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Johannes – Evangelium einer neuen Schöpfung

Erich Dorns Artikel „Welt oder Schöpfung: KOSMOS – ein Schlüsselbegriff im johanneischen Schrifttum“ nehme ich zum Anlass, um eine Auslegung des Johannesevangeliums in die Diskussion zu bringen, die in Kirche und Hochschule bisher weitgehend unbeachtet geblieben ist, nämlich die jüdisch-messianische Lektüre des biblischen Theologen der Amsterdamer Schule, Ton Veerkamp. Gerne hätte ich mich mit dem Pfarrerkollegen Dorn persönlich über das ausgetauscht, was leider erst nach seinem Tod im Hessischen Pfarrblatt Juni 2021, 91-97, über den kosmos im Johannesevangelium veröffentlicht worden ist.

Im Gespräch Jesu mit Pilatus wird deutlich, welche Weltordnung (kosmos) dem Königreich Jesu (basileia) entgegensteht (Bild aus einem Passionsspiel: Júnior Gonçalves LyestahPixabay)

Inhaltsverzeichnis

Welt und Schöpfung im Johannesevangelium

Der Kosmos – zugleich „geliebte Welt Gottes“ und „Ort des Bösen“

Ist Jesu Reich weder politisch noch jüdisch oder jenseitig zu verstehen?

Der jüdische Hintergrund des Johannesevangeliums

Kein König „wie bei allen Völkern“

Kosmos als Deckname für die ungerechte Weltordnung der Pax Romana

Zur dualistischen Terminologie bei Johannes

Schöpfung als Überwindung menschengemachter Finsternis

Ostern als der „Tag eins“ einer neuen Schöpfung

Warum verzichtet Johannes auf die „Fülle und Farbigkeit“ der guten Schöpfung?

Blendet die johanneische Gemeinde in Selbstgenügsamkeit die soziale Frage aus?

Die Rolle der Mutter des Messias und der einziggeborene Sohn als zweiter Isaak

Ist das johanneische Jesusbild „eher spröde und einsilbig“, ja „dogmatisch“?

Anmerkungen

Welt und Schöpfung im Johannesevangelium

Wenn in unseren Bibeln das Wort kosmos im Johannesevangelium mit „Welt“ übersetzt wird, ist Missverständnissen Tür und Tor geöffnet. Darum ist es verdienstvoll, dass Erich Dorn in seinem posthum veröffentlichten Aufsatz <1> die Frage zu klären versucht, was Johannes mit diesem Wort tatsächlich gemeint haben mag. Unsere neuzeitlichen Verständnisse (91) vom „Weltall mit seinen Sonnensystemen und Galaxien“ oder von der „Erde als Globus“ mit ihrer „Menschen- und Tierwelt“ bzw. der „Umwelt“ des Menschen sind jedenfalls für das Johannesevangelium nicht relevant. <2>

Während nach Dorn der Begriff „Welt“ für die moderne Weltanschauung „ein religiös neutraler Begriff“ ist und „allenfalls nach seiner ,Entstehung‘“ fragt, verlangt „,Schöpfung‘ … nach einer ,Person‘, einem Schöpfer.“ So kennt die Bibel (Psalm 115,16) die Erde unter dem Himmel als Lebenswelt der Menschen, die Gott ihnen durch sein schöpferisches Wirken zur Verfügung stellt.

Nun wundert sich Dorn darüber, dass das Wort kosmos außerordentlich häufig im Johannesevangelium vorkommt, während „das Wort ,ktisis‘ (ktisis = Schöpfung) völlig“ fehlt,

anders als etwa bei Paulus. – Dies kann kein Zufall sein. Schöpfung – oder Welt? Besteht hier ein Unterschied? Kann der ,Kosmos‘ etwas anderes sein als Gottes Schöpfung?

Als erstes fragt sich Dorn, wo und wie bei Johannes von der Schöpfung die Rede ist. Ihm fällt auf, dass der erste Vers des Evangeliums sich auf den ersten Vers der Bibel überhaupt bezieht, dass aber (92) im Unterschied zu Genesis 1,1 in Johannes 1,1 nicht die Schöpfung der Welt, sondern der Logos, das Wort, im Mittelpunkt steht: „Vor allem Geschaffenen steht der ,logos‘ (Logos = das Wort).“ In 1,3 ist dann zwar von allem Gewordenen die Rede, „aber in einer auffallend neutralen Formulierung“, und als Schöpfer wird weder „Gott“ noch „der ,Vater‘ im Sinne des Apostolikums und der Trinitätstheologie … genannt, sondern der mitwirkende Logos“, obwohl doch „der ,Vater‘ ein überaus wichtiger Begriff im Joh’evangelium ist!“ Einen Hinweis, worin die Lösung dieses Problems bestehen könnte, gibt Dorn selbst, indem er darauf hinweist, dass „in 9,3 mit den ,Werken Gottes‘ gerade nicht die Schöpfungs-, sondern seine Heilungswerke gemeint“ sind.

Tatsächlich finden wir im Johannesevangelium eine unkonventionelle Schöpfungstheologie. Das zeigt sich am deutlichsten in der Begründung, mit der Jesus in 5,17 die Heilung des Gelähmten am Sabbat rechtfertigt: „Mein VATER verrichtet Werke bis jetzt, so verrichte auch ich Werke.“ Offenbar kann der Gott Israels erst dann von seinen Werken ruhen, wenn die Menschenwelt von jedem Unheil, das auf ihr lastet, endgültig befreit sein wird. <3> Damit ist auch geklärt, dass das Johannesevangelium durchaus ein Wort für das schöpferische Wirken Gottes kennt, eben erga, die Werke Gottes, mit denen er nunmehr auch seinen Messias beauftragt.

Wenn Dorn weiterhin feststellt, dass das Johannesevangelium im Gegensatz zu Genesis 1 darauf verzichtet, „in einer gezielten Aufgliederung die Pluralität alles ,Geschaffenen‘“ darzustellen, sondern „sich sofort (1,4) den Menschen zuwendet“, wird vollends deutlich, dass es in dieser Schrift tatsächlich nicht um die Vielfalt des geschaffenen Lebens auf der Erde geht. Wir werden sehen, dass es um eine Finsternis geht, die das menschliche Leben und insbesondere des Volkes Israel auf der Erde unter dem Himmel Gottes tödlich bedroht. Daher muss alles andere in den Hintergrund treten. <4>

Der Kosmos – zugleich „geliebte Welt Gottes“ und „Ort des Bösen“

Nun zum Gebrauch des Wortes kosmos bei Johannes, das in seinem Evangelium 78mal <5> vorkommt (97): „Auf der einen Seite wird der Begriff sehr geprägt gebraucht, wirkt aber andererseits oft schillernd. Es muss praktisch jedes Mal aus dem Zusammenhang neu erschlossen werden, was unter ihm zu verstehen ist.“ Erich Dorn (93) unterscheidet neben „einigen wenigen allgemein gebräuchlichen Verwendungen (z.B. 1,9, 12,19, 21,25)“ folgende zwei Hauptbedeutungen:

„Zum einen ist die Welt Gegenstand der Liebe Gottes.“ (3,16; 17,23). Damit ist „die Menschenwelt“ gemeint (94), die (3,17; 12,47) nicht gerichtet, sondern gerettet werden soll, es sei denn (12,48), sie richtet sich selbst. <6> Auf die positive Beziehung Gottes zum kosmos als Menschenwelt bezieht Dorn (93f.) auch Sätze vom „Lamm, das der Welt Sünde trägt (1,29), vom Brot des Lebens (6,35) oder vom Licht der Welt“, das (1,4-5.9-10; 3,19-21; 8,12; 12,35-36.46-47) in die Finsternis hineinscheint.

