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Die Bibel – ein Buch mit sieben Siegeln?

Wenn uns das Vertrauen zu Gott fehlt, können wir die Bibel nur missverstehen. In dem Maße aber, wie beim Bibellesen unser Gottvertrauen wächst, wird auch unser Verstehen der Bibel wachsen. Wer sich allein sehr schwer tut mit der Bibel, dem kann ich nur raten: Kommen Sie in den Bibelkreis, der für jeden offen ist, gerade auch für kritische Mitdenker!

Sieht so für viele Menschen die Bibel aus - fest verschlossen wie mit sieben Siegeln? (Bild: pixabay.com)
Sieht so für viele Menschen die Bibel aus – fest verschlossen wie mit sieben Siegeln? (Bild: gerardomPixabay)

Ökumenischer Abendgottesdienst am Dienstag, 26. Januar 1988 in Reichelsheim
Orgelvorspiel – Dia vom Weltgebetstag

Im Ökumenischen Abendgottesdienst zum Bibelsonntag begrüße ich Sie alle herzlich in der Reichelsheimer Kirche! Wir benutzen die Kirche ja schon seit Beginn des Neuen Kirchenjahres wieder beide, die evangelische und die katholische Gemeinde, aber zum erstenmal seit der Renovierung sind wir hier zu einem gemeinsamen Gottesdienst zusammen. In diesem Jahr hat der Ökumenekreis beschlossen, dass das Thema dieses Gottesdienstes im Zusammenhang mit dem Bibelsonntag stehen soll, der immer Ende Januar angesetzt wird. Ein Jesajatext steht im Mittelpunkt, und von diesem Text her, den wir nachher hören werden, ist auch das Motto abgeleitet: „Die Bibel – ein Buch mit sieben Siegeln?“ Es geht um die Frage: „Was ist, wenn wir die Bibel aufschlagen und lesen – und wir verstehen nichts, wir sind verwirrter als zuvor?“

Lied 155, 1+2+4: Herr Jesu Christ, dich zu uns wend
Eröffnungsgebet (Bosold / Kleespieß)
Lied EKG 48, 3+4: Gieß sehr tief in mein Herz hinein
Schriftlesung: Jesaja 29, 9-16 (Petschull)

9 Starret hin und werdet bestürzt, seid verblendet und werdet blind! Seid trunken, doch nicht vom Wein, taumelt, doch nicht von starkem Getränk!

10 Denn der HERR hat über euch einen Geist des tiefen Schlafs ausgegossen und eure Augen – die Propheten – zugetan, und eure Häupter – die Seher – hat er verhüllt.

11 Darum sind euch alle Offenbarungen wie die Worte eines versiegelten Buches, das man einem gibt, der lesen kann, und spricht: Lies doch das!, und er spricht: »Ich kann nicht, denn es ist versiegelt«;

12 oder das man einem gibt, der nicht lesen kann, und spricht: Lies doch das!, und er spricht: »Ich kann nicht lesen.«

13 Und der Herr sprach: Weil dies Volk mir naht mit seinem Munde und mit seinen Lippen mich ehrt, aber ihr Herz fern von mir ist und sie mich fürchten nur nach Menschengeboten, die man sie lehrt,

14 darum will ich auch hinfort mit diesem Volk wunderlich umgehen, aufs wunderlichste und seltsamste, dass die Weisheit seiner Weisen vergehe und der Verstand seiner Klugen sich verbergen müsse.

15 Weh denen, die mit ihrem Plan verborgen sein wollen vor dem HERRN und mit ihrem Tun im Finstern bleiben und sprechen: »Wer sieht uns, und wer kennt uns?«

16 Wie kehrt ihr alles um! Als ob der Ton dem Töpfer gleich wäre, dass das Werk spräche von seinem Meister: Er hat mich nicht gemacht! und ein Bildwerk spräche von seinem Bildner: Er versteht nichts!

Liebe Gemeinde!

Die Bibel, ein Buch mit sieben Siegeln? Diesen Ausspruch haben wir wohl alle schon mal gehört. Viele von uns Christen verhalten sich auch so, als sei die Bibel wirklich mit sieben Siegeln verschlossen. Denn zwar ist die Bibel das meistgekaufte Buch der Welt, aber noch lange nicht das meistgelesene.

