Bild: Helmut Schütz

Gott in vielen Geschichten

Für eine Veranstaltung am 8. Juli 2004 mit Dr. Judith Hartenstein zur „Bibelübersetzung in gerechter Sprache“ anlässlich des 25. Ordinationsjubiläums von Pfarrer Helmut Schütz (Evangelische Paulusgemeinde Gießen) formulierte Prof. Dr. Odo Marquard die nachfolgende Diskussionsbemerkung. Den Kontext dieser Veranstaltung bildete das Projekt „Bibel in gerechter Sprache“. Dabei handelt es sich um eine Bibelübersetzung, die u. a. der Tendenz entgegenwirken will, Frauen in biblischen Texten allein durch die Art der Übersetzung „unsichtbar“ zu machen. Leider konnte Dr. Judith Hartenstein (Universität Marburg) ihren Vortrag „Vater – Ursprung – Weingärtnerin“, den sie in der oben genannten Veranstaltung über die Art ihrer Übersetzungstätigkeit am Beispiel des Johannesevangeliums hielt, nicht schriftlich zur Verfügung stellen. (Helmut Schütz)

Einladungsplakat zur Veranstaltung "Vater - Ursprung - Weingärtnerin". Wie reden wir von Gott?" mit Dr. Judith Hartenstein und einer Diskussionsbemerkung aus philosophischer Sicht "Gott in vielen Geschichten" von Prof. Dr. Odo Marquard am 8. Juli 2004 im Saal der Ev. Paulusgemeinde Gießen
Das Einladungsplakat zur Veranstaltung

Auch ich möchte Herrn Pfarrer Helmut Schütz zum fünfundzwanzigsten Ordinationsjubiläum sehr herzlich gratulieren. Dies nicht nur deswegen, weil er ja wahrscheinlicherweise der Pfarrer sein wird, der mich beerdigen wird. Das gibt meiner kleinen Diskussionsbemerkung ein wenig jenen Schuß Ernst, der dabei wohl angebracht ist. Ich weiß auch, daß Pfarrer Schütz sich für Philosophie interessiert, und ich bin oder war beruflich Philosophieprofessor und zugleich Mitglied der Paulusgemeinde. Was die Ausführungen von Frau Dr. Hartenstein betrifft, so bin ich nicht in jedem Falle urteilskompetent und – wo ich urteilskompetent bin – nicht in jedem Falle einverstanden. Meiner Diskussionsbemerkung schicke ich zwei Bemerkungen über mich selber voraus. Insgesamt werde ich knapp 10 Minuten sprechen.

1. Bemerkung: Über Philosophie und Theologie – Glauben – kann man sehr viel sagen. Im Augenblick pflegt Herr Achtner in der Evangelischen Studentengemeinde die uninteressantesten Philosophien – die über Urknall und Evolution – zu erwischen, wenn er diese Frage diskutiert. Interessanter ist die Frage der „Religion nach der Aufklärung“, worüber mein Kollege und Freund Hermann Lübbe ein interessantes Buch geschrieben hat (zuerst 1986, 3. Auflage 2004). Ich stimme ihm zu: die Aufklärung ist in der modernen Welt grundsätzlich – und zustimmungsfähig – erfolgreich. Durch den Aufklärungsfortschritt wird unsere Wirklichkeit immer beherrschbarer. Doch gerade dadurch wird deutlich, daß wir Menschen nie alles beherrschen werden. Unverfügbar bleiben die Schicksalszufälle, die Kontingenzen, also Geburt, Tod und andere – glückliche oder unglückliche – Schicksalsschläge, aus denen unser Leben weitgehend besteht. Darum braucht gerade die moderne Expansion der Wirklichkeitsbeherrschung die „Kontingenzbewältigungspraxis“ der Religion. Sie stirbt durch die erfolgreiche Aufklärung nicht nur nicht ab, sondern ganz im Gegenteil: je aufgeklärter die moderne Welt wird, desto unentbehrlicher wird die Religion. Insofern ist die Religion ein „Modernisierungsgewinner“ (Lübbe).

2. Bemerkung: Zu meinem eigenen „theologischen Lebenslauf“. Im Unterschied zur wohl normaleren Zeit-Tendenz, wo man sich häufig aus – wie es dann heißt – „verkrusteten Glaubensproblemen“ „emanzipiert“ und sich dann nicht selten in unkirchliche Religionshaltungen hinein „befreit“, ist das bei mir umgekehrt gelaufen. Ich bin Jahrgang 1928. Auf einer Adolf-Hitler-Schule (auf der ich war: das waren meine Lebensjahre 12 bis Anfang 17) war man antikirchlich: ich bin erst 1960 kurz vor meiner Heirat konfirmiert worden (ein schwieriger Punkt war damals die Frage des Konfirmandenunterrichts, bis mir die Lösung einfiel: ob dafür auch ein – wenn auch nur als Promotionsnebenfach bis 1954 absolviertes – Theologiestudium ausreiche?). Ich war in der Tat ab 1947 in Münster mit meinen evangelischen und katholischen Philosophenfreunden in beide christliche Theologien mitgerannt: um halbwegs mitreden zu können und weil es philosophisch interessant war. Also erst eine Art Hörsaalchristentum (mein theologischer Lehrer war, damals noch in Münster, Carl Heinz Ratschow). Dann intensive Auseinandersetzung mit Kierkegaard. Und dann wurde das Christentum sozusagen etwas Angeheiratetes (meine Formel: ich führe die glückliche Mischehe eines halbgekippten Heiden mit einer protestantischen Pfarrerstochter). Und seither beeindrucken mich auch die institutionellen Formen der Religion, die als Kirche stets auch „Routine für Grenzsituationen“ ist. Daß ich nur zuweilen in der Kirche bin, hat auch mit Faulheit zu tun; aber, bitte, bedenken Sie: immer, wenn meine Frau Kirchenchor übt oder Flöte hier für die Kirche, habe ich Küchendienst.