Warum (94) im Johannesevangelium auch „die Welt als Ort des Bösen“ erscheint, klärt Dorn nicht wirklich. Er vermerkt, dass es die einzige biblische Schrift ist, die den „archōn tou kosmou toutou (der Herrscher – Luther: der Fürst – dieser Welt): 12,31, 14,30, 16,11“ erwähnt, und bringt diesen in Verbindung mit dem 3mal verwendeten „Begriff diabolos (Diabolos = Verwirrer, Verleumder, Luther: Teufel)“. Ausdrücklich meint Dorn: „Aus diesen Formulierungen könnte man ein ,Reich des Bösen‘ – als eine Art ,Gegen-Reich‘ zum Reich Gottes – heraushören, das im Joh’evangelium jedoch so nicht zu finden ist.“ Definitiv (97) behauptet das Johannesevangelium „nirgends, dass der Mensch aus der Finsternis abstamme. Bereits im Prolog heißt es, dass der Logos das Licht der Menschen war (1,4).“

Aber (94) was will die häufig vorkommende „Formel ,ek tou kosmou einai‘ (aus der Welt sein)“ dann ausdrücken? Wie in den gleichbedeutenden Formeln (8,23) ek tōn katō, von unten her, und (3,6) ek tēs sarkos, aus dem Fleisch, soll nach Dorn auch in ek tou kosmou „das ek durchaus als Herkunfts-, Abstammungsbegriff“ zu verstehen sein. Aber einen solchen konkreten Herkunftsort beschreibt er nirgends. Nur vage benennt er (97) zusammenfassend das „Dunkel, das Böse, die Verlockungen des Lebens“ und spricht (94f.) vom „ethisch-religiösen Gegensatz“ (meine Hervorhebung), wobei er die Anbetung Gottes „im Geist und in der Wahrheit“ dem „Hass“ gegenüberstellt und die Liebe derer, die „von Neuem/von oben“ geboren sind, mit der „Lüge“, ja, der „Verlogenheit“ kontrastiert.

Nun wäre es möglich, dass man über die Herkunft des Bösen tatsächlich nicht mehr sagen kann. Auch in Genesis 3,1 ertönt die Stimme der Einflüsterung des Misstrauens gegen Gott aus heiterem Himmel. In seinem letzten Satz zur Erläuterung der johanneischen Kosmos-Vorstellung zieht Dorn genau diese Geschichte heran (97): „Der Kosmos drückt Schöpfung und Sündenfall gemeinsam aus – in einem einzigen Wort.“ Aber kommen wir in der Beschreibung der Zwiespältigkeit des kosmos tatsächlich nicht über paradoxe Formulierungen hinaus? Obwohl „durch den Logos geworden“, ist der kosmos „zugleich dessen Widersacher.“ Obwohl er „Gegenstand der Liebe Gottes“ ist, ist er zugleich „Quelle seiner Ablehnung.“ Obwohl er „im positiven Sinn … erlösungswürdig“ ist, repräsentiert er „im negativen Sinn das Böse und die Glaubensverweigerung gegenüber Jesus als dem Sohn des Vaters.“

Ist Jesu Reich weder politisch noch jüdisch oder jenseitig zu verstehen?

Aus (94) der Klarstellung Jesu gegenüber Pilatus: „Mein Reich ist nicht ek tou kosmou toutou (18,36)“ zieht Dorn weitreichende Schlussfolgerungen, indem er eine ganze Reihe von Interpretationsmöglichkeiten für „nicht von diesem kosmos“ ausschließt:

Spätestens hier zeigt sich, dass diese Formulierung eine feststehende theologische Formel ist und weder im politischen noch in einem geographischen, völkischen (,die Juden‘), philosophischen oder naturwissenschaftlichen Sinn verstanden werden darf, allerdings auch nicht im Sinne einer Jenseitstheologie, in der unsere Stelle im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gerne interpretiert wurde. Es geht um den ethisch-religiösen Gegensatz.

Sicher ist basileia, Königreich, als der von Jesus vorausgesetzte Gegenbegriff zum kosmos im Johannesevangelium nicht philosophisch oder naturwissenschaftlich zu verstehen. Aber wie kann Dorn sowohl eine politische als auch eine auf „die Juden“ bezogene Deutung ohne weitere Begründung ausschließen, wenn es in dem Drama, das sich zwischen Jesus, Pilatus und den Priestern Judäas samt ihren Handlangern abspielt, ausdrücklich um Politik geht, und zwar (18,33.37.39; 19,3.14.15.19.21) um Jesus als den „König der Juden“ im Gegenüber (19,12.15) zur judäischen priesterlichen Führung, die „keinen König, es sei denn der Cäsar“, anerkennt?

Eine nachvollziehbare Alternative dazu wäre eine jenseitsorientierte Deutung von 18,36. <7> Auch Dorn selbst (95) argumentiert im Grunde genommen in diese Richtung, wenn er Jesu Satz „Wäre meine Herrschaft aus dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen…“ so interpretiert, dass Jesu „Prozess eben nicht nach diesen ‚realen‘ Maßstäben [nämlich des politischen ‚Machtgebrauch[s], wie er überall in der Welt gang und gäbe ist‘] bewertet werden kann, sondern nur jenseits des sichtbaren Geschehens“. Wenn Dorn nur eine übertrieben weltverneinende Jenseitstheologie ablehnt, wie sie etwa die Gnosis vertreten hat, dann würde sein ethisch-religiöses Verständnis von Jesu Reich sowohl ethische Zielsetzungen für das diesseitige Leben als auch religiöse Hoffnungen auf den jenseitigen Himmel einschließen.

Wenn aber allein der Glaube an Jesus als den Sohn Gottes den Eintritt in den Himmel garantiert, sind Juden, die nicht an Jesus glauben, vom ewigen Heil ausgeschlossen und dazu verurteilt, in ihren Sünden zu sterben – wenn sie nicht sogar, da sie den Teufel zum Vater haben, in die Hölle, wie man sie sich später ausgemalt hat, verdammt sind. Unangenehm stößt mir auf, dass Dorn im Blick auf „die Juden“ den belasteten Begriff „völkisch“ verwendet. Meint er mit dem „geographischen, völkischen“ Sinn, dass der johanneische Jesus kein partikularer Messias der Juden sein will, sondern der universale Retter der Welt?