Sieben Siegel – ich möchte sie begreifen als sieben Hindernisse auf dem Weg, die Bibel zu verstehen. Sieben Siegel können uns die Bibel verschlossen halten; aber – bitte verstehen Sie mich recht – das muss nicht in jedem Fall so sein. Von den sieben Siegeln spreche ich nur, um Wege zu zeigen, sie zu öffnen. Und zwar spreche ich von den inneren Schwierigkeiten, die wir mit der Bibel haben. Ich möchte heute abend, zusammen mit Ihnen, diesen sieben Siegeln nachspüren. Mal schauen, ob wir sie öffnen können.

1. Siegel: Ich kann nicht lesen!

Ich gehe von dem Beispiel aus, das Jesaja anführt. Wenn ich zu einem Kind sage: Lies die Bibel, und es hat noch nicht lesen gelernt, dann kann es nicht tun, was ich verlange. Aber ich kann ihm vorlesen, vielleicht aus der Kinderbibel. Oder wenn ich zu jemand, der alt geworden ist, sage: Lesen Sie doch mal in der Bibel! – aber seine Augen haben keine Sehkraft mehr, dann kann er es einfach nicht allein. Aber ich weiß von Enkeln oder Urenkeln, die ihren Groß- oder Urgroßeltern gerne vorlesen. So kann ein solches Siegel, nicht lesen zu können, sehr leicht geöffnet werden, wenn eins bereit ist, dem anderen zu helfen.

Aber ich will doch noch einmal prüfen, ob wir wirklich alle lesen können. – Ich habe hier eine Bibel. Versuchen Sie mal, uns daraus etwas vorzulesen… Aber Sie haben lesen gelernt? (Hebräische Bibel). Oder wie ist es mit dieser Bibel… (Griechische Bibel)?

2. Siegel: Fremde Sprache!

Was ist das Problem? Ganz einfach, den Urtext der Bibel werden die meisten unter uns nicht entziffern können, denn sie ist in Hebräisch und Griechisch geschrieben. Sie muss in eine Sprache übersetzt werden, die wir verstehen und lesen können. Theologen und Bibelgelehrte tun das für uns. In unserer evangelischen Kirche Martin Luthers Übersetzung am bekanntesten, die im deutsch-sprachigen Raum seit Hunderten von Jahren im Gebrauch ist.

Aber nun versuchen sie einmal, in dieser schon sehr alten Bibel im Kapitel 29 den Vers 16 zu lesen.

3. Siegel: Altertümlichkeit!

Ja, da taucht eine dritte Schwierigkeit auf, das dritte Siegel sozusagen. Viele Leute haben zwar eine Bibel im Schrank. Aber da liegt schon der Staub drauf, und die Bibel ist auch schon ziemlich alt, und wenn dann z. B. der Konfirmand zu seinen Eltern sagt: Ich soll was in der Bibel lesen für Konfe, dann wird die Traubibel der Eltern gesucht oder die Familienbibel der Großeltern, und erstmal der Staub heruntergepustet. Und wenn sie dann aufgeschlagen ist, dann passiert vielleicht das, was auch hier eben passiert ist: Es klappt nicht mit dem Lesen, weil a) mancher die alte deutsche Frakturschrift, die zwar sehr feierlich aussieht, nicht mehr entziffern kann, und weil b) die Übersetzung nicht ganz auf dem neuesten Stand ist. Dagegen hilft nun ein ganz einfaches Mittel: Das alte gute Stück wieder in den Schrank stellen, vielleicht ein bisschen staubgeschützter, sozusagen als Museumsstück, und zum täglichen Gebrauch eine neue Übersetzung kaufen; es muss ja keine teure sein mit Goldschnitt und Ledereinband; eine Jubiläumsausgabe für zehn Mark tut’s auch schon. Hauptsache, ich kann lesen, was drin steht.

Nun sind wir bei einer neueren Übersetzung angelangt. Drei weitverbreitete Bibelübersetzungen gibt es heute, die z. T. auch ökumenisch gegenseitig anerkannt sind oder sogar gemeinsam herausgegeben worden sind. Das ist die Einheitsübersetzung aus dem katholischen Bereich, die Lutherübersetzung in der Überarbeitung von 1984 und die Gute Nachricht in heutigem Deutsch, von der auch schon ungefähr 1 Million Exemplare verkauft worden sind.