So, jetzt noch drei Diskussionsbemerkungen halbwegs zu Frau Dr. Hartenstein.

1. Dass bei Frau Dr. Hartenstein Gott mit vielen Namen in vielen biblischen Geschichten vorkommt, hat grundsätzlich meine Sympathie. Vermutlich ist das die bessere Form einer theologischen Position, die mir anhängt, seit ich 1978 in Berlin einen Vortrag „Lob des Polytheismus“ gehalten habe, die im Spiegel-Gespräch mit mir 2003 noch einmal eine Rolle spielte: „Wir brauchen viele Götter“, hieß es da. Mein Gegner war hier die moderne Geschichtsphilosophie, die auf Diesseitserlösung hinauswill und darum den Menschen nur eine einzige Geschichte zu haben erlaubt, während meiner Meinung nach die Menschen viele Geschichten brauchen. Statt eines Singularismus der Geschichte plädiere ich für die Pluralität der Geschichten. Zu diesem Pluralismus gehört, dass man – trotz vieler Geschichten – monogam ist und einen Gott haben will. Die Bibel als Werk, das viele Geschichten mit Gott erzählt: darauf – mit einer gewissen Distanz zum allzu eifersüchtigen Gott – würde ich mich gern einlassen. Wie sehen Sie, Frau Dr. Hartenstein, diese Art von Pluralismus?

2. Sie und ihre Übersetzungsmitstreiter, Frau Dr. Hartenstein, sprechen von „gerechter“ Sprache und Übersetzung. Klingt das nicht ein wenig zu besserwisserisch? Welcher Gerechtigkeitsbegriff ist da leitend? Gleichheit? Jedem das seine? Antihybris? Fairness? Berühren Sie nicht manchmal die Grenze zwischen liberal und lächerlich? Ich würde da vorsichtiger sein: vielleicht ist statt einer „gerechten“ eine pluralistische Schriftauslegung angebracht?

3. Das führt zugleich auf ein Problem. Ich bin in der letzten Zeit – angestoßen durch eine Rostocker systematisch-theologische Habilitationsschrift von Rochus Leonhardt, „Skeptizismus und Protestantismus“ (2003), die sich mit meiner skeptischen Philosophie auseinandersetzt – besonders aufmerksam geworden auf Luthers Sola-scriptura-These von der „Klarheit der Schrift“, wobei Luther nicht der „inneren Klarheit der Schrift“ (dem Eigensinn und notfalls erdichtetem Sinn) den Vorrang gibt, sondern die „äußere Klarheit der Schrift“ (den Wortsinn) favorisiert: denn sie ist für die Institution der Kirche entscheidend (darum Luthers enorme Bibelübersetzungsanstrengung). Aber sie wird – insbesondere auch mit dem Fortschreiten der „historischen Methode“ der Bibelinterpretation, zu der auch Ihr Ansatz gehört, Frau Dr. Hartenstein – immer schwieriger, so dass es zu einer „Krise des Schriftprinzips“ zu kommen scheint. Statt äußerer Wortsinn immer mehr Eigensinn: das führt auch dazu, bei der Bibelexegese immer mehr Neues ins Blickfeld zu rücken; die exegetische Dauerinnovation – auch die mit der „gerechten“ Sprache – ist an der Zeit. Wie sichert man hier – bei aller Freude am Innovativen auch in der Schrifttheologie – theologisch-kirchlich den christlichen Konservatismusbedarf? Sie haben richtig gehört: den Konservatismusbedarf. In der modernen Beschleunigungswelt mit Innovationsüberlastung – das ist doch auch Aufgabe der Kirchen (wie es bei den Kleinkindern, um die unendlich neue Welt zu bestehen, die Dauerpräsenz des Vertrauten gibt, die durch den Teddybären gedeckt wird) – in der modernen Beschleunigungswelt mit Innovationsüberlastung braucht es Kontinuitätskultur: das, was in der immer neuen Fremdheit der Welt Vertrautheit gewährt, also auch das Sichverlassenkönnen aufs Alte, Wiederkehrende, Immergleiche. Gottesdienste werden heute vielleicht weniger deswegen gemieden, weil sie zu wenig Neues bieten, sondern deswegen, weil sie zu wenig das Alte sind und bleiben, so dass die Frage entsteht: wie können wir – statt ständig neue Bibeltexte zu erzeugen – die alten Bibeltexte bewahren? Gibt es klassische Bibelinterpretationen? Welche? War Luther ein Klassiker? Diese Frage nach dem Konservatismusbedarf der Christen – eine sehr dicke Frage – stelle ich hier nicht, weil ich eine Antwort auf sie weiß. Frau Dr. Hartenstein: haben Sie eine?

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