Der jüdische Hintergrund des Johannesevangeliums

Hans Förster hat in seinem Artikel „Bibelübersetzung, Bibelverständnis und Antijudaismus“ im Deutschen Pfarrerblatt 10/2020 auf den jüdischen Hintergrund der Evangelien hingewiesen, der meines Erachtens bei der Interpretation gerade des Johannesevangeliums immer noch zu wenig berücksichtigt wird. In Erich Dorns Artikel geht diese Missachtung so weit (93, Anm. 4), dass er die im Evangelium erwähnten Juden ausschließlich mit innerchristlichen Gegnern der johanneischen Gemeinden in Verbindung bringen will, wie sie in den Johannesbriefen erwähnt werden (1 Joh 2,4, 2 Joh 7, 3 Joh 9-11). „Diese ‚Juden‘ sind eine fiktive Gestalt, die in Erinnerung an die Auseinandersetzung Jesu mit dem Frömmigkeitsstil seiner Zeit geschaffen wurde, und haben mit dem realen jüdischen Volk, auch von damals, nichts zu tun.“ Diese Argumentation greift aber zu kurz, denn die Johannesbriefe verwenden für ihre Gegner kein einziges Mal das Wort Ioudaioi, während es im Evangelium ganze 71mal auftaucht, davon etwa 40mal mit negativer Bedeutung. Und zumindest seit dem 2. Jahrhundert nutzt das inzwischen dominierende Heidenchristentum die feindselige Haltung des johanneischen Jesus gegenüber diesen Ioudaioi tatsächlich dazu, um „die Juden“ als enterbte Gotteskinder darzustellen und die Christen als das wahre Volk Gottes. <8> Immerhin unterstellt Jesus in 8,44 den von ihm angeredeten Ioudaioi, sie seien ek tou patros tou diabolou. Haben die Juden den Teufel zum Vater?

Nun setzt sich aber der johanneische Jesus nicht nur äußerst scharf mit jüdischen bzw. judäischen Gegnern auseinander, sondern sein Wort und Wirken wird durchgehend in jüdischer Begrifflichkeit dargestellt. Er nimmt an jüdischen Riten und Festen teil, predigt im Tempel und in der Synagoge. Der Evangelist schreibt zwar Griechisch, denkt aber von der hebräischen Bibel her, und lehnt die innere Gliederung seines Evangeliums eng an den jüdischen Festkalender an. Das Johannesevangelium ist noch kein „christlicher“ Text in dem Sinne, dass sich die johanneischen Gemeinden, in denen es entstand, bereits als Christianoi verstanden hätten, also als Christus-Anhänger, die den Ioudaismos als eine inzwischen überholte jüdischen Lebensführung (halacha) oder Religion betrachten. Aber warum äußert sich ein zutiefst jüdischer Text zugleich so feindlich gegenüber Ioudaioi, Judäern, Juden?

Eine nachvollziehbare Antwort auf diese Frage hat Ton Veerkamp in den Jahren 2006/07 mit seiner Lektüre des Johannesevangeliums vorgelegt. <9> Ihm zufolge steht die jüdische jesus-messianische Gruppe des Johannes gegen Ende des 1. Jahrhunderts in einer Frontstellung zum entstehenden rabbinischen Judentum, das in ihren Augen durch die Ablehnung des Messias Jesus der römischen Weltmacht in die Hände spielt und sich sozusagen dem Kaiser von Rom als dem Widersacher, diabolos, des Gottes Israels unterwirft.

Das ist allerdings nur eine Linie der in diesem Evangelium angesprochenen Widersprüche. Wo Johannes von Ioudaioi spricht, kann er außer diesen pharisäischen (= rabbinischen) Juden auch Zeloten meinen, die Jesus gegen seinen Willen zum König ausrufen wollen, oder die Priesterschaft zur Zeit Jesu, die einen ihnen gewogenen Mob dazu anstacheln, von Pilatus die Kreuzigung Jesu zu fordern; weiter gibt es Ioudaioi, die vor anderen Ioudaioi Angst haben, und letzten Endes auch viele, die auf Jesus vertrauen.

Nach diesem Verständnis des Johannesevangeliums ist Jesus noch nicht der mit Gott wesensgleiche eingeborene Sohn Gottes, als den ihn die Jahrhunderte späteren Konzilien mit griechisch-philosophischen Begriffen definieren. Vielmehr füllt Johannes die Vielzahl von Titeln, die er Jesus beilegt, sämtlich von der jüdischen Bibel her: Als der logos (davar = Worttat oder Tatwort Gottes) ist er das befreiende Wort des Gottes Israels, zugleich das Mutterschaf Gottes, amnos, rachel, nach Jesaja 53,7, der von Mose angekündigte Prophet gemäß Deuteronomium 18,18, der König von Israel, der Menschensohn, bar enosch, nach Daniel 7, und all das als der von Gott gesandte Messias und Befreier, maschiach und moschiaˁ, sōtēr, bis hin zur Verkörperung des mit den Worten Egō eimi aufgerufenen Gottesnamens JHWH.

Kein König „wie bei allen Völkern“

Versteht man die Szene mit Jesus, Pilatus und der Priesterschaft Judäas entgegen Erich Dorns Plädoyer nun doch sowohl politisch als auch jüdisch, tut sich eine nachvollziehbare Deutung für den negativ verstandenen Begriff kosmos auf. Dazu müssen wir einen Ausflug in das Königsverständnis der jüdischen Tora unternehmen. <10>

In der Tora kommt der König nur in Deuteronomium 17,14-20 vor. An sich muss das Volk Israel keinen König haben, aber wenn doch, dann (V. 14) darf es nicht ein König „wie bei allen Völkern“ (ke-khol ha-gojim) sein. Die Ausschlusskriterien für einen König nach dem Willen des befreienden Gottes Israels werden folgendermaßen formuliert (V. 16-17 nach Luther 2017):

dass er nicht viele Rosse halte und führe das Volk nicht wieder nach Ägypten, um die Zahl seiner Rosse zu mehren, weil der HERR euch gesagt hat, dass ihr hinfort nicht wieder diesen Weg gehen sollt. Er soll auch nicht viele Frauen nehmen, dass sein Herz nicht abgewandt werde, und soll auch nicht viel Silber und Gold sammeln.