Warum gibt es eigentlich so viele Übersetzungen? Warum kann man in der anderen Sprache die Bibel nicht eindeutig übersetzen? Heißt das denn, dass Gottes Wort beliebig veränderbar ist?

Nehmen wir ein Beispiel heraus. Eine Stelle, an der Paulus seine Leser anredet und ihnen sagt, was sie (noch) nicht sind und wofür er sie hält. Bitte lesen Sie nun in Ihrer Bibel einmal dort, wo das Zeichen drinsteckt, in 1. Korintherbrief 3, 1:

Und ich, liebe Brüder, konnte nicht zu euch reden wie zu geistlichen Menschen, sondern wie zu fleischlichen, wie zu unmündigen Kindern in Christus.

Das war Martin Luthers Übersetzung, in der neuesten Überarbeitung. Nach Luther sind die Leser des Paulus nicht „geistlich“, sondern „fleischlich“. Alles klar? Wissen Sie genau, was „fleischlich“ hier bedeutet? Bitte jetzt Sie…

Vor euch, Brüder, konnte ich aber nicht wie vor Geisterfüllten reden; ihr wart noch irdisch eingestellt, unmündige Kinder in Christus.

Das war die Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift (© 1980 by Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart), die – was das Neue Testament und die Psalmen betrifft – eine von beiden Konfessionen anerkannte Übersetzung ist. Merken wir uns nun auch, wie da von Paulus seine Leser angesprochen werden: nicht „geisterfüllte“, sondern „irdisch eingestellte“ Menschen. Und noch einmal der gleiche Vers, bitte lesen Sie…

Zu euch, Brüder, konnte ich bisher nicht reden wie zu Menschen, die vom Geist bestimmt sind. Ich musste euch behandeln wie Menschen, die von ihrer selbstsüchtigen Natur bestimmt werden und im Glauben noch Kinder sind.

Das ist nun die Gute Nachricht in heutigem Deutsch (GNB); hier sind die Paulusleser nicht „vom Geist bestimmt“, sondern „von ihrer selbstsüchtigen Natur bestimmt“.

Geistlich, geisterfüllt, vom Geist bestimmt – das ist ungefähr das Gleiche; fleischlich, irdisch eingestellt, selbstsüchtig – das klingt schon sehr viel verschiedener, aber es geht alles auf das gleiche griechische Wort zurück, das wörtlich „fleischlich“ bedeutet. Aber es hat nichts mit dem Metzger zu tun, sondern ist ein Bildwort für das Hängen am Materiellen und für das egoistische Wesen des Menschen, der sich nicht von Gott bestimmen lassen will. Merken Sie, wie der Versuch einer wörtlichen Übersetzung zu Missverständnissen führen kann und wie jede Übersetzung schon ein Stück Auslegung ist? Jede Sprache ist in ihrem Aufbau anders, jede Übersetzung ist daher ein Versuch, sich der Bedeutung eines Textes in einer anderen Sprache anzunähern; und deshalb fahren die Wissenschaftler fort, immer wieder neu die Bibel zu übersetzen. Schließlich, am Beispiel Luthers haben wir es ja schon gesehen: auch ein und dieselbe Sprache verändert sich ständig. Eine neuere Übersetzung kann also, auch wenn sie nicht wörtlich ist, näher am Sinn des Urtextes sein.

Im Bibelkreis haben wir gemerkt, dass es sehr sinnvoll ist, mehrere Übersetzungen nebeneinander zu lesen, denn dann legen sich die verschiedenen Übersetzungen schon gegenseitig aus. Und für den persönlichen Gebrauch können wir uns diejenige Übersetzung heraussuchen, die uns am vertrautesten ist oder am verständlichsten erscheint.

