern unsere väterliche und mütterliche Liebe spüren. Amen.

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