Die Haltung zu vieler Pferde bedeutet Aufrüstung für kriegerische Abenteuer, die mit dem Verlust der Selbstbestimmung des Volkes einhergeht, königliche Heiratspolitik führt zu Bündnissen mit Fremdmächten und zur Unterwerfung unter deren Götter, die Anhäufung von zu viel Geld läuft auf die Ausbeutung der Bevölkerung hinaus. Einen solchen König „wie bei allen Völkern“ wünscht die Führung Israels nach 1 Samuel 8,4ff., und der Prophet Samuel setzt die Rechtsordnung eines solches Königs mit der Versklavung und Ausbeutung der Bevölkerung gleich (1 Samuel 8,11).
Um die Gefahr der Unterdrückung durch einen solchen König „wie bei allen Völkern“ möglichst einzudämmen, enthält die Tora (Deuteronomium 17,15) im Königsgesetz zusätzlich die klare Bestimmung:

Du sollst aber einen aus deinen Brüdern zum König über dich setzen. Du darfst nicht irgendeinen Ausländer, der nicht dein Bruder ist, über dich setzen.

Indem die judäische Priesterschaft aber genau das Letztere tut, nämlich den Kaiser Roms als ihren König anzuerkennen, und Jesu Tod betreibt, weil er durch sein Wirken ihr Einvernehmen mit dem Kaiser und ihre dadurch begründeten Privilegien bedroht, erweist sich die Definition eines solchen Königtums Jesu mit ek tou kosmou toutou als gleichbedeutend mit einem Königtum ke-khol ha-gojim, wie bei allen Völkern. Das ist der Hintergrund dieser Wendung, die Erich Dorn (94) ohne nähere Erläuterung als „eine feststehende theologische Formel“ bezeichnet.

Einen König nach dem Willen des Gottes Israels beschreibt dagegen Psalm 72, 1-4:

Gott, gib dein Recht dem König und deine Gerechtigkeit dem Königssohn,
dass er dein Volk richte in Gerechtigkeit und deine Elenden nach dem Recht.
Lass die Berge Frieden bringen für das Volk und die Hügel Gerechtigkeit.
Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen.

Hier wird zugleich deutlich, was nach den jüdischen Schriften „Wahrheit“ bedeutet und was im Johannesevangelium demgegenüber kosmos im negativen Sinne meint: <11>

Die Kernaufgabe jedes Königs, also jedes Staates, jeder Regierung, ist nach diesem Text die Wahrheit und das Recht. Und zwar das Recht für den Erniedrigten und Bedürftigen (ˁanaw, evjon). Das Maß, mit dem man den König, den Staat, die Regierung misst, ist das, was in der Schrift zedaqa heißt, Wahrheit, Bewährung. Wahrheit hat in der Schrift das Recht als seinen wahren Inhalt. Der Zaddik ist ein Wahrhaftiger und so ein Gerechter. Das Recht bewahrheitet sich erst an dem, was mit den Erniedrigten und Armen eines Volkes geschieht.

Das ist Königtum, und dieses Königtum meint Jesus. Er, der Messias, ist der Königsohn, für den der Psalmist hier betet. Jesus als der messianische König unterscheidet sich auf der ganzen Linie und in seinem Wesen vom Königtum nach dieser Weltordnung, basileia tou kosmou toutou. Das Königtum Jeschuas ist eine radikale Alternative, aber es ist nichts Jenseitiges, rein Geistiges oder Innerliches. Es ist ein radikal diesseitiges, irdisches Königtum.

… Jesus will kein unerhört Neues; er will ein Königtum nach der Tora. Da es, wie gesagt, ein solches Königtum noch nie gegeben hat, will Jesus unerhört Neues. Gerade das Traditionelle ist das Novum!

Von diesen Überlegungen aus wird der widersprüchliche Gebrauch des Wortes kosmos im Johannesevangelium erklärbar: Jesus als der Messias des Gottes Israels ist in den kosmos als Lebensraum der Menschen gesandt, um ihn vom kosmos im Sinne der herrschenden Weltordnung, die auf der Menschenwelt lastet, zu befreien.

Kosmos als Deckname für die ungerechte Weltordnung der Pax Romana

Ein Verständnis von kosmos als „Weltordnung“ legt sich auch von der Vokabel selbst her nahe, denn ursprünglich heißt kosmos „Schmuck“ (vgl. Kosmetik). Die hellenistische Welt verstand ihr globales Herrschaftssystem als schmuckvoll und wohlgeordnet, die Römer prägten sogar den Begriff der Pax Romana. Jüdische Messianisten wie Johannes müssen es als Hohn empfunden haben, die durch Blut watenden römischen Legionen als Friedensmacht und das weltweite Sklavenhaus des römischen Imperiums als „wohlgeordnete Welt“ zu bezeichnen. Insofern mag Johannes das Wort kosmos in ähnlicher Weise als Code-Wort für Rom verwendet haben wie der Autor der Offenbarung den Decknamen „Babylon“.

Von daher ist auch der einzige konkrete Einwand (95), den Erich Dorn gegen eine politische Deutung der Wendung ouk ek tou kosmou toutou vorbringt, in Frage zu stellen, dass nämlich Jesus den „realen Machtgebrauch, wie er überall in der Welt gang und gäbe ist“, nicht ausdrücklich beurteilt. Schon in 3,19-20 war vom Gericht über die im kosmos vollbrachten finsteren Machenschaften die Rede, in 16,8 wurde der paraklētos als Ankläger der Welt angekündigt. Und im Gespräch mit Pilatus (18,36) erklärt Jesus (18,36) seinen Verzicht auf militärischen Kampf und (18,37) dass er „dazu gezeugt worden und dazu in die Weltordnung gekommen“ ist, um für die alētheia, Wahrheit, Treue des Gottes Israels Zeugnis abzulegen. Ton Veerkamp erklärt die in diesem Vers überflüssig erscheinende Wendung eis touto gegennēmai: <12>

Warum „gezeugt worden“? „In die Welt gekommen“ würde völlig reichen (vgl. 11,27). Johannes ruft aber die Assoziation zu Psalm 2,6f. auf:

Ich habe dich ernannt zu meinem König,
über Zion, dem Berg meiner Heiligung.
Ich will es erzählen, den Beschluss:
Der NAME sprach zu mir: „Mein Sohn bist du.
Heute habe ich dich gezeugt.“

Mit den Worten „dazu bin ich gezeugt, dazu in die Welt gekommen“ hören wir zugleich, „wie die Völker toben“, wie „die Könige der Erde, ihre Erlauchten, eine Sitzung zusammenrufen / gegen den NAMEN und seinen Messias (‚Gesalbten‘, meschicho, christou autou)“. Genau das geschieht hier.

„Verlange, und ich gebe dir die Völker als Erbteil, zum Besitz die Ränder der Erde (das römische Imperium), du magst sie zerschmettern mit einem eisernen Stock, zerschlagen wie ein Gerät aus Ton.“ Das ist eine Sprache, die uns nicht gefällt. Aber die Erhöhung dieses Messias ist das Ende für Rom, die Zerschlagung dieses Reiches, die Vernichtung der mischpat ha-melekh, der Rechtsordnung des Königs. Dazu lässt uns Johannes Psalm 2 mithören. In Zeiten nach der katastrophalen Niederlage von 70 ist der zweite Psalm der Strohhalm, an dem sich die isolierte messianische Gemeinde des Johannes festklammert.