4. Siegel: Fehler und Widersprüche in der Bibel!

Aber nun treffen wir noch auf Schwierigkeiten, die sich aus dem Text selbst ergeben. Was ist z. B., wenn sich zwei Übersetzungen total widersprechen? Wenn ein Fachmann da ist, kann der den Urtext zu Rate ziehen, und vielleicht stellt er fest: Auch die überlieferten Texte, die ja in Hunderten von Jahren immer wieder abgeschrieben worden sind, sind manchmal fehlerhaft weitergegeben worden. Da gibt es Schreibfehler, da gibt es verschiedene Abschriften, in denen Unterschiedliches steht. Die Theologen haben dann alle Mühe, herauszufinden, was wohl der ursprüngliche Text gewesen sein könnte. Ist das nicht ein weiteres Siegel für das Verständnis der Bibel: Wenn der Text selber gar nicht eindeutig überliefert wurde, lesen wir dann überhaupt wirklich Gottes Wort, oder haben wir vielleicht nur Texte in den Händen, die von den Abschreibern schon ganz entstellt worden sind? Siegel Nummer 4: Wir merken, die Überlieferung der Bibel ist eine menschliche Tat gewesen, und ist von unvollkommenen Menschen geleistet worden, wie es heute Druck- und Computerfehler gibt, so gab es schon immer Fehler beim mündlichen Weitererzählen und beim Abschreiben.

Das ist nun etwas, was vielen Menschen schwerfällt, zu begreifen: Dass die Bibel ein Werk von Menschenhand sein soll. Was ist sie denn nun? Gottes Wort oder Menschenwort? Sie ist zumindest nicht in der Weise Gottes Wort, dass Gott sie wortwörtlich diktiert hat. Menschen haben Erfahrungen mit Gott gemacht, davon waren sie ergriffen, und ihr ganzes Leben änderte sich durch Gott; davon haben sie weitererzählt, diese Erzählungen wurden später aufgeschrieben, immer wieder abgeschrieben, und so sind die alten Glaubensgeschichten zu uns gelangt. Und hier in unserer Zeit sollen diese Geschichten nun wieder uns einen Anstoß geben, selber Erfahrungen zu machen mit Gott, eigene Erfahrungen, als Menschen, die aber von den Menschen der Bibel viel lernen können.

5. Siegel: Sagt die Bibel immer die Wahrheit?

Es kann aber auch sein, dass wir ein Wort aus der Bibel lesen und sofort denken: Das kann doch nicht wahr sein! So etwas soll tatsächlich passiert sein? Die Wundergeschichten der Bibel sind für viele das größte Hindernis, die Bibel zu verstehen oder überhaupt ernst zu nehmen: Siegel Nummer 5! Dass Jesus auf dem Meer tatsächlich zu Fuß herumspaziert sei, das gibt z. B. eher Stoff für Witzblätter ab, als dass es heute noch Menschen zum Glauben hilft.

Aber Wahrheit ist nicht immer gleichbedeutend mit: „Das ist tatsächlich passiert und buchstäblich zu nehmen!“ Wahrheit kann auch eine innere, seelisch bedeutsame und zugleich weltbewegende Sache sein, die man nicht in Begriffen allein, sondern angemessen nur in Bildern und Symbolen ausdrücken kann. So ist die Erzählung von Jesu Wandel auf dem Meer eine Glaubensgeschichte, die bis heute Menschen geholfen hat, ihr Vertrauen ganz auf Jesus zu richten.

6. Siegel: Missbrauch mit Gottes Wort!

Auf Siegel Nummer 6 stießen wir vor kurzem im Bibelkreis und im Kirchenvorstand: Im Bibelkreis stellten wir empört fest, dass Gott in der Bibel, im 3. Buch Mose, angeblich die Mädchen gegenüber den Jungen als minderwertig betrachtet. Und im Kirchenvorstand sprachen wir über das Thema, dass zu allen Zeiten Menschen versucht haben, Gott und Jesus für ihre eigenen Zwecke einzuspannen. Ein Geistlicher segnete die Atombombe für Hiroshima. Auch die Südafrikaner nennen sich Christen, die die Rassentrennung befürworten, im Namen der Bibel. Manchmal kann man sich fragen, wer mehr Recht hat, die Bibel in Anspruch zu nehmen, die Kapitalisten oder die Kommunisten, letztlich wahrscheinlich keiner von beiden, aber beide versuchen sie es. Ist die Bibel wirklich so verformbar, so anpassungsfähig, kann man mit ihr alles beweisen und auch die schlimmsten Ideologien stützen?

