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„Warum hat der Jesus nach dem Kreuz noch die Wunden gehabt?“

Jesu Schüler freuen sich, als er ihnen die Wunden an seinen Händen und an seiner Seite zeigt. Thomas will nicht glauben, dass sie ihn gesehen haben, wenn er nicht selber seine Wunden an den Händen sieht und seinen Finger in seine Seitenwunde legt. Ein Junge regt mich mit klugen Fragen zum Nachdenken über das Osterfest an.

Sind Jesu Wunden bei der Auferstehung nicht geheilt? (Bild: José Manuel de Laá auf Pixabay)

Wer mit der christlichen Tradition aufgewachsen ist, kennt die Geschichte vom ungläubigen Thomas. Der ist nicht dabei, als die anderen Schüler Jesu am Abend des dritten Tages nach dem Tod Jesu versammelt sind. Nachher erzählen sie ihm: „Wir haben Jesus gesehen!“ Er kann und will das nicht glauben: „Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich‘s nicht glauben“ (Johannes 20,25).

Ein kleiner Junge, den das Jugendamt aus seiner Ursprungsfamilie herausgeholt hat, in der er viel Leid erfahren hat, interessiert sich sehr für diesen Thomas, als sein Pflegevater ihm erzählt: „Der Jesus hat dem Thomas seine Wunden an den Händen gezeigt, damit er glauben kann, dass er es ist.“ Der Junge ist empört: „Der ist doch blöd, erkennt seinen Freund nicht. Solche Freunde will ich nicht, die mich nur an den Rückennarben erkennen.“

Und er stellt auch noch andere Fragen, dieser Junge: „Warum hat der Jesus nach dem Kreuz noch die Wunden gehabt? Und warum hat keiner dann gesagt: ‚Komm, Jesus, ich mach dir ein Pflaster drauf?‘ Was sind das für komische Freunde?“

Mich rührt an, wie gut sich der Junge in das Leid Jesu einfühlen kann. Er kennt Misshandlung aus eigener Erfahrung. Er würde sofort die Wunden saubermachen, so gut er kann, ein Pflaster drauf tun, wenn er eins hätte. Ich bin erstaunt über die Klugheit dieser kindlichen Theologie und füge eine Frage hinzu: Warum hat noch niemand unter den Theologen und Theologinnen, die ich kenne, solche Fragen gestellt?

Ja, warum? Nach verbreiteten Vorstellungen stirbt Jesus am Karfreitag einen entsetzlichen Tod, aber an Ostern ist alles Leid vorbei. Zwar lebt Jesus nicht wieder auf der Erde, aber im Himmel hat er ein wunderbares neues Leben, auf das sich auch die Menschen, die an ihn glauben, nach ihrem Tod freuen können. Wer so denkt, könnte dem Jungen antworten: „Natürlich tun dem Jesus im Himmel seine Wunden nicht mehr weh. Da muss kein Pflaster drauf, die bluten nicht mehr.“

Der kleine Junge würde widersprechen. Jesu Wunden sind ja eben nicht weg. Und so schnell vernarben Wunden nicht. Das weiß er. Wenn dem Jesus die Haare gebürstet würden, würden auch die verschorften Kopfwunden von der Dornenkrone wieder aufreißen und bluten. Es ist doch auch wirklich seltsam, dass die Schüler Jesu in dem Augenblick froh werden, als ihnen Jesus seine Wunden an den Händen und an seiner Seite zeigt (Johannes 20,20). Erkennen sie ihn tatsächlich nur an seinen Wunden? Was sind das für Freunde?

Es sind Freunde, die hinter verschlossenen Türen sitzen (Johannes 20,19), weil sie Angst haben vor Mitbürgern, die Jesus an die Römer zur Kreuzigung ausgeliefert haben. Selbst nachdem sie Jesus gesehen haben und von ihm mit dem Heiligen Geist seiner Liebe in die Welt hinaus gesendet worden sind, hocken sie eine Woche später immer noch hinter denselben verschlossenen Türen (20,26). Noch später nehmen sieben von ihnen ihren Fischerberuf wieder auf, und erst nach einer weiteren Begegnung mit Jesus (Johannes 21) tasten sie sich an erste Schritte einer Nachfolge Jesu heran.

So ist Ostern für Schülerinnen und Schüler Jesu nicht einfach ein Friede-Freude-Eierkuchen-Fest. Wohl haben sie Jesu Stimme im Ohr, dass er die Gewaltordnungen überwunden hat, die damals wie heute die Welt beherrschen: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Johannes 16,33). Aber es würde sie nicht trösten, wenn Jesus nun einfach ohne seine Wunden im Himmel lebt. Diese Welt würde trotzdem so bleiben, wie sie ist. Wenn Jesus wirklich, wie er gesagt hat, mit seinem Tod am römischen Kreuz zu seinem Vater aufsteigt, in die Verborgenheit Gottes, dann bringt er dorthin auch seine Wunden. Gott selber leidet an den Wunden der Menschheit. Er steht auf der Seite aller Menschen, die wie Jesus verfolgt und erniedrigt, gequält und ermordet werden.

Darum hätte Thomas einen Jesus nicht als seinen Freund erkennen können, dessen Wunden wie durch Zauberei verschwunden wären und der es sich im Himmel gut gehen lässt. Erst als Thomas die Wunden Jesu sehen und ganz vorsichtig sogar befühlen darf, da weiß er: Das ist derselbe Jesus, den man wie ein Stück Dreck behandelt hat. Gott steht zu ihm trotz und mit seinen Wunden. In diesem Augenblick weiß Thomas: Nicht autokratische Gewaltherrscher wie der damalige römische Kaiser, dessen Soldaten Jesus so bestialisch zerfleischt haben, haben ein legitimes Recht, sich (wie sie es taten) „Herr und Gott“ nennen zu lassen. Wenn überhaupt, dann verkörpert dieser verwundete Jesus, der an der Seite aller Verwundeten steht, die heilende, versöhnende und Frieden stiftende Macht Gottes. Und so ist es ausgerechnet der Zweifler Thomas, der im Johannesevangelium das Bekenntnis ausspricht (Johannes 20,28): „Mein Herr und mein Gott!“ Er erkennt genau in dem ermordeten Messias Israels die Liebe eines Gottes, der keinen geschundenen und erniedrigten Menschen in dieser Welt vergisst. Ostern wird beginnen, wo wir uns die von Jesus gelebte solidarische Liebe als unser neues Gebot zu eigen machen und in Taten umsetzen (Johannes 13,34).

Helmut Schütz

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