Zur dualistischen Terminologie bei Johannes

Von den soeben dargelegten Zusammenhängen her ist zwar nicht zu bestreiten, dass Johannes anders argumentiert als etwa die synoptische Tradition. Aber Erich Dorns folgende Einschätzung (95) ist in dreierlei Hinsicht kritisch zu betrachten:

Die Begrifflichkeit des Joh’evangeliums ist nicht die uns vertraute alttestamentliche Terminologie oder die teils griechische des Apostels Paulus und der paulinischen Tradition. Sie verläuft in dualistischen Bahnen.

  1. Zwar mögen christlich interpretierte Begriffe des Johannes nicht mit einem uns vertrauten Verständnis des so genannten Alten Testaments zusammenpassen. Aber es könnte geboten sein, beide Verständnisse zu überprüfen. Geht das Johannesevangelium von einem Verständnis der jüdischen Bibel als der Großen Erzählung der Befreiung Israels inmitten der Völker aus, dann sollten wir unser Jesusverständnis von eben diesen Schriften her füllen.
  2. Auch Paulus ist nicht primär vom griechischen Denken her zu interpretieren. <13>
  3. Ausführlich ist zu fragen, inwiefern Johannes „in dualistischen Bahnen“ denkt. Erich Dorn listet eine Menge an „Verschiebungen in der Wortbedeutung und Wortwahl sowie inhaltliche Veränderungen“ auf, die sich daraus angeblich gegenüber dem Alten Testament, gegenüber Paulus und der synoptischen Tradition ergeben.

Einige dieser Punkte erweisen sich bei näherem Hinsehen aber als gar nicht so verschieden von früheren Denkweisen oder knüpfen nahtlos an sie an. So ersetzt Johannes nicht etwa das „Folge mir nach!“ (etwa Mk 2,14) durch das „Kommt und seht“ (1,39) und das Bleiben (6,66f. 8,31), sondern er verwendet das Wort akolouthein 13mal im Sinne der Nachfolge des Messias. Die Vorstellung vom „Leib Christi (z.B. Röm 5,12, Eph 4,4)“ wird zwar nicht wörtlich aufgegriffen, aber in 2,21-22 und 14,23 <14> zumindest angedeutet.

Das Gegenüber von „Oben (Gott) und Unten (Kosmos)“ denkt Johannes einerseits nach wie vor entsprechend der biblischen Unzugänglichkeit des Himmels, der Gott vorbehalten bleibt, und der Erde als menschlichem Lebensraum (vgl. Psalm 115,16). Wo sich aber innerhalb dieser Lebenswelt ein unterdrückerischer kosmos wie die Römische Weltordnung breitgemacht hat, bestimmt Johannes diesen als absolut gottfeindliches „Unten“. Wenn man diesen Antagonismus als Dualismus bezeichnen will, muss man ihn klar von gnostischer Weltverneinung abgrenzen. Stattdessen geht es um die Befreiung der Lebenswelt von lebensfeindlicher Unterdrückung.

Schöpfung als Überwindung menschengemachter Finsternis

Genau diesen Punkt übersieht Dorn auch (95), wenn er schreibt:

„Aus dem Tageslicht der Schöpfung (Gen 1,5) wird das Licht der Daseinserhellung (Joh 1,5), aus der Ruhe und Erholung der Nacht die gottesfeindliche Finsternis“.

Tatsächlich <15> muss schon in Genesis 1,1-4 zunächst „die Finsternis in ihre Schranken gewiesen werden“, bevor Gott sein erstes Wort spricht: „Es werde Licht!“ Damit ist bereits das Licht der Schöpfung nicht einfach der erste Bestandteil einer naturwissenschaftlich zu erklärenden Weltentstehung, sondern schon die Propheten und diejenigen, die Genesis 1 formulierten, kannten „eine von Menschen verursachte Finsternis“, zum Beispiel die in Jeremia 4,23-26 beschriebene von „der törichten Politik der Eliten Jerusalems“ verursachte „Zerstörung des Lebens“, die als Gericht Gottes interpretiert wird und nur durch Gottes immer wieder neues schöpferisch-befreiendes Wirken überwunden werden kann. Johannes überträgt genau dieses Denken der Propheten und der Tora auf seine Zeit:

Was Jeremia beschreibt, ist genau der Zustand des Volkes von Judäa nach dem Jahr 70. Die Stadt ist verwüstet, die Bevölkerung massakriert, das Land unbewohnbar. Was not tut, ist ein vollkommener Neuanfang. … Das Werk des Messias ist eine neue Erde unter einem neuen Himmel, Leben und Licht.

Ostern als der „Tag eins“ einer neuen Schöpfung

Erich Dorn selbst hält es aber für „erwägenswert“, ob der Satz in 13,30 „Und es war Nacht!“, mit dem Johannes den Augenblick kommentiert, „als Judas Jesus und die Jüngerschar verlässt, … bewusst dem ersten Wort Gottes in Gen 1,3 gegenübergestellt ist (‚Es werde Licht!‘)“. Tatsächlich ist es sinnvoll, Genesis 1,3 als Hintergrund der Erläuterungen Jesu über seinen Abschied und sein Aufsteigen zum VATER zu hören. Vom Prolog an bis zum Schluss geht es im Johannesevangelium darum, die Finsternis der herrschenden Weltordnung durch eine neue Schöpfung zu überwinden.

Darauf weisen sehr deutlich auch zwei Einzelheiten (20,1) in der Darstellung des Tages hin, den wir Ostern nennen, erstens, dass es frühmorgens noch finster war, skotias eti ousēs, und zweitens, dass es sich um mia tōn sabbatōn, den „Tag eins der Sabbatwoche“ handelte. Genau so ist auch in Genesis 1,5 nicht wörtlich vom „ersten Tag“ der Schöpfung die Rede, sondern von hēmera mia, jom ˀechad, „Tag eins“. Beginnt aber für Johannes mit diesem Tag die Schöpfung neu, dann ist das Besondere dessen, was wir Ostern nennen, gar nicht die Auferstehung Jesu selbst: <16> Vielmehr beginnt die Vollendung des befreienden Wirkens Gottes durch seinen Messias.

Das entscheidende Werk, das Jesus zum Zweck der Vollendung der Schöpfung verrichtet, ist sein Aufsteigen zum VATER, das mit seinem Tod am Kreuz der Römer beginnt, aber nach seinen Worten (20,17) gegenüber Maria Magdalena „noch nicht“ vollendet ist. Es wäre falsch, sich die Himmelfahrt Jesu nach Johannes so vorzustellen, als hätte er vor der Schöpfung der Welt bei Gott gelebt, sei vorübergehend auf die Welt gekommen und würde nach seiner Auferstehung wieder in der himmlischen Herrlichkeit bei Gott leben. <17> Da sich Johannes als Jude den Himmel überhaupt nicht als Aufenthaltsort für Menschen denken kann (auch nicht für Jesus, bar enosch, den MENSCHEN schlechthin), muss das Aufsteigen zum VATER eine andere Bedeutung haben.

Johannes bezieht den Begriff des zōē aiōnios, den wir normalerweise als „ewiges Leben“ übersetzen, auf das diesseitige Leben in der kommenden Epoche, die durch das Vertrauen auf den Messias begründet wird. Dieses erfüllte zukünftige Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden ist der eigentliche Gegensatz zum kosmos als Weltordnung. Ton Veerkamp erklärt diese kommende Weltzeit folgendermaßen: <18>

Im rabbinischen Judentum heißt sie ˁolam ha-baˀ im Gegensatz zum ˁolam ha-se, dieser herrschenden Epoche. Johannes nennt sie ho kosmos (houtos). Der Gegensatz zwischen ho kosmos (houtos) und zōē aiōnios ist nichts anderes als der rabbinische Unterschied. Mit gnostischem Dualismus hat er also nichts zu tun.

Erst wenn das Leben der kommenden Weltzeit erreicht ist, wird Jesus in den Augen des Johannes wirklich zum VATER aufgestiegen sein – nicht bevor der Prozess vollendet ist, den Jesus unaufhaltsam mit seinem Tode in Gang gesetzt hat und der in 19,30 beschrieben wird: Indem Jesus am Kreuz der Römer stirbt, übergibt er den Geist, paredōken to pneuma, den in 20,22 seine Schüler in Empfang nehmen sollen.

Hier kann nur angedeutet werden, was alles damit verbunden ist: die Inspiration der Treue des Gottes Israels, das anwaltliche Wirken des Parakleten, das neue Gebot der agapē, der Solidarität, die Jesus beispielhaft mit dem Sklavendienst der Fußwaschung seinen Schülern vorgelebt hat. Die vom Gott Israels inspirierte Praxis der Solidarität lässt das Leben der kommenden Weltzeit anbrechen – denn Jesu Tod am Kreuz der Römer hat der herrschenden Weltordnung ein für alle Mal die Maske vom Gesicht gerissen und offenbart, dass der Führer der so genannten Pax Romana, also der römische Kaiser, von Grund auf ein Menschenmörder ist.

Warum verzichtet Johannes auf die „Fülle und Farbigkeit“ der guten Schöpfung?

Von einer jüdisch-messianischen Lektüre her erscheinen einige negative Bewertungen des Johannesevangeliums, die Erich Dorn vornimmt, in einem anderen Licht.

Dass Johannes (92) die „Fülle und Farbigkeit“ der guten Schöpfung Gottes nicht ausmalt, kann daran liegen, dass der Blick und die Erinnerung des Evangelisten nach dem Judäischen Krieg getrübt ist durch die Bilder der Zerstörung und der Hoffnungslosigkeit, die von der auf lange Sicht gestärkten Macht des Römischen Imperiums ausgeht. Wir würden auch in einer Schrift, die die Schrecken der Weltkriege oder des Holocaust verarbeitet, keine idyllischen Naturschilderungen erwarten.

Aus demselben Grund (93) mag der Stil des Johannes insgesamt eher durch „nüchterne Sachlichkeit“ als durch „mythische Vorstellungen“ oder „Herzlichkeit und Wärme“ geprägt sein. Dass Dorn die Nüchternheit des johanneischen Stils ausgerechnet unter Rückgriff auf die Lazarusgeschichte zu belegen versucht – ihm zufolge „wird z.B. der Krankheitsverlauf des Lazarus bis zu seinem natürlichen Ende – und darüber hinaus (11,39!) – rein faktisch geschildert“ –, wird allerdings durch die Verse 11:33.35.38 widerlegt, in denen Jesu starke Emotionen zeigt: embrimaomai, „vor Wut schnauben“, tarassein, „entsetzt sein“, dakryein, „Tränen vergießen.“

Blendet die johanneische Gemeinde in Selbstgenügsamkeit die soziale Frage aus?

Ob (96) die johanneische Lazarusgeschichte auf einer „Umgestaltung der Lazarusgeschichte“ des Lukas (16,19-31) beruht, lasse ich dahingestellt sein. Weil in ihrer „Handlung … für den Reichen, der ,alle Tage herrlich und in Freuden‘ lebte, kein Platz mehr ist“, verbindet Dorn damit zwei Fragen:

1. ob „die Aufforderung zur Fürsorge für die Schwachen, also die soziale Frage, ausgeblendet“ wird und

2. ob wir hier „einer Kirche begegnen, die aus der Welt herausgenommen ist und sich vor ihr abzuschließen droht. Tendiert sie zur Selbstgenügsamkeit, dazu, eine eigene, in sich geschlossene Welt zu werden, nachdem sie sich bereits im ausgehenden 1. Jahrhundert mit dem Ende der Naherwartung abgefunden hat?“

Ton Veerkamp <19> sieht die erste Tendenz tatsächlich bestätigt, allerdings von anderen Episoden her. Bei Johannes kommen die Armen ausschließlich im Zusammenhang mit dem Verräter Judas vor (12,5.8; 13,29), diesem „Armenfürsorger vom Dienst“ dienen sie „als heuchlerischer Vorwand eines räuberischen Kassenwarts, der einer entgangenen Beute nachtrauert.“ Der johanneische Jesus dagegen weiß zwar um die soziale Verantwortung gemäß der Tora, in 12,8 zitiert er Deuteronomium 15,11, aber in seinen Augen „muss Sozialpolitik zurückstehen“, so lange die Weltordnung Roms nicht überwunden und die Errichtung „eines Königtums für ganz Israel“ nicht gelungen ist.

Die zweite Frage würde Veerkamp anders als Dorn nicht im Sinne eines selbstgenügsamen Rückzugs nach dem Ende der Naherwartung beantworten. Vielmehr sieht er, vor allem in den provokativen Äußerungen über das Essen und Trinken von Fleisch und Blut des Messias und in ausfälliger Feindseligkeit gegenüber dem rabbinischen Judentum, sektiererische Tendenzen des Johannes, die letzten Endes zu einer Dezimierung seiner Anhänger und zu ihrem Ausschluss aus der Synagoge führen. <20> Obwohl der johanneische Jesus ganz Israel in seiner messianischen Gemeinde sammeln will, enden seine Jünger am Ende hinter verschlossenen Türen aus Angst vor den Ioudaioi. <21> Dieser Zustand endet nach Veerkamp erst durch den Anschluss der johanneischen Gruppe an die größere messianische Bewegung, die auf Petrus zurückgeht, wovon im angehängten Kapitel 21 die Rede ist. <22>

Die Rolle der Mutter des Messias und der einziggeborene Sohn als zweiter Isaak

Weiter spricht Dorn (92) von einer „Enge der Bildhaftigkeit“, etwa weil Johannes auf die Geburtsgeschichte Jesu verzichtet, ja, nicht einmal den Namen der Mutter Jesu nennt und Jesus seine Mutter „geradezu befremdend mit … gynai = Frau, 2,4“, anreden lässt. Die Anrede einer Frau mit gynai ist in der Bibel aber gar nicht despektierlich, sondern völlig normal (vgl. Judith 11,1; Matthäus 15,28; Lukas 13,12; 22,57; Johannes 4,21; 8,10; 19,26; 20,13.15). Die Rolle der Mutter des Messias wird von Johannes im Vergleich zu den Synoptikern sogar ausgeweitet. Dort wird die Familie Jesu (Mutter und Brüder) generell in ihrer Bedeutung gegenüber der Jüngerschaft Jesu abgewertet. <23> Hier ist die Mutter des Messias erstens eine wichtige Akteurin beim zentralen ersten Zeichen Jesu, der messianischen Hochzeit zu Kana; sie ist vor Jesus und den Jüngern an Ort und Stelle, sie ruft die Diener dazu auf, auf den Messias zu hören. <24> Und zweitens ist sie es, die am Kreuz von Jesus dem Geliebten Jünger anvertraut wird, damit er sie „in das Eigene“ nimmt. Nach Veerkamp sind sowohl die Mutter Jesu als auch der Geliebte Jünger nicht ohne Grund namenlos – sie repräsentieren einerseits ein Israel, das auf den Messias hört, und zweitens die messianische Gemeinde, in der sich dieses auf den Messias hörende Israel sammelt. <25>

In seiner Aussageabsicht ist Johannes gar nicht weit entfernt von der matthäischen Geburtsgeschichte. Matthäus erzählt einen Stammbaum Jesu, der (1,1-2) auf Abraham zurückgeht, am Ende (1,16) wird aber nicht Josef als Vater Jesu genannt, sondern nur die Mutter Maria, aus der Jesus geboren wird. Darin sieht Ton Veerkamp eine Entsprechung zu Abrahams einzig geborenem Sohn Isaak: Auch von ihm ist (Genesis 21,2-3) nur in passiver Form davon die Rede, dass er dem Abraham von Sara geboren wird. Hinzu kommt, dass im Buch Genesis von insgesamt zehn Stammbäumen, „Zeugungen“ (tholedoth), die Rede ist, aber ausgerechnet die Zeugung Abrahams fehlt, vielmehr wird (Genesis 25,19) umgekehrt Abraham zu den Zeugungen seines Sohnes Isaak gerechnet. <26> Und schließlich muss Abraham (Genesis 22,2.22) den einzigen, geliebten Sohn als seinen eigenen Sohn opfern, um ihn von JHWH zurückgeschenkt zu bekommen – dadurch wird der monogenēs tatsächlich zum Sohn Gottes (was in Exodus 4,22 im Blick auf Israel wortwörtlich bestätigt wird). <27>

Jesu Eigenschaft als einzig geborener Sohn Gottes verneint also nicht etwa die Gottessohnschaft Israels, sondern bestätigt sie: Jesus ist der monogenēs, indem er Israel verkörpert, indem er der zweite Isaak ist, und als solcher zugleich der Gottessohn.

Genau diese Aussageabsicht verfolgt auch Johannes, indem er (1,14.18; 3,16.18) Jesus den Einziggeborenen nennt und (1,12-13) im Blick auf die Gottgeborenen, die auf den Messias vertrauen, unter anderem darauf Wert legt, dass sie „nicht aus dem Willen eines Mannes“ gezeugt sind.

Ist das johanneische Jesusbild „eher spröde und einsilbig“, ja „dogmatisch“?

Auch Dorns Urteil (93, Anm. 2), das Jesusbild des Johannes mit „den Schwerpunkten der Verherrlichung und des Ganges Jesu zum Vater“ sei – außer in den Gesprächen mit Nikodemus, der Samariterin und Pilatus – „eher spröde und einsilbig“, trifft kaum zu. Vielmehr befleißigt sich Jesus einer kämpferischen Sprache und konzentriert sich auf das Wirken der messianischen Werke oder Zeichen, die ihm vom Vater aufgetragen sind. Versteht man diese erga kai sēmeia von den Schriften her als die befreienden Machttaten Gottes, sēmeia kai terata, dann entfaltet sich in den vier Zeichen von Johannes 5 bis 11 sehr wohl die Fülle und Farbigkeit zwar nicht einer scheinbar heilen Schöpfungswelt der Natur, wohl aber der Heilung Israels von seiner Lähmung, seinem Hunger, seiner Blindheit, ja, seinem Tod. <28>

Versteht man Johannes jüdisch-messianisch, dann (93) verliert sein Evangelium auch den Charakter „einer sehr dogmatisch klingenden Überlieferung der frohen Botschaft, ohne volksnahe, allgemein zugängliche Sprache, eher abstrakt-akademisch, eine Auseinandersetzung auf intellektueller Ebene.“ Ob Johannes ursprünglich tatsächlich „volksnah“ gewirkt hat, kann ich nicht sagen; Juden, die von der Tora und den Propheten her eine Überwindung der römischen Weltordnung erhofften, mögen ihn durchaus verstanden haben. Auf eine dogmatisch-abstrakte intellektuelle Ebene wurde seine Argumentation erst durch die heidenchristlich dominierte Kirche „gehoben“, die vom Messias Jesus nicht mehr die Befreiung Israels (samt gottesfürchtiger Gojim) erwartete, sondern nur noch die Erlösung der Seelen derer, die an Jesus Christus glauben. Ich setze „gehoben“ in Anführungszeichen, da unsere christliche Kirche Grund genug hat, um für ihre selbstgerechte Überhebung über das angeblich enterbte Judentum Buße zu tun.

Anmerkungen

<01> Alle im folgenden Text in runden Klammern (…) angegebenen Seitenzahlen ohne weiteren Hinweis beziehen sich auf die jeweils folgenden Zitate von Erich Dorn. Sind solche Zitate als eigener Absatz eingerückt, werden sie blau hervorgehoben.

Zitate aus Ton Veerkamps Übersetzung und Auslegung des Johannesevangeliums werden durch einen Link zum jeweiligen Abschnitt in der Internetpublikation Solidarität gegen die Weltordnung belegt (mit der Angabe des jeweiligen Absatzes, wobei der gesamte dem Abschnitt vorangestellte Bibeltext als 1. Absatz gezählt wird) und rot hervorgehoben. Zusätzlich wird auf eine der folgenden ursprünglichen Quellen hingewiesen, auf Grund derer das Gesamtwerk zusammengestellt ist: Veerkamp 2006 = Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, I. Teil: Johannes 1,1-10,21, in: Texte & Kontexte 109-111, 2006, Veerkamp 2007 = Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, II. Teil: Johannes 10,22-21,25, in: Texte & Kontexte 113-115, 2007, und Veerkamp 2015 = Ton Veerkamp, Das Evangelium nach Johannes. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen, 2., grundlegend überarbeitete Auflage, in: Texte und Kontexte Sonderheft Nr. 3 (2015).

<02> In anderen Teilen der Bibel mag das durchaus anders sein. So nimmt Jürgen Ebach, Streiten mit Gott. Hiob. Teil 2: Hiob 21-42, Neukirchen-Vluyn 2005, 126 und 148, im Buch Hiob durchaus Elemente einer Würdigung der dem Menschen unzugänglichen und unabhängig von ihm zur Schöpfung gehörigen Welt wahr:

Die Erde, die hier in den Blick kommt, ist nicht nach Maß und Bedürfnis des Menschen gemacht. Diese nicht-anthropozentrische Sicht auf die Schöpfung, die Hi 38ff. von Gen 1 unterscheidet, durchzieht die Gottesrede(n) des Hiobbuches…

Der Behemoth ist weder für noch gegen Hiob (den Menschen) geschaffen, sondern mit ihm. … Auch die Elemente, die die Schöpfung in Frage stellen, sie bedrohen, ihr feindlich sind, sind Bestandteile der Schöpfung. Der Widerspruch zwischen „Chaos“ und „Weltordnung“ wird damit in die Schöpfung verlegt. Der Behemoth ist – so verstanden – Gottes Feind und Gottes Geschöpf.

<03> https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes-2/#191 (Veerkamp 2015, 42):

Offenbar ist nach Johannes die Schöpfung nicht vollendet, noch „feiere“ Gott nicht „von allen Werken, die er machte“, Genesis 2,3. Da der endgültige Schabbat noch aussteht, muss auch Jeschua wie sein VATER Werke verrichten.

<04> Nur am Rande sei bemerkt, dass Dorn auch einen Gegensatz des Johannesevangeliums zur „2. Schöpfungsgeschichte“ wahrnimmt: Dort „wird der Mensch durch das Einhauchen des Odems lebendig (Gen 2,7). Johannes dagegen betont, dass das Leben (des Logos) das Licht (to phōs) der Menschen (Joh 1,4) ist.“ Dorn übersieht, dass das Wort enephysēsen, er blies, aus Genesis 2,7 von Johannes wortwörtlich in 20,22 aufgenommen wird, wo Jesus seinen hinter verschlossenen Türen in Furcht vor den Ioudaiōn verharrenden Schülern mit seiner heiligen Inspiration, pneuma hagion, neues Leben einhaucht. Vgl. https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes-3/#geschlossen, Abs. 1 (Veerkamp 2015, 147) und 6-9 (Veerkamp 2007, 123)

<05> Dorn (91) hat 66 Stellen gezählt.

<06> Vom Jüngsten Gericht, das schon jetzt stattfindet, soll nach Dorn 6,39-40.44.54 handeln, allerdings geht es dort um die Auferweckung am Tag der Entscheidung.

<07> Diese kam allerdings nicht erst, wie Dorn bemerkt, vor zwei- bis einhundert Jahren in Mode, denn das Reich Gottes im Johannesevangelium wurde bereits vom zweiten Jahrhundert an und wird bis ins 21. Jahrhundert hinein von den meisten Christen eben doch letzten Endes als das ewige Leben im Himmel verstanden.

<08> Vgl. dazu Marcel Simon, Verus Israel. A study of the relations between Christians and Jews in the Roman Empire (135-425). Translated from the French: H. McKeating, Oxford 1986, und Adele Reinhartz, Cast Out of the Covenant: Jews and Anti-Judaism in the Gospel of John (Lanham: Lexington Books-Fortress Academic, 2018), sowie meine Kommentierung in dem Text https://bibelwelt.de/liberation-israel/.

<09> https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes/, nähere Quellenangaben in Anm. 1.

<10> Vgl. https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes-3/#was-ist-treue, insbesondere ab Abs. 11 (Veerkamp 2015, 133.135, und Veerkamp 2007, 87-90).

<11> Ebenda, Abs. 21-23 (Veerkamp 2007, 88-89).

<12> Ebenda, Abs. 31-34 (Veerkamp 2007, 90).

<13> Vgl. Gerhard Jankowski, Die große Hoffnung. Paulus an die Römer. Eine Auslegung, Alektor-Verlag Berlin 1998, und weitere Auslegungen von Gerhard Jankowski in der exegetischen Zeitschrift Texte & Kontexte:

  • Friede über Gottes Israel. Paulus an die Galater. TuK 47/48 (1990), 3-120.
  • An Philemon. TuK 60 (1993), 31-40.
  • Das messianische Experiment. Paulus an die Philipper. TuK 62/63 (1994), 1-117. [2., durchgesehene und korrigierte Auflage 1999].
  • Solidarisch leben. Der erste Brief des Paulus an die Korinther. TuK 121-123 (2009), 1-150.
  • Messianisch leben. Der zweite Brief des Paulus an die Korinther. TuK 131-132 (2011), 1-112.
  • Dann kommt schon der Tag. Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher. TuK 139 (2013), 1-61.

<14> Vgl. meine Betrachtung Gott will eine Bleibe bei uns haben.

<15> Die folgenden Zitate dieses Abschnittes finden sich in https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes/#leben, Abs. 4.6.8.9 (Veerkamp 2006, 12-13).

<16> Dennoch ist für Johannes die Auferweckung der Toten nicht unwichtig. Er setzt von Daniel 12,2 her als selbstverständlich gegeben voraus, dass am Tag der Entscheidung, wenn das Friedensreich Gottes anbrechen wird, auch die ermordeten Gerechten aus Gottes Volk zum erfüllten Leben in dieser neuen Weltzeit erweckt werden.

<17> So versteht Adele Reinhartz, The Word in the World. The Cosmological Tale in the Fourth Gospel, Atlanta/Georgia 1992, das Johannesevangelium; vgl. dazu meine Kritik in https://bibelwelt.de/word-in-the-world/?

<18> https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes-1/#124 (Veerkamp 2015, 26).

<19> https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes-2/#mahl, Abs. 14-15 (Veerkamp 2007, 27).

<20> https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes-2/#streit, 2-8 (Veerkamp 2006, 122), und https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes-3/#rebstock, par. 20-23 (Veerkamp 2007, 56-57).

<21> https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes-3/#geschlossen, Abs. 2-3 (Veerkamp 2007, 122).

<22> https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes-4/#teil4 (Veerkamp 2007, 128-137).

<23> Vgl. zum Beispiel Markus 3,32-35.

<24> https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes-1/#hochzeit, Abs. 7-12 (Veerkamp 2006, 45-47).

<25> https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes-3/#szene2, Abs. 4-8 (Veerkamp 2007, 102-103).

<26> https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes-2/#treue, Abs. 8-9 (Veerkamp 2006, 148).

<27> https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes-1/#nikodemus, Abs. 38-42 (Veerkamp 2006, 60-61).

<28> https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes-2/#teil2, Abs. 2 (Veerkamp 2006, 95).

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