Wir stellen fest, dass Gottes Wort in menschlichen Worten überliefert wird. Schon in der Bibel ist dieses Wort dem Missbrauch ausgesetzt. Schon damals haben Männer ungeniert und unbekümmert von ihren Vorrechten Gebrauch gemacht und ihre Vormachtstellung mit angeblichen Worten Gottes gerechtfertigt. Auch Paulus ist davon nicht frei, der einfach immer nur die „Brüder“ in den Gemeinden anredet und die „Schwestern“ ständig außer acht lässt. Gottes Wort in menschlichem Gewand ist also sehr verletzlich, sehr ungeschützt gegen Missverständnisse. Man kann das Gegenteil herauslesen von dem, was es eigentlich meint. Man muss manchmal die Bibel kritisch lesen, um herauszufinden, was wirklich Gottes Wort ist. Es gibt keinen äußeren Schutz vor dem Missbrauch. Hier hilft nur die Bitte um Heiligen Geist, die wir in diesem Gottesdienst in den Liedern auch aussprechen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Gottes Wort sich durchsetzen kann und dass man es nicht beliebig hinbiegen darf, wie man es eben will. Das wird zwar getan, immer wieder, und oft genug versuchen wir es auch, uns die Bibel an uns anzupassen, statt dass wir uns von der Bibel anrühren, bewegen, verändern lassen. Aber das ist ein Missbrauch der Bibel, und auf die Dauer merken wir das auch. Wenn wir die Bibel gemeinsam lesen und uns gegenseitig auf die Sprünge helfen, dann fällt es uns leichter, den Missbrauch zu vermeiden.

7. Siegel: Heilsame Verwirrung!

Das war das sechste Siegel. Und nun kann es sein, dass wir alles getan haben, um uns der Bibel zu nähern, und wir sind trotzdem verwirrter als zuvor. Es kann sein, dass Sie heute abend aus diesem Gottesdienst gehen und sagen: Jetzt ist in mir etwas kaputt gegangen. Ich dachte, alles stünde so schön klar in der Bibel, und nun ist alles viel komplizierter, als ich gedacht hatte. Das hoffen wir nicht, aber es ist möglich. Und wenn es so ist, dann bitten wir Sie dringend: Kommen Sie nachher noch auf ein kurzes Nachgespräch mit in den Gemeindesaal. Es wäre nicht gut, dann einfach so nach Hause zu gehen.

Den Leuten damals, die den Propheten Jesaja gehört haben, ist es jedenfalls so gegangen, dass sie verwirrt waren und meinten, sie verstünden nun überhaupt nichts mehr. Aber von dieser Verwirrung wird gesagt, dass Gott sie selber herbeigeführt hat.

Was soll denn das bedeuten?

10 Der HERR hat über euch einen Geist des tiefen Schlafs ausgegossen und eure Augen – die Propheten – zugetan, und eure Häupter – die Seher – hat er verhüllt.

11 Darum sind euch alle Offenbarungen wie die Worte eines versiegelten Buches, das man einem gibt, der lesen kann, und spricht: Lies doch das!, und er spricht: »Ich kann nicht, denn es ist versiegelt«.

Wie kann Gott selber das tun? Will er denn nicht, dass die Menschen sein Wort verstehen? Warum verstockt er selbst die Herzen der Menschen, dass sie sein Wort nicht annehmen?

Diese Frage hat uns auch im Ökumenekreis schwer beschäftigt. Und wir kamen zu dem Ergebnis, dass es auch eine heilsame Verwirrung geben kann. Dass es manchmal ganz gut ist, wenn eine scheinbare Sicherheit erschüttert wird. Der Text von Jesaja macht auch ganz klar, in welchem Fall das gut ist: wenn Menschen Gott nur mit dem Mund und den Lippen ehren, aber nicht mit dem Herzen. Wenn man Gott nur nach angelernter Menschensatzung verehrt, also nur weil man es soll oder muss, und nicht, weil man offen ist für Gott.

Was heißt denn das, offen sein für Gott? Das heißt: mit ihm umgehen wie mit einem Menschen, den wir lieben. Wir können auf ihn hören, uns etwas von ihm sagen lassen, sogar etwas, das unser Leben verändert. Wir können uns ihm auch anvertrauen, uns von ihm ermutigen, trösten, helfen lassen. Wir können ihn finden in den Menschen, die uns brauchen, in seinen geringsten Brüdern und Schwestern.

Im Klartext also, am Beispiel Kirchgang: Wenn ich sonntags in die Kirche gehe, dann kann das ein reines Menschengebot sein. Dann nämlich, wenn ich es nur pro forma tue, nur weil ich soll und muss; dann ist es für mich nichts weiter als eine lästige Pflicht. Es kann aber auch ein Ausdruck meines Wunsches sein, in der Gemeinschaft anderer Christen neu von Gott zu hören, ihm zu danken, seelisch aufzutanken und neue Anstöße fürs Denken und Handeln zu bekommen. Dann ist es eine Sache des Herzens, dann ist der Kirchgang sinnvoll.

Und noch ein Beispiel: Wenn einer meint, er brauche den Gottesdienst nicht zu besuchen, auch die Bibel nicht zu lesen, er sei auch so ein guter Christ. Dann dürfte gerade er eine heilsame Verwirrung nötig haben. Denn das kann niemand von sich behaupten, ein guter Christ zu sein – ohne den ständigen Kontakt mit Christus und seiner Gemeinde. Denn was ist ein guter Christ? Einer, der weiß, dass er nie ein guter Mensch aus sich heraus sein kann; einer, der aus der Vergebung Christi lebt; einer, der angewiesen ist auf die Hilfe anderer, und der selber auch in der Gemeinde gebraucht wird. (Gemeinde, das muss aber nicht immer die örtliche Kirchengemeinde sein; das können Begegnungen sein, die sich an ganz ungewöhnlichen Stellen abspielen.)

Man kann also für das Bibellesen nicht so werben: Leute, lest die Bibel, und alles wird euch klar! Vielleicht geht es zunächst einmal anders herum:

9 Starret hin und werdet bestürzt, seid verblendet und werdet blind! Seid trunken, doch nicht vom Wein, taumelt, doch nicht von starkem Getränk!

Wunderlich wird Gott mit uns umgehen, wenn wir uns allzu sicher vorkommen. Vielleicht werden wir zuerst einmal in große Unsicherheit hineingeraten. Wir werden uns nichts mehr vormachen können. Dann werden wir einsehen, was zuletzt hinter all den anderen Schwierigkeiten im Umgang mit der Bibel steht, was das größte Hindernis für das Verstehen der Bibel ist – es ist, kurz gesagt, unser Unglaube. Wenn uns das Vertrauen zu Gott fehlt, können wir die Bibel nur missverstehen. In dem Maße aber, wie beim Bibellesen unser Vertrauen zu Gott wächst, wird auch unser Verstehen der Bibel wachsen. Das geht Hand in Hand. Sich für die Bibel öffnen ist also gleichbedeutend mit: sich für Gott, für den Glauben öffnen.

Es kann sein, dass mancher sich allein sehr schwer tut mit der Bibel, obwohl er gern einen Zugang zu ihr finden möchte. Dann kann ich nur raten: Kommen Sie in den Bibelkreis, sei es hier oder auch in Dorn-Assenheim! Der ist für jeden offen, gerade auch für kritische Mitdenker. Wir machen im Bibelkreis die Erfahrung, dass es Freude macht, die Bibel zu lesen. Bibellesen verbindet uns miteinander, hilft uns, manches Problem besser zu bewältigen und eine geistliche Heimat zu finden, und es regt auch zu anderen Aktivitäten in der Kirche an.

Wir laden Sie herzlich ein, sich einzulassen auf das kostbarste Buch der Welt, das seinen Wert aber nicht als Prunkausgabe auf dem Bücherbrett entfaltet, sondern erst, wenn es gelesen wird. Wir wünschen Ihnen Mut und Geduld, damit Sie nicht vorzeitig aufgeben, wenn Sie sich durch die sieben Siegel hindurchwühlen müssen. Amen.

Lied 72, 1-3: O Jesu Christe, wahres Licht
Gebet nach der Predigt (Petschull, Bosold, Kleespieß)
Lied 72, 5-6: Erleuchte, die da sind verblendt‘
Fürbitten und Vaterunser
Lied 124, 1-3: Nun bitten wir den Heiligen Geist…
Abkündigungen
Segen

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