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Eine Familie zwischen Deportation und Bewahrung

Trauerfeier für eine alte Frau, deren Familie unter Deportation, Arbeitslager und Hungerzeiten in der Sowjetunion gelitten hatte und für manche Rettung und Bewahrung dankbar sein konnte.

Zwischen Deportation und Bewahrung: Eine verfallen wirkende Kirche in Sibirien, im Vordergrund ein dicker Zaunpfahl mit Stacheldraht
Eine Kirche in Sibirien (Bild: A_WerdanPixabay)

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.

Liebe Gemeinde, wir sind hier versammelt, um Abschied zu nehmen von Frau Y., die im Alter von [über 80] Jahren gestorben ist.

Wir beten mit Psalm 37:

5 Befiehl dem HERRN deine Wege und hoffe auf ihn, er wird‘s wohl machen.

7 Sei stille dem HERRN und warte auf ihn.

16 Das Wenige, das ein Gerechter hat, ist besser als der Überfluss vieler Gottloser.

18 Der HERR kennt die Tage der Frommen, und ihr Gut wird ewiglich bleiben.

19 Sie werden nicht zuschanden in böser Zeit, und in der Hungersnot werden sie genug haben.

23 Von dem HERRN kommt es, wenn eines [Menschen] Schritte fest werden, und er hat Gefallen an seinem Wege.

24 Fällt er, so stürzt er doch nicht; denn der HERR hält ihn fest an der Hand.

Liebe Trauergemeinde!

Dass ihr Leben so bewegt sein sollte, war schon lange vor ihrer Geburt vorgezeichnet, als ihre Vorfahren in die Ukraine auswanderten. In einer der dort gegründeten Ortschaften, die zur Deutschen Republik an der Wolga gehörten, wurde sie geboren, und sie verlebte dort auch ihre Kindheit. In die deutsche Schule ging sie nur wenige Jahre, dann durfte man in der Öffentlichkeit nur noch Ukrainisch und Russisch sprechen. Ohnehin musste sie auch schon als Kind für den Lebensunterhalt der Familie mitarbeiten.

Im Zuge einer Stalinschen „Säuberung“ kamen die Männer des Ortes, die über 18 Jahre alt waren, darunter auch ihr Vater, ins Lager und wurden wahrscheinlich gefoltert und erschossen. Genau hat die Familie nie erfahren, was mit ihnen geschah. Dem Vater gelang es, den Angehörigen eine Nachricht zukommen zu lassen, die das Schlimmste ahnen ließ und zugleich ein Aufruf war, sich trotz allem nicht selber aufzugeben: „Wartet nicht auf uns, baut euer Leben allein auf!“

Nach Hitlers Angriff auf die Sowjetunion wurden die jungen deutschen Männer, die noch in den Dörfern lebten, in die Deutsche Wehrmacht eingezogen und nach Deutschland mitgenommen. Und auch junge Frauen gingen mit nach Deutschland für die Krankenpflege in den Lazaretts. Es begannen Jahre der Ungewissheit, ob es eine lebenswerte Zukunft für die Familie geben werde.

Die meisten Männer mussten schon früh in die Arbeitslager in Sibirien, die Frauen aus der Familie von Frau Y. kamen in ein Lager diesseits des Ural, aber ebenfalls mit sibirischer Kälte.

Mich erinnern diese Jahre an die Zeit der Deportation des Volkes Israel nach Babylonien, die in der Bibel beschrieben wird. Da gibt es einen Propheten, er heißt Jeremia, der den Menschen in der Verbannung einen Brief schreibt (Jeremia 29), und in diesem Brief gibt er ihnen diese Ratschläge:

4 So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen:

5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte;

6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen, und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehret euch dort, dass ihr nicht weniger werdet.

7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn‘s ihr wohlgeht, so geht‘s auch euch wohl.

Mit dem Häuserbauen und Gärtenanlegen war es in der Kälte Nordrusslands wohl nichts, aber Familien wurden durchaus auch unter den Bedingungen der Zwangsarbeit und mancher Hungersnot gegründet.

Erinnerungen an das Familienleben der Verstorbenen

Sehr ausführlich habe ich noch einmal alles ausgeführt, was Sie mir aus dem Leben der Verstorbenen und ihrer Familie erzählt haben. Ich finde es wichtig, dass wir uns erinnern, denn jeder Mensch ist einmalig und hat eine ganz besondere Lebensgeschichte. In der Bibel heißt es in dem Psalm 103:

2 Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

Ja, die Bibel weiß auch von den schrecklichen Dingen des Lebens, von Hiobsbotschaften und verzweifelter Klage, die man durchaus im Gebet vor Gott bringen darf. Aber viel wichtiger ist es, an das Gute zu denken, das uns geschenkt war: die Bewahrung mitten in der Bedrohung, die Rettung aus der Lebensgefahr, das Glück im Unglück, die Herausforderungen und Schicksalsschläge, die man bewältigen konnte, die Jahre, in denen man mit wenig zufrieden war.

Heute können Sie vor allem mit Dankbarkeit im Herzen an Ihre Mutter und Großmutter, Verwandte und Freundin, Nachbarin und Bekannte denken, die Sie heute zu Grabe tragen. Sie haben mir gesagt: „Sie war immer die Beste!“ Von ganzem Herzen hat sie immer alle in der Familie unterstützt, wie sie es nur konnte. Und sie war offenbar auch ein lebensfroher Mensch, denn Sie haben mir erzählt, dass sie musikalisch war, gerne gesungen und Gitarre gespielt hat.

Wenn wir sie nun beerdigen, dann legen wir ihren Körper ins Grab. Aber die Person, die sie eigentlich war, mit ihrer Seele und ihrem Geist, vertrauen wir in ihrem Tode Gott an. Hier auf Erden sind wir nur eine kurze Zeit zu Gast; es ist nicht einmal gewiss, wie lange wir an einem bestimmten Ort dieser Erde wohnen können. Am Ende müssen wir diese Erde ganz verlassen und gehen hinüber in ein Leben, das wir uns nicht vorstellen können. Wir bekommen in der Bibel nur gesagt, dass es ein herrliches Leben ist, erfüllt von Liebe und Frieden und ewiger Freude. Mögen wir hier auf Erden auch irgendwann vergessen sein, Gott vergisst uns niemals; in seiner Obhut bleiben wir in seinem Himmel für immer geborgen. In dieser Zuversicht können wir die verstorbene Frau Y. getrost loslassen, zwar traurig, aber doch in Dankbarkeit. Amen.

Wir beten mit den Worten des Liedes 376:

1. So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich. Ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt: wo du wirst gehn und stehen, da nimm mich mit.

2. In dein Erbarmen hülle mein schwaches Herz und mach es gänzlich stille in Freud und Schmerz. Lass ruhn zu deinen Füßen dein armes Kind: es will die Augen schließen und glauben blind.

3. Wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziele auch durch die Nacht: so nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich!

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