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Die Missbrauchskrise als Chance für die Kirche

Als evangelische und katholische Christen beschäftigen wir uns mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs und hören auf Anregungen von Pater Anselm Grün. Gemeinsam gilt es, in Demut zu fragen: Inwiefern geht uns das Thema an? An welchen Stellen können wir etwas tun?

Die Missbrauchskrise kann eine Chance für die Kirche sein: Ein Mädchen versteckt sich hinter ihren Händen und Haaren
Das Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern geht auch die Kirche an (Bild: Ulrike MaiPixabay)

Andacht zur gemeinsamen Sitzung des Kirchenvorstands mit dem Pfarrgemeinderat, dem Verwaltungsrat und dem Ökumene-Ausschuss der Gemeinde St. Albertus am Donnerstag, 27. Mai 2010

Herzlich willkommen im Saal der Paulusgemeinde!

Ich beginne mit einer Andacht zu einem Text aus Markus 9 (Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 1980 by Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart):

33 Sie kamen nach Kafarnaum. Als [Jesus] dann im Haus war, fragte er [die Jünger]: Worüber habt ihr unterwegs gesprochen?

34 Sie schwiegen, denn sie hatten unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer (von ihnen) der Größte sei.

35 Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.

36 Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen:

37 Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.

42 [Und] wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde.

Deutliche Worte von Jesus. Er stellt ein Kind in die Mitte der Jünger, die gerade noch Rivalitätskämpfe untereinander ausgefochten haben, nimmt es in den Arm und überträgt den Jüngern Verantwortung für jedes Kind, das Hilfe braucht. Kinder gehören zu den kleinen Brüdern und Schwestern Jesu; in ihnen begegnet uns Jesus, ja Gott selbst. Und wer einen „Kleinen“ verführt, zu Fall bringt in seinem Gottvertrauen, für den wäre eine Mafia-Hinrichtung im Meer mit Betonschuhen an den Füßen oder einem Mühlstein um den Hals fast noch eine Gnade. So hart kann der sanfte Jesus über Unrecht reden, dass an Kleinen, Schwachen, Abhängigen, Kindern geschieht.

In der letzten Zeit ist das Thema des sexuellen Missbrauchs wieder stärker in die Öffentlichkeit gekommen – und ich halte das für gut. Wichtig ist nur, dass über dieses Thema sachlich und kompetent gesprochen wird. Ich persönlich habe mich vor 15 Jahren in einem Studienurlaub drei Monate lang intensiv mit dem Thema beschäftigt, ich betreue seitdem kontinuierlich mehrere Frauen, die als Kind von ihren Eltern missbraucht worden sind. Ich kenne auch Betroffene, die in Familien mit stark religiöser Prägung schlimmsten Missbrauch erlebt haben. Ich weiß von Geistlichen aus evangelischen, katholischen und pfingstkirchlichen Gemeinden, die Missbrauch an Schutzbefohlenen verübt haben. Ich kam zur Erkenntnis, dass sexueller Missbrauch weiter verbreitet ist, als man denkt, schon seit biblischen Zeiten bis heute, und dass gerade wir als Verantwortliche der Kirche, als Nachfolger Jesu, uns dieser Herausforderung stellen müssen.

Wenn man ein Problem nur nennt, aber keine Wege des Umgangs mit dem Problem andeutet, kann das leicht dazu führen, dass man es gleich wieder wegschiebt und verdrängt. Man hat dann Bauchschmerzen damit, aber was soll man denn tun? Es wäre aber fatal, wenn man darauf hofft, dass der Missbrauch nur ein Modethema ist und man sich bald wieder anderen Fragen zuwendet. Man ließe die Opfer wieder allein.

Ich möchte zu bedenken geben, was der von mir sehr geschätzte Benediktinerpater Anselm Grün auf dem Ökumenischen Kirchentag in München gesagt hat. Ich weiß, dass er sich persönlich um Opfer sexuellen Missbrauchs kümmert; als er in Gießen vor ein paar Jahren in der Kongresshalle einen Vortrag hielt, stellte sich heraus, dass eine Frau, die ich betreue, auch schon von ihm im Kloster Münsterschwarzach Hilfe erfahren hatte.

Anselm Grün sieht in der Missbrauchskrise eine Chance für die Kirche. Sie zeige, „dass verdrängte Sexualität immer nach einem Ausweg sucht“. Das heißt, es müssen Wege gesucht werden, um auch über dieses Thema, das in der Kirche immer noch weitgehend tabu ist, sachlich zu reden.

Anselm Grün warnt zugleich davor, einzelne Täter zu ächten. Vielmehr sollte sie jeder als Spiegel zur Selbst­erkenntnis nutzen. Die Kirche insgesamt müsse demütiger werden. Demut ist auch wichtig im ökumenischen Kontakt. Wir Evangelischen können nicht so tun, als sei das Thema nicht auch unseres; wie gesagt, ich weiß auch von evangelischen Geistlichen und Familienvätern und sogar -müttern, die sich sexueller Übergriffe schuldig gemacht haben.

Gemeinsam gilt es, in Demut zu fragen: Inwiefern geht uns das Thema an? An welchen Stellen können wir etwas tun?

Jesus erwartet von uns, dass wir uns mit ihm gemeinsam an die Seite von Menschen stellen, deren Vertrauen aufs übelste missbraucht wurde und wird. In ihnen begegnet uns Jesus selbst. Amen.

Lied 631: In Gottes Namen wolln wir finden, was verloren